Karl Storck
Mozart – Sein Leben und Schaffen
Karl Storck

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Ausklang

Die Welt hatte an Mozart viel gutzumachen. Am leichtesten war das gegenüber seinen Hinterbliebenen zu tun. Fehlte auch hier eine wirklich reiche Großmut, mit der es ja einem einzelnen leicht gewesen wäre, an Mozarts Nachkommenschaft für das äußere Leben gutzumachen, was man an ihm versäumt hatte, so erfuhr Mozarts Witwe das Wertvollere, daß die weitesten Kreise des Volkes sich bemühten, im kleinen ihr Scherflein zur Verbesserung ihrer Lage beizutragen. Wo sie Konzerte veranstaltete, fand sie ausgiebige Unterstützung und schönen Erfolg. Achtzehn Jahre nach Mozarts Tode hat sie sich zum zweiten Male vermählt mit dem dänischen Staatsrat Georg Nikolaus Nissen (1761–1826). Seit 1797 hatte ihr dieser etwas pedantische, umständliche, aber außerordentlich gewissenhafte und grundgütige Mann vielfachen Beistand gewidmet. Die tiefe Verehrung für Mozart war die Triebfeder seines Handelns. Seinem eifrigen Sammeln, seiner unermüdlichen Kleinarbeit danken wir das wichtigste Material für Mozarts Lebensbeschreibung. Sein eigenes. schwer genießbares Buch gab Konstanze 1828 heraus. Sie selber hat dann noch bis zum 6. März 1842 in Salzburg, wohin sie 1820 nach Nissens Austritt aus dem Staatsdienste übergesiedelt waren, gelebt. Wenige Stunden, nachdem das Modell des Salzburger Mozartdenkmals eingetroffen war, ist sie verschieden. Von Mozarts beiden Söhnen ist Karl 1858 in einer bescheidenen Beamtenstellung gestorben. Wolfgang Amadeus, der bei des Vaters Tode erst viereinhalb Monate alt war, wurde Musiker. Ein tüchtiger Klavierspieler, Kapellmeister und Komponist, verhinderte ihn das Schwergewicht seines Namens mehr zu gewinnen als bürgerliche Achtung. Am 29. Juli 1844 ist auch er gestorben.

Schwer war das Unrecht gutzumachen, das man an Mozart selber begangen hatte. Gerade in der letzten Zeit hatten die Gegner durch Verleumdungen seinem Rufe besonders geschadet. Während das Volk, übrigens auch viele nahe Bekannte Mozarts, an seinen italienischen Gegnern moralische Lynchjustitz übten, indem man ganz offen Salieri beschuldigte, Mozart vergiftet zu haben und ihm häßliche Worte über den eben hingeschiedenen Meister in den Mund legte, erklärten sich andere den frühen Tod des Meisters durch seine »Ausschweifungen«. Die Arzte selber sind sich ja nicht einig geworden, ob seine Krankheit Gehirnentzündung, ein hitziges Frieselsieber oder Brustwassersucht gewesen ist. Mozarts Lebenskraft war wohl aufgezehrt und es bedurfte nur eines kleinen Anstoßes, um seinen ohnehin schwächlichen Körper, dem ein unvergleichlich lebendiger Geist durch dreißig Jahre eine schier unübersehbare Arbeitsleistung abgezwungen hatte, ganz zu fällen. Aber zu dieser einfachen Überlegung kam man nicht. Und so leicht es Mozarts Witwe war, den Kaiser Leopold davon zu überzeugen, daß alle ungünstigen Gerüchte über ihres Gatten Lebenswandel mindestens ebenso übertrieben seien, wie die Zahl seiner Schulden, die man verzehnfacht hatte, blieb von den einmal gedruckten ungünstigen Berichten immer etwas hängen. Schlichtegrolls Nekrolog vom Jahre 1791 ist ein unrühmliches Zeugnis dieser verleumderischen Darstellung des Lebens Mozarts. Die prächtige Biographie, die Franz Niemetscheck 1798 herausgab, konnte die Wirkung jener trüben Quelle nicht aufheben.

In den nächsten Jahren schwoll die Mozartliteratur ganz gewaltig an. Der hundertste Geburtstag des Meisters rief Otto Jahns große Biographie hervor (I. Auflage, 4 Bände, 1856–59; 2. ganz umgearbeitete Auflage, 2 Bände, 1867, jetzt 4. Auflage, 2 Bände, 1905-07). Diesem prächtigen Denkmal deutschen Gelehrtenfleißes und tief eindringenden Kunstverständnisses steht in der Literatur würdig zur Seite das 1862 erschienene »chronologisch-thematische Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Mozarts von Ludwig Ritter v. Köchel, (2. Aufl. 1906). Die zahllosen Ausgaben von Mozarts Tonwerken erfuhren ihre Krönung und endgültige kritische Fassung durch die von 1876 an in sieben Jahren vollendete kritische Gesamtausgabe seiner Werke. Das 1841 gestiftete Mozarteum in Salzburg hat sich die Sammlung aller Denkwürdigkeiten seines Lebens zur Aufgabe gesetzt, darüber hinaus in der später eingegangenen Verbindung mit der Mozartstiftung eine lebendige Einwirkung auf das Musikleben. Mozartgemeinden, Vereine und Stiftungen gibt es auch an anderen Orten. Auch der Mozartdenkmäler aus Marmor und Erz gibt es mehrere, und sicher hat sich von nur wenigen Künstlergesichtszügen in den weitesten Kreisen des Volkes eine so bestimmte Vorstellung eingeprägt, wie von denen Mozarts, trotzdem die vielen von ihm erhaltenen Bildnisse untereinander nicht unerheblich abweichen.

