Rudolph Stratz
Arme Thea!
Rudolph Stratz

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XII.

Wie sie in das Krankenhaus gekommen, das wußten sie kaum. Aber da stiegen sie die Steinstufen hinauf, vorbei an geräuschlos huschenden Schwestern, an Rekonvaleszenten aus dem Volke in gestreiften Leinwandkitteln, und anderen Menschen, die alle so gleichgültig und teilnahmlos aussahen, als sei heute gar kein besonderer Schreckenstag für die Welt.

Und da war der Gang mit den Zimmern der ersten Klasse. In seinem Halbdunkel ein junger Arzt in gedämpftem Gespräch mit ein paar Diakonissen.

»Herr Baron Hoffäcker?« er wandte sich freundlich, aber sehr ernst zu Georg . . . ». . . Die Herrschaften sind Verwandte des Patienten?«

»Ich bin nur ein Freund des Hauses, aber hier ist die Tochter!«

. . . »O . . . die Tochter . . .« Ein beinahe unmerklicher Augenwink des Arztes, der Georg einen dumpfen Verdacht einflößte – und eine der Schwestern trat unauffällig hinter Thea. Wie um sie zu schützen, stand sie phlegmatisch da.

»Wie geht es meinem Vater?« flüsterte Thea.

»Er war bewußtlos, als man ihn brachte,« erwiderte der Arzt langsam . . . ». . . und er ist es geblieben!«

»Bis jetzt?«

»Bis jetzt!«

»So wird er mich nicht erkennen?«

»Er wird Sie nicht erkennen, mein gnädiges Fräulein . . .« Der junge Mann sprach leise, wie zu einer Kranken . . . »auch in Zukunft nicht . . . Seien Sie stark . . . Sie müssen es ja erfahren . . .«

Die Schwester trat noch näher und legte sanft ihren Arm um Thea.

»Sie kommen zu spät! Vor einer Viertelstunde war's vorüber!«

* * *

Das waren nicht mehr die rötlich gedunsenen Züge des jovialen Industrieritters, die sich da reglos von dem Weiß der Kissen abzeichneten. Der Tod hatte seine starre Majestät darüber gebreitet. Ein Edelmann lag da – das strenge, vornehm geschnittene Gesicht nach oben gewendet, einen herben Zug um den bleichen, von den grauen Bartsträhnen beschatteten Mund, die Hände gottergeben über die Brust gefaltet.

So mochte wohl im Lauf der Jahrhunderte manch ein Hoffäcker am Abend der Schlacht auf grünem Rasen, zwischen Blut und Leichen geruht und aus erloschenen Augen zum Himmel aufgestarrt haben – so mochte noch er selbst, der Kammerherr und Großgrundbesitzer in Rhena, in der Erinnerung seiner einstigen Freunde weiterleben.

Schattengleich gingen diese Gedanken Georg durch den Kopf, wie er so dasaß und unverwandt auf den stillen Mann in dem Bette schaute, vor dem in lautlosem Schluchzen der schlanke Mädchenkörper kniete.

Die Stunden krochen langsam dahin. Von ferne klingelte das Spitalglöckchen zur Andacht, im Gange schollen schleichende Tritte, halblautes Geflüster, ab und zu das Zuschlagen einer Türe, ein warnendes pst . . . all die unheimlichen, gedämpften Töne des Krankenhauses.

Von dem durch eine Türe getrennten Nebenraum hörte man zuweilen undeutliches Gemurmel. Dort besuchten Freunde einen leicht erkrankten Referendar. Sie hatten von dem Unglücksfall nebenan gehört und verhielten sich ganz still, während sie ihren Skat spielten, auf den sich der ungeduldige Patient immer schon den ganzen Tag freute. Nur selten klangt ein abgerissenes Wort, das Schnalzen eines Kartenblattes herüber.

