Rudolph Stratz
Arme Thea!
Rudolph Stratz

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XIV.

Es ist ein ewiges Kommen und Gehen auf der Totenstraße von Berlin.

Fern im Südwesten zieht sie sich lang hin, eingesäumt von der Industrie des Todes, von Kränzehandlungen und Steinmetzwerkstätten, weiter und weiter bis zu dem Gewimmel schwarzer Holzkreuze, das rechts und links in großen Vierecken die braune Gleichförmigkeit der Erde unterbricht.

Wie aus einem entlegenen Lande trägt der Abendwind den Lärm Berlins herüber, ein undeutliches, zitterndes, bald mächtig anschwellendes, bald dumpf summendes Getöse, in dem man keinen einzelnen Laut mehr zu unterscheiden vermag. Alles wirrt sich darin zusammen, Rädergerassel und Maschinenstampfen, Menschenstimmen und Hundegebell, Dampfpfeifen der Fabriken und Trommelschlag der Truppen, Bäumerauschen und Glockenklang. Wie bitteres Klagen weht es jetzt aus diesem tausendfach wechselnden Brausen und jetzt wieder wie frohlockender Jubel, ein grimmiges Murmeln derer, die da unten hassen, ein zärtliches Flüstern, wo eins das andere liebt, verzweifelnde Flüche, helles Gelächter . . . Der Wind trägt's über die Stoppeln dahin, was dort aus den unendlichen, mit dem Horizont verschwimmenden Häusermassen im ewigen, zermalmenden und zerreibenden Kampf ums Dasein jauchzend und weinend emporklingt.

Was zermalmt und zerrieben ist, das stößt die Weltstadt von sich. Ein ewiges Kommen und Gehen herrscht auf der Totenstraße von Berlin. Ein Zug nach dem andern wallen sie heran, die Opfer eines jeden Schlachttags, prunkende Karossenreihen und verweinte Arbeiterfrauen mit einem winzigen Kindersarg auf den flachen Händen, ernste, trübe Mienen in einer langsam schreitenden, mit seltsamen Zylindern bedeckten Männergruppe und verstohlenes Gähnen hinter den Scheiben der Droschke erster Klasse, eilfertig trabende, leere Leichenwagen, Geistliche mit vom Winde schiefgewehten Röcken, abgerissene, stoßweise Posaunenfanfaren . . . und über alles hin, ununterbrochen und unermüdlich, von ferne das dumpfe Brausen und Weben von Berlin.

Anders als er es sich früher wohl selbst in nachdenklichen Stunden ausgemalt, hatte man den Freiherrn Raban von Hoffäcker der Erde übergeben. Kein feierliches Trauergefolge warf dem frohlaunigen Kavalier die letzten Schollen nach, kein Glöckchen klagte hoch vom Schloßgiebel um den geschiedenen Herrn, kein Echo hallte von den Türmen der Dorfkirchen im weiten Lande wider. Es fehlten die Exzellenzen vom Zivil und Militär und die Bauernburschen des Kriegervereins mit dem Prachtstück des Gutsdorfs, der kunstvoll gestickten Fahne . . . die Monocles blinkten nicht in den Augen der Landräte, kein mit Orden umpanzerter, schloßgesessener Johanniter gab dem Bruder das letzte Geleit, über keines der wettergebräunten Gesichter des mit den Hoffäckers so dutzendfach vervetterten und verschwägerten Landadels lief eine verstohlene Abschiedsträne . . . sie fehlten alle . . . alle . . . und mieden den schuldbeladenen Mann im Tode wie im Leben.

* * *

Zwei Menschen nur hatten mit gefalteten Händen vor der Gruft gestanden und auf die paar nichtssagenden Worte des Pfarrers gehört. Jetzt schritten sie langsam im Abenddämmern den Trauerweg zurück.

Sie sprachen nichts. Die Ruhe des Todes hielt sie noch umbannt. In ihnen lebte jenes feierliche Leid, vor dessen nassen Blicken die Dinge dieser Welt zusammenschrumpfen und kläglich werden allzusamt. Wozu sich sorgen? Wozu sich mühen Tag um Tag und auf und nieder in den Wechselfällen des Geschicks, wo doch das Ende so sicher, wo doch das Ende so nahe ist . . . der Friede in der Erde unten, die unser Fuß so achtlos tritt und in der doch die Gerechten wie die Ungerechten gleich sorglos schlafen?

Thea blieb stehen und warf noch einen letzten Blick auf das wilde Gewimmel der schwarzen, vom Abendgold überglühten Holzkreuze.

»Unter all den fremden Menschen . . .« . . . flüsterte sie . . . ». . . ach . . . es sind ja keine Menschen mehr . . . sie waren's . . . und haben's jetzt besser als wir . . . aber trotzdem . . . es sind so viele . . . so furchtbar viele . . . ich muß immer an die Kapelle denken . . . in unserem Schlosse.«

»Da war die Familiengruft?«

Sie nickte . . . »Papa ist der erste, der da nicht beigesetzt wird . . . seit gewiß dreihundert Jahren . . . so lange gehörte uns das Schloß und das Gut. Und jetzt gehen vielleicht gerade in diesem Augenblick die unbekannten Leute im Garten umher . . . ich weiß ja gar nicht einmal, wer es gekauft hat . . . oder sie sitzen auf der Veranda und trinken ihren Tee und lesen die Zeitung . . . und unten lachen und tollen die Kinder . . . und niemand kümmert sich darum, was aus uns geworden ist und ob wir irgendwo in der Welt verkommen oder nicht . . .«

»Ja . . . sehr vernünftig finde ich die Welt gewiß nicht . . .« sagte Georg . . . ». . . ich hätte sie, weiß Gott, anders gemacht. Aber ändern kann man sie nun mal nicht . . .«

»Aendern nicht!« Sie starrte sehnsüchtig in die Ferne . . . ». . . aber ihr entfliehen! . . . sie ist ja so häßlich! . . . so gemein . . .«

»Die Welt ist ja überall! Da müßte man schon tot sein, um . . .«

Sie schmiegte sich fester an seinen Arm. ». . . und wenn man tot ist? Was ist denn dabei? Dann hat man's überstanden! Dann können einen die Menschen nicht mehr verfolgen und quälen, wie sie es mit dem armen Papa taten . . .«

». . . und wie sie es mit uns tun werden!« Georgs Miene wurde finster . . . ». . . daran ist kein Zweifel, Thea! Wir werden schwer kämpfen und leiden!«

»Und wofür?« fragte sie traurig . . . »damit wir verwelken und verblühen . . . und schließlich doch sterben! Ach, Georg . . . ist so ein langes Leben wohl der Mühe wert . . .«

»Ich weiß es nicht!« sagte er kurz. Sie schauten sich stumm an. Ein unendliches, gewaltiges Sehnen schwellte ihnen beiden plötzlich die Brust. Ob das Liebe war, ob der Wunsch, zu sterben, oder die Freude am Dasein oder alles zusammen . . . sie wußten es nicht. Es war etwas Geheimnisvolles . . . ein unwiderstehlicher Drang, diese graue Welt ringsumher zu zerreißen, wie man einen Schleier zerreißt, der ein unbekanntes, köstlich buntes Bild birgt. Aber wo dies Bild stand, ob hier oder drüben – was es vorstellte, das Leben oder den Tod . . . sie wußten es nicht.

Es war auch gleich! Nur aus dieser Niedrigkeit und Häßlichkeit heraus und zusammen fort! . . . gleichviel wohin!

»Heute mittag hatte ich mehr Mut . . .« sagte Thea endlich . . . »aber wenn ich jetzt all' die Kreuze und Grabsteine seh' . . . die tausende und abertausende . . . und unter jedem ruht ein Mensch . . . und überall um Berlin sind Kirchhöfe und in jeder Stadt wieder neue . . . ja . . . was liegt dann an dir und mir . . . ob zwei Menschen da sind oder nicht . . . das ist ja so gleichgültig . . .«

»Den anderen jedenfalls!« erwiderte der kleine Sportsman . . . »das interessiert nur uns beide . . . und wir sind nun eben in so einer Stimmung . . . das ist ja ganz begreiflich . . . wenn man gerade vom Begräbnis kommt . . .«

Sie preßte ihren Arm fester in seinen und schüttelte leise den Kopf . . . »nicht nur deswegen« flüsterte sie . . . »ich glaube, es ist, weil man liebt . . . Wenn man liebt, will man immer sterben . . . das ist so viel reiner und besser . . .«

»Ach wo!«

»Doch, Georg! . . . Ein Mann vielleicht nicht! . . . aber wir! . . . und siehst du . . . so eine Sehnsucht nach dem Tode, wenn sie auch unklar ist, weist einem doch vielleicht den rechten Weg . . .«

Er blieb stehen. Sie sahen sich an, und ihre Herzen begannen rascher und immer rascher zu pochen.

Georg erschrak. Ihm war der Gedanke ja wahrhaftig vertraut genug geworden in diesen letzten Wochen. Er hatte damit gerungen. Seine Kameraden und Freunde hatten es ihm nahe gelegt, sein eigener Onkel ihm die Waffe in die Hand gedrückt.

Aber sie? . . . Wie kam sie darauf? Mit einem stillen Entsetzen sah er in das schöne, leidvoll lächelnde Gesicht.

Freilich . . . ohne ihn konnte sie nicht bleiben! Wenn er ging, nahm er sie mit. Er war ihr Schicksal.

Aber daß sie selbst es aussprach . . . vor ihm davon träumte . . . welch ein lockendes Grauen lag in diesem unheimlich wie ein Schattenbild auf und nieder schwebenden Gedanken . . . es winkte eine Hand aus diesem Nebel . . . eine geheimnisvolle Stimme raunte: »Kommt nur her! . . . fürchtet euch nicht . . . hier ist's gut sein . . . hier fühlen sich anständige Menschen wohler als auf der schmutzigen Erde! Dort mag sich ein Heinlein und Grunäus seine Mast holen . . . laßt sie dort grunzen und wühlen . . . und geht still beiseite.«

Nein! Er richtete sich straff auf und zog Thea schweigend mit sich fort.

Nein! . . . das hätte er früher tun können! Er hatte es nicht getan und die Leute ausgelacht, die ihn so inständig baten, sich doch auch auf französisch zu empfehlen. Er sah diese uniformierten und nichtuniformierten Herrschaften förmlich vor sich, wie sie nun beim Frühstückskaffee plötzlich die Zeitung sinken ließen und weise mit dem Kopf nickten. »Also doch! . . . armer Kerl! . . . na . . . wir haben's ja gewußt!«

Aber freilich . . . anders lag die Sache jetzt schon . . . romantischer . . . schöner . . .

Ein Mann, für den ein Mädchen aus reiner Liebe freiwillig mit in den Tod geht . . . eine schöne, makellose junge Dame aus gutem Hause . . . ein solcher Mann konnte doch nicht so verworfen und verächtlich sein, wie er jenen erschien.

Er würde in der Achtung aller jener steigen, die ihm die Ehre aberkannt! Er würde in ihrem Gedächtnis als ein Mensch fortleben, der mehr unglücklich als schuldig war, und ein Strahlenschein herber Tragik ihn umleuchten!

»Das ist Selbstsucht!« raunte es in ihm. Aber dann wieder: »sie selbst will es ja! . . . sie selbst!«

Das heißt: sie sprach davon . . . ein schwaches Mädchen! . . . Aber sie war nicht schwach! Das hatte sie ihm heute bewiesen, als sie trotz allem bei ihm blieb. Was sie sagte, das war sie auch bereit zu tun!

Wo war da der Ausweg? Ihre Gedanken verwirrten sich und verloren sich in träumende Fernen, während sie wieder in das Straßengewühl Berlins untertauchten.

* * *

Mit dem letzten eilfertigen Lärm, der dem Feierabend vorausgeht, umfing sie die Weltstadt.

Sie schritten durch die Vorstädte dahin, umbrandet vom Gewimmel des Verkehrs. Schlecht gekleidete Gestalten stießen sie auf dem Bürgersteig an, saloppe Menschen drängten sich, ohne ein Wort der Entschuldigung, an ihnen vorbei, vor den Grünkramkellern stierten alte Weiber Thea mit frecher Neugier ins Gesicht, schmutzige Kinder huschten um sie her und johlten in den Torwölbungen und düsteren Höfen, ein Schutzmann fluchte auf einen abgerissenen Kutscher, der mit seinem triefenden Mörtelfuhrwerk einen milchbeladenen Hundekarren umgestoßen hatte, der Polacke radebrechte peitschenknallend wider, die Köter kläfften, ein paar Frauen zeterten dazwischen . . . übler Dunst lag über der ganzen glühendheißen Straße, die ihren Staub und Rauch bei jedem Atemzug in die Lungen mitgehen ließ . . . ein ewiger, wüster Lärm . . . Pferdebahngeklingel . . . rauchende Schlote . . . ein verkrüppelter Streichholzhändler am Boden . . . die Töne eines verstimmten Klaviers aus der Eckdestille . . .

»O pfui! . . .« sagte Thea plötzlich und machte eine schaudernde Bewegung.

Er antwortete nicht.

»O pfui!« wiederholte sie nach einer Weile in sehnsüchtiger Klage . . . ». . . wie häßlich . . . wie häßlich! . . . Schau die Menschen alle an, Georg! . . . wie freudlos und schmutzig sehen sie alle aus . . . wie gemein ist das alles! . . . kein schönes Gesicht unter den Hunderten, die an uns vorbeigehen . . . kein freundlicher Laut . . . alles roh und wüst . . . wie soll man da leben! . . .«

Er zog sie mit sich. »Komm jetzt nur, Thea!«

»Wohin?«

»Wohin?« Er lachte bitter auf . . . ». . . auf die Redaktion des seligen ›Paprika‹! Das ist vorläufig unser einziger Schlupfwinkel in der weiten Welt!«



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