Die Feier seines 150. Geburtstages im Jahre 1906 hat bewiesen, daß heute die ganze Welt sich einig darin ist, in Mozart eine einzigartige Künstlererscheinung zu sehen, die rein als solche für alle Zeiten einen Gipfel in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit darstellt, mit dem in der Schönheit der Fernsicht über alles Irdische hinaus ins Reich des Wunderbaren kaum ein zweiter wetteifern kann. Beim Künstler aber erhebt sich immer die zweite Frage nach seinem Gegenwartsleben in seinen Werken.

In den zahllosen Festartikeln und Festreden, die eine derartige Feier hervorzurufen Pflegt, war die volle Lebendigkeit Mozarts als etwas so Selbstverständliches hingenommen worden, daß eine Broschüre »Mozartheuchelei« von Paul Zschorlich mit allgemeiner Entrüstung wie eine Blasphemie zurückgewiesen wurde. Ich möchte nun keineswegs der Bedeutung dieses Einzelwerkchens gegenüber der jenes allgemeinen Glaubens an Mozart allzuviel Gewicht beilegen. Dennoch scheint es mir eine Pflicht, dieser Frage nach dem Weiterleben der Werke Mozarts näher zu treten. Die Klage vieler ernster Musiker, daß Mozarts Werke heute im Konzertsaal nicht genug gespielt werden, scheint doch zu bestätigen, daß nach ihnen von der Öffentlichkeit auch nicht genug verlangt wird. Andererseits findet sich auch bei Richard Wagner, dem es doch an echter Begeisterung für Mozart nicht gefehlt hat, mehrfach die Bemerkung, daß gerade das, was Mozarts Opern »über ihre Zeit erhob, sie in den sonderbaren Nachteil versetzt, außer ihrer Zeit fortzuleben, wo ihnen nun aber die lebendigen Bedingungen abgehen, welche zu ihrer Zeit ihre Konzeption und Ausführung bestimmten«. (Werke X, 131). So fehlt es also doch auch in diesem Falle nicht an Zeugnissen für den » ewigen Fluß der Dinge«.

Wenn die Geschichte des menschlichen Geistes und der menschlichen Ethik dartut, daß sich sogar die Anschauung vom Guten und Sittlichen im Laufe der Zeit gewandelt hat, so werden wir uns nicht wundern, daß das Gleiche auch von der Anschauung des Schönen gilt. Es gibt kein absolut Schönes, sondern die Anschauung von Schönheit wechselt im Wandel der Zeit; sie wechselt gegenüber den Lebenswerten, gegenüber den Menschen; sie wechselt natürlich noch viel stärker gegenüber der Kunst. Die tiefsten Wirkungen vermag die Kunst aber nur dann auszulösen, wenn sie dem Begriff des Schönen entspricht, genauer, wenn sie den Menschen das Verlangen erfüllt, das sie zur Kunst treibt. Denn es ist ja nicht einmal immer etwas gewesen, was wir mit dem Begriff »schön« zusammenbringen möchten, was den Menschen zur Kunst gefühlt hat.

Aus dieser einfachen Betrachtung ergibt sich, daß die Wirkung der Kunst beschränkt sein muß, nicht nur beschränkt gegenüber den Menschen, nach deren Veranlagung und geistigen Bildung, sondern vor allem auch begrenzt innerhalb der Zeit. Ich habe in meiner »Musikgeschichte« (Stuttgart, Muthsche Verlagshandlung, S. 88) die unleugbare Tatsache zu erklären versucht, daß die Musik immer mehr als alle anderen Künste dieser zeitlichen Begrenzung unterworfen gewesen ist, daß es, im Gegensatz zu anderen Künsten, bei der Musik streng genommen die Renaissance, eine Wiedergeburt vergangener Musik nicht gibt.

Freilich ist zu bedenken, daß unsere Zeit neben dem Streben nach Neuem in allen Künsten ein bewußtes Aufstapeln alter Werte zeigt. Wir haben in unserem geistigen Leben einige Jahrzehnte hinter uns, die man als »historische« bezeichnen könnte. Die geschichtlichen Wissenschaften haben einen riesigen Fortschritt gemacht, der hauptsächlich darin beruht, daß an die Stelle des bloßen Aufzählens vergangener Tatsachen und Ereignisse der Versuch des psychologischen Verständnisses dieser Vergangenheit getreten ist. Es ist sehr leicht möglich, daß auf diese Weise in uns eine so starke Fähigkeit zu einer Art von historischer Einstimmung erzeugt wird, daß wir auch dort, wo es hauptsächlich auf solche Stimmungswerte ankommt, unschwer zu einer Vergangenheitskunst ein Verhältnis finden. Es ist doch auch nicht bloß Überreiztheit der Nerven, wenn wir in unserer heute so verwickelten Zeit überall eine Freude an dem Primitiven in den Künsten auftreten sehen. Jedenfalls gehört zur unleugbaren Tatsache, daß wir diese Freude empfinden, die Fähigkeit, uns für diese primitive Kunst empfänglich einzustimmen. Es wäre kindisch, wenn man behaupten wollte, daß sich eine solche Fähigkeit nicht auch bis zu einem gewissen Grade der Musik gegenüber sollte herstellen lassen.

Aber trotz alledem bleibt festzuhalten, daß die Wirkung musikalischer Werke zeitlich begrenzt ist, und es muß rundweg zugegeben werden, daß auch ein Mozart diesem Gesetze unterworfen sein wird. Ebenso schroff ist aber rein aus der praktischen Erfahrung abzulehnen, daß für Mozart dieser Zeitpunkt bereits gekommen sei. Man kann aber ebenso sicher behaupten, daß es überhaupt undenkbar ist, daß für Mozart eine länger dauernde Periode der Unwirksamkeit eintreten kann, denn seine Musik gipfelt im Prinzip der Melodie. Dieses Prinzip ist die Urkraft aller Musik, wie das Volkslied sämtlicher Völker der Welt beweist. Die Kunstmusik hatte sich nur durch Jahrhunderte von diesem Prinzip der Melodie entfernt oder hatte sich wenigstens von anderen beherrschen lassen. Aber die Tatsache, daß die Melodiebildung für keine andere Musik, für die Werke keines anderen Komponisten so durchaus zur innersten Lebenskraft geworden ist, wie gerade für die Musik Mozarts, schützt diese auch dann vor einer völligen Unwirksamkeit, wenn einmal alle anderen Triebfedern, die für die Gestaltung der Mozartischen Musik in Betracht kommen, veraltet sein werden.

Da Mozarts Musik wie keine andere auf dem Ewigkeitsprinzip der Musik, der Melodie aufgebaut ist, muß es der Mozartischen Musik gegenüber leichter als bei jeder andern sein, einen Weg zu finden, der immer wieder zum Herzen dieser Kunst führt und sie uns als Gegenwartswert empfinden läßt. Denn je reicher an Ewigkeitsinhalt eine Kunst ist, um so leichter läßt sich das dem Wandel Unterworfene in der formalen Erscheinung überwinden.

Die gewaltigste Geschmackswandlung auf dem Gebiete der Musik hat im letzten Jahrhundert die Oper erfahren. Mozarts Werke sind noch aus dem Boden der italienischen Sängeroper herausgewachsen; wir stehen heute alle im Banne des Wagnerschen Musikdramas. Zwei Momente sind es, die in Mozarts Opern dramatische Ewigkeitswerte darstellen: einmal die Wahrheit des jeweiligen Gefühlsausdrucks; sodann die wahre Durchführung der dramatischen Charaktere; in sehr hohem Maße kommt dazu die Wahrheit der jeweiligen Bühnensituation. Wohlverstanden, die unvergleichliche musikalische Schönheit der Opern Mozarts ist bloß imstande, die Werke uns musikalisch lebendig zu erhalten. Diese dramatischen Eigenschaften aber vermögen sie auch als Dramen in der Periode des Musikdramas in voller lebendiger Wirkung zu bewahren.

Nur muß dann die heutige Art der Aufführung diese dramatischen Werte hervorkehren. Es ist klar, daß seinerzeit diese Werke als Sängeropern gegeben wurden, mit möglichster Hervorhebung der rein musikalischen Werte jeder »Nummer«. Heute wird man versuchen, erstens die Einheit der Charaktere durch die ganze Oper; zweitens die jeweils hervorragende Charakteristik im Ausdruck des Inhalts; drittens die wahre Schilderung jeder Situation hervorzuheben. Auf diese Weise werden Mozart-Aufführungen entstehen, die anders sind als die gewohnten. Aber sie werden trotzdem echt im Geiste sein, und dieser Geist wird unserem Geiste vertraut und teuer sein.

Nein, wir brauchen nicht zu »heucheln«, um Mozarts Musik zu lieben; wir müssen nur echt musikalisch empfinden können. Und in leichter Umänderung können wir, was Goethe von Wielands »Oberon« rühmte, mit unvergleichlich höherem Rechte sagen: Solange die Musik Musik, Gold Gold, Kristall Kristall bleiben wird, so lange wird Mozarts Musik geliebt und bewundert werden.


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