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12.

Es donnerte in dieser esthländischen Sommermittagsstille, die nur das Rauschen des Birkenwalds um das bescheidene Herrenhaus von Kuistefer, ferne Axtschläge aus der Haide, das Summen wilder Bienen um den hundertfarbigen Blumenteppich des weichen, warmen Moosbodens erfüllte, es dröhnte von schwerem Faustschlag gegen das deutsche Haustor. Das Klopfen mit einer Säbelscheide hinterher. Ein lautes, russisches:

»Belieben Sie, zu öffnen!«

Baron Arwed Speerreuter lag drinnen auf seinem Junggesellenkanapee und machte seinen Nachmittagsschlaf. Er schlug unwillig die Augen zu dem Hauskerl auf, der barfuß, mit offener Hemdbrust und wirrer gelber Mähne hereinkam.

»Wer ist da?«

»Die Kronsbeamten, Baron-Herr!«

Der Baron brummte etwas, ging an dem Koiames, dem Hausbesorger, vorbei und öffnete selbst. Vollbärtig und gebräunt, vernarbte deutsche Schmisse auf der Wange, stand er auf der Schwelle. Vor ihm russische Uniformen. Sie leuchteten auch zwischen den weißen Stämmen des Waldes ringsum. Ganz Kuistefer war umstellt. Sein Eigentümer begrüßte gemütlich den Polizeioffizier.

»Wie denn: am Nachmittag, Pawel Antonowitsch? Sonst kamen Sie immer nachts um Vier, mich zu verhaften!«

»Was hilft es. Sie in verstärkten Schutz zu nehmen? Man ließ Sie doch immer wieder frei!«

»... weil mir selbst die selige Ochrana keinen Verstoß gegen einen Ukas oder Prikas oder eine örtliche Verfügung nachweisen kann! Ich sagte es vor drei Jahren schon, bei Beginn des Kriegs, dem Tapsküller Ehingen, als ihr ihn an meiner Seite festnahmt: Ohne Beweise keine Schuld! Rußland ist das Reich des Rechts! ...«

»Das ist es jetzt, seit Nikolaus Romanows Sturz!«

»Er kam nach Sibirien. Nun – er lebt doch! Brüggenoye auch! Mayen ist dort gestorben.«

»Seien Sie froh, daß Sie nicht dort sind, Baron!«

»Gott führte mich nie bis über Schlüsselburg hinaus. Ich wettete dort schon vor zwei Jahren mit Dreileven, daß man uns nicht verschicken würde. Schließlich gab man ihn wegen seiner Krankheit frei.«

»Baron Dreileven ist unter Polizeiaufsicht und Sie auch!«

»Das merke ich, wenn ich mich jetzt hier umschaue. Belieben Sie einzutreten!«

Im Wohnzimmer des Göttinger Dr. jur. et cam. von Speerreuter waren die bunten deutschen Korpsbänder, die Mützen und gekreuzten Schläger an der Wand verschwunden. Er bot dem Russen eine selbstgedrehte Zigarette an. Beide rauchten. Die Biegsamkeit des Slawencharakters umfaßte zugleich äußerste Brutalität und wieder Höflichkeit bis zum Galgen. In diesem Geist sagte der Polizeioffizier lächelnd und scheinbar unverfänglich durch den Dampf der Papyros:

»Sie sind der beste Freund des berüchtigten Baron Waldemar Kerkhuß!«

»Wie kommen Sie auf ihn, Pawel Antonowitsch?«

»Er ist bei Ihnen. Hier in diesem Hause.«

»Nehmen Sie Feuer ... bitte! In meinem Hause? Wie das? Ist er denn überhaupt in Esthland?«

»Bleiben wir ernst, Baron Speerreuter! Sie wissen besser als ich, daß diese verbrecherische Intelligenz heimlich herumschleichend seit langen Monaten das Gouvernement vergiftet. Er ermutigt aus seinen wechselnden Schlupfwinkeln heraus alle Übelgesinnten. Er spiegelt den Deutschen die nahe Hilfe der Heere Wilhelms vor, er wiegelt die Esthen gegen die englischen Verbündeten auf, die Landkäufe am Strand betätigen ...«

»Was Sie sagen ...«

»Er erzeugt, von Ort zu Ort ziehend, eine Verwirrung der öffentlichen Meinung, die einen gefährlichen Charakter angenommen hat. Und um so gefährlicher, als diese Meinung sich vor der Regierung des freien Rußlands verschließt und heimlich sich in der Hoffnung auf den baldigen Einmarsch der Deutschen bewegt. Dieser Kerkhuß steht mit den Deutschen in Kurland irgendwie in Verbindung! Er gibt ihnen Nachrichten von hier und empfängt Botschaften! Dies ist sicher!«

»Ich würde ihn an eurer Stelle festnehmen!« sagte der Baron nachdenklich nach einem Schweigen und rauchte.

Über das längliche, nach Kleinrussenart geschnittene Gesicht des Polizeioffiziers flog ein Schatten von Ungeduld. Aber er blieb sanft wie eine Katze.

»Jedes Kind in Esthland weiß, daß unser Polizeiaufgebot seit Monaten hinter ihm her ist. Trotz seines lahmen Beins verstand es dieser Übeltäter bisher, sich allen Verfolgungen zu entziehen. Er tauchte zuerst in der Jerwenschen Gegend auf. Er wurde am hellen Tag in Weißenstein und überall in den Kirchspielen St. Marien Magdalenen, St. Peters, St. Johannis gesehen ...«

»Mir ganz neu! Wahrlich, Pawel Antonowitsch!«

»Sie wissen es, Baron! Auch daß Ihr Freund Kerkhuß sich dann in esthnischer Bauernkleidung nach Wirland wagte. Er trieb die Vermessenheit so weit, daß man seine Spuren bis Luggenhausen und selbst bis Waiwara fand ...«

»Ein unruhiger Mensch!«

»Allerdings! Er verschwand dort, nachdem er seine Giftsaat überall ausgesät und alle für den Deutschen Kaiser und die deutsch Gesinnten in ihrem Landesverrat ermutigt und viele zögernde Bürger Rußlands dafür gewonnen hatte. Wir haben die Beweise!«

»Traurig, in der Tat!«

»Es scheint, daß er dann irgendwo nach Harrien hinüberkam. Man merkte bald die Unruhe im Lande. In der Nähe von Jörden entging er eben noch der Verhaftung. Man jagte ihn bis Wink. Er kam bis zu dem Kirchspiel St. Michaelis herunter. In der Fickelschen Gegend schlug er einen Haken. Der Boden wurde ihm zu heiß. Er zog sich nach Norden, gegen die Küste, in seine Heimat zurück. Er treibt sein Unwesen seit Wochen in der Nähe seines ehemaligen Schlosses Kerreküll.«

»Meinen Sie?« sagte der Baron Speerreuter.

»Ich erzähle Ihnen dies, um Ihnen zu zeigen, daß wir über das Tun und Treiben dieses die Unaufgeklärten irreführenden Übeltäters auf das genaueste unterrichtet sind! Aus Petrograd kam jetzt der Befehl, ihn unter allen Umständen unschädlich zu machen. Die Engländer wünschen es! Mit Gottes Hilfe werde ich dies nun vollbringen!«

»Wie das?«

»Sie haben ihn hier im Hause!« Die feinen, mehr ruthenischen als russischen Züge des Polizeioffiziers waren schmeichelnd liebenswürdig. Er beugte sich, die Papyros im Mundwinkel, vertraulich vor, als säße er bei einem Freund. »Wir folgten doch seiner Spur. Sie ist, durch das Nachziehen des Fußes, nicht zu verkennen. Sie führte hierher zu Ihnen, nach Kuistefer! Geben Sie ihn uns heraus! Machen Sie keine Umstände! Nicht um Sie dreht es sich ja! Wie konnten Sie wissen, daß er sich irgendwo bei Ihnen verbarg? Es war ein Mißverständnis. Man wird es jetzt klären.«

»Ich glaube gar nicht, daß Waldemar Kerkhuß überhaupt in Esthland ist!« sagte Baron Arwed Speerreuter mit großer Gemütsruhe. »Wie sollte er denn auch? Es heißt, man sah ihn erst kürzlich in Berlin. Irgendein hinkender Esthenkerl hat euch betrogen!«

Der Russe stand auf. Er hatte immer noch sein unheimliches Lächeln.

»Wie es Ihnen beliebt, Baron! Man wird Ihr Haus durchsuchen. Wehe Ihnen, wenn wir etwas finden!«

Die schlitzäugigen und breitknochigen Gestalten, die sich auf seinen Befehl in einem übelriechenden Schwarm durch alle Räume des kleinen Gutshauses verteilten, hatten den Spürsinn von Wilden. Wie sie bei Plünderungen in Ostpreußen die Sofapolster aufgerissen, die Teiche abgelassen, die Dungstätten umgewühlt hatten, ehe sie alles anzündeten, so pochten sie hier an die Mauern, um hohle Stellen zu entdecken, stachen in die Heuhaufen über dem Stall, traten mit dem Stiefel gegen die Kornsäcke, ob da nicht ein Mensch darin sei, leuchteten in die Tiefe des Ziehbrunnens, ob sich jemand an der Kette da hinabgelassen, öffneten, mit um den Kopf gewickelten Kartoffelsäcken, die Tür des Bienenhauses, lösten das Kronsiegel von dem Spiritusschuppen der Brennerei, fuhren in der Räucherkammer mit Stangen in den Schornstein hinauf, daß der Ruß in Klumpen herabstürzte, und meldeten Stund' um Stunde: Da ist nichts! ...

»Ich sagte ja: Waldemar Kerkhuß ist in Berlin! ... Nun ... ein Glas Atschischtschina zum Abschied, Pawel Antonowitsch, wenn's gefällig ist!«

Pawel Antonowitsch war sehr übler Laune. Er lehnte das Gläschen mit dem wasserhellen Schnaps in plötzlicher wilder Barschheit ab. Seine Augen funkelten tückisch wie die eines Raubtiers, dem der Sprung auf die Beute mißglückt.

»Ihr Haus bleibt weiter ständig von meinen Leuten bewacht!« befahl er kurz. »Für mich einen Wagen bis Laart! Dort ließ ich unser Fuhrwerk!«

»Sie machten sich unnütz Mühe, die sieben Werst hierher durch den Wald zu schleichen, um mich zu überraschen, Pawel Antonowitsch! Wann werden Sie erkennen, daß ich ein ganz harmloser Mensch bin ...? Gut! Ich werde anspannen lassen!«

Der Wagen mit dem Esthenkutscher auf dem Bock fuhr vor. Der Polizeioffizier lehnte die halbe Stunde bis Laart mißmutig rauchend in der Ecke. In Laart, bei dem alten Baron Awesand, war nichts zu holen. Das wußte er. Der greise Herrnhuter lebte fernab von der Welt wie ein biblischer Patriarch mit seiner ebenso frommen Frau inmitten seiner derselben Sekte angehörenden zahlreichen Freibauern. Der Russe hielt sich da nicht lange auf. Mürrisch stieg er aus der Kutsche. Der esthnische Fuhrmann auf dem Bock saß stumpfsinnig da und rührte sich nicht. Er war ein wahrer Sohn dieser nordischen, einsamen Welt. Wirre blonde Haarsträhnen fielen ihm über den Saum seines Rockes, hingen über die Ohren und die Stirn und mischten sich da mit dem kurzen, aber urwaldähnlich dichten Vollbart, der fast das ganze Gesicht überzog. Er schien zu schlafen, so still hockte er, das Haupt auf die Brust gesunken, die Zügel lose in den herabhängenden Händen, auf seinem Sitz, bis das letzte Räderrasseln in der Ferne verklungen und keine russische Uniform mehr weit und breit zu sehen war. Dann kam plötzlich Leben in ihn. Er schaute scharf nach rechts und links und stieg, das eine steife Bein vorsichtig schwenkend, vom Bock zur Erde.

Der Baron Awesand stand unter den alten Linden vor seinem Haus. Die goldene Brille funkelte auf seinem stillen, weißbärtigen Gelehrtenkopf. Er blickte durch die Augengläser mit dem Befremden des Kurzsichtigen auf den Kuisteferschen Fuhrmann, der, den einen Fuß nach sich ziehend und vertraulich mit dem Kopf nickend, auf ihn zutrat. Dicht vor ihm blieb der verwilderte, flachsmähnige Waldmensch stehen und sagte auf deutsch:

»Awesand – haben Sie die Jüte und schicken Sie den Wagen mit irgendeinem Kerl nach Kuistefer zurück! Ich muß weiter!«

»Um Gottes willen – lassen Sie sich einmal betrachten!«

»Aber ja doch ...«

»Kerkhuß ... das ist Ihre Stimme ...«

»Jewiß doch!«

» Sie saßen auf dem Kutschbock ...«

»Diesmal hätten sie mich beinahe jehabt! Nun, Awesand: Sie sind nicht von dieser Welt! Sie kümmern sich nicht um die Händel der Menschen! Leben Sie wohl!«

Aber der Alte hielt ihn fest, hielt ihn mit beiden Händen, mit einer innigen Kraft, die niemand bei ihm vermutet hätte, mit einem zornigen Aufleuchten der sonst so milden blauen Augen hinter der Brille.

»Erst nehmen Sie noch meinen Segen mit auf den Weg!« sagte er. »Jewiß: ich lebe mit unserm Herrn und Heiland! Das Fleisch jeht hin. Aber der Jeist bleibt. Der Jeist unseres Lutherschen Herrgotts. Nicht die Taube von Byzanz und die Kellerbässe der Moskauer Mönche ...«

»Also selbst Sie, Awesand ...«

»Jerade ich! Mein einziger Sohn ist bei Jumbinnen vor drei Jahren jefallen. Mein Jeschlecht jeht mit mir zu Jrab. Aber mein Jlaube soll bestehen, hier im Lande, und nicht von der Inquisition und dem Allerheiligsten Synod unter ihre russischen Transtiefel jetreten werden.«

»Unser Jlaube ist jerettet, wenn ihr aushaltet, bis die Deutschen kommen! Sie werden kommen, Awesand! Sie werden kommen! Sie werden kommen!«

»So wollen wir harren und beten, ich und die Meinen!« sagte der greise Herrnhuter. Er küßte Waldemar Kerkhuß. Dann frug er besorgt: »Wohin fliehen Sie jetzt?«

»Fliehen? Wie denn? Ich schlendere durch das Jebüsch hinüber nach Alt-Sötthast. Der Tag ist ja schön!«

Die Fahrstraße nach dem Tummeschen Gut zog sich schmal und schnurgerade, so weit man sehen konnte, zwischen zwei beinahe undurchdringlichen Mauern von Birkenwald dahin. Waldemar Kerkhuß hielt sich, so gut es ging, neben dem Weg. Auf dem bemerkte man in der Ferne einen Punkt, der auf dem menschenleeren Pfad langsam näher kam. Es war ein Esthenfuhrwerk. Nicht aus der Gegend. Kerkhuß erkannte es an der Art, wie das struppige Gäulchen fortwährend neugierig den Kopf nach rechts und links drehte und mit der Unbefangenheit des Naturtiers die neue Welt betrachtete. Er frug den jungen Kerl, der es lenkte, auf esthnisch:

»Kommst du von Alt-Sötthast?«

»Geh' nicht hin! Die Russen sind dort!«

»Was machen sie?«

»Sie werfen alles durcheinander. Auch in Pirküll. In Kuil. In Ettel. Überall sind sie.«

»Warum?«

»Sie suchen den Kerreküllschen Baron!«

»Meinst du, daß sie ihn fangen?«

»Sie sollen ihn nur fangen!«

»Was hat er dir getan?«

»So viel wie alle Herren! Alle Herren müssen aus dem Lande. Alles Land gehört den Bauern. Man muß es teilen!«

»Und wenn die Herren nicht wollen?«

»Man wird sie totschlagen und ihre Häuser anzünden!«

Die Unterwelt des Landes tat sich vor Waldemar Kerkhuß auf. Eine jähe, unterirdische Stichflamme schoß hier in esthnischer Waldeinsamkeit aus dem sumpfigen Boden. Er kannte dies brennende Moor unter den Füßen. Er hatte schon vor dem Krieg in stiller Nacht das Grollen geahnt, er hatte jetzt in Wald und Haide, im Kommen und Gehen durch das Land das Zittern des nahen Erdbebens, das Gären der Geister, die schweren, ersten Sturmstöße durch die Seelen miterlebt.

»Jetzt ist es Zeit, die Barone zu vertreiben!« sprach der Esthe. »Bisher schützte sie der Russe. Nun sind sie sein Feind.«

»Und wer wird dich vor dem Russen schützen? Bisher tat es der Baron. Nun ist niemand mehr da!«

»Der Russe tut uns nichts!«

»Er wird dir dein Land nehmen, auch das, was du jetzt schon längst von den Baronen zu eigen hast. Hat denn der Russe eigenes Land? Nein – alles gehört allen. So wird es auch dir gehn. Du wirst ein Bettelmann!«

»Sage das den Gesindewirten. Manche halten es ohnedies mit den Deutschen. Ich aber besitze nichts! ...«

»Aber du wirst bald deine Hofstelle haben.«

»Wann?«

»Wenn die Deutschen kommen! Dann wird hier eine neue Ordnung sein! Was ist das jetzt mit deinem Flachs und Holz und Leder? Der Russe nimmt es dir nicht ab. Er hat es selber. Der Deutsche aber braucht es. Er wird es dir teuer bezahlen. Jeder wird zu Gelde kommen. Man wird ihm Land zum Kauf geben. Er wird frei sein! Seine Sprache wird zu Ehren gelangen. Man wird ihn achten. Alles wird besser, als es je war ...«

»Wer bist du, daß du das alles weißt?«

»Erzähle nur daheim, der Kerreküllsche Baron habe es dir gesagt.«

Waldemar Kerkhuß stand wieder in dem tiefen Sumpfwald, dessen schirmenden Schatten nur Elentier und Birkhuhn, Wolf und Schnepfe, Stechmücke und Kreuzotter mit ihm teilten. Ein Unkundiger konnte tagelang in dieser Wildnis im Kreise waten, durch Dickicht brechen, in trügerischem, giftgrünem Morast versinken. Er selbst kannte hier keinen Weg und Steg. Denn es gab keinen. Ihn leitete der von Kindesbeinen an geschulte Instinkt des Waldläufers. Er ahnte, wo hinter dem grünen Blätterdach die Sonne sank, er roch die Nähe des nahen Meeres, er stieg über gestürzte Bäume, brach die trockenen Fichtenäste ab, die sich vor ihm sperrten. Große Blasen gurgelten hinter ihm aus dem quatschenden, vollgesogenen Schwamm des Bodens.

Dann wurde es lichter. In dem feierlichen, unbestimmten Abenddämmern, das in diesen Monaten überhaupt nicht in Dunkel überging, sondern die ganze Nacht in einem weißen Zwielicht blieb, lag still und unbewegt die Ostsee vor ihm. Eigentlich nur eine Bucht der Ostsee, die sich tief in das Land hineinzog. Gegenüber sah ein scharfes Auge am anderen Ufer die Trümmer des deutschen Herrenhauses Narraks.

Waldemar Kerkhuß ging durch das flache Brackwasser darauf zu. Kalt rauschten ihm die Wellen um die Knie. Diesen Weg quer durch die Bucht mußte man wissen. Sonst spielten Nacht und Wind und Wogen mit dem Wanderer, führten ihn seitab und trieben den Ertrinkenden, der schwimmend den Boden unter den Füßen verlor, mit der Strömung hinaus in das freie Meer und hinab auf den Meeresgrund. So aber entging, wer diese Bucht kreuzte, sicher seinen Verfolgern.

Es war ein seltsames Gefühl: Um den einzelnen, einsamen Menschen, der kaum mehr ein kleines Pünktchen in der Wasserwüste war, die weite, in der Ferne verschwimmende, rauschende Fläche. Die nachthelle, nordische Luft über ihr in kaltem, salzigem Wehen. Ab und zu eine Möwe, die jetzt nicht mehr schrie und jagte, sondern still, mit ruderndem Flügelschlag, an dem Meereswanderer vorbei der Küste zustrich. Nach links konnte man den Kopf nicht wenden. Da blendete im Westen ein purpurnes Feuermeer das Auge. Goldene Lichtbahnen der schon gesunkenen Sonne lagen von dorther in millionenfachem Gefunkel wie von den Schuppen zahlloser Fische über der stahlgrauen See. Dann tauchten weiße Flecken aus ihr auf. Der Gischt der kleinen Klippen am Strand von Narraks. Das im Bauernaufstand vor zehn Jahren zerstörte und nicht wieder aufgebaute Haus lag weiter oben in düsterem Dunkel. Nur aus einem Fenster des stehengebliebenen Seitenflügels fiel Lichtschein. Waldemar Kerkhuß schaute von außen hinein.

Der alte Wiffenhausen saß da im Lehnstuhl, die Decke über den Knien, erschöpft und krank, dem Tode nah. Das Haar hing lang und weiß um seinen greisen, vertrockneten Geierkopf, in dem sich immer noch das Schnurrbärtchen kriegerisch sträubte und die Augen streitsüchtig funkelten. Es war nicht geraten, ihm ohne weiteres zu nahen, obwohl Haustor und Zimmertür in Verachtung der Außenwelt weit offen standen. Denn auf dem Tisch vor ihm lagen die scharfgeladenen Pistolen, und auf dem Boden um ihn knurrten seine riesigen russischen Windhunde.

»Ich werde dich abschießen wie eine Elster, mein Junge, ehe du mich umbringen kannst!« sagte er hüstelnd zu der verdächtigen esthnischen Gestalt draußen. »Tritt nur etwas näher, damit ich Büchsenlicht bekomme! ... Was denn? ... Waldemar Kerkhuß? ... Du bist das? ... Pfui! Wie kannst du dich als Bauernkerl verkleiden! Wie? Ob ich mich fürchte, wenn du bei mir eintrittst? ... Habe ich mich je in meinem Leben jefürchtet – he?«

Und als der andere vor ihm stand, wiederholte er:

»Habe ich mich je in meinem Leben jefürchtet? ... Du hast mich beleidigt. Du bist mir Jenugtuung schuldig!«

»Lasse doch das jetzt!«

»Ja was denn ...?« Nikolai Wiffenhausen seufzte. »Was ist denn noch mit mir? Da liege ich. Meine Frau, die Fürstin, ist in Petersburg. Kaja mit ihr. Mag sie dort mit den Engländern tanzen! Ein Edelmann kann auch allein sterben!«

Waldemar Kerkhuß sah die Zeichen des Todes in dem abgezehrten, eigensinnigen, kleinen Kopf ihm gegenüber. Es schien ihm, daß der alte Wiffenhausen, dessen ganzes Leben eine Narrheit gewesen, jetzt vor dem Ende lichte Augenblicke hatte. Er hörte die gebrochene Stimme:

»Ich bin der Letzte meiner Zeit! Ich jehörte ja schon jar nicht mehr zu euch, in diese Zeit der Schneiderjesellen! Ich hätte vor dreihundert Jahren leben sollen! ... Aber ihr sollt trotzdem nicht zujrundejehn!«

»Das werden wir auch nicht!«

»Ein bißchen was von mir müßt ihr behalten ... Haare auf den Zähnen! ... Dem Jottseibeiuns ins Jesicht spucken! ... Wer sich duckt, den fressen die Läuse!«

»Wir halten aus!«

»So schöne alte deutsche Jeschlechter jibt es kaum mehr auf der Welt wie bei uns! Diese Jeschlechter sollen bestehn! Ich war ein Narr: Ich habe eine Russin jeheiratet. Eine Fürstin! Gott sei Dank habe ich nur eine Tochter. Gott hat mich mit der Russin jestraft, daß ich jetzt hier einsam sterbe! Nehmt euch eine Lehre. Bleibt deutsch! Wehrt euch jejen die Russen, wie ich mich mein Leben lang jejen die Fürstin wehrte!«

»Ich tu's!«

»Und wenn es nicht anders jeht, dann fallt mit dem Jesicht nach Osten, das Schwert in der Hand, wie unsere Vorfahren ...«

»Wir werden nicht fallen, sondern siegen! Die Deutschen werden kommen und uns retten. Sie werden kommen! Sie werden kommen!«

Über die verfallenen Züge des alten Wiffenhausen auf Narraks glitt ein befriedigtes Lächeln.

»Lasse sie kommen!« sagte er andächtig. »Sie kommen nicht zu Leuten wie mir. Meine Zeit ist vorbei. Aber sie kommen zu Leuten wie dir. Jrüße sie von mir! Ich habe die Preußen nie recht leiden können, aber wenn ich jetzt ihren Trommelwirbel höre, dann lacht mir das Herz noch im Jrabe, daß ich in deutscher Erde schlafen kann!«

Er beugte sich vor und löste einen Pistolenschuß durch das Fenster. Es krachte. Das Zimmer hüllte sich in Rauch. Die Hunde knurrten leise im Traum.

»Du mußt doch soupieren und dich ausruhn!« erklärte er. »Ich schellte eben dem Diener. Tritt in das Nebenzimmer, daß er dich nicht sieht. Vor Sonnenaufjang lasse ich keinen Jast aus meinem Hause!«

Aber es war doch erst zwei Uhr nachts und die ersten roten Bänder flammten quer über dem Himmel im Osten, als Waldemar Kerkhuß vorsichtig über den als Türschweizer verkleideten, ausgestopften Riesenbären stieg, der, umgestürzt am Boden liegend, die Schwelle sperrte, und ins Freie trat. In der tiefen Stille des Überganges der weißen Nacht in den grauen Morgen schritt er beinahe lautlos auf seinen Pasteln, den weichen, ländlichen Schuhen, die Bucht entlang, ein Esthe mehr, in fahlem Gewand und langem Haar wie aus dem Boden dieser kargen Küste gestiegen. In den Zerklüftungen der allmählich aufsteigenden Felsenmauer des Strands huschten rote Flecken. Die jungen Füchse spielten vor dem Bau. Ein Zeichen, daß kein Mensch heute noch diesen Weg genommen hatte. Man konnte ungefährdet zur Spitze der Bucht und durch die tiefen Fichtenwälder, die sie umrahmten, auf die Weideflächen von Alt-Sötthast gelangen.

So früh es auch war, Baron Feodor von Tumme stand da schon auf seinem Grund und Boden auf einer der Steinmauern längs des Wegs und spähte in die Ferne nach den bunten Farbenflecken seiner weidenden Herden. Dabei ließ er den großen braunen Zuchtstier nicht aus dem Auge, der langsam näher trottete. Es gab da drei Zeichen: Solange das Vieh nur brüllte, war keine Gefahr. Wenn es heftig den Schweif zu bewegen anfing, durfte man sich vorsehen. Senkte es den Kopf und warf mit den Hörnern Erdschollen in die Luft, dann war es höchste Zeit zum Rückzug.

Zuweilen schaute der Baron auch mißtrauisch hinter sich. Es war dem Frieden niemals zu trauen. Zu leicht pfiff aus dem Hinterhalt eine Kugel auf einen deutschen Herrn oder Arrendator oder Inspektor. Ringsum war eigentlich kein Platz, wo ein Mann sich hätte bergen können. Nur dürre Steppe mit zahllosen kleinen Steinen. Trotzdem fuhr Feodor Tumme bei einem Geräusch zusammen. Es war nur das Knarren beim Öffnen des nächsten Viehgatters gewesen, wie sie hier alle paar Werst die Landstraße sperrten. Ein Esthe war da hergekommen. Stand kurze Zeit darauf ernst und stumm neben ihm. Große blaue Augen brannten ihm in dem bärtigen Gesicht, um das lose die Flachsmähne des Haupthaars im Morgenwind spielte. Sie richteten sich gleich einer düsteren Mahnung auf den großen, gesunden, baltischen Landjunker. Dessen rotes, blühendes Gesicht erblaßte unter dem schon graublonden Haar. Die Züge verloren den noch vom Frieden gebliebenen fröhlichen und schlauen Ausdruck, dem ohnedies schon tiefe Sorgenfurchen des Kriegs um den Mund und auf der Stirne widersprachen.

»Kerkhuß ... Es steht einem ja das Blut still ... sind Sie's oder Ihr Jeist?«

»Noch lebe ich!« sagte Waldemar Kerkhuß gleichgültig.

»Es ist Gottes Wunder! Jestern hat man bei mir alles nach Ihnen durchsucht ...!« Baron Tumme ließ den Stier nicht aus dem Auge. »Nehmen Sie sich in acht vor diesem Burschen da! Im Frühjahr ließ ich ihn im Stall an der Kette von vier Kerlen so lange mit Prügeln dreschen, bis er sich ruhig einspannen ließ ...«

»Sie haben von der russischen Staatskunst jelernt!«

»Nun ist er wieder verwildert wie alles hier!« Feodor Tumme sah endlich den Hirten heranlaufen, den einzigen, dem der Bulle gehorchte. »Bemerken Sie den schwarzen Fleck drüben? Den Heustock haben sie mir vorige Nacht niederjebrannt. Sie schickten mir zum Johannistermin die Brandbriefe durch die Krone zu, mit der Post! ... Jede Nacht schlagen meine jroßen Hunde an. Sie schleichen mir mit Flinten ums Haus. Kein Licht wird bei mir mehr anjezündet, ehe nicht der dicke Vorhang vor dem Fenster ist ... Gott straft uns doppelt: mit dem Russen und mit den Aufrührern im Lande!«

Waldemar Kerkhuß hielt seine Mütze in der Hand, damit der Hirte in der Ferne bei dem Gespräch des Barons mit einem seiner Wirte nicht Argwohn schöpfe.

»Erkennen Sie es endlich, Tumme,« sagte er, »wo Gott uns hinführen will? Sie haben sich niemals Jedanken darüber jemacht! Sie haben jelebt, wie wir seit Urjroßväterzeiten lebten, fest auf unserer Scholle. Sie haben Ihre Feldfrüchte jepflanzt, sie haben für Ihre Familie jesorgt. Das übrige mußten Sie dem Willen Rußlands überlassen. Deutschland war jeistig Ihre jute Stube. Man setzte sich am Sonntagnachmittag hinein. Aber für das wirkliche Leben war es Ihnen zu fern. So wie Ihnen jing es vielen von uns.«

»Wie konnten wir auch anders?«

»Aber jewiß! Wie konnte man ahnen, was kommen würde? Aber nun kam es. Die Deutschen kommen! Die Deutschen kommen!«

»Sie stehen seit Jahr und Tag vor Riga und kommen nicht weiter!«

»Sie werden kommen, denn wenn sie nicht kommen, jehn wir unter!«

Der Alt-Sötthaster seufzte.

»Die neuen Machthaber in Petersburg sind schlimmer, als es je die Jeschöpfe der Zaren waren. Lieber noch solch ein Jouverneur von früher! Er war wenigstens ein Asiate. Er hatte die breite russische Natur. Aber diese Vögel von heute ... Der englische Jesandte hält sie mit einer Schnur am Bein. Sie pfeifen, wie er will. Ich bin meines Lebens nicht mehr sicher! Zweimal hat man mich schon verhaften wollen ...«

»Jeduld! Jeduld!«

»Ich habe es mir jetzt oft jesagt: Was habe ich jetzt von meinen preisgekrönten Kartoffeln und meiner Schweizer Zucht und meiner Torfverwertung? Jrößeres steht plötzlich auf dem Spiel. Die Not ist über uns jekommen, die jroße Not!« ...

Und aus den Worten des Sötthaster Tumme sprach es zu Waldemar Kerkhuß wie die Stimme von vielen, wie der Ruf eines Landes, das durch fast zwei Jahrhunderte unter der Faust Moskaus Ruhe nach erschöpfenden Kriegen, Frieden, sattes Gedeihen in seinen engen Grenzen gefunden hatte, so daß sich durch die Geschlechter die Gewohnheit der Russenherrschaft über Deutsche vererbte, bis diesem Menschenalter der jetzt Lebenden die Umkehr in die Wirklichkeit der Dinge, die russische Deutschenverfolgung im Frieden, die russische Deutschenvernichtung im Kriege kam.

... Helft ... helft ... Es klang Waldemar Kerkhuß in den Ohren, als schon der riesige einsame Granitfindling inmitten der Haide ihn den Blicken des Baron Tumme entzogen hatte. Er schritt weiter. Er mußte hier vorsichtig gehen, der Stiere wegen. Denn er konnte ihnen mit seinem steifen Bein nicht laufend entfliehen. Aber der weiße, die blutunterlaufenen Augen rollende Bulle am Waldrand hatte nach altem Brauch ein Horn und ein Vorderbein mit einem Strick zusammengekoppelt. Er brüllte dem fernen Esthen nur nach, der sich über die letzte Feldsteinmauer schwang und aus dem hellen Morgenrot wieder im Dämmern des Waldes untertauchte.

Ein Kirchturm ragte fern über den Wipfeln. Um das, strengem lutherischen Glauben gemäß innen ganz schmucklose kahl weiß getünchte Gotteshaus standen auf der einen Seite in dichtem Gewimmel die Holzkreuze der Esthen, auf der anderen einzeln die Grabsteine der Deutschen von benachbarten Gütern. Das Pfarrhaus selbst gab, breit und behäbig wie der Sitz eines Landedelmanns, den meisten anderen Rittergütern der Nachbarschaft nichts nach. Noch lag tiefe Morgenstille über diesem Mittelpunkt des weitausgedehnten Kirchspiels St. Jochens. Aber Pastor Gotthard Magnus selbst war längst aus den Federn. Groß, mit langwallendem, grauem Bart, den breitrandigen Hut auf dem Haupt, den totschlägerähnlichen Knotenstock in der Faust, schritt seine Wotansgestalt, an dem Geschmetter der Hähne hinter dem Hause vorbei, dem Walde zu. Der Forst war hier gepflegt. Es gab da eine Lichtung mit einer Bank. Es kam oft vor, daß sich der Pfarrherr zu innerer Sammlung vor Abfassung einer Predigt oder Grabansprache dorthin zurückzog.

Aber heute stand er zwischen den Bäumen und wartete, bis sich ein Esthe, hinkend, aber gewandt und vorsichtig wie ein Tier des Waldes nach allen Seiten äugend, stehenbleibend, wieder geduckt im Dickicht vorwärts kriechend, ihm näherte. Die beiden, Pastor und Baron, drückten sich stumm und rasch die Hand. Es war nicht ihre erste Zusammenkunft an dieser verabredeten Stelle.

»Wieder einmal gerettet?«

»Ja. Gott half mir.«

»Wo kommen Sie jetzt her?«

»Da, wo jetzt auch die letzten erwachen!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Bei allen hat die Zeit anjeklopft! Alle sind jeweckt! Die Stillen im Lande und die Rückständigen im Lande und die Engbejrenzten im Lande, jeder weiß jetzt, daß es um Sein und Nichtsein jeht! Man kann sich, wie mein Vetter Herzerode, zu den Russen schlagen und Russe werden, oder man muß Deutscher sein. Aber Deutschrusse, wie wir es bisher waren, kann man nicht bleiben. Das ist die Erkenntnis unserer Jejenwart jetzt bei allen ...«

»Wir waren immer Deutsche und hatten nichts vom Russen in uns, sondern höchstens an uns. In diesen schweren letzten Jahren und Jahrzehnten haben wir unser Deutschtum bewährt. Wir verdienen es, daß man uns nicht verjißt. Wir sind Zeugen für den deutschen Jeist.«

»Und diesen Jeist konnte früher kein Kosake mit der Nagaika niederknuten und kann jetzt kein Demagoge in Petrograd den Engländern ausliefern!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Nur wenige Wochen müssen wir noch den deutschen Jeist bewahren, nachdem wir ihn siebenhundert Jahre bewahrt haben! Dann haben wir unsere Pflicht jejen die, die vor uns waren, und die, die nach uns kommen werden, in der härtesten Zeit unserer Jeschichte hier jetan! ... Nun ... ich jehe weiter ... der Tag rückt vor.«

»Wohin?«

»Ich krieche für einige Tage in meinen Fuchsbau!« Waldemar Kerkhuß lachte unter dem verwilderten Vollbart und schlich mehr als er schritt auf leisen Sohlen zwischen den Bäumen weiter. Der Pastor Magnus stand Und sah ihm nach. Er wußte so wenig wie sonst jemand, wo dies Versteck im Umkreis des Kirchspiels St. Jochens war, in dem Baron Kerkhuß immer wieder vor den Nachstellungen der Russen, wie von der Erde verschluckt, verschwand.

Es blaute ein esthnischer Hochsommertag herauf, von einer Wärme, wie sie in Deutschland ein freundlicher Maimorgen zeigte. Hier an der rauhen Küste hoch im Norden empfand man dies laue Sonnenbad als wohlige Glut. Die Länge des Tages, an dem die Sonne kaum unterging, ersetzte die Kraft der Strahlen. Es war ein Zittern über dem blauen Meer, ein Schwingen der blütenschweren Luft über dem blumigen Boden, ein Flimmern über Birkenweiß und Birkengrün und Fichtenschwarz und Haidebraun. Aber um Mittag einer der nächsten Tage kam von der See, von den Inseln, auf denen in den kleinen, vom Ufer her graublinkend sichtbaren Strandhäuschen ein Fischervolk schwedischer Sprache und schwedischen Blutes wohnte, um Mittag kam von da wie ein Hauch aus dem Rachen des russischen Riesen ein alles durchkältender Nebel. Die Ausdünstung von Eismassen, die hoch im Bottnischen Meer mit dem Winde von Norden herabtrieben. Man sah sie nicht. Sie schwammen fern zwischen den schwedischen Granitinseln und dem Gewimmel der Finnischen Schären, aber ihr kalter Atem hüllte noch die esthnische Küste in zähes, feuchtes Grau.

Durch die Fenster des Pfarrhofs von St. Jochens sah man kaum dreißig Schritt weit in die wesenlose Welt. Der Pastor Gotthard Magnus nahm da Abschied von seinen Amtsbrüdern, die ihn auf der Durchreise nach ihren Kirchspielen besucht hatten. Die Pastoren Lodemann und Kampe kamen aus der asiatischen Verbannung zurück. Sibirien stand noch in tiefen Furchen auf ihren bleichen und übergrauten Zügen geschrieben. Durch das stille, vom Hauch deutschen Wesens und Wissens gesättigte Studierzimmer bebte noch der Widerhall deutscher Menschenschicksale zwischen dem Ural und der Mandschurei im Nachklang ihrer Erzählungen. Sie waren Zeugen gewesen, wie man die Deutschen in Rußland zu ungezählten Tausenden, Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke aus allen Ecken des Reiches, wie das Vieh in verschlossenen Güterwagen zusammengepfercht, in die Tungusensteppen, zu den Burjäten, in die tötende Kälte des kältesten Sibiriens verschleppte, wehrlose Menschen in Herden von Europa nach Asien trieb, wie England sie von Afrika nach Australien führte, Frankreich sie von Europa nach Afrika brachte, Amerika sie einzukerkern begann, Portugal sie von Afrika nach Europa, Italien sie vom Festland nach Sardinien verschiffte, Rumänien sie im eigenen Lande mißhandelt hatte, als sei es der Ehrgeiz der Menschheit, wer an blindem Wüten gegen alles, was deutsch war, den anderen übertreffen könne.

»In dem, was wir erlebten, spiejelt sich das Schicksal der Welt!« sagte Pastor Lodemann, den Fuß schon auf dem Trittbrett des Wagens. »Seit einem Menschenalter, seit mein Vater damals auf Befehl Pobedonoszews und des Synods nachts aus dem Bett jeholt und verhaftet wurde, bis vor zwei Jahren, als die Gendarmen mich holten, hatte ich jedacht, das sind nur wir, die als Lutheraner in Rußland verfolgt werden...«

»... oder wir Balten alle als Nachbarn Petrograds!« ergänzte Pastor Kampe.

»... aber an dieser Völkerwanderung der Verschickten in Sibirien habe ich jesehn: das ist der Deutsche, der von der Erde verschwinden soll! Jleichviel wo! Jleichviel unter welchem Himmel und in welchem Lande! Unsere Feinde sehen überall nur den Deutschen!«

»Sie hämmern und schweißen uns ineinander!« sagte Pastor Kampe.

»Sie machen uns zu einem einzigen Volk, auch wo wir uns bisher nur durch die Sprache nahe schienen. Wir Deutschen alle kämpfen um unser Dasein – die draußen wie wir hier! Wir alle jehören zusammen, viel mehr, als wir es bisher selber wußten...,« sagte der Pastor Magnus und schüttelte den Freunden im Wagen die Hand. »Über diesem Jemetzel und Jreuel auf Erden schwebt Gottes Wille. Er wird den Deutschen auf Erden, denen er so viel auferlegt hat, die Krone des Lebens jeben! Das ist meine Zuversicht! ... Schicke die Pferde jleich zurück, Lodemann! Ich brauche sie! Ich fahre diesen Abend hinüber zu den Brüdern Kerkhuß nach Kerreküll!«

Beim Sinken der unsichtbaren Sonne hatte sich der Eisnebel des Nordens noch verstärkt. Er umflutete den Pfarrherrn auf dem Weg zu dem Majoratsschloß mit seinen weißen, winterlichen, alles Blühende und Lebenswarme in Frostschauer hüllenden Schwaden. Es war eine wesenlose Weite, es war ein totes Nichts, es war wie Rußland selber, dessen schattenhafte Riesenarme die fremden Randvölker seines fern nach Asien verdämmernden Reiches erwürgend umspannten. In diesem lähmenden Grau kämpften in der weißlichfahlen, gespenstigen Dämmerung der nordischen Nacht hoch oben, scheinbar am Himmel, matte Lebenslichter mit dem Nebel, die hellen Turmfenster von Kerreküll, in dessen Saal im oberen Stockwerk die Bewohner beim Eintritt des Pastors zusammensaßen.

»Nein doch!« sagte Baron Robin Kerkhuß nach der Begrüßung zu dem russischen Gardegeneral mit dem dunklen Schnurrbart und den dunklen Bartstreifen an den Wangen des strengen Gesichts, der düster, die Brust des dunkelgrünen Friedensrocks voll Kriegsorden, in weiten Hosen und hohen Sporenstiefeln vor ihn: stand. »Ich bin jejenteiliger Anschauung, Onkel Paul! Du siehst: ich trage das Jewand eines Edelmanns auf dem Lande statt dieses russischen Feldbrauns! Ich bin nicht mehr Offizier jejen Deutschland, sondern ein deutscher Balte!«

»Immerhin: du hast jeschworen!« grollte der tiefe Baß des Generals Baron Paul Oxberg.

»Wie denn? Wem habe ich jeschworen? Dem Zaren! Ich habe den, Zaren jedient! Zweimal wurde ich in seinem Dienst verwundet. Man hat den Zaren abjesetzt! Wie das jeschah, jeht mich nichts an! Wo kein Zar mehr ist, jibt es auch keinen Schwur mehr, der Jültigkeit hat!«

Das hübsche, leichtsinnige Gesicht des früheren Petersburger Gardekürassiers war im Laufe der Kriegsjahre viel ernster und männlicher geworden. Er fuhr fort, zu all den anwesenden Verwandten sich richtend:

»Jaben uns etwa dieser Rechtsanwalt aus Turkestan und diese Kiewer Zuckerbarone und diese Moskauer Kriegsgewinnler unsere Gütter zu Lehen? Der Zar hielt durch zwei Jahrhunderte seine Hand über uns. Er zog sie schon vor dem Krieg von uns ab. Er wurde jestürzt, weil er sich nicht auf uns stützte. Rußland ohne Deutsche ist ein Chaos. Was habe ich damit jemein?«

»Die Pflicht, das Land zu verteidigen!« sprach Baron Oxberg düster.

»Auch jejen die Deutschen?«

Der General atmete schwer auf.

»Muß ich denn nicht? Vierzig Jahre war ich Offizier! Zwingt mich nicht mein Jewissen?«

»...als Deutscher die Deutschen zu bekämpfen, die kommen, um unser Deutschtum zu retten? Nein!« sagte Baron Robin Kerkhuß und warf seine Zigarette in den kalten Kamin. »Bejehe Selbstmord! Das ist deine Sache! Aber verlange ihn nicht von anderen! Das ist jejen die Natur. Schade! Wenn du einmal draußen in der Haide einen Esthenkerl träfst und er entpuppt sich als mein Bruder Waldemar – er würde es dir besser predigen können als ich! Gott soll ihm jetzt feurige Zungen in deutscher und esthnischer Sprache jejeben haben, das erzählen alle, denen er über den Weg kam!«

»Aber Rußland ist Rußland!« »Nein. Das ist es nicht!«

Der ältere Bruder, Baron Axel Kerkhuß, trat aus der Ecke, wo er bisher gesessen, näher. Aber seinem Wesen lag noch die Leichtigkeit des weltmännischen Petersburger Beamten der Zarenzeit, des Gehilfen in einflußreichen Ministerien, des Balten, der sich scheinbar dem Russentum geschmeidig anpaßte, um es dann im Aufstieg zur Macht um so sicherer zu beherrschen. Aber seine Stimme klang jetzt barsch, fast verächtlich. »Nein! Rußland ist nicht mehr Rußland! Es hat sich in den Dwornik Englands verwandelt. In den Hauskerl der Intellijenzen im Westen. Sie sind in seinem eijenen Hause die Herren jeworden!«

»Wer sagt das?«

»Du kommst von der Front, Onkel Paul! Ich komme aus Petersburg. Anjewidert von dem, was ich da sah. Früher schimpften sie: Petrograd ist eine deutsche Stadt! Der Njemetz beutet uns aus! Aber wie ist das jetzt? Alles ist voll von Engländern, Franzosen, Yankees, Japanesen! Was ist jejen sie der Russe? Man zieht ihm das Fell über die Ohren, wie wir dem erlegten Bären! Jedulde dich, Brüderchen, und halte still! Es ist zu deinem Besten, wenn wir dich hier daheim janz totschlagen, nachdem es der Deutsche draußen schon halb jetan hat ...!«

»Ich höre, es soll so sein!« sprach General von Oxberg finster.

»Du klagst, du Seelchen, der Deutsche hat dich ausgesogen! Wir werden dir zeigen, wie wir, deine Freunde, Jeschäfte mit dir machen! Du hast zu bluten wie ein Schwein! ... noch mehr zu bluten als bisher ... verstanden? Wir haben dir befohlen, von neuem in Jalizien anzujreifen ...«

»Ich weiß es!«

»... und während du kämpfest, leeren wir dir die Taschen! Das ist die neue Freiheit ... bejreife wohl ...«

»Und dafür opfern wir Rußlands letzte Kräfte!« sagte Baron Oxberg. »Und ich muß helfen, sie jejen den Feind zu führen ...«

»Nein doch! Der Feind führt dich, Onkel Paul! Du merkst es bloß nicht! Er steht in deinem Rücken. Er läßt deine Jeschütze Schrapnells auf deine Muschiks streuen, wenn sie vor den Deutschen umdrehen! Der Engländer ist unser jrimmigster Feind, den wir je hatten! Die Hand des Zaren war schwer. Aber sie jab uns doch die Jurgel zeitweilig wieder frei, weil auch andere jedrosselt werden mußten ... Die Polen ... Die Finnen. Man verjagte die Tataren in der Krim ... Man schlug Hebräer tot ... Die Kosaken waren überbürdet. Der Engländer in Petersburg ist es nicht. Er hat nur ein Ziel: die Deutschen auszurotten! ... Wir hier in Esthland und Livland sind die nächsten Deutschen, die ihm erreichbar sind ...«

»Und hinter sich hat er das Haus in der Millionaja. Es ist ein ausgezeichneter Name für die amerikanische Botschaft. Es stinkt schon jeradezu nach Dollars!«

Baron Bertil Butwengen, der das müde und hüstelnd sprach, lag so in einem Sessel versunken, daß man von der endlosen Länge seines hageren Körpers nur den viel zu kleinen, greisen Rassekopf und die dünnen, weit ausgestreckten Beine sah.

»Ich bin froh, daß ich mich zurückjezogen habe und mich auf meinem Gut nur noch mit der Jeschichte meines Jeschlechts beschäftige.« sagte der alte Diplomat. »Ich habe der russischen Politik jedient, und ich habe schweren Herzens jedacht und jejlaubt, daß sie jejen Deutschland jerichtet sei. Aber nein doch: sie war ja jejen Rußland selbst jerichtet. Es war englische Politik, die wir Dummköpfe machten. Der Engländer kroch im Lauf der Jahre in die russische Seele wie die Made in den Apfel...«

»Man hätte es sehen können!« Der kleine grauköpfige Baron Ottinka Wessall drehte sich eine Papyros und feuchtete das Seidenblatt behutsam mit der Zunge an. »Hieß nicht der vornehmste Klub Petersburgs der englische? Sprach man nicht am Zarenhof Englisch? Lernen nicht die Minister des Zaren in ihren Kerkern in Schlüsselburg noch Englisch?... Ist es nicht jespenstig, daß diese betörten Menschen jetzt noch die Sprache ihrer Henker lernen? Sie sind ein Sinnbild für janz Rußland...«

»Wir dachten, der Zar habe Asien von der Kette jelassen!« sagte Baron Axel Kerkhuß. Er war blond wie seine Brüder, groß und schmalbrüstig gebaut. Der Anzug nach englischem Schnitt, den er noch von Petersburg her trug, paßte zu seinen abschüssigen Schultern. »Aber im Jejenteil: England hat Asien auf den Marsch jebracht. England ist Asien. Die alte Jefahr für uns in neuer Jestalt...«

»Es jibt keinen Zaren mehr, aber auch kein Brot mehr an der Newa! Was früher für zehn Kopeken zu haben war, kostet jetzt einen Rubel. Diese neuesten russischen Kostjänger des Westens können nichts als Reden halten und Kreditbillette drucken. Es sind kleine Leute. Schließlich wird man sie jagen!«

»Und dann?... Beliebe zu antworten... was dann?«

Ein schweres Schweigen. Draußen um das Schloß Kerreküll war tiefe Ruhe. Aber es schien jedem der Balten da drinnen die Stille vor dem Sturm. Vor dem Ausbruch der Unterwelt, der sich entladen mußte, wenn die jetzigen Machthaber von Petersburg die Macht verloren. Es waren Feinde der Balten. Aber sie machten noch grimmigeren Feinden der Balten Platz.

Die Barone saßen und rauchten und schwiegen. Durch alle diese Köpfe, auf denen das Herrenbewußtsein von Jahrhunderten eingegraben war, ging derselbe Gedanke: Die Welt, unsere Welt, wird anders. Bisher war Rußland das unermeßliche Reich von Herr und Knecht und wir, in unserer deutschen Einzelkraft und Ahnenstolz und Willen zur Macht, die Blüte und das Sinnbild dieses Herrentums zwischen Njemen und Ural. Jetzt bläst der Sturm von Westen. Angelsächsische Hände schichten die russische Gesellschaft um. Neue Menschen steigen aus dem Völker- und Ständegebrodel. Menschen von gestern, mit bürgerlichen Namen und gellender Kehle und schauspielerisch fuchtelnden Armen. Menschen, aus deren heiseren und doch den Riesensaal des Taurischen Palastes durchdringenden Stimmen das Brüllen des entfesselten Rußlands, aus deren fieberhaft glänzenden Augen die Raserei der Zeit spricht. Um diese Russen des Westens webt ein roter Glast: der Widerschein der kochenden Unterwelt, die sie trägt, die langsam steigt, die sie verschlingt ... uns ... alles in diesem Lande ...

Robin Kerkhuß stand plötzlich auf. Die hübschen Züge des ehemaligen Petersburger Kürassiers waren gespannt.

»Was ist das für eine Männerstimme unten in der Halle?« sagte er.

»Wieder irgendein Tschinownik?«

»Kein Kronsbeamter! Er sprach Deutsch!«

»Wie kam er herein?«

»Sonderbar: die jroßen Hunde hätten doch anschlagen müssen ...«

»Sie winseln nur! ...«

»Irgendein Hauskerl hätte ihn doch aufhalten sollen ...«

»Die Diener sind ja da. Sie stehn janz still.«

»Sie verbeugen sich. Der Alte küßt ihm die Hand.«

»Er steigt die Treppe herauf ...«

»Er kommt zu uns!«

»Kannst du ihn sehn?«

Baron Ottinka Wessall beugte sich über das Geländer.

»Es ist ein Mensch mit unjepflegtem blondem Bart und deutschem Mantel und Kappe und dreckigen Transtiefeln. Irjendein Kalbdeutscher. Ein Hofaufseher oder derlei ...«

»Wie sollte er so frech sein, vornherauf zu jehen ...«

»Rufe ihm zu, er soll umdrehn und die schwarze Treppe benutzen!«

»Da ist er schon!«

Eine verwilderte Gestalt stand unter den Ahnenbildern des Stiegenhauses, schritt schweren Tritts, mit der Sicherheit eines Schloßkundigen, über die Steinfliesen des Vorraums nach dem Parkett des Saals, ging auf die alte Baronin Lisa Kerthuß zu, küßte der verwitweten Mutter die Wangen, dann dem Bruder, reichte den Vettern die Hand, setzte sich in einen Schaukelstuhl und nahm sich, als sei nichts Besonderes geschehen, eine Papyros aus der Schachtel auf dem Tisch. Ringsum war ein Schweigen des Entsetzens.

Dann legte Robin, der Herr des Hauses, dem Fremden, an dessen grob gewalktem Wollmantel noch Nebeltropfen und Fichtennadeln des Waldes draußen hingen, die Hand auf die Schulter und schaute ihm forschend in das durch die langen, blonden Haarsträhne und den blonden Bart halb verhüllte Gesicht, aus dem nur die großen blauen Augen frei herausschauten.

»Waldemar: bist du das oder dein Jeist?«

»Beides. Noch habe ich meinen Jeist nicht aufjejeben. Wir jehören zusammen!«

»Du wagst dich hierher ...?«

»Wenn dich die Russen ...«

»Ich weiß doch, daß kein Russe in Kerreküll ist! Ich erfahre alles, was im Lande vorjeht!«

»Aber unterwegs sind Russen überall ...«

Waldemar Kerkhuß warf einen Blick auf das seltsame Dämmern von nordischer weißer Nacht und fließendem grauen Nichts vor den Fenstern.

»Man kann den Nebel ja mit dem Messer schneiden, so zäh ist er!« sagte er gleichgültig. »Das ist kein Wetter für Asien. Es ist so trübe wie ihre neue Petersburger Intelligenz ... Nun ... wie jeht es euch ...?«

Dabei schweiften seine Augen die Wand voll Ahnenbilder entlang.

»Ihr habt da Johannes den Seligen umjehängt! Warum das? Am Fenster hatte er mehr Licht! ... Bitte etwas Limone in den Tee, Mutter! Der Abend ist kalt. Sahst du schon den jewaltigen Elenhirsch, Robin? Er sprang mit einem Satz über die mannshohe Obstjartenmauer, als ich kam ...«

»Warum kamst du? ...«

Waldemar Kerkhuß lehnte sich lässig in den Stuhl zurück.

»Wie sollte ich nicht? Ich sehe mich hier in meinem Eigentum um. Ich bin immer unterwegs auf meinen Güttern!«

»... und dabei von den Russen steckbrieflich verfolgt ...«

»... bald werde ich sie verfolgen ...«

»... jar nicht als Majoratsherr von ihnen anerkannt ...«

»... ich erkenne diese Petersburger Advokaten und Professoren auch nicht an ...«

Waldemar Kerkhuß sprach das mit unergründlichem Hochmut und wandte sich zu seinem Bruder Robin:

»Ich möchte mit dir über die Verwaltung der Gütter sprechen, die du für mich führst. Warum sieht man dich niemals in Arromar und Alleküll? Bülger, der Inspektor dort, ist schlapp wie ein Lämmerschwanz. Er zahlte jestern noch rückständige Spritsteuer an die Kronskasse! Ich bitte dich: jetzt noch Jeld an die Russen! ... Werft es lieber doch jleich vom Glint in das Meer! Ich verbiete euch, dem Feind noch Zahlungen zu leisten!«

»... dem Feind ...«

»Ebenso diese Kronslieferungen von Flachs und Wolle aus Wergel, die du wieder geleistet hast! Sage künftig diesen Dworniks Englands, ich hätte es verboten, ich, der Kerreküllsche Baron ...«

»Ich werde mich hüten ...«

»... alle diese Lieferungen seien für die Deutschen vorbehalten, damit sie bei ihrer Ankunft alles zur Jenüge vorfinden! Sorge auch, daß Riese, der Arrendator auf Rait, kein Heu mehr abjibt! Die Deutschen werden es brauchen. Ihre Reiterei wird das erste sein, was eintrifft! Nun: Riese ist ein fixer Junge! Auf ihn ist Verlaß.«

Um Waldemar Kerkhuß waren stumme Blicke, die sich fragend suchten. Dann hob Baron Butwengen den kleinen, alten, weißen Kopf.

»Bist du denn so sicher, daß die Deutschen kommen?«

»Sie werden kommen! Sie werden kommen! Bald werden sie Riga anjreifen! Es wird jenau so kommen wie 1204, als wir zum erstenmal mit Heereskraft vor Riga kamen und den Dünahafen nahmen und weiter durch das janze Land den Mutwillen der Jejner brachen. Du mußt dir Zeug zurechtlegen, Mama: Lasse dir von Pastor Magnus ein Stück schwarzes Altartuch jeben ... ein rotes Hemd von dem Artel von Russen, das drüben im Wald Holz schlägt, ein weißes Laken aus einem Jästebett ...«

»Wozu denn, Waldemar?«

»Wozu?« sagte der Sohn verwundert. »Wie können sonst deine Mamsellen in der Eile eine schwarz-weiß-rote Fahne nähen, wenn die Deutschen kommen? Die erste deutsche Fahne soll sie hier vom Turm von Kerreküll bejrüßen!«

»Wenn sie nur kommen ...«

»Sie werden kommen! Ich halte für sie vor meinem Schlosse Wache. Ich will mein Schloß nicht als Jnadenjeschenk aus ihren Händen! Ich will nicht von ihnen jerettet, sondern mit ihnen verbündet sein. Ein Deutscher ist jetzt schon hier. Das bin ich. Ich führe hier allein und heimlich den Kampf mit Rußland, bis die vielen tausend anderen mich ablösen. Ich arbeite ihnen hier vor. Ich bereite den Boden. Es ist keine Stelle in Esthland, wo ich nicht war ...«

»... aber immer als Esthe verkleidet ... unter den Esthen ...«

»Darin, Axel, liegt das Jeheimnis des Lebens oder Sterbens für uns! Unsere deutschen Seelen brauche ich den Deutschen nicht erst zu bringen. Aber ich habe schon viele esthnische Seelen für sie und für uns jefangen. Ich habe von Jugend auf das jesehen, was unsere Vorfahren, wenn sie ihre Kerle prügeln ließen, nicht jesehen haben: ich habe den Menschen im Esthen jesucht und jefunden! ...«

»Hätten wir den Esthen uns jleichjestellt, so wären wir längst nicht mehr vorhanden ...«

»Ich will dir etwas sagen, Onkel Ottinka: Jehe nach Ostpreußen! Auch dort waren wir. Auch dort war der Deutsche Orden. Aber dort mußte der Einjeborene Deutsch lernen, wo er es bei uns nicht durfte. So kam aus dem einst undeutschen Lande die preußische Königskrone und die Erhebung Preußens wider die Franzosen, und es war der Grundpfeiler des neuen Deutschen Reichs. Wer jibt, wird nicht verarmen. Dem wird jejeben werden. Wir müssen den Esthen in Zukunft jeben, was wir können. Nur damit sichern wir uns in den Zeiten, die kommen werden, den Jrund unter unseren Füßen.«

Waldemar Kerkhuß war aufgestanden. Er ging in seinen groben und beschmutzten Stiefeln über die Perserteppiche am Boden auf und ab, wurde ruhiger, sah seine beiden Brüder an und frug:

»Wie ist es mit Michael? Ist er noch auf der Flotte?«

»Auf der Flotte ...«

»Das heißt: er ist am Lande!« sagte Baron Axel Kerkhuß, der schmächtige, lange Petersburger. »Irgendwo zwischen dem Newski-Prospekt und Kronstadt. Ich glaube, in Peterhof.«

»Was tut er da?«

»Mehrere Offiziere wurden an Bord seines Panzers ermordet. Er und die übrigen sind beurlaubt, um ihr Leben zu retten.«

Waldemar Kerkhuß blieb stehen.

»So wird es bald überall in Rußland sein!« sagte er. »Das war der Selbstmord Dschinghiskhans, daß er den schlafenden Bauern weckte! Sonst holte er sich nur den zehnten oder zwanzigsten Muschik aus jedem Dorf und ließ ihn von den Türken totschießen. Daheim vergaß man ihn. Gott mit ihm! Jetzt hat der Zar die janze russische Erde aufjewühlt und alles, was Waffen tragen konnte, vom Amur bis zu uns, auf die Völkerwanderung jejen Deutschland jeschickt. Jetzt sind zweihundert Millionen Asiaten im Fluß. Keine Menschenmacht kann sie mehr halten. Was der Knute der Zaren nicht jelang, das wird der Zunge der Advokaten auch nicht mehr jlücken. Es wälzt sich über sie hinweg.«

»Dann sind auch wir verloren!«

Der greise Baron Bertil Butwengen sprach das mit der vornehmen und ergebenen Ruhe des vielerfahrenen, am Ende eines langen und bunten Lebens stehenden Weltmanns. Aber sein Neffe lachte, und seine blauen Augen blitzten.

»Ich war an der deutschen Front, wie ich mich hierher durchschlich. Sie haben da ein Trompetensignal ... Der jemeine Mann bei ihnen nennt es, jar nicht schönjeistig, einfach: ›Kartoffelsupp'! ... Kartoffelsupp'!‹ Wer die vier Takte je jehört hat, verjißt sie in seinem Leben nicht wieder, und lange Jahrhunderte werden sie nicht verjessen ...«

»Was ist das für ein Zeichen, Waldemar?«

»Das Angriffssignal der deutschen Infanterie, Mama! ... Und nun will ich jehen, ehe sich der Nebel verzieht. Ich habe noch einen weiten Weg bis nach Hause!«

»Wo bist du zu Hause?«

»Nun – irgendwo im Walde!« sagte Waldemar Kerkhuß obenhin, beinahe schon wieder in seiner zerstreuten Art.

»Willst du uns nicht verraten, wo eigentlich dein Versteck ist?«

»Niemand bejreift es, wo du dich allen Nachstellungen entziehst ...«

»... und wer dich verborjen hält! Irjend jemand muß doch für dich sorjen!«

»Nun: vielleicht lebe ich mit einer Bärenfamilie zusammen, oder ich habe einen Wolf jewonnen, daß er mir Nahrung bringt! Jehabt euch wohl!«

Es war noch vorahnende weißliche Morgenfrühe des nächsten Tages, der letzte Seenebel von Norden löste sich in aufblauender Helle und Wärme und Sonnengold, als der Gutspächter von Riese im Walde der Kerkhußschen Herrschaft Rait zu Pferde hielt. Er ritt ein langmähniges und langschweifiges schwarzes Orloffsches Halbblut, fast noch ein Füllen. Das Tier war edel, aber schmächtig, so daß die langen Beine des Arrendators beinahe den Boden berührten, namentlich der rechte Fuß, der bügellos herabhing.

»Wir können beide nicht mehr um die Wette laufen, Riese!« sagte eine Stimme neben ihm, halb hinter der mächtigen Fichte. »Nur daß ich mein steifes Knie durch Gottes Willen bekam und Sie Ihren lahmen Knöchel durch eine bayrische Kugel ...«

Der junge Gutspächter fuhr herum. Sein erster Blick war nach der Genossenschaft russischer Arbeiter, die drüben jenseits der Waldlichtung, einige hundert Schritte entfernt, für ihn Bäume fällte. Sein zweiter erst nach Waldemar Kerkhuß. Aber der stand so verborgen hinter dem Baum, daß ihn die flachsmähnigen Kerle in ihren flammendroten Hemden, Ledergürteln und hohen Stiefeln nicht sehen konnten.

»Was bauen sich die Arteltschiks da?« sagte er. »Eine Badstube? Schwitzen ist ja die einzige Tujend des Russen! Ich beobachte, wenn ich mein Jebiet durchstreife, daß Sie ständig Holz schlagen lassen, Riese! Wie denn? Kronsaufträge? Erbarmen Sie sich: Wo ist denn noch bei uns eine Krone? Man trat sie in Petrograd in den Pferdekehricht des Newski-Prospekts. Die Sonne wird uns erst wieder aufjehen. Sie wird uns von Deutschland kommen!«

»Nehmen Sie sich in acht! ... Überall ist man hinter Ihnen her!«

»Bald wird Gott die Sanduhr umdrehen! ... Wie sind Sie mit dem Heu zufrieden?«

»Es wuchs gut! Aber Brandstiftungen! Jeden Morjen liejen Zettel vor den verkohlten Heustöcken. Die Leute kommen nicht mehr zur Arbeit. Es järt im Lande. Es järt ...«

Waldemar Kerkhuß blickte verächtlich nach Nordosten, wo in einem Meer von Blut, mit düster über den Himmel lohenden Feuerzungen, die Sonne von Rußland her aufstieg.

»Uns wäre das nicht passiert,« sagte er, »als wir Balten noch dies blinde asiatische Ungeheuer an der Hand führten! Wir waren das Herrschen jewohnt. Wir ließen nur so viel von seiner Kraft frei, als wir bemeistern konnten. Aber der Schwächling im Winterpalais und die Schwätzer im Taurischen Palais haben den jungen Koloß ins Rollen jebracht. Nun zermalmt er alles und stürzt kopfvor in den Abjrund. Nur eine Macht jibt es noch, die ihn aufhalten und Europa retten kann ...«

»Es heißt, die Deutschen wollten endlich die Düna überschreiten!«

»Sie werden Riga nehmen, sie werden Livland nehmen, sie werden in Esthland einmarschieren! Halten Sie sich bereit, Riese: der Weltunterjang steht bevor, und die Auferstehung folgt!«

Waldemar Kerkhuß verschwand im Walde. Als er zwei Stunden später im Roggenschlag seines Gutes Arromar jählings wie ein Schattengespenst aus dem Korn vor dem Inspektor Bülger auftauchte, war seine Miene herrisch und drohend.

»Verbot ich Ihnen nicht, den Russen Pferde zu verkaufen? Bin ich nicht Manns genug, meine Befehle durchzusetzen? Ich verwalte meine Gütter aus dem Walde heraus, aber ich verwalte sie gut! Warum ist die Holzweide trotz meines Befehls leer?«

»Die Pferde wurden nachts jestohlen ...«

»Ich selbst ließ sie durch meine Leute wegtreiben, damit die Russen sie nicht bekommen. Sie halten es halb mit den Russen, Bülger! Sie jehörten zu den südrussischen Kolonisten, die jleich bei Bejinn des Krieges eine Erjebenheitsadresse an den Zaren richteten ...«

»Wir glaubten, Deutschland sei verloren ...«

»Und was hat Ihnen das Schweifwedeln vor dem Moskowiter jenützt? Man hat Ihnen Ihr Land zu einem Spottpreis verschleudert, man hat Sie von Haus und Hof jetrieben. Sie konnten Ihrem Schöpfer danken, daß Sie mit Frau und Kindern hier Unterkunft fanden ...«

»Ich weiß es, Herr Baron!«

»... und doch dienen Sie heimlich weiter denen, die Sie beleidigen und verfolgen! Sind Sie ein so guter Christ? Dann denken Sie an das Wort Christi: ›Ich will die Lauen ausspeien aus meinem Munde!‹ Das wird sich, wenn die Deutschen kommen, an euch erfüllen, an euch Halbdeutschen allen, die ihr für Rußland euer Selbst aufjabt, weil ihr euch vor ihm fürchtetet, und ihm jetzt bald einen Fußtritt versetzen werdet, weil der Bär am Boden liegt ...«

»Noch steht er aufrecht, Herr Baron!«

»Zittern Sie nur weiter vor der jroßen Vogelscheuche!« Waldemar Kerkhuß' blaue Augen funkelten grimmig. »Sie und Ihresgleichen werden Rußland noch ein zweites Mal kennenlernen! An der Wolga und am Schwarzen Meer kam es mit den Akas und Prikas des Zaren über euch, hier wird es mit der Brandfackel der Zarenstürzer über euch kommen ... Man wird euch verfolgen ... Man wird euch töten ...«

»Um Gottes willen, Herr Baron ... wie soll man sich halten? ... Ich bin kein Mann, der Freude an Kampf und Gefahren hat. Die Zeit ist für mich zu schwer!«

»Die Zeit verlangt Mut!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Die Zeit verlangt Kraft! Die Zeit verlangt Einsicht! Mut, Kraft und Einsicht sind bei den Deutschen! Ich rede darüber nicht weiter mit Ihnen. Es ist für alle Halben zu hoch. Wie steht es mit der Streujewinnung in Ettel? Auch da wird jebummelt! Ich sah es jestern. Überall merkt man eine schlaffe Hand und ein schlaffes Herz! Darüber jeht der Sturm hinweg. Hüten Sie sich!«

Esthen waren herangekommen. Sie hielten sich in scheuer Entfernung und starrten, die Haare aus der Stirn schüttelnd, abergläubisch auf die Erscheinung des Kerreküllschen Barons, der plötzlich im hellen Tageslicht vor ihnen stand. Waldemar Kerkhuß wußte: an ihm vergriffen sie sich nicht, selbst wenn der Zwitterdeutsche drüben hätte die Gelegenheit benutzen wollen, sich seiner zu bemächtigen. Aber der Mann voll eingeborener Angst vor der breiten Brutalität Moskaus war froh, daß der unheimliche Baron, der sein Herr und doch nicht sein Herr war, nun schon eine halbe Werst seines eigenen Grundes und Bodens zwischen sie beide gelegt hatte. Hinter fernen Fichtenstämmen tauchte noch einmal die straffe, leicht hinkende Gestalt auf. Dann verschlang sie die Wildnis.

Es gab da landeinwärts in Esthland Sumpf- und Urwaldweiten, die seit Menschenaltern kein Menschenfuß betreten hatte und betreten konnte, weil der Boden tückisch gurgelnd unter ihm wich. Einst hatten vielleicht auch da Esthenhütten gestanden und die Sicheln die Roggenmahd gerafft. Aber das war zu lange her. Die Erinnerung Esthlands, soweit sie nicht in den Revaler Chroniken und den Urkunden des Deutschen Ordens verzeichnet stand, reichte nur bis zur Pestzeit des großen Nordischen Krieges vor zweihundert Jahren zurück. » Katken deg«, »die Zeit der Pest« war der Vorhang, hinter dem alles verschwand. Ehe damals, nach der Sage, das Knäblein mit breitem, rotem Hut des Nachts, auf einem durchlöcherten Wetzstein blasend und die Namen der nächsten Dörfer vor sich hinmurmelnd, dahinwanderte und sich bei Tage in einem Kornfeld verbarg, ehe das Pestmädchen in weißem, am Saum unten nassem Kleid abends den Kopf in die Hütten steckte und grüßte und hinter ihr das rote Pesthündchen mit silberner Glocke lief – ehe so in der Mordbrennerei der Russen damals weite Landflächen leer von Menschen und voll von Wölfen geworden waren, da mochte auch in dem beinahe undurchdringlichen Morast auf dem Gebiet des Saxesonschen Gutes Nois ein esthnisches Gesinde sich an das andere gereiht haben. Man sah jetzt noch hier und da die vermoosten Grundmauern und die Steinhügel zwischen den ehemaligen Feldern unter dem Wasserspiegel des Sumpfes, über den man sich mühselig auf schwanken Baumwurzeln und einzelnen Schilfinselchen durch das zähe Gestrüpp hinwegtastete. Mitten darin ruhte, halb schon in dem moorigen Abgrund versunken, ein von wirrem Dickicht überwucherter Berg von losen Feldsteinen. Die Reste einer Kirche. Auf dem ehemaligen Friedhof um sie herum hatten, in jener fernen Kriegszeit, die Tiere des Waldes die verlassenen Gräber aufgerissen. Die Sage erzählte, es sei vor Jahrhunderten ein Bär aus der Wildnis gekommen, der, aufrecht wie ein Mensch schreitend, eine Leiche in seinen Pranken trug, daß das weiße Laken lang nachschleifte. Seit jenen Tagen war ein Grauen um den unheimlichen Ort. Der Urwald gehörte dem, der ihn betrat, und der, wie Waldemar Kerkhuß, vorsichtig mit wider das Schilf geschlagenem Stock die massenhaften Kreuzottern scheuchend, auf dem Schutthügel festen Boden erreichte.

In dichten Wolken, mit durchdringendem Singen summten die Stechmücken. Man konnte sich ihrer nur erwehren, wenn man Rockärmel und Hosenbeine mit Bindfaden umschnürte, Lederhandschuhe überzog und einen Schleier um Kopf und Hals wickelte. Dann boten die Klüfte des im Lauf der Jahrhunderte wieder ineinander verwachsenen Gesteins der eingestürzten Kirche einem Menschen Unterschlupf. Es war da eine durch Waldemar Kerkhuß' Hand erweiterte Höhle entstanden, die, mit trockenem Moos ausgelegt und mit Decken versehen, Platz genug zum Liegen und zum Aufrechtsitzen gewährte, wenn man erst einmal in das warme Halbdunkel hineingekrochen war.

Es war wieder die Nacht da, als Waldemar Kerkhuß sein Versteck verließ – die weiße Nacht des Nordens mit ihren schwarzen Schatten, ihrem bläulichen Zwielicht des Mondes, ihrem silbernen Schimmer. Es glitzerte auf den dunklen Sumpflachen, die schwarzen Kegel der Binsenköpfe schwankten, das Schilf rauschte, leise, vorsichtig, als suche ein Tier des Waldes seinen Pfad, aus einem von außen unsichtbaren Ausschlupf aus der nahen Urwelt hinaus auf die freie Torfhaide. Der feuchte, salzige Seewind blies über die hin. Scheinbar ganz nahe klang wie die tiefen Atemzüge eines Schlafenden in regelmäßigen Abständen das schwere Rollen der Brandung. Dunkle Gestalten standen, unregelmäßig verteilt, wie lauernde Schatten auf dem von milchweißer, durchsichtiger Dämmerung überfluteten Moor und verbeugten sich zuweilen tief, den einsamen, aus dem Walde tretenden Menschen äffend. Aber der wußte, daß es nur die halbwüchsigen Birkenstauden waren, mit denen die Windstöße scherzten. Unter seinen Füßen stob es mit metallischem Knattern des Flügelschlags auf. Eine Auerhenne, die sich nach ihrer Art auf freiem Boden hingeduckt hatte, stob kopflos davon und durch die Nacht in die Ferne. Dort schimmerte ein einsames Licht. Das geübte Auge des Waldläufers konnte die Umrisse und das Dach des weltverloren inmitten seines Gebietes von Dickicht und Morast gelegenen uralten, kleinen Herrenhauses von Nois erkennen, in dessen morschen Mauern der Name derer von Saxeson mit den vier armen Fräulein, den letzten Sprossen des Geschlechts, ausstarb.

Aus diesem Haus im Moor kam es vorsichtig, behende, auf leisen Füßen durch die weiße Nacht – stehenbleibend, das blonde Haupt nach rechts und links wendend, wie ein Reh sichernd auf die Lichtung hinaustritt. Dann wieder vorwärts, unbekümmert mit derben, hohen Stiefeln durch platschende Lachen. Als gleitender Schatten in grauem Mantel über eine schutzlose Fläche, den Korb mit heißem esthnischem Hirsebrei am Arm, den Krug mit Sauermilch in der anderen Hand, ein Sprung der schlanken Gestalt über einen Wassergraben, ein Aufatmen ... ein stummer Händedruck hinter den Büschen ... dann ein Flüstern ...

»Vorjestern haben sie wieder bei uns nach dir jesucht!«

»Sie haben überall nach mir jesuchtl«

»Wo warst du jestern abend? Ich habe umsonst auf dich jewartet!«

»Ich habe einmal in Kerreküll hineinjeschaut!«

»Du warst im Schloß?«

»Es jehört doch mir!«

Karin von Saxeson schüttelte den blonden Kopf. Ihre frischen, klaren Züge hatten trotz der lauernden Gefahr gesunde, rote Wangen mit vereinzelten Sommersprossen, die selbst wieder an den Sommer dieses Landes, an seine herbe Luft und reine Sonne erinnerten, wie ihr helles Haar an die Ähren dieses Bodens. Ihr Atem kräuselte sich leicht, so kühl war die Nacht. Sie hob den Kopf und lauschte. In der Ferne bellten die Hofhunde von Nois. Sonst war in diesem Geglitzer unzähliger Sterne über der schwermütigen Einsamkeit der Haide kein Laut um den Mann und das Mädchen. Es war, als sei die Welt schon ausgestorben, die da draußen in Blut und Tränen sich zerfleischte, und sie die letzten beiden Menschen, die dem Selbstmord Europas entrannen. Trotzdem dämpfte er die Stimme bis zum Flüstern.

»Merken sie denn bei euch nichts, wenn du immer hier herausjehst?«

»Aber nein! Sie sind es doch schon von früher jewohnt! Ich schaute doch immer nach den Heustöcken. Mögen sie nun brennen ... Man sieht es dort schon die janze Zeit ...«

Eine kleine, stille, purpurne Flamme stand da irgendwo wie ein Hirtenfeuer fern, ganz fern in dem hellen Dunkel. Karin von Saxeson musterte sie sachverständig, ein Kind dieser nordischen Erde ...

»Es ist bei deinem Freund, dem Kuisteferschen! Jede dritte Nacht seit dem Johannistermin sieht man jetzt Feuer ...«

»Feuer überall auf der Welt ...«

Waldemar Kerkhuß hielt Karins Hand in der seinen. Es war, als hätte er doch Angst um sie. Er frug:

»Wenn deine Schwestern dich hier in der Richtung nach den Torfjründen fortjehen sehen, wissen sie doch, daß da kein Heu zu bewachen ist?«

»Aber die Pferde! Ich sagte, ich wollte nachts nach der Weide schauen! Sie stehlen jetzt jräßlich! Meist jehn sie in Uniform, die lose Trense in der Tasche, an die Jäule heran, werfen ihnen die Zügel über, sitzen auf und reiten auf dem blanken Tier davon, bis zur Bahn und dann im Jalopp auf den Jeleisen weiter, weil es da am schnellsten jeht ...«

Sie nickte im Sitzen neben ihm voll Empörung und Tatkraft.

»Sie reiten in einer Nacht bis Reval. Dort sollen sie in den Vorstädten Scheunen haben, wo sie die jestohlenen Pferde einstellen und verkaufen! ... Wie wird das alles noch enden!«

»Aber daß du dieses Essen hier für mich in die Nacht hinausträgst, Karin ... Wenn die Muhme bei euch noch so dwatsch ist, das fällt ihr doch auf?«

»Dazu habe ich meinen Mantel, um es darunter zu verbergen. Nun iß doch schon!«

Er ließ ihre Hand los, warf mit dem Löffel einen Klumpen des esthnischen Breis in die saure Milch und begann seinen Hunger zu stillen. Zwischendurch frug er:

»Fürchtest du dich nicht, Karin?«

»Nein –«

»Immer noch nicht?«

»Nein!«

»Wenn es herauskommt, schicken sie dich nach Sibirien!«

»Jewiß doch!«

»Woher kommt es, daß du so viel Mut hast?«

»Ich bin verjnügt, daß ich dir helfen kann!«

Sie saß ganz ruhig, die Hände im Schoß verschlungen, und schaute ihm ins Gesicht, mit den Augen eines Kameraden in der Not und eines Freundes. Aber es war mehr in ihren Augen als sonst die Frische ihrer Natur, die, von Licht und Luft dieses Bodens entflossen, ihm diesen Boden der Väter zu verkörpern, ein Bild der baltischen Heimat selbst zu sein schien. Er stand auf und küßte sie. Sie küßte ihn wieder. Sie sprachen dabei kein Wort. Fern bellten die Hunde von Nois. Der Ostseewind zupfte an ihren Mänteln und lief weiter. Nichts war da als sie zwei und die Gefahr. Und das Leben. Und beides, Gefahr und Leben, in dieser Zeit der Weltenwende in eins verschlungen.

»Hab' Dank!« sagte er endlich.

»Dank – wofür?«

»Daß du bist, wie du bist! – – Du kannst nicht anders sein. Du warst immer so. Du warst immer da. Ich habe dich jesucht auf der Welt und dich in meiner Nähe nicht jesehn ...«

Karin von Saxeson lachte.

»Oft jenug hast du mich jesehen, Waldemar, seit achtundzwanzig Jahren. So alt bin ich nun schon.«

»Man braucht Augen, um dich zu sehen, Karin! Die Augen hatte ich nicht. Der Krieg hat mir diese Augen jejeben. Er jibt uns neue Augen für alle Dinge. Er ist das Furchtbarste, was je über die Menschen kam. Aber er belohnt die, die keine Furcht haben. Du bist tapfer, Karin ... Das weißt du ...«

»Ich habe nie darüber nachjedacht ...«

»... und ich bin es auch, und dies ist die Zeit der Tapferen, und ich habe den Jlauben für dich und mich: Die Zeit wird uns noch krönen ...«

Er zog sie hastig noch tiefer in den Baumschatten des Waldsaums. Stimmen hallten über die Haide. Gestalten bewegten sich da, die keine Büsche, sondern Menschen waren. Gestalten in Esthenkitteln. Russische Hemden dazwischen. Ein paar braune Militärmützen auf wilden Köpfen. Ein Dutzend oder mehr gingen sie rasch, ohne sich nach dem schwarzen Sumpfdickicht drüben umzuschauen, über die geisterhaft weiß beschienene Fläche. Man hörte ihre rauhen, streitenden Stimmen. Irgend etwas blinkte, man konnte nicht erkennen, ob eine Axt oder eine Büchse.

»Es ist das erstemal, daß sie bis hierher kommen!« murmelte Karin von Saxeson, als der Trupp von Fahnenflüchtigen, feiernden Fabrikarbeitern und entlaufenen Knechten wieder wie eine Spiegelung der Nacht von der Nacht verschlungen war. Waldemar Kerkhuß löste an der aus Deutschland mitgebrachten Browningpistole die Sicherung und hielt sie schußbereit in der Rocktasche, während er Karin bis in die Nähe des Hauses Nois zurückgeleitete. »Ich sah die Kerle schon oft!« sagte er. »Die Wälder werden von ihnen lebendig. Die Straßen werden voll. Fühlst du, wie der Boden unter uns nachjibt, Karin? Wer hier in dem Sumpf den Kopf verliert, der ist verloren! Wir wollen den Kopf oben behalten, mag kommen, was da will ...«


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