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4.

Baron Bertil Butwengen, der Vertrauensmann der Petersburger Regierung in Bukarest, blieb stehen und betupfte sich mit dem Seidentuch die spiegelnde Glatze des schneeweißen, hochfahrenden und feinen Rasseschädels, der, von Natur viel zu klein geraten und nur mit einer mächtigen Stirne ausgestattet, auf einem baumlangen, schmalbrüstigen und gertendünnen Körper saß. Obwohl die Last seiner siebzig Jahre seine überzüchtete Gestalt wie einen Bogen gekrümmt hatte, überragte er doch noch weit das Straßengewimmel der Calle Victoriei. Alles grüßte ihn hier, die Rumänen, die Russen, die Franzosen, die Briten, die Italiener, von denen Bukarest wimmelte. Jedes Kind kannte ihn und seine groteske Länge und das vertrocknete, kleine, von den riesigen Stirnbuckeln überdachte Gesicht, das Zeichen der begonnenen Entartung eines uralten baltischen Geschlechts, das kein Mittelmaß mehr, sondern nur noch halb schwachsinnige oder aber ungewöhnlich kluge Köpfe, wie ihn selbst, hervorzubringen vermochte.

»Ah, ça commence, mon cher!« sagte er, sein Tuch zusammenfaltend, und meinte mit dem, was nun allgemach anfing, die drückende Sommerschwüle und den Fieberdunst der rumänischen Ebene, die jetzt, zu Mitte Mai des Jahres 19l5, schon bald die Bukarester große Welt hinauf in die nahen Wälder von Sinaia scheuchten.

Vorläufig waren sie alle noch da. Die Luft war voll von Staub, vom Geschrei der fliegenden Händler und zitterte in der Hitze und flimmerte von Genußsucht und Geldgier und Faulenzerei und Fäulnis. Durch die Siegesstraße rollte jetzt am späten Nachmittag der alltägliche Wagenkorso von tout Bukarest hinaus zu den Anlagen der Chaussee. Es war ein prahlender Aufmarsch des Kriegsgewinns, ein prunkender Triumphzug der Bestechung, eine freche Heerschau der Liederlichkeit, ein satter Jahrmarkt aller Sünden. Es stank nach verdorbener Französelei, mißverstandenen Boulevards, einem halbasiatischen Klein-Paris. Der greise Baron Butwengen hatte, während er mit seinen langen, dünnen, in den Knien eingeknickten Beinen, und doch noch mit der Leichtigkeit des alten Weltmannes sich wiegend, dahinging, fortwährend zu grüßen und Grüße zu erwidern. Mit ihm griff auch sein Neffe Waldemar Kerkhuß jedesmal nach seinem Strohhut, aber mit einem nachlässigen Lächeln und einem ironischen Ausdruck in den kühlen blauen Augen. Endlich behielt er gelangweilt den Hut in der Hand, daß die rumänische Sonne seinen dicken blonden Haarschopf beschien. Der Alte neben ihm sprach von der Höhe seines viel zu kleinen weißen Kopfes leise, mit der Trockenheit des vielerfahrenen Skeptikers in seinem geschmeidigen Diplomatenfranzösisch auf ihn herunter und brach dann ab.

»Wie ist das denn, mein Freund? Mir scheint, du hörst gar nicht zu? Nein, bitte ... man sieht dir an, daß du aus fernen Welten zu uns hier zurückkommst. Woher? Von einer Frau?«

»Auf eine andere Vermutung zu kommen, wäre allerdings in Bukarest geschmacklos. Also nehmen wir es an, mein Onkel!«

»Oder was sonst? Bitte sprich!«

Waldemar Kerkhuß antwortete nicht gleich. Er sah schweigend auf den Tanz um das goldene Kalb vor sich, mit einem Gemisch von Widerwillen und Belustigung, als betrachtete er einen Affenkäfig, und sagte dann unvermittelt:

»Ich dachte daran, daß die Deutschen in diesem Augenblick schon vor Mitau stehen. Bald ist unser ganzes Kurland in deutscher Hand.«

Nun war die Reihe des Verstummens an dem alten russischen Diplomaten von baltischem Blut. Petersburg hatte auf ihn abgefärbt. Die weite Welt und die große Welt, durch die sein langes Leben ihn geführt, hatte ihn zu einem blasierten, internationalen Spötter gemacht. Aber jetzt regte sich bei dem Gedanken, daß siegreiche deutsche Heere in der südlichsten der Ostseeprovinzen standen, in dem greisen esthländischen Junker doch der Nachfahre der Gottesritter aus Westfalens roter Erde. Er richtete unwillkürlich seine hagere Hopfenstangengestalt hochfahrend noch etwas in die Höhe. Nach außen hin blieb er in der Gewohnheit des Weltmannes kühl.

»Gewiß stehen deutsche Truppen zur Zeit in Kurland!« sagte er. »Aber was weiter?«

»Soll ich dir das erst erklären, was das für uns beide und für uns Balten alle heißt: die Deutschen in unserem Lande?«

»Was willst du? Der Krieg ist veränderlich. Diesen Winter besuchten wir die Deutschen in Ostpreußen. Nun erwidern sie den Besuch bei uns in Kurland. Es ist ein Austausch bewaffneter Höflichkeit zwischen feindlichen Nachbarn.«

»Wenn es nicht mehr ist ...«

»Schließlich wird man sich wieder vertragen und jeder nach Hause gehen! Voilá tout!«

»Und wenn die Deutschen bleiben? Wenn Kurland deutsch bleibt? Oder vielleicht noch mehr als Kurland?«

»Sie können nicht über die Düna!« sagte Baron Bertil Butwengen. »Und sie würden auch nicht weiter gehen. Kein Feldherr hat es noch je unternommen, Petrograd von Norden her bei den Hörnern zu packen und sein Heer in den esthnischen Sümpfen zwischen der Ostsee und dem Peipussee einzuzwängen. Selbst der alte Napoleon hat es nicht gewagt, sondern ging nach Moskau ...«

»Und doch wäre es möglich!«

»Und dann, mein Lieber, die Deutschen erklärten uns vorigen Sommer den Krieg. Aber zugleich erklärten sie: wir wollen uns nur verteidigen. Wir wollen schützen, was wir haben, aber nichts dazugewinnen. Wenn sie also zu uns kommen, dann werden sie auch wieder von uns gehen. Wozu sollte man aber unter Mühen und Gefahren in unser fernes, armes, einsames Land gehen, wenn man es nicht behalten will?«

Waldemar Kerkhuß hatte finster zugehört. Nach einer Weile versetzte er kurz:

»Du hast recht!«

»Ich habe immer recht!« sagte der alte Butwengen. »Denn ich hüte mich vor dem Gefühl. Das Gefühl führt immer irre. Merke dir das nur!«

»Ich werde es zu verjessen suchen!«

»Was?«

»Jewiß doch! Ich habe in mir das Jejenjift jejen alles, was dein Jeist mir einjibt!«

»Bist du dwatsch jeworden, daß du auf einmal Deutsch sprichst?«

Baron Bertil Butwengen war so überrascht und betroffen, daß er selbst, wenn auch flüsternd, mit in das heimische Baltisch verfiel. Man war hier in Rumänien in einem äußerlich noch neutralen Lande. Der Gebrauch des Deutschen fiel nicht weiter auf. Aber für einen Sendboten des Zaren war es ein Verbrechen. Zum Glück waren um sie herum das Wagengerassel und das Geschrei der vielen Straßenhändler so laut, daß selbst die nächsten Vorübergehenden kaum eine Silbe von dem hören konnten, was sie sprachen. Der Alte war zornig. Es fiel ihm schwer, wieder in seinem weichen Französisch Schroffheit aufzubringen. Er begann halblaut, ohne daß von seinem verwitterten kleinen Kopf die lächelnde Maske des Weltmannes sank:

»Bitte, mein Freund, wie wird man eigentlich aus dir klug? Zwei Monate bist du nun hier unter meiner politischen Erziehung. Auf der hohen Schule. Dies Bukarest ist heute die Welt im kleinen. Der Markt der intimsten Geschäfte. Wer hier lernt, lernt für sein Leben!«

»Aber was?«

»Indes, mir scheint, du bist nicht gekommen, um zu lernen, sondern um zu lächeln! Verstehen wir uns: Eine medisante Miene hat ihre Vorteile, wenn es auch ein Kunstbehelf von gestern ist. Ich habe nichts dagegen, daß man sich über die Menschen mokiert! ... Ich tue es selbst!«

»Aber jewiß!«

»Nur sollte man es nicht jeden Tag zeigen. Du aber hast dir diese persönliche Note offenbar ein für allemal gewählt. Das ermüdet. Es ist eintönig. Es macht dich auf die Dauer langweilig, mein Lieber!«

»Da drüben fährt einer unserer Jeschäftsfreunde!« sagte Waldemar Kerkhuß und grüßte mit einem ironischen Lächeln den rumänischen Finanzmann und Politiker, der geschmeidig den Panama von dem bräunlichen Haupte hob. »Das Jeschöpf amüsiert mich! Seine Erpressungen haben etwas Jroteskes!«

»Lasse ihn doch! Gott schuf ihn!«

Wieder dankten die beiden auf das vertrauliche Handwinken aus einer vorbeirollenden Luxuslimousine, in der ein dicker Levantiner mit sinnlich wulstigen Lippen und schmunzelnder Schlauheit in den kleinen Augen neben seiner Frau saß.

Waldemar Kerkhuß lachte.

»Dieser Jauner ist uns allen über! Man kann seine Seele verkaufen – jewiß! Dazu sind wir hier! Aber zweimal täglich abwechselnd an uns und an den französischen Ajenten!«

»Oui, c'est un peu fort! Voilá madame Manolescou!«

Eine Wolke von Pariser Luft, Parfüm, Puder wehte hinter der Balkanschönheit und den englischen Offizieren, die mit ihr in dem Wagen saßen.

»Und das muß man jrüßen!«

»Waldemar, höre endlich auf. Deutsch zu sprechen! Kompromittiere uns nicht!«

»Ich? Wie das? Wer kompromittiert sich hier denn nicht jeden Tag, den Gott jibt?«

»C'est le métier!«

Waldemar Kerkhuß warf jäh den hellblonden, herrischen Kopf zurück. Er sagte halblaut und schneidend:

»Und was ist das für ein Metier, das wir hier treiben? Wir schachern in einem Lande, das von Jemeinheit strotzt, mit den jemeinsten Instinkten dieses Landes. Die Politik wird im Alkoven gemacht! Die Minister stehlen, die Deputierten nehmen, die Zeitungsschreiber treiben Chantage, die Beamten werden jeschmiert. In jedem Nachtasyl ist mehr Anstand und Würde. Und wir, Edelleute von reinem Stamm, wir waten bis an die Knie in diesem Pfuhl. Er wird uns noch bis an den Hals jehen. Wir werden noch darin ersticken.«

Baron Bertil Butwengen erwiderte nichts. Er zuckte nur hochmütig die Achseln, wie im Gefühl seiner übermenschlichen Länge und seines ebenso hohen Selbstgefühls, an das diese Schlammflut nicht heranreichte.

»Und was erreichen wir, Onkel, indem wir die schmutzigen Finger dieses Artels von Sündern hier mit Jeld füllen? Wir hecken nur immer neue Feinde jejen das Land, aus dem einst unsere Väter kamen, dessen Sprache wir jetzt noch sprechen, dessen Jeist unser Jeist ist – jejen Deutschland?«

»Meine Politik dreht sich nicht um Potsdam, sondern um Konstantinopel!« sagte Bertil Butwengen ruhig. »Sie richtet sich nicht gegen Deutschland, sondern gegen Österreich. Dazu bin ich auf dem Balkan.«

»Wie willst du das trennen? Wo ist Deutschland nicht? Wer jagt uns jetzt aus Jalizien? Wer verschanzt Jallipoli? Deutschland ist überall in Europa. Es kämpft auf der janzen Welt jejen England.«

»Wenn du es eine Verteidigung nennst, daß es uns den Krieg erklärt ...«

»Willst du es in Abrede stellen, daß dieser Krieg seit vorigem Frühjahr von uns jemacht wurde? Daß er am Fernsprecher zwischen dem Dwortzowy-Platz in Petersburg und dem Winterpalais entstand?«

»Ich leugne nicht, daß die russische Mobilmachung jener Nacht der Krieg war ... Alles andere kam hinterher!«

»Nun also!«

»Aber anderes war vorher. Denke, ich wolle eine Jachtfahrt mit einem Freunde machen. Ich fahre mit meinem Boot geradeaus. Er aber kreuzt unstet hin und her. Bald verliere ich ihn beinahe aus den Augen. Bald wieder fürchte ich von seinem Ungestüm übersegelt zu werden. Bald ist er hier, bald ist er dort. Wie ist da ein Nebeneinander möglich?«

»Und dies Jleichnis soll bedeuten ...«

Sie waren umgedreht und schlenderten wieder die ewig bewegte Calle Victoriei hinauf. Die fiebernde Stimmung von Habgier heute und Kriegsgier morgen, die Ungeduld der Hyänen des Schlachtfelds und der Genußtaumel fern vom Schuß umbrandete sie in dem blinden »Morgen wieder lustick!« von Bukarest. Baron Butwengen räusperte sich und sagte lebhafter, als es sonst die Art des alten Skeptikers war:

»Denke nur so lange zurück, als du ein halbwegs erwachsener Mensch warst: Im Frieden von Schimonoseki ging Deutschland mit uns und Frankreich gegen England und Japan, im südafrikanischen Krieg erst mit den Buren gegen die Engländer, dann mit den Engländern gegen die Buren, in der serbisch-albanischen Frage mit Österreich und Italien gegen uns, im ersten Türkenkrieg zugleich mit den Türken und mit den Italienern, in Algesiras gegen uns alle, bei der Chinaexpedition mit uns allen – es gibt keinen Staat, außer dem Habsburger, gegen den sich nicht in fortwährendem Umherzucken abwechselnd die Nadel des Berliner Kompasses gerichtet hätte – hiergegen bildete sich eine Abwehr, – wer wollte es leugnen.«

»Und wir sind Englands Treiber – wenn nicht sein Wild!«

»Wenn du fortfährst, derart laut die Wahrheit zu sagen, daß sie niemand glaubt, werde ich dich hier noch zu ernsthaften Geschäften verwenden müssen! Du bist gewarnt. Nimm dich in acht. Rette beizeiten deine Seele!«

Waldemar Kerkhuß' blaue Augen waren im Zorn weit aufgerissen. Er warf den blonden Kopf zurück.

»Denke doch an deine Seele, Onkel, die bald vor Gott stehen wird! Ist es denn an uns, uns Leuten deutschen Blutes, Deutschland immer neues Jesindel an die Beine zu hetzen? Du schriebst mir auf Rat Pauluscha Oxbergs: ›Komm hierher!‹ Mein Vater wollte es. Gut. Ich kam. Aber diese Stadt hier stinkt. Alles stinkt, was hier jeschieht. Was tust du dabei?«

»Ich bin über Siebzig!« sagte Baron Bertil Butwengen langsam auf deutsch. »Wir kämpfen jetzt jejen das Deutsche Reich. Aber als das Deutsche Reich jejründet wurde, stand ich schon im Dienst des Zaren. Alexander der Zweite hat mich liebjehabt, mein Junge! Er hat mich schon als Kammerjunker ausjezeichnet. Ihm verdanke ich meine Karriere. Ihm und zwei Zaren nach ihm habe ich treu jedient, ehe dieser Krieg kam. Dieser Krieg ist die schwerste Prüfung für Rußland und für mich.«

Der zu kleine, hochmütige, weiße Kopf auf dem langen Greisenkörper schien durchsichtig zu werden. Durch die Runzeln des alten Weltmannsgesichts schimmerten die vergrämten Züge eines deutschen Edelmannes, der, eben weil er deutsch war, seinem russischen Lehnsherrn auch wider besseres Wissen und Gewissen den einmal beschworenen Eid hielt.

»Alles dürfen alte Jeschlechter wie wir sein, Waldemar, nur nicht feige! Wer sich seiner übernommenen Pflicht in der Jefahr entzieht, ist feige! Ich habe nun einmal seit einem langen halben Jahrhundert den Dienst für Rußland jetan. Ich darf Rußland und den Zaren jetzt in der Not nicht verlassen.«

»Bitte, jehe nicht so rasch! Ich komme mit meinem lahmen Knie nicht mit!«

Der alte Butwengen mäßigte seinen Sturmschritt durch die Siegesstraße, in dem er seinen eigenen Gedanken und Gefühlen entfliehen zu wollen schien.

»Sei froh, daß du ein lahmes Knie hast und nicht auch eine lahme Seele!« sagte er. »Daß du nicht den russischen Fahneneid jeleistet hast wie dein Onkel Paul Oxberg! Daß du immer einen Widerwillen hattest, ein hoher russischer Kronsbeamter zu werden wie dein Vater! Daß du noch nicht ein russischer Diplomat bist, wie ich es in deinen Jahren schon lange war. Wir Alten sind jebunden. Wir haben keine Wahl, eben weil Wortbruch nicht zu unseren Überlieferungen paßt. Aber du bist frei!«

»Und was soll ich mit der Freiheit bejinnen?«

»Das kann dir außer dir selber nur Gott sagen!«

Sie waren an der Ecke des Elisabeth-Boulevards stehengeblieben. Ganz in der Nähe war die russische Gesandtschaft. Der alte Butwengen griff nach der Uhr, um sich zu vergewissern, daß es für ihn Zeit sei, sich einmal dort zu zeigen. Er neigte den Kopf zum Ohr des anderen und dämpfte seine Stimme:

»Nur eines tu nicht, mein Junge! Ich weiß, du kämpfst damit! Jehe nicht nach Deutschland!«

»Was hält mich?«

»Deine Vorfahren oder ihr Blut in dir! Dies Blut ist vererbte Pflicht. Ich sagte es vorhin schon: Felonie daheim ist wie Fahnenflucht im Felde. Seit zwei Jahrhunderten dienten wir Rußland, oder ehrlich: Rußland diente uns! Die Zaren häuften Jnaden und Würden auf unser Haupt. Hätten wir jejen sie oder vorher schon jejen unsere früheren Herren in den Ostseeprovinzen, die dänischen, die schwedischen, die polnischen Könige, bei jeder Jelejenheit unser ritterliches Lehnswort jebrochen, so hätten wir nicht, von Teutschland abjetrennt, sieben Jahrhunderte überdauert!«

»Mannestreue verpflichtet beide Teile!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Zwei Zaren hintereinander haben unsere verbrieften baltischen Rechte zertreten, wie sie die von ihnen beschworene finnische Verfassung zerrissen haben. Sie haben uns Popen, Kosaken und Tschinowniks ins Land jeschickt, sie haben uns unsere Sprache jenommen, unsern Jlauben jefährdet, unsere Freiheit jeraubt. Sie schicken uns jetzt jejen die Deutschen oder nach Schlüsselburg und Sibirien. Wir sind quitt! Wir haben das Recht, uns von Rußland zu trennen!«

»Jut! Und dann? Noch jehört der baltische Jrund und Boden zur Hälfte uns. Wir sind seine Wächter. Solange wir ihn besitzen, bleiben die Ostseeprovinzen deutsch. Das hat die Jeschichte durch unzählige Menschenalter hindurch jelehrt! Wenn wir aber den Boden aufjeben und auswandern, so wird der Esthe und Lette ihn teilen. Der Russe legt auf ihn Beschlag. Der Engländer wird sich an der esthnischen Küste festsetzen. Der Pole wird nach Kurland kommen. Der Litauer nach Livland. Dann ist das Deutschtum zwischen Nimmersatt und Narwa jewesen!«

Wieder stieg bei den Worten des alten Balten in riesenhaften, unbestimmten Umrissen das Schattengespenst des Ostens empor, das unermeßliche Sprachengewimmel diesseits und jenseits des Aral, das Schieben, Knirschen, Sichübereinandertürmen der Völker, gleich den Schollen im Eisgang, unter dem Druck aus Moskau, das Nachfluten in jede freigewordene Stelle auf dem endlosen Zug aus Asien gen Europa. Baron Butwengen schloß:

»Wir hätten schon oft in jrimmigen Zeiten unser Bündel schnüren und wegziehen können! Als die Tataren kamen. Als Iwan der Schreckliche kam. Als im Nordischen Krieg kein Stein mehr auf dem anderen stand. Wir haben es nicht jetan auf dem Vorposten Europas. Wir haben ausjeharrt. Wir müssen es auch jetzt! Jlaube mir!«

»Ich jlaube dir und jlaube dir nicht. Ich weiß nicht, was ich jlauben soll.«

Der alte deutschrussische Diplomat hatte seinem Neffen die Hand gedrückt und war gegangen. Waldemar Kerkhuß stand allein. Langsam stieg er die Treppe zu seiner nahen Wohnung hinauf.

Er war froh, den parfümierten Schmutz der Stadt der Sünden nur draußen, aus dem unbestimmten Lärm der äußerlich europäischen, innerlich halb orientalischen Straßen zu ahnen. Er setzte sich an den Tisch und schrieb. Erst die Aufschrift eines Briefes: »Frau Baronin Elise von Metztak, geborene Baronesse von Haseldorp« – darunter den Bestimmungsort Berlin. Dann den Wortlaut:

»Liebe Freundin!

Heute spannt sich noch zwischen uns beiden die Brücke von Mensch zu Mensch. Wir können uns noch schreiben. Dies Rumänien, in dem ich vegetiere, gibt vor, neutral zu sein. Es gibt bessere Witze. Aber immerhin gehen unsere Briefe von Bukarest nach Berlin und zurück.

Daß dies Gefühl Ihrer Nähe für mich aufhören soll, das ist das Bittere und Traurige, wenn ich morgen den Instinkten der Reinlichkeit folge und diese Menagerie hier der Obhut des alten Butwengen überlasse und für einen vorläufig offenbar überflüssigen Menschen wie mich einen anderen Ort in der Welt suche.

Wo soll ich hin? Am liebsten in neutrales Land, in Ihre Nähe. Aber man gibt mir, ohne amtlichen Auftrag, keinen Paß nach Bern oder dem Haag. Ich habe hier getan, was ich sollte, nämlich nichts, und mich doch verdächtig gemacht. Es liegt wohl an meinem Gesichtsausdruck. Nach Onkel Bertils Ausspruch hat man die Sprache, um die Gedanken zu verbergen, die man nicht hat. Hat man doch welche und läßt erraten, daß es nicht die in Petrograd abgestempelten und visierten Gedanken sind, so erregt man bei jedem vorschriftsmäßigen Geschöpf des Ostens hier Mißtrauen und ist die bête noire.

Dies Rußland, das heute noch nicht einen einzigen Polen verdaut hat, dem die Hebräer im Magen liegen, das sich mit Tataren, Litauern, Esthen, Letten, Finnen vollgestopft hat, dem wir Balten noch zwischen den Zähnen stecken, und das sich hier schon wieder nach neuem Fraß umschaut – mein Metier ist es nicht, diesen Bären zu füttern! Sie klatschen in die Hände, wenn Sie das lesen. Ich wollte, ich könnte nachmittags beim Samowar Ihnen gegenüber sitzen, wie einst in Reval, und mit Ihnen über das alles sprechen. Es muß schön sein, mit sich im reinen zu sein, wie Sie und Ihr Mann. Alexander – grüßen Sie ihn von mir – hat rechtzeitig den Sprung vom Kirchturm gewagt. Er steht mit Ihnen auf festem Boden, drüben auf der anderen Seite. Aber ich?

Sie taten es noch im tiefen Frieden. Jetzt ist das Land, in dem Sie leben, mir als Feind verschlossen. Wenn ich dorthin komme, komme ich als Überläufer. Ich gebe einem anderen Kaiser, was des Kaisers ist. Mein Mensch von morgen widerlegt den Menschen von gestern. Da sind zwei Seelen, und keine von beiden bin ich ganz.

Soll ich diese Wahl zwischen mir selbst treffen? Muß ich es? Sie sagen natürlich ja! Sie schrieben mir immer wieder: Kommen Sie! Deutschland ruft! Folgen Sie dem Augenblick der Begeisterung! Er ist für einen Menschen immer der rechte!

Solche Augenblicke habe ich, und immer dann, wenn ein Brief von Ihnen kommt und Ihr Idealismus wie eine Sonne über mir aufgeht. Aber dann kommt in einem der Mensch wieder, der man sonst ist. Dem es schwer wird, in etwas Ganzen aufzugehen. Denn nach dem Willen des Schicksals sind wir ja alle dort oben im Norden ausgeprägte Einzelmenschen. Jeder von uns eine kleine Welt für sich.

Dann sage ich mir zum Trost: wozu bist du ein Einzelner? Ein Unabhängiger? Nach Name und Stellung und Besitz und persönlichem Schicksal ganz in dir Beruhender? Sei froh! Vielleicht ist es jetzt die Aufgabe der Vereinzelten, darum nicht Glücklichen, von einer höheren Warte aus zuzusehen, wie draußen die Menschen und Massen und Maschinen kämpfen. Vielleicht strafte mich Gott mit dem lahmen Knie, um es mir unmöglich zu machen, beim Untergang Europas mit in Reih' und Glied zu stehen.

Für Rußland Eifer zeigen kann ich nicht! Es hat diesen Krieg vorbereitet, begonnen und verbrochen. Das wird, wenn irgendwo, hier auf dem Balkan klar. Aber offen Rußland verleugnen – es zupft mich dabei etwas am Ärmel. Meine Vorfahren stehen hinter mir und halten mich zurück. Und ich sage mir schließlich selbst: Wer, außer Ihnen, liebe Freundin, verlangt diesen ungeheuren Entschluß von mir? Wer in Deutschland kennt mich, erwartet dieses Opfer, kann es überhaupt in seinem ganzen Umfang würdigen? Wir wollen doch nicht leugnen: So sehr wir uns als Deutsche fühlen, so kühl standen wir doch dem Deutschen Reiche gegenüber, und so kühl sehen die Menschen dieses Reiches uns ferne Barone da oben an. Mit den anderen Balten ist es ja anders. Aber sie tragen auch leichteres Gepäck als ein Großgrundbesitzer, dessen Vorfahren seit sieben Menschenaltern Rußland Ehren und Würden verdankten.

Es steht im Krieg jedem Land das Recht zu, neutral zu bleiben, wenn es kann. Warum nicht auch jedem Menschen, wenn er es durch eine Gunst des Zufalls kann? Es muß doch auch Zuschauer geben, wo es eine Arena gibt. Zeugen, damit es später Richter geben kann.

Ich gehöre, ohne mein Zutun, zu diesen Sonntagskindern des Kriegs. Ich kann mich von einer Zeit lösen, die offenbar keine Aufgaben für mich hat. Die Vogelperspektive hat schließlich auf alle Fälle etwas Vornehmes, wenn einen Umstände und Gegenumstände des Lebens zur Resignation verurteilen.

Rußland ist ein Kerker, aber zum Glück ein großer. Ich werde mir da irgendwo einen Platz suchen, wo man Mensch sein kann, bis es die anderen auch wieder werden. Es bleibt mir nichts Besseres übrig. Ich werde es schon erreichen, Ihnen irgendwie ein Lebenszeichen aus meiner freiwilligen Verbannung zukommen zu lassen. Inzwischen zürnen Sie nicht Ihrem Freund

Waldemar Kerkhuß.«


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