Karl Storck
Mozart – Sein Leben und Schaffen
Karl Storck

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5. In der Salzburger Enge

Als Enge haben Mozarts, der Vater wie der Sohn, ihr Salzburg empfunden, als sie jetzt, im Frühjahr 1773 dort anlangten. Die schlimme Vorahnung wurde zu einer viel schwereren Wirklichkeit; und wenn der Vater in seinen gereiften Jahren, mit seinem starken Willen und seinem ungemein hoch ausgebildeten Pflichtgefühl sich später, wenn auch leidend, den Verhältnissen fügte, der Sohn empfand von Tag zu Tag mehr die einst so geliebte Heimat geradezu als Gefängnis. Im Sommer 1773 hatten sie nochmals eine Reise nach Wien gemacht, über deren Absichten wir nicht genau unterrichtet sind. Wahrscheinlich war es ein Versuch Leopolds, seinen Sohn in einer anderen Stellung unterzubringen; jedenfalls ist er dann vollkommen gescheitert. Wolfgang, dessen Lebenselement ja komponieren war, schuf die verschiedenartigsten Werke, unter denen die beiden Messen in F- und D-dur aus dem Jahre 1774 besonders bedeutsam hervorragen, weil sie für eine tiefere Beurteilung des Kirchenkomponisten Mozart richtunggebend sind oder doch sein sollten.

Da winkte wieder einmal die Erlösung. Denn als solche erschien Mozarts jede Gelegenheit, aus Salzburg wegzukommen. Vom Kurfürsten Maximilian III. kam der Auftrag, zum Karneval 1775 für München eine komische Oper zu schreiben. In diesem Falle konnte natürlich der Erzbischof den zur Schöpfung der Oper notwendigen Urlaub nicht abschlagen. So reisten am 6. Dezember Vater und Sohn nach München, wo sie überall das freundlichste Entgegenkommen fanden. Wolfgang nutzte die guten musikalischen Verhältnisse, eine viel gediegenere musikalische Arbeit für » La finta giardiniera« zu schaffen, als man es sonst bei einer komischen Oper gewöhnt war. Das ganze Orchester beteuerte denn auch, wie der Vater schreibt, bald, »daß sie noch keine schönere Musik gehört, wo alle Arien schön sind«. Die Aufführung am 13. Januar 1775 bestätigte diesen Eindruck durch einen riesigen Erfolg, an dem auch der Hof sich aufs lebhafteste beteiligte. »Nach einer jeden Arie war allzeit ein erschreckliches Getös mit Klatschen.«

Unter den vielen Salzburgern, die sich jetzt überzeugen konnten, daß die Erfolge Mozarts in Italien nicht erlogen gewesen waren, befand sich auch der Erzbischof, der zwar seinen Pflichtbesuch beim bayrischen Kurfürsten so einzurichten wußte, daß er an einer Aufführung der Oper selber vorbeikam, dagegen, wie Leopold Mozart mit schadenfroher Genugtuung berichtet, nicht umhin konnte, vom ganzen Adel die Lobeserhebungen anzuhören und die ihm allerseits dargebrachten feierlichen Glückwünsche zu seinem Konzertmeister entgegenzunehmen. Die Verlegenheit, in die er dabei geriet, so daß er nur mit einem Kopfneigen und Achselzucken auf alles antwortete, hat er natürlich dem jungen Künstler nicht vergessen und sie ihn später gehörig entgelten lassen. Vielleicht auch schon in München; denn es ist doch auffällig, daß sich auch jetzt nicht nur keine Stellung für ihn fand, sondern daß dem so erfolgreichen Komponisten nicht einmal die Opera seria für das nächste Jahr übertragen wurde, wie alles erwartete. Der kluge Leopold Mozart hatte sich nicht umsonst um das »viele Gewäsche« geärgert, daß die Salzburger darüber machten, daß Wolfgang in kurfürstliche Dienste treten würde, und hat darin ganz richtig feindliche Einwirkungen gewittert. Man hat jedenfalls das bestimmte Gefühl, daß die geringen praktischen Erfolge, die die künstlerisch hoch anerkannten Taten Mozarts in München nach sich zogen, darauf beruhen, daß man hier an maßgebender Stelle doch den Salzburger Erzbischof um eines Komponisten – und gar eines Deutschen! – willen nicht vor den Kopf stoßen mochte.

Im gleichen Jahre 1775 schrieb Mozart übrigens auch für Salzburg eine Oper, den » Re pastore«, der bei dem Besuch eines österreichischen Erzherzogs am 23. April aufgeführt wurde.

Das war die letzte Gelegenheit, bedeutender öffentlich hervorzutreten. Danach verfiel das Salzburger Leben wieder dem kleinlichen Trott der abseits liegenden Residenz. Es fehlten ja allerdings nicht ganz die äußeren Veranlassungen zur Komposition für Mozart; sein Amt als Konzertmeister – er bezog übrigens jetzt 150 Gulden Jahresgehalt – brachte schon viele mit sich. Dann nahmen mehrfach Salzburger Familien seine Dienste für die musikalische Verherrlichung von Familienfesten in Anspruch. Unter diesen Serenaden, Abendmusiken, die meistens auf der Straße aufgeführt wurden, ist die zur Hochzeit des Salzburger Bürgers Späth mit der Tochter des Bürgermeisters Haffner 1776 komponierte als Haffner-Musik von Mozart auch später vielfach erwähnt worden. Auch für einzelne Adlige, für Schüler und Musikliebhaber hat Mozart mancherlei komponiert. Aber es fehlte doch jeder Anreiz, alle Gelegenheit zu Arbeiten größeren Stils, nach denen es den prächtig herangereiften Jüngling drängte. Wir haben schon erwähnt, daß er diese Aufgaben nur auswärts finden konnte, sie dort aber auch sicher nach den Erfolgen der vorangehenden Zeit gefunden haben würde, wenn man ihm überhaupt nur die Gelegenheit gegeben hätte. Der ihn daran hinderte, war einzig und allein der Erzbischof, sein Landes- und Brotherr, vor allem aber auch der Brotherr seines Vaters. Es hat sich in den zwei Jahren, die Mozart jetzt gezwungenerweise noch in Salzburg aushielt, die vorher schon hoch gestiegene Bitterkeit so scharf vermehrt, daß es von da ab dauernd unmöglich war, daß sich Mozart hier jemals wieder wohl fühlen konnte. Wenn ihn also ein Jahr, nachdem er zum erstenmal den Austritt aus dem verhaßten Dienste gewagt hatte, der Mißerfolg seiner Bemühungen um eine Lebensstellung und doch wohl vor allem die Rücksicht auf den Vater zwangen, wieder in Salzburger Dienste zu treten, so dürfen wir darin sicher die tragischste Seite des äußeren Lebensganges Mozarts sehen. Denn es ist klar, daß zum zweitenmal die Befreiung noch viel schwerer fallen mußte, als das erstemal.

Es muß sich demgegenüber doch die Frage erheben, ob es denn für Mozart wirklich nicht möglich war, in Salzburg zu leben und zu schaffen?