Unten auf der Straße läutete die Pferdebahn. Zu Hunderten und zu Tausenden gingen die Menschen vorbei, fühllos lachend und sinnend, daß ein Zorn bei ihrem Anblick den verstörten Sportsman ergriff. Was hatten diese Menschen zu scherzen und zu plaudern? Warum taten sie's, wo doch über ihnen der Tod in schweigender Größe thronte, warum eilten sie und hasteten ihren Geschäften nach, wo doch alle die tausendfach verschlungenen Wege der Millionenstadt sich rettungslos an dem einen dunklen Ziele trafen?

Es dämmerte schon stark. Die Oberschwester des Ganges stand neben Georg.

»Sehen Sie doch, daß Sie das Fräulein jetzt wegbringen . . .« raunte sie . . . ». . . wir haben ja noch manches mit dem Toten zu tun . . . und das Zimmer muß auch wieder in Ordnung kommen . . . es kann ja jeden Augenblick wieder jemand eingeliefert werden . . . das reißt bei uns nicht ab . . .«

Er hob Thea sanft empor. »Wir wollen jetzt gehen . . .« flüsterte er ihr ins Ohr . . . ». . . bis morgen früh, Thea . . .«

Sie schüttelte stumm das verweinte Köpfchen. Sie wollte dableiben . . . bei dem armen, alten Papa . . .

Aber als er sie mit sanfter Hand in die Mitte des Zimmers führte, merkte er, daß sie nur wenig widerstrebte. Sie war wie gebrochen. Willenlos hing sie sich an ihn und ließ sich von ihm, nach einem letzten verzweifelten Schluchzen und Küssen des Verblichenen, hinausführen.

Draußen, im Vorgarten des Spitals, blieb sie stehen und schaute zu den Fenstern hinauf.

»Nun bin ich ganz allein . . .« sagte sie leise.

Ihr Freund zog sie an sich

»Nein . . . Thea . . . nein . . .« sprach er und streichelte sanft ihre in seinem Arme ruhende Hand, während sie der Droschke zuschritten, die, von dem Portier besorgt, am Portal wartete . . . ». . . nicht allein . . . ganz gewiß nicht . . . ich bin bei dir . . . und ich bleib' bei dir und verlaß dich nicht . . . du warst ja sein einziges Kind . . . du hast nie einen Bruder gehabt . . . aber jetzt hast du einen! . . . einen guten, treuen Bruder, der es von Herzen redlich mit dir meint . . . glaubst du's? . . . Thea . . . dann gib mir die Hand und sag' auch »du« zu mir, damit ich weiß, daß ich dein Bruder sein darf . . .«

Sie erwiderte nichts. Aber er sah, wie ihre Hand die seine suchte, während sie vergrämt zu Boden sah, und er fühlte ihren langen, dankbaren Druck . . .

* * *

Der Kutscher griff, des Befehls gewärtig, an den Hut. Ja . . . wohin nun?

»Am besten ist es,« sagte Georg halblaut . . . »ich fahre jetzt mit dir in ein Hotel, vielleicht ins christliche Hospitz . . .«

Sie machte eine abwehrende Bewegung. »Nicht allein! . . .« flüsterte sie schaudernd . . . ». . . um Gottes willen nicht allein diese Nacht! . . . ich fürchte mich!«

»Ja . . . aber wie soll man denn sonst . . .?« Ein Gedanke erfaßte ihn. »Nach der Mauerstraße 107«, beorderte er den Kutscher, und der Wagen fuhr davon, nach der verwaisten Wohnung des alten Herrn.

»Dort werden wir schon ein Nachtquartier für dich herrichten!« Georg faßte wieder im dämmerigen Innern des Coupés ihre Hand . . . ». . . hinten in deinem leeren Zimmerchen! Und ich bleibe die Nacht über in der Vorderstube und brenne Licht und lese in einem Buch. Dann weißt du, daß ich dir nahe bin, und hast keine Angst . . . nicht wahr, Thea? . . .«

Sie nickte und sah ihn dankbar aus ihren feuchten Augen an. Eng aneinander geschmiegt fuhren sie zusammen in das Gewühl der Weltstadt hinaus, während hinter ihnen das Krankenhaus im Schatten der Nacht versank.

* * *

Ein Zehnmarkstück, das Georg der Schustersfrau unten im Keller in die Hand gedrückt, wirkte Wunder!

Der Herr Baron könne ganz ruhig sein! Das Nötigste, was das Fräulein für die Nacht brauche, das wolle sie schon hinaufschaffen. Ein paar Matratzen . . . freilich auf den Boden hin – denn das Bett des alten Herrn . . . das wolle sie doch wohl nicht – . . . aber es sei ja jetzt warmer Sommer . . . und Kissen und Bezüge . . . und ein paar Möbel . . . und Waschgeschirr . . . Jawohl . . . der Herr Baron solle nur das Fräulein indessen hinaufführen . . . sie käme gleich mit ihren Leuten nach!

Oben, im Redaktionsraum des »Paprika« sahen sich die beiden eine Weile in stummem Entsetzen an. Es erschien ihnen ganz unglaublich, ganz furchtbar, daß der fidele, alte Herr, der noch vor wenigen Stunden hier gesessen und mit ihnen geplaudert hatte, daß der nun als ein starrer, ernster Mann weit von hier in einem fremden Hause liege und nie mehr wieder hierher zurückkehren sollte . . . in das dürftige, kahle Nest, in das er den Rest seines gescheiterten Daseins geborgen.

Alles sprach hier noch von ihm in diesen öden vier Wänden. Der rote Fez mit der abgerissenen Troddel, der neben der großen Schere auf alten Zeitungen prangte, die Zigarettenstummel am Boden, die schiefgenagelten Sportbilder an den Wänden, der alte Schlafrock auf dem unordentlichen Bett, darauf ein zerlesener französischer Roman – es war, als harrten alle diese verschossenen und vergilbten Dinge ihres verkommenen, brüchig gewordenen Herrn, als höre man schon seinen bedächtigen, zitterigen Schritt und sein dröhnendes Räuspern unten auf der Treppe.

Und er würde nie mehr hier eintreten . . . nie mehr seinen Rohrstock dort in die Ecke stellen, mit großartiger Handbewegung den grauen Zylinder vor dem Wegsetzen glätten und sich würdevoll mit dem buntseidenen Tuch die Schweißperlen von der kahlen Stirne trocknen . . .

»Auf nachher . . . Ihr Lieben . . . auf nachher . . .!« Das waren die letzten Worte des alten Sünders gewesen, als er ging, um für sein geliebtes Töchterchen eine Unterkunft zu suchen.

Nun hatte er selbst die letzte, die beste Unterkunft gefunden. In bitterem, unaufhaltsamem Schluchzen lehnte sich Thea an die Brust des Freundes . . .

* * *

»So . . . nu wären wir soweit fertig . . .« tönte von der Türe die Stimme der Frau Kautz, die mit einladendem Lächeln nach dem Hinterzimmer wies.

Dort war in der Tat ein Lager am Boden, und was Thea sonst brauchte, notdürftig gerichtet.

»Ich danke Ihnen, liebe Frau! . . .« Thea ging langsam nach hinten . . . ». . . nun brauch' ich nichts mehr . . . und wär' am liebsten allein . . . Gute Nacht . . .« sie drückte Georg die Hand und schloß die Türe, während sich die Schustersfrau entfernte.

Georg Textor war in seine Räume vorn zurückgekehrt und starrte auf die dunkle Straße hinab. Da vernahm er von drüben einen leisen Ruf.

». . . Georg . . .!«

Das war ihre Stimme! Hastig trat er auf den Flur.

Sie hatte die Türe noch einmal geöffnet und stand, vom Lichtschein der innen brennenden Kerze hell umflossen, auf der Schwelle.

Einen Blick nach rechts und links, wie um sich zu überzeugen, daß die Frau gegangen. Dann streckte sie ihm beide Hände entgegen. »Georg . . . ich danke dir!« sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

Dann schloß sich die Türe wieder.

Sie hatte ihm »du« gesagt! . . . Sie hatte ihn gern!

Ein seliges Lächeln lag auf dem hageren Gesicht des kleinen Sportsman, während er die Kerze auf dem Redaktionstische des »Paprika« anzündete.

Sie nahm seine Hilfe an! Er durfte bei ihr bleiben. Jetzt und vielleicht immer.

Was war das für ein köstliches Gefühl, was für eine erwärmende, belebende Kraft, mit der dieser Gedanke ihn erfüllte.

Er durfte für sie arbeiten . . . für sie sich sorgen und mühen, welch ein Glück, welch ein großes, unverdientes Glück!

Es kam Georg Textor vor, als sei er in diesen paar Tagen, seit er die Garnison verließ, ein ganz anderer Mensch geworden.

Als ein verbitterter, zornmütiger Geselle war er da in die Nacht hinausgefahren. Alle Menschen waren seine Feinde! Sein »Ich«, sein Fortkommen in der Welt – das schien ihm allein beachtenswert!

Und jetzt . . . was lag jetzt an ihm? Jetzt handelte es sich um bessere Dinge. Das arme, süße Geschöpf, das unter seinem Schutze dort drüben schlummerte, das mußte gerettet, das mußte auf den Händen getragen und vor allen Fährlichkeiten und Roheiten der Welt sorgsam behütet werden.

Wie es ihm selbst dabei erging, das war ganz gleich! Wenn er nur ihr das Leben heiter gestalten konnte! Die hageren Züge des kleinen Sportsmans verklärten sich in freundlich lächelnder Güte und Zärtlichkeit.

Er fühlte sich so froh . . . so leicht. Weiß Gott . . . wie ein anderer Mensch! . . . wie ein besserer Mensch . . .

Woher kam das?

Seine Lippen gaben ihm selbst die Antwort: Jawohl . . . das war die Liebe . . . die reine Liebe, die das Beste aus uns herausholt, was in uns armen Menschen steckt.

Für andere leben . . ., das ist das Glück!

Er trat vorsichtig auf den Flur, um zu sehen, ob sie noch etwas brauche. Nein! Er vernahm von innen, in langen Pausen, ihre tiefen, schweren Atemzüge. Sie schlief! Die Erschütterungen der letzten Tage, der furchtbare Schlag von heute hatten sie überwältigt. In einem bleiernen, ohnmachtähnlichen Schlummer glich die Natur das Leid und Wehe der Armen aus.

Lange stand er da. Tiefe Stille ringsum. Kein Laut in der dunklen Nacht, in der er andächtig ihren Schlummer bewachte.

»Du bist die Ruh – du bist der Frieden . . .
Du bist vom Himmel mir beschieden . . .«

Unwillkürlich summten seine lächelnden Lippen das alte Lied, das er so oft gedankenlos im Konzertsaal gehört, während er auf seinen Wachtposten im Vorderzimmer zurückkehrte.

Dort starrte er träumend in das Kerzengeflacker.

Gottes Friede mit dem alten Herrn! Es war ein Glück für ihn, daß es so kam und gerade jetzt so kam, wo noch in seinen letzten Stunden ein Strahl warmer Liebe wie der Abschiedsgruß der sinkenden Sonne sein zerfallenes Leben vergoldet hatte . . .

Jawohl . . . jener war morsch und siech! Jener mußte hinüber!

Aber er, Georg Textor, er war noch kein verlorener Mann! Seine Faust ballte sich, seine Augen blitzten freudig. Er war jung und stark und unverzagt. Er konnte kämpfen und arbeiten trotz Einem!

Und das wollte er! denn jetzt hatte das Leben für ihn Wert . . . und mehr als das . . . er stieg vor sich selbst im Werte und gewann eine Achtung und ein Zutrauen zu sich selbst, das er früher nie gekannt.

Und wieder suchten seine Blicke dankbar jenes Kämmerchen dort hinten, in dem die Geliebte schlief, und wieder klang in ihm die Erinnerung an das alte Lied:

»Du hebst mich liebend über mich! . . .
Mein guter Geist . . . mein bess'res Ich . . .«



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