Das Wort Heimatkunst ist uns heute ein geläufiger Begriff geworden, und wenn er bezeichnenderweise aus großstädtischen Kreisen heraus zum modischen Schlagworte geprägt worden ist, so gibt es doch wohl keinen ernsten kunstverständigen Mann, der bestreiten möchte, daß kleinere Orte, vor allem wenn sie in einer so wunderbaren Natur gelegen sind wie Salzburg, für das künstlerische Schaffen eher fördernd sind denn hemmend. Man könnte behaupten, daß Mozart in seinem bisherigen Lebensgange so viel in die Welt hinausgedrungen war, sich aus den Kunstzentren der verschiedenen Länder so viele Anregungen geholt hatte, daß er jetzt in Salzburg an stiller Stätte, die gleichwohl noch keine Einsamkeit bedeutete, sich eigentlich besonders glücklich hätte entfalten müssen. Es ist auch zweifellos ganz sicher, daß die Ruhejahre in Salzburg für Mozarts künstlerische Entwicklung von Segen gewesen sind. Es war ein Glück für den unbegreiflich schnell der höchsten Künstlerschaft entgegenreifenden Menschen, bei dem es immer nur des leisesten Anstoßes von außen bedurfte, um in ihm eine gegen die schon gewöhnlich überreiche Tätigkeit noch gesteigerte Produktion anzuregen, daß er für Zeiten immer wieder an einen Ort zurückkehrte, an dem die äußere Anregung fehlte. Es war zweifellos ein Glück, wenn hier etwas gebremst wurde. Aber das ist auch das einzige, was man in künstlerischer Hinsicht bei Mozart für diesen Salzburger Aufenthalt geltend machen kann. Wir müssen auch hier bedenken, daß es sich um eine ganz andere Zeit handelt, daß die gesamten

kulturellen Vorbedingungen für das musikalische Schaffen

andere waren als heute.

Die Musik bedarf mehr denn jede andere Kunst des Reproduziertwerdens. Sie wird ja doch erst dadurch lebendig, daß sie zum Tönen gebracht wird. Der schöpferische Musiker leidet darum auch mehr als jeder andere Künstler, wenn es ihm nicht gelingt, seine Werke zu hören. Bei kleineren Musikformen vermag er sich ja selber diese Umsetzung des Geschaffenen in das wirkliche Leben des Tones zu verschaffen. Bei größeren Werken ist ihm das nicht möglich. Ohne diese Mitteilung durch die Aufführung aber kann der Musiker von der Umwelt die Rückantwort und befruchtende Rückwirkung nicht erhalten, die dem Dichter und dem bildenden Künstler durch die Genießenden auch dann zuteil wird, wenn ihm die Wirkung auf die breiteste große Öffentlichkeit versagt bleibt. Die nicht aufgeführte Oper z. B. ist ein totes Werk; das nicht aufgeführte Drama kann durch die bloße Lektüre auf weite Kreise stark und nachhaltig wirken es kann in seiner vollen Kraft erfaßt werden; sein Schöpfer kann darum auch die rückwirkende Kraft dieser Wirkung seines Kunstwerkes an sich selbst erfahren.

Die Musik nimmt also gegenüber den anderen Künsten an sich schon eine besondere Stellung ein, indem sie zur Verlebendigung der Mitteilung an die Öffentlichkeit bedarf. Wichtiger für eine richtige Beurteilung der Lage aber ist noch, daß auch innerhalb der Musik ein großer Wandel eingetreten ist, infolge dessen heute der Komponist zur Umwelt in einem anderen Verhältnis steht als früher, als eben noch zur Zeit Mozarts.

Die Grenze bildet hier Beethoven. Es ist gewiß eine merkwürdige Fügung, daß für die Musik, für die Kunst des Klanges, der nur durch das Gehör sinnlich voll erfaßt wird, die bedeutsamste innere Entwicklung dadurch hervorgerufen wurde, daß ein großer Musiker taub wurde. Das hat Richard Wagner gefühlt, als er von Beethoven sagte: »Dem erblindeten Seher, dem Teiresias, dem die Welt der Erscheinung sich verschlossen und der dafür mit den inneren Augen den Grund aller Erscheinungen gewahrt – ihm gleicht jetzt der ertäubte Musiker, der, ungestört vom Geräusche des Lebens, nun einzig noch den Harmonien seines Innern lauscht, aus seiner Tiefe nur einzig noch zu jener Welt spricht, die ihm – nichts mehr zu sagen hatte. So ist der Genius von jedem außer sich befreit, ganz bei sich und in sich. Wer Beethoven einmal mit dem Blick des Teiresias gesehen hätte, welches Wunder würde sich dem erschlossen haben: eine unter Menschen wandelnde Welt, – das An-sich der Welt als wandelnder Mensch.« Da Beethoven der Ton, die Erscheinungsform seiner Kunst versagt blieb, mußte er sich auf ihr innerstes Wesen zurückziehen. Das ist aber nicht bloß für ihn selber von entscheidender Bedeutung geworden, da er sonst sicher niemals der Innenkünstler geworden wäre, als den wir ihn verehren, sondern für unser ganzes Verhältnis zur Musik, vor allem auch für das Verhältnis des musikalischen Schöpfers zu seiner Kunst. Durch Beethoven erst haben wir erkennen gelernt, daß das sinnlich hörbare Tonspiel nur die Hülle, nur die Art der Aussprache für das eigentlich Wesentliche, das seelische Erleben des Künstlers ist.

Das ist eine viel tiefer gehende Umwälzung des ganzen musikalischen Schaffens, als man zuerst meinen möchte. Es ist beinahe eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Schöpfung und Mitteilung, zwischen der Musik an sich und den Wegen, sie mitzuteilen. Es beruht z. B. keineswegs bloß auf den äußeren Lebensverhältnissen und der gesamten Richtung der Zeit, wenn der schöpferische Musiker früher hinter dem ausführenden zurücktrat, wenn z. B. die italienische Oper viel mehr durch die Sänger bestimmt wurde, als durch die Komponisten. Das lag vielmehr daran, daß man zur Musik eigentlich nur das sinnliche, das körperlich sinnliche Verhältnis hatte. So muß man von einem durchaus nicht abliegenden Standpunkte aus die ganze Entwicklungsgeschichte der Musik für ein Auf und Ab, ja für einen Kampf zwischen den sinnlichen und seelischen Kräften erklären, die von Anfang an in ihr wirksam sind. Jene gehen vom Ton an sich aus, diese entstehen dadurch, daß der Ton etwas ausdrückt, was innen vorgeht.

Wenn wir in raschen Zügen das Bild dieser Entwicklung zeichnen, so geschieht es nicht aus müßiger Spekulation, sondern weil nur so die jeweils richtige Einstellung für das psychologische Verständnis der Musik der Vergangenheit zu gewinnen ist, weil nur so auch die einzelne Komponistennatur richtig eingeschätzt werden kann. Gerade Mozart gegenüber beruht auf dieser Erkenntnis nicht nur das Verständnis für seine Lebensumstände, sondern auch die Einschätzung der Lebensfähigkeit und Wirksamkeit seiner Musik für uns Heutige, ihrer Aussichten für die Zukunft. Man folge uns also getrost auf diesem Umwege, der uns zwar vom Lebensgange Mozarts etwas abführt, dafür aber manche Ausblicke in die Geschichte der kulturellen Bedeutung der Musik für die Menschheit eröffnet.

Bei den Kulturvölkern Asiens finden wir die Musik durchweg nur als sinnliches Reizmittel. Sie ist deshalb zumeist mit der körperlichen Bewegung irgendwie verbunden. Musikerin, Sängerin und Dirne waren ziemlich gleichbedeutende Begriffe. Bezeichnend ist, daß die höhere Beschäftigung mit Musik in diesem Zeitalter und bei diesen Völkern durchweg den Charakter einer Geheimwissenschaft annimmt. Es treten da merkwürdige Beziehungen zur Mathematik hervor. Das Verhältnis der Töne zueinander, der Akkorde läßt sich so leicht auf mathematische Parallelen übertragen, daß es nicht gar so absonderlich wirkt, daß Musik und Mathematik zusammengebracht werden, auch wenn sich nicht noch andere Gründe für dieses Verwandtschaftsverhältnis beibringen ließen. Aber es ist unverkennbar, daß im allerletzten Grunde die Mathematik gegenüber den anderen Wissenschaften eine ähnliche Stellung einnimmt, wie die Musik gegenüber den anderen Künsten. Auch die höhere Mathematik, dort, wo sie nicht ins Leben herabgezogen, für die Praxis dienstbar gemacht ist, gibt gewissermaßen die Idee an sich, nicht deren Abbilder. Sie ist völlig rein von Zweckbestimmungen und trägt in sich ihre volle Lebenskraft. Sie ist die einzige Wissenschaft, die in ihren höchsten Gängen nicht mit Irdischem beschwert ist, die nicht in Verbindung steht mit irgendwelchen anderen menschlichen Absichten und Zielen. Also um zusammenzufassen: die ganze Stellung der Mathematik ist eine Art Parallelerscheinung zur Musik, und es scheint mir leicht erklärlich, daß spekulative Naturen, jene vor allen, die der Musik von seiten der Form her nahekommen, hier Beziehungen entdecken. Diese Spekulationen haben sich keineswegs bloß auf den Orient oder auf das alte Ägypten beschränkt; ein Keppler hat hier recht tiefsinnige Gedankenreihen aufgestellt. Seither hat es niemals an Versuchen gefehlt, die Theorie der musikalischen Form irgendwie ins Mathematische zu übersetzen. Und die neuesten Untersuchungen über die Musik der Naturvölker haben ja wiederum ergeben, daß wenigstens die Tonverhältnisse und Tonabstände dieser Naturtonleitern sich auf merkwürdig einfache mathematische Formen zurückführen lassen. Gerade bei Mozart denken wir dieser Zusammenhänge, da er selber zu den zahlreichen Musikern gehört, die sich mit Mathematik besonders gern befaßten und mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit ihr anhing. Es ist gerade bei der einzigartigen musikalischen Veranlagung Mozarts eine psychologisch nicht zu unterschätzende Tatsache, daß das Kind Mozart mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der es alles Musikalische aufnahm, auch Tische, Wände und Fußböden mit Rechnungen bedeckte, als es in die Mathematik eingeführt wurde.

Die Parallele: sinnliche, wir möchten lieber sagen: die Sinne reizende Musik in der Praxis – mathematische oder physikalische Berechnung in der Theorie haben wir im Grunde auch bei den Griechen, bei denen die Musik überhaupt erst anfängt eine Kunst zu werden. Die Musik ist bei den Griechen nur ein Hilfsmittel der Sprache gewesen, Deklamationsmittel im höchsten Sinne als scharfe Rhythmisierung und Tonfixierung des Wortes. Daneben hat aber von früh ab die sinnliche Musik des Orients eingewirkt. Als mit Euripides das musikalische Virtuosentum im Drama mächtiger wurde, war auch für die griechische Kultur die orientalische Auffassung der Musik siegreich geworden. Ein nur auf grobe sinnliche Wirkung bedachtes Virtuosentum wurde allherrschend. Rom, vor allem das der Kaiserzeit, verschaffte sich die Mittel seiner musikalischen Unterhaltung dann ganz unverschleiert in derselben sinnlichen Weise, wie es die Despoten des Orients gewöhnt gewesen waren. Wir können zusammenfassen: für den Orient und in der Praxis auch für das klassische Altertum haben wir in der Musik die Herrschaft des Tons an sich; die Musik ist im wesentlichen körperlich sinnliche Kunst.

Der Kampf des Seelischen mit dem körperlich Sinnlichen in der Musik beginnt mit dem jungen Christentum. Das Instrumentale, das in der späteren griechischen Musik das Übergewicht errungen hatte, wird völlig verbannt. Der Gesang dient dazu, auszusprechen, was die Seele übermächtig erfüllt, und wenn schließlich Worte dazu nicht mehr ausreichen, so künden begeisterte Tonfolgen von den Jubelgefühlen der begeisterten Seele. Diese Erklärung, die der heilige Augustinus für den »Jubilus« des Chorals gibt, ist für die psychologische Einschätzung der Bedeutung der Musik in dieser Zeit viel wichtiger und richtiger als etwa der historische Nachweis, daß diese Tonanhäufungen vielleicht nur daher rühren, daß der neue einer alten Melodie untergelegte Text viel kürzer war, als die Melodie, und deshalb der ganze Rest der letzteren auf eine einzige Note zusammengehäuft wurde. Solange das junge Christentum einen Gegensatz bildete zur herrschenden Weltanschauung, so lange bedeutete es auch den Kampf des seelischen Lebens des einzelnen Individuums gegenüber der dogmatisch erstarrten Weltanschauung der Masse. Solange aber der einzelne sich im Gegensatz zu dieser Masse fühlen muß, so lange bedeutete auch bei ihm die Zugehörigkeit zur Minorität ein persönliches Bewußtsein des seelischen Lebens. Ebensolange pflegt dann die persönliche Freiheit des seelischen Empfindens betont zu werden; ebensolange erfährt diese uneinschränkbare, weil ganz innen sich vollziehende Betonung des seelischen Lebens Förderung und Anregung. Sobald aber diese Weltanschauung zur Herrschaft gelangt, sobald es damit notwendig wird, sie auf lehrhafte und mit dem Verstande faßbare Formen zu bringen, erstarrt das seelische Leben; oder genauer: auch dieses seelische Leben wird auf Formen gebracht, erhält einen bestimmten Charakter. Soweit das seelische Leben innerlich bleibt, wird es natürlich nicht diese Uniformierung erfahren; wohl aber in seiner Art sich auszudrücken. Für die ältere christliche Kirchenmusik ist bezeugt, daß bei den Versammlungen der Gläubigen plötzlich einer vortrat und, vom heiligen Geiste seines aufgeregten, hochgesteigerten Empfindens angetrieben, neue Hymnen sang. Die Musik war also in diesen Zeiten Improvisation im höchsten Sinne des Wortes. Es dauerte nicht lange, da wurde dem Volke verboten, in der Kirche zu singen; der Gesang wurde auf wenige beschränkt, die dazu bestimmt und vorgebildet waren. Die Gesänge hatten ihre genaue Ausbildung und Aufzeichnung erfahren. Der gregorianische Choral ist in gewissem Sinne die Dogmatisierung des frühchristlichen Religionsgesangs.

Es ist aus der Geschichte der Musik bekannt, wie dieser Choral überallhin verbreitet wurde, wohin die christliche Lehre gelangte. Während für Italien und auch für Griechenland Verbindungslinien vorhanden waren zwischen dem, was jetzt als Musik galt, und dem, was von der Vergangenheit her sich als Musik entwickelt hatte, wurde den nordischen Völkern, den Germanen zumal, mit dem Choral etwas gebracht, was in keinerlei Zusammenhang stand mit dem, was früher bei ihnen als Musik gegolten hatte. Sobald die Einführung dieses kirchlichen Gesangs vollzogen ist, beginnt die Neuherrschaft der Sinnlichkeit in der Musik. Das Seelische erstarrt, das Sinnliche gewinnt von neuem darüber die Übermacht. Eine höhere Sinnlichkeit als früher, die Sinnlichkeit der schönen Form. Es war die Sinnlichkeit, die die Einstimmigkeit als dünn empfand, nach volleren Klängen verlangte. So entwickelt sich in dieser zweiten Periode des musikalischen Mittelalters die kontrapunktische Polyphonie. Es ist eine Sinnlichkeit der formalen Kultur, die aufs höchste ausgebildet wurde, sich dabei genau so mit einer Wissenschaftlichkeit, mit einer gelehrten Spekulation in seltsamen Formenbildungen (Rätselkanons und dergleichen) verband, wie auf niedrigerer Stufe früher bei den asiatischen Kulturvölkern. Jedenfalls schloß diese kontrapunktische Polyphonie streng genommen die Aussprache eines individuellen seelischen Fühlens, eine eigentlich persönliche Kunst aus.

Es muß freilich hervorgehoben werden – und das wirkt als Parallelerscheinung zu Mozart am Ende des nächsten Zeitraums –, daß auch jetzt Musiker erstanden, die in der Beherrschung der kontrapunktischen Form eine so hohe Stufe erreichten, daß die Form ihnen zur natürlichen Sprache wurde, in der sie dann ihr Empfinden zu künden vermochten. Voraussetzung dafür war, daß dieses Empfinden keine eigentlich neuen Werte in die Welt trug, daß es höchstenfalls die vorhandenen in der feinsten Abklärung zeigte. Ich denke hier an Palästrina oder Orlando di Lasso. Schon daß zwei voneinander so grundverschiedene Charaktere als Gipfelpunkte in derselben formalen Kunst der gleichen Zeit stehen können, bezeugt, daß das Seelische auch auf diesem Wege wieder zur Herrschaft gelangen konnte. In noch unendlich höherem Maße hat die Verbindung und den Ausdruck eines ganz subjektiven Empfindungsgehalts in den geschlossenen Formen der Kontrapunktik erreicht Joh. Seb. Bach. Allerdings verfügte er dabei über reichere Ausdrucksmittel als die zuvor genannten; das Instrumentale war hinzugekommen. Übrigens ist es sehr lehrreich, daß erst die Neuzeit in Bachs Musik das Subjektive fühlt; seine Zeitgenossen, auf die er vielleicht gerade seiner Subjektivität wegen weniger stark wirkte als zahlreiche andere, sahen in seiner Kunst zumeist die Beherrschung der Form.

Immer wenn es einem einzelnen gelingt, über entgegenstehende Vorbedingungen Herr zu werden, wenn er erreicht, in alten Formen neues Leben auszudrücken, darf man sicher sein, daß diese Seite seines künstlerischen Vermögens erst von einer späteren Zeit erkannt wird, daß dagegen seine Zeitgenossen nur die Beherrschung des Formalen erkennen. Die spätere Zeit fühlt, daß in der Musik des betreffenden Künstlers trotz der alten Form bereits der neue Geist lebt. Wir gewinnen also zu diesen wenigen Künstlern ein Verhältnis wegen dieses geistigen Gehalts und vermögen mit Hilfe desselben das Widerstrebende in der herkömmlichen Form zu überwinden. Die Zeitgenossen hielten sich natürlich an das ihnen Bekannte in der betreffenden Kunst; das neue Geistige in derselben hat sie immer eher abgestoßen. Denn wenn sie auch das neue Geistige nicht deutlich zu erkennen und zu empfinden vermochten, spürten sie doch das Vorhandensein eines ihnen nicht völlig aufgehenden Wertes. So erklärt es sich, daß Joh. Seb. Bach wie auch Mozart bei ihren Zeitgenossen mit ihren Kompositionen nicht in derselben Weise durchzudringen vermochten wie andere, die nur tüchtige Formkünstler waren, was doch auch Bach und Mozart niemals bestritten wurde. Umgekehrt sind für uns Spätere diese alten Formen nur in der Kunst der wenigen Meister, die sie mit neuem Leben zu erfüllen vermochten, genießbar.

Bach bildet ja offenbar in der Hinsicht den höchsten Gipfel aller Zeiten, weil er ganz deutlich nicht nur die geistige, sondern auch die formale Kunst zweier völlig getrennter Zeitalter in sich vereinigt. Nicht so auffällig tritt bei Palästrina und Mozart zutage, daß zu ihrer Schaffenszeit bei unbestrittener Herrschaft alter Formen bereits der neue Geist in stärkster Lebendigkeit dastand. Und je mehr sich unsere Kunstgeschichte daran gewöhnt, immer nur aus der Entwicklungsgeschichte einer Kunst heraus die in ihr tätigen künstlerischen Persönlichkeiten erklären zu wollen, um so weniger wird es gelingen, diese tieferen Zusammenhänge zu spüren. Aber wenn wir bedenken, daß zu Palästrinas Zeit die Bewegung der Renaissance ihren Gipfel schon überstiegen hatte, daß also das Herrenrecht des Individuums gegenüber der Masse bereits in das Empfindungsleben der Zeit eingedrungen war, so kann es uns nicht überraschen, wenn nun auch bei jenen Musikern, die an den alten Formen festhielten, das persönliche seelische Leben stärker nach Aussprache verlangte; daß für sie die Form, die vorher Selbstzweck gewesen war, nur noch Mittel zum Zweck war; daß sie also mit den gleichen Mitteln Ausdrucksmusiker wurden, mit denen die vorangehenden nur formale Künstler gewesen waren. – Ähnlich liegt der Fall später bei Mozart. Bedenken wir doch, daß der »Sturm und Drang« in unserer Literatur bereits die Gemüter des deutschen Volkes aufgewühlt hatte, als er in das Alter kam, in dem das persönliche Denken und Empfinden nach Aussprache verlangte. Es ist dabei keineswegs entscheidend, ob Mozart nun die betreffenden Werke unserer großen Dichter gekannt oder gar von der Bühne her erlebt hat, obwohl es sehr wahrscheinlich ist. Aber wir müssen bedenken, daß Goethes »Götz« 1773, sein »Werther« 1774 erschienen sind, daß Schillers »Räuber« der Zeit nach mit der »Entführung aus dem Serail« zusammenfallen (1781), daß bevor »Figaros Hochzeit«, in der die Zeitgenossen den frischen Morgenwind der Revolutionsstimmung mehr spürten als wir Heutigen, auf die Bretter kam (1785), Schillers »Kabale und Liebe« in feuriger Sturmgewalt gegen denselben Weibermißbrauch des Adels gewettert hatte. Die Stimmungen, aus denen wenige Jahre später die französische Revolution herauswuchs, lebten auch schon in dem vorangehenden Geschlechte Deutschlands. Man braucht nur in Mozarts Briefen zu lesen, wieviel Erbitterung und scharf spottende Kritik gegenüber jenen sozialen Verhältnissen wetterleuchtet, die noch sein doch viel spöttischer und schärfer angelegter Vater stillschweigend als etwas Unabänderliches hinnahm.

Aus alledem ergibt sich, daß bei Mozart in den ihm überkommenen und aufs höchste gesteigerten Formen viel von jenen geistigen und seelischen Kämpfen lebte, die später bei Beethoven, als sie zum kunstgestaltenden Prinzip erhoben wurden, eine völlige Umwälzung der Musik nach sich zogen. Hier liegt dann der Grund, weshalb wir diese Werke Mozarts nicht nur in ihrer sinnlichen Schönheit oder in ihrer wunderbaren formalen Bildung bewundern können, sondern sie auch zu erleben vermögen, was uns bei der doch oft aufs höchste gesteigerten formalen und sinnlichen Kunst der gleichzeitig oder unmittelbar vorangehenden italienischen Oper nicht gelingt. Das letztere beruht allerdings vor allem darauf, daß hier die Selbstherrlichkeit der Form auch über das allgemein menschliche Empfinden gesiegt hatte. Diese Linie der Entwicklung haben wir noch zu verfolgen.

Die um 1600 zustande gekommene Erfindung des damals mit dem Worte »neu« charakterisierten Stils der begleiteten Einstimmigkeit hatte dem seelischen und geistigen Gehalt der Dichtung das Übergewicht über die musikalische Einkleidung gebracht. Das geschah auf dem Wege der Unterdrückung der Musik, wie die systematisch angestrebte Nüchternheit und Trockenheit der ersten Opernmusiken bezeugt, bei denen man nicht aus Unvermögen, sondern aus Überzeugung die wohlbekannten sinnlichen Wirkungen der Musik verschmähte, um dem Ausdruck des Geistigen und Seelischen, den man allein durch die Dichtung geben zu können überzeugt war, das Übergewicht zu verschaffen. Es dauerte aber nur wenige Jahre, – d. h. für uns Heutige kommen bei der historischen Betrachtung einige Jahre heraus, das will aber im Grunde bedeuten, daß man es eigentlich sofort empfand – bis man erkannte, daß auch die Musik als solche vollauf imstande sei, dieses Seelische auszudrücken. Darin liegt der ungeheure Fortschritt der Oper des genialen Claudio Monteverdi, dessen Tätigkeit 1607 einsetzt, gegenüber den um 1600 entstandenen Werken von Peri und Caccini.

Aber noch viel schneller als in der frühchristlichen Periode wurde jetzt das Seelische wieder durch die sinnliche Macht der Musik zurückgedrängt. Der letzte und innerste Grund dafür liegt ja zweifellos dann, daß das 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts die grobsinnlichste Zeit der christlichen Zeitrechnung gewesen sind, daß niemals alles Geistige so sehr eigentlich nur frivoles Spiel war, nie wieder die Entfesselung des Tierischen im Menschen so scheulos als Lebenszweck verkündet und mit den Künsten gefeiert wurde wie in dieser Periode, als das wilde, kraftprotzende Barock seine Gelüste in den spielerigen Formen des Rokoko zu verkleiden lernte. Bei dieser Gesamtstimmung der Zeit konnte sich ein starkes seelisches Leben eigentlich nur in so abgelegenen deutschen Waldwinkeln entwickeln, wie einer die Heimat unseres Joh. Seb. Bach war. Vereinzelt steht auch die Hünennatur eines Händel, der, als ihn die im Übermaß genossene Welt zu ekeln begann, noch die Frische besaß, aus den ungenützten Kräften der Heimat sich einen Jungbrunnen seines seelischen Empfindens zu schaffen. Im übrigen lagen auch in der Musik selbst die Gründe, die diese Entwicklung zur Sinnlichkeit begünstigten. Hatte man doch gerade ein ganz neues Gebiet musikalischer Betätigung entdeckt, das zur ausgiebigen Bebauung reizte.

Über der hohen Kunst der Bewegung einer Vielheit von Stimmen, die die Kontrapunktik ausgebildet hatte, war völlig übersehen worden, zu welch wunderbarer Kunstfertigkeit die besonders begnadete Einzelstimme zu steigern war. Es ist sehr bezeichnend, daß gerade der kunstvolle Einzelgesang zum beherrschenden Element für die Hauptentwicklung der Musik in der nächsten Zeit geworden ist, daß diese Einzelstimme in der sieghaften italienischen Oper unbeschränkt herrschte. Noch mehr Neuland, als die Wirkung des schönen oder auch nur kunstfertigen Gesangs, war die Ausnutzung der Instrumente. Jetzt erst beginnt die Ausbildung einer eigentlichen Instrumentalmusik, und wiederum zeigt sich auch da der doppelte Gang: einerseits die Entwicklung der Fähigkeiten eines Instruments, also instrumentale Virtuosität, andererseits das Zusammenwirken der verschiedenen Instrumentalstimmen bis zur größten Form des Orchesters. Wir wollen bedenken, daß ein wirklich großer instrumentaler Orchesterstil eigentlich erst in der Kindheit Mozarts entwickelt wurde, daß auf ihn die Leistungen der Mannheimer Kapelle fast als Offenbarungen wirkten.

Es ist nur zu leicht erklärlich, daß in einer Periode, in der man so überraschende und doch auch wirklich das gesamte künstlerische Leben bereichernde Entdeckungen machte, das Gefühl dafür verloren ging, daß diese doch nur auf dem Gebiet des Technischen in der Musik lagen; daß man dabei völlig vergaß, was um l600 so laut verkündet worden war, daß alle diese musikalische Technik nur ein Mittel zum Zweck sei, nur dazu diene, ein tiefes seelisches Leben auszudrücken. Denn, von allem anderen abgesehen, verbarg sich ja so leicht dem Blicke, wie das alles im Grunde Technik war. Diese Technik selber war noch neuartig, ihre Beherrschung erheischte nicht nur eine hohe Verstandestätigkeit, sondern verschaffte auch so starke Empfindungseindrücke, daß es leicht erklärlich ist, wenn den meisten diese Kunst nach jeder Richtung hin vollauf genügte. So verdichtete sich die ganze Bewegung zu einem Ausarbeiten der sinnlichen Fähigkeiten der Musik, und darin liegt von vornherein eine ungeheure Macht der Wirkung. Sie wurde aber noch dadurch gesteigert, daß es sich jetzt um eine hoch verfeinerte Sinnlichkeit handelte, eine Sinnlichkeit, die nicht mehr so brutal auf körperliche Wirkung ausging wie etwa die der orientalischen Musik, die aber auch nicht so einseitig Ergötzung des für formale Kultur empfänglichen Verstandes war wie die mittelalterliche Kontrapunktik, sondern die diese beiden Elemente in feinster Art verband, indem einerseits der Wohllaut des Tons, andererseits die höchste formale Vollkommenheit in der kunstfertigen Verwendung desselben angestrebt wurden. Diese Ziele waren in der Kunstentwicklung noch ganz unausgenutzt, besaßen den vollen Reiz des Neuen. Sie entsprachen auch ebenso dem gesamten geistigen Streben wie den sozialen Verhältnissen, die es mit sich brachten, daß jene Schichten der menschlichen Gesellschaft, denen die tiefsten seelischen Lebenskämpfe fernzubleiben pflegen, deren ganze Erziehung auf eine Kultur formaler Lebenskunst gerichtet ist und als höchstes Ziel leichten Lebensgenuß erkennt, die hauptsächlichen Brotgeber und Konsumenten der Musik waren. Es gehört das Zeitalter des Despotismus zu dieser Musik, ein Zeitalter auch der sehr äußerlich und schwach gewordenen Religiosität, ein Zeitalter endlich einer geistigen Versumpfung der breiten durch die langen Kriegszeiten erschöpften Volksmassen, die in einem ganz grob materialistischen Lebensgenüsse ihr Heil erblickten.

Wenn aber so der stimmliche und der instrumentale Effekt als das Musikalische erscheint, ergibt sich notwendigerweise das Verhältnis, daß der Komponist für diese beiden Faktoren schreibt, daß sein gesamtes Schaffen dadurch die Richtung erhält, daß er an die Wirkungen denkt, die Stimme und Instrumente mit seiner Musik machen können. Also die Komponisten schaffen für die Virtuosen. Wenn ich einen Gedanken aus dem einleitenden Abschnitt dieses Buches nochmals aufnehmen darf, so bedeutet das, daß die Musik hier nicht mehr aus der Idee heraus gestaltet wird, sondern aus einem Abbilde der Idee. Wenn das wahr ist, so begibt sich im gleichen Augenblick die Musik ihres tiefsten und bedeutsamsten Sonderrechtes. In solchen Zeiten ist für die Vorstellung des Komponisten das Instrument, wozu auch die Singstimme zu rechnen ist, als erstes da; die musikalische Schöpfung tritt erst hinzu. Das Instrument gebietet und verlangt etwas, worin es mit seinen Fähigkeiten glänzen kann; das Instrument ist also Selbstzweck. Es sollte aber nur Mittel zu einem Zwecke sein. Es sollte nur dazu da sein, um etwas auszudrücken, um etwas, was fern von aller irdischen Gestaltung, fern von dem sinnlich zum Bilde Gewordenen erfühlt oder erschaut wurde, zum Ausdruck zu bringen.

Hier liegt der trennende Punkt für alle Zeiten zwischen Beethoven und allem, was vor ihm liegt. Kleine Aussprüche, die zumeist als Anekdoten gebracht werden, gewähren hier tiefdringende Einblicke. Als Schuppanzigh sich bei Beethoven beschwerte, daß die und die Stelle in einem Quartett nicht auszuführen sei, entgegnete er ihm: »Glaubt er denn, daß ich an seine jämmerliche Geige denke, wenn ich komponiere?« Die Singstimmen in Beethovens Chorwerken sind ohne jede Rücksicht auf ihre Naturverhältnisse verwendet. Man erkennt aus allem ganz deutlich: für Beethoven ist die Musik etwas rein in sich Bestehendes, das gar nicht mit Instrumenten oder Stimmen oder dergleichen zusammenhängt. Man könnte sagen, daß wie der Bildhauer einen Haufen Ton vor sich hat, so Beethoven einen Haufen von Notenköpfen. Und wie der Bildhauer nun in diese Tonmasse hineingreift und mit diesem Material das Bild zusammenknetet, das vor seinem Geiste erschienen ist, so faßt Beethoven in diese Masse von Noten hinein und verwendet diese als Schriftzeichen, das festzuhalten, was er in sich klingen hört. So entsteht das Tonwerk bei Beethoven, wie es nachher ausgeführt werden kann, wie es nachher für die Welt zum Klingen werden kann, kommt erst in zweiter Reihe.

So stellt sich natürlich das Verhältnis nur für die schroffste Fassung des Grundsätzlichen dar. Denn da nun einmal ein Kunstwerk, um für die Menschheit lebendig zu werden, Gestalt bekommen muß, ist es den Möglichkeiten des Ausdrucks unterworfen; ein musikalisches Kunstwerk wird nur wirksam, wenn die Stimme oder Instrumente es dem Gehör vermitteln können. Darin liegt schließlich der Unterschied zwischen dem Künstler und dem nur phantasievollen Menschen, der mit jenem die innere Fähigkeit der Produktivität teilt, daß der Künstler das seelisch Produzierte zur Erscheinungsform zu gestalten vermag, der andere nicht. Aber wenn sich nun auch so die verschiedenen Richtungen in der Wirklichkeit viel näher stehen als in der Theorie, so offenbart sich doch die grundsätzliche Verschiedenheit schlagend genug. Es sind natürlich mehr einzelne Züge, die das offenbaren. Mozart sieht, wenn er eine Arie schreibt, den Sänger dieser Arie vor sich. Er will haben, daß diesem Sänger die Arie »so passe wie ein gut gearbeitetes Kleid«; infolgedessen ändert er an der Arie so lange, bis sie dem Sänger wirklich wie angegossen sitzt. Beethoven ändert nicht. Beethoven würde lügen, wenn er änderte. Er erlebt innerlich etwas, was er ausdrücken muß. Für dieses innere Erlebnis gibt es eine Form des Ausdrucks, die die ideale ist. Wenn er viermal ansetzt für die Leonorenouvertüre oder ebenso oft für das kleine Lied »Nur wer die Sehnsucht kennt«, so beweist das eben, daß er die endgültige Form noch nicht gefunden hat, genau so wie auf anderem Gebiete ein Böcklin denselben Vorwurf verschiedene Male gestaltete, wobei er aber ein einmal geschaffenes Bild nie kopierte, sondern mit jeder Behandlung das ursprünglich Gewollte schärfer auszudrücken strebte. Je weiter Mozart voranschreitet, desto mehr entfernt er sich von der ursprünglichen Haltung, desto mehr wird er Ausdrucksmusiker, der nicht für von außen an ihn herantretende Verhältnisse schafft, sondern aus diesen höchstens Anregungen gewinnt, in Wirklichkeit aber seinem inneren Empfinden die Mitteilungsform gibt. Es liegt an der Wunderbarkeit der Natur, an der Sonnenkindschaft Mozarts, daß er später wie früher ein so herrlicher Künstler ist, bei dem Form und Ausdruck niemals in Widerspruch stehen, trotzdem er sich von außen her leiten läßt, trotzdem er für bestimmte Verhältnisse, ja für ein ganz bestimmtes Klavier schafft und diesen Instrumenten Gelegenheit geben will, sich zu zeigen. Aber diese Wundernatur Mozarts habe ich deshalb am Eingang des Buches gesprochen, weil sie ihm die Sonderstellung einräumt, weil sie die Geltung der allgemeinen Kulturgesetze für seine Kunst gegenüber der der anderen verschiebt. Wir haben bei Mozart das einzig dastehende Beispiel, daß einem Künstler alle Formengestaltungen der Musik so natürlich geläufig, so durchaus persönliches Eigentum werden, daß er jede beliebige Form mit einem ihr entsprechenden Leben erfüllen kann und trotzdem niemals dem eigenen Innenleben deshalb Gewalt anzutun braucht.

In der äußeren Lebensanschauung aber, in der Art, wie sich dieses äußere Leben mit der Kunst auseinandersetzt, zeigt sich für Mozart, daß er einer anderen Zeit angehört als Beethoven, als die ganze Periode nach Beethoven. Man bedenke z. B., daß Richard Wagner nach »Tannhäuser« zunächst keines seiner Musikdramen zu hören bekam, daß er den »Tristan«, den »Nibelungenring«, die »Meistersinger« schuf, ohne den Gedanken hegen zu können, jemals eins dieser Werke lebendig auf der Bühne vor sich erscheinen zu sehen, ja sogar ohne die Hoffnung, diese Werke auch nur im orchestralen Klange als Konzertaufführung sich jemals ganz verlebendigen zu können. In dem epilogischen Bericht, den Wagner der Veröffentlichung seiner »Nibelungen«-Dichtung beigab, steht der Satz: »Wenn ich so eine stumme Partitur nach der anderen vor mich hinlegte, um sie selbst nicht wieder aufzuschlagen, kam ich wohl zuzeiten mir wie ein Nachtwandler vor, der von seinem Tun kein Bewußtsein hatte.« Er hat aber die Werke dennoch geschaffen. Aber noch mehr. Wenn Wagner sich den Opernverhältnissen seiner Zeit gefügt hätte, wenn er den Erfolg seines »Rienzi« in der Lieferung ähnlicher Werke ausgeschlachtet hätte, hätte er sich mit einem Schlage aus dem ganzen Jammer seiner Lage befreit und sich damit obendrein die Mittel verschafft, nun nach Herzenslust seinen inneren künstlerischen Neigungen folgen zu können. Wagner hat das alles nicht gekonnt. Dagegen nehme man Mozart. Von 1777 ab, nachdem er sich vom Dienste seines Erzbischofs freigemacht hatte, schreit er nach der Komposition der Oper, alles treibt ihn dazu, seine ganze Natur verlangt danach. Dennoch schreibt er keine. Er muß dazu einen Auftrag erhalten. Man muß noch bedenken, daß dieser Auftrag meistens so weit ging, daß dabei auch das Buch überreicht wurde, um ganz zu ermessen, wie grundverschieden das Verhältnis dieser beiden Künstler zur Kunst ist. Trotzdem wäre nichts lächerlicher, als nun zu behaupten, Mozarts Verhältnis zu seiner Kunst sei äußerlicher, als das Wagners. Es ist eben nur ein ganz anderes. Innerlich und äußerlich ein anderes. Wir haben das gerade in bezug auf die Oper noch kurz darzulegen.

Für Richard Wagner war das Musikdrama die notwendige Ausdrucksform. Kraft seiner dramatischen Natur sah er Abbilder der Welt, die er dieser Welt vor Augen stellen wollte. Weil er eine musikalische Natur war, bewegten sich die Konflikte und Probleme der von ihm erschauten Weltbilder im Innenleben der vorgeführten Persönlichkeiten. So vermochten diese Dichtungen nicht in Worten allein mitgeteilt zu werden, sondern bedurften zur Aussprache auch jener Kunst, die allein ohne Materialisierung seelisches Leben künden kann. Sichtbares Geschehen, Aussprache in Worten und Mitteilung durch Musik waren also die unentbehrlichen Ausdrucksmittel dieser innerlich geschauten Kunstwerke: das Musikdrama war eine notwendige Ausdrucksform geworden.

Bei Mozart dagegen hatte die Liebe zur Oper, die ihm von Kindheit an im Blute lag, den rein musikalischen Grund, daß die Oper, selbst wenn sie ein ganz unglückliches Textbuch hat, eine schier unbegrenzte Gelegenheit zu musikalischer Aussprache bietet. Die Verschiedenheit der Charaktere, die Mannigfaltigkeit der darin auftretenden Menschen nach Geschlecht und Alter, die zahlreichen Situationen äußerer und innerer Art, die verschiedensten Stimmungen finden sich selbst in einer ganz kindlichen und ungeschickten Dichtung zusammen. Wir stehen so oft vor dem Rätsel, daß Komponisten, die wir als Menschen von Geschmack und künstlerischem Gefühl ansehen müssen, Operndichtungen vertonen, deren Unlebendigkeit und Bühnenunmöglichkeit sich jedem Blicke offenbaren muß. Wir vergessen dabei, daß es nur ganz wenige Komponisten gegeben hat, die an eine Oper anders herantraten als aus dem Grunde, daß sie ihnen Gelegenheit bot, sich musikalisch auszusprechen. Was in den Jahrhunderten zuvor die Komposition des Messetextes gewesen war, das wurde danach die von Opern: eine Gelegenheit, musikalisch sein ganzes Gefühl zur Welt auszusprechen. Hier liegt auch der riesige Unterschied zwischen Mozart und Gluck, die man so oft zusammenbringt. Für Gluck war, wie für Wagner, die Oper selbst der Zweck seines Kunstgestaltens; er war Dramatiker, der sich der Musiksprache bediente zur Darstellung einer dramatischen Entwicklung. Mozart dagegen war die Form der Oper deshalb so lieb, weil sie dem Musiker die meisten Gelegenheiten darbietet. Auch echt dramatische Gelegenheiten des inneren und äußeren Erlebens, so daß also auch auf diesem Wege eine echte Musikdramatik zustande kommen kann. Mozart hat diese geschaffen, weil er urmusikalisch aus den Charakteren seiner Personen – nicht aus den Worten oder den Geschehnissen – die Anregung für die musikalische Formgebung schöpfte. (Vergleiche dazu nach dem Register die Ausführungen zu M. als Musikdramatiker.)

Aber auch die äußeren Verhältnisse unseres Musiklebens haben sich so gewandelt, daß für den Ausdruck: ein Komponist habe nach Opernaufträgen gesucht, das richtige Verständnis leicht fehlt. Wir sind es heute gewohnt, daß auch der Opernkomponist frei aus sich heraus schafft, den Antrieb zur Wahl des Stoffes, zum Schaffen überhaupt aus sich heraus gewinnt und nicht auf eine äußere Gelegenheit wartet. Das entspricht zweifellos dem Ideal. Um so weiter entfernt sind von diesem Ideal die tatsächlichen Verhältnisse auch heute. Denn auch heute noch ist die Oper in viel höherem Grade höfische oder doch gesellschaftliche Veranstaltung als sogar das Schauspiel, von allen andern Kunstformen zu schweigen. Die Aufführungsgelegenheiten für die Oper sind nicht nur dadurch weit beschränkter, weil es viel weniger Opernbühnen gibt als andere Theater, sondern auch, weil die materiellen und geistigen Vorbereitungen unendlich schwieriger sind. Noch viel verhängnisvoller aber ist die rein künstlerische Tatsache, daß es dem einzelnen Künstler fast unmöglich ist, eine Oper anders bekannt zu machen als durch die Aufführung auf der Bühne. Dem Dichter bleibt das Buch. Selbst wenn er sein Drama auf eigene Kosten veröffentlichen müßte, wäre das pekuniäre Opfer nicht sehr groß. Aber davon abgesehen: sein Buch ist da, und jeder, der lesen kann, kann wenigstens das Dichterische des Werkes aus dem Buche sich gewinnen. Ganz anders liegt es mit der Oper. Der Künstler schafft seine Oper natürlich mit Orchester. Er kann also selbst in der bei der Musik doppelt unvollkommenen Form der bloßen Augenvermittlung sein Werk nur dann einigermaßen authentisch herausbringen, wenn er die Partitur veröffentlicht. Ganz abgesehen davon, daß der Stich einer solchen Partitur eine beträchtliche Summe kostet, vermögen auch nur wenige sie zu lesen. 99 Prozent aller Musikliebhaber z. B. sind dazu nicht imstande; sie müßten also zu dem Surrogat eines Klavierauszuges greifen, und auch hier lehrt die Erfahrung, daß Klavierauszüge von Opern, die nicht zuvor durch die Aufführung bekannt geworden sind, überhaupt nicht bekannt, geschweige denn gekauft werden. Es ist kein anderer Künstler so von der Mitwirkung der öffentlichen Kunstfaktoren abhängig, wie gerade der Opernkomponist. Und da erhebt sich denn doch die Frage, ob es nicht eine geradezu wahnwitzige Verschwendung künstlerischer Kräfte bedeutet, wenn man nicht nach einem Auswege trachtet, diese Kräfte in kunstpolitischer Hinsicht fruchtbar zu machen. Eine Natur wie Wagner scheidet hier von vornherein aus; der Dichterkomponist, für den das Musikdrama als Ganzes die gebotene Form ist, kann sich freilich in der Wahl des Stoffes durch äußere Verhältnisse nicht leiten lassen; der Musiker aber, dem die Oper eine Gelegenheit ist, in besonders reicher Fülle Musik darzubieten, würde dadurch, daß ihm von Bühnen ein Textbuch zur Vertonung überreicht würde, in keine unkünstlerischere Lage versetzt werden, als sie heute vorhanden ist, wo doch auch der Komponist einen ihm dargebotenen Text übernimmt. Denn daß er sich nachher mit dem Dichter ebensogut aussprechen und zu möglichst gemeinsamer Tätigkeit vereinen könnte wie heute, beweist die frühere Zeit, als dieses Verhalten üblich war. Man braucht zum Beispiel nur in Mozarts Briefen nachzulesen, wie er sich mit dem Textdichter des »Idomeneus« bis auf einzelne Worte auseinandersetzt. Also das frühere Verhältnis, daß Opern nur im Auftrag komponiert wurden, war in weitaus den meisten Fällen nicht unkünstlerischer, als das heutige; vom Standpunkt der Kunstpolitik aus war es jedenfalls das geeignetste. Wenn ich auch einer genauen Wiedereinführung des früheren Zustandes keineswegs das Wort reden will, so meine ich doch, daß eine weitherzige und im Geiste freie Erneuerung eines derartigen Verhältnisses geboten wäre. Jedenfalls – und darauf kommt es in unserem Zusammenhange hauptsächlich an – bedeutet dieses Verhältnis für den reinen Musiker niemals jenen künstlerischen Zwang, den etwa ein Wagner und unter seinem Einfluß heute die Allgemeinheit darin zu erblicken gewohnt ist.


Ich mußte den Leser auf diesem weiten llmwege durch die Entwicklungsgeschichte der Musik nach Salzburg zurückführen, um zu zeigen, daß für Mozart Enge und Gefängnis sein mußte, was ein Künstler der Neuzeit vielleicht als Ruheort für künstlerisches Schaffen sich ersehnen möchte. Der Künstler Mozart brauchte zur Entwicklung die Welt; er brauchte Verhältnisse, in denen große Musik aufgeführt wurde, um große Werke hervorzubringen, weil er überhaupt erst aus den Verhältnissen heraus und ihnen entsprechend Musik schuf. Es hätte also gar keiner anderen Gründe gebraucht, Mozart Salzburg zu verleiden. Die rein künstlerischen genügten, daß er Salzburg in demselben Augenblicke als Fessel empfand, wo es ihm unmöglich gemacht war, für andere größere Verhältnisse Musik zu schaffen. Die Mozarts haben ja deshalb auch gar nichts anderes vom Erzbischof immer wieder verlangt als Urlaub, um zeitweilig diese anderen Verhältnisse wieder aufzusuchen. Denn auch das ist eine merkwürdige Erscheinung, daß damals die Welt nicht den Schöpfer aufsuchte, sondern daß der Schöpfer zu dieser Welt hingehen mußte. Man stelle sich vor, wie heute, wenn Gerhart Hauptmann oder ein anderer erfolgreicher Dramatiker sich in irgend einem Bergwinkel vergraben würde, die Theaterdirektoren den Weg zu ihm finden würden, um ihn zu fragen, ob er denn immer noch nicht ein Stück fertig habe, das sie wieder vorführen könnten. Jeder Künstler, der heute einen Erfolg hat, wird umworben von den kapitalistischen Vermittlern der betreffenden Kunst. Mozart hatte diesen riesigen Erfolg gehabt, dennoch kam von nirgendwoher jemand nach Salzburg, um dem dort festsitzenden Musiker zu sagen: Wir haben mit deiner letzten Oper einen schönen Erfolg gehabt, schaffe uns wieder eine für die nächste Saison. Die und die Künstler singen, sie werden zu dir kommen, um ihre Partie bei dir einzustudieren. – Heute würde sich jeder Opernsänger beglückt fühlen, wenn er derartig vom Komponisten in sein Werk eingeführt werden würde. Das zeigt uns doch, wie gering damals der schöpferische Künstler gegenüber dem großen reproduzierenden eingeschätzt wurde, denn um diesen focht man die schwersten Kämpfe aus, um diesen machte man – das Beispiel Händels beweist es – die größten und mühseligsten Reisen. Im Vergleich zu ihnen kann auch bei den erfolgreichsten Komponisten nicht von einem Umworbensein geredet werden.

Zu diesem rein künstlerischen Grunde kamen aber noch andere, die Mozart das Fortkommen von Salzburg als zunächst zu erstrebendes Ziel fortwährend vor Augen rückten. Sie treten so stark hervor, daß sie innerhalb der biographischen Entwicklung als die ausschlaggebenden erscheinen, während natürlich jener innere Grund, wenn auch weniger bewußt, in Wirklichkeit die treibende Ursache war. Lähmend wirkte vor allem das Verhältnis zum Erzbischof. Schon die Beziehungen zu dem gütigen und milden Erzbischof Siegismund waren nicht besonders günstige gewesen. Es ist ja auch leicht begreiflich, daß der Erzbischof gerade nicht besonders davon erbaut war, daß Mozart Vater und Sohn wiederholt für so lange Zeit Urlaub nahmen, um in der Welt herumzureisen. Immerhin hat natürlich der Knabe Wolfgang von diesen Schwierigkeiten nichts gefühlt, und andererseits hat Erzbischof Siegismund den Urlaub immer wieder bewilligt, trotzdem es sich doch nur um ein Kind und nicht um einen der Entwicklung bedürfenden Jüngling handelte. Noch vor 1770 hat er dann den kleinen Wolfgang zum Konzertmeister gemacht, zunächst allerdings ohne Gehalt. Es läßt sich nicht genau feststellen, ob er oder erst sein Nachfolger Wolfgang dann die 150 Gulden jährlichen Gehalts bewilligte, jedenfalls hat er bis 1777 keine Steigerung seines Einkommens erhalten. Man muß dabei bedenken, daß er auch für alle Kompositionen zur Verfügung stand, um die ganze Jämmerlichkeit dieser Honorierung zu empfinden.

Viel schlimmer wurden diese Verhältnisse unter Hieronymus von Colloredo, der wider den nicht verhehlten Willen des Volkes gewählt worden war, nun aber die Abneigung, die ihm die Salzburger entgegenbrachten, mit offensichtlicher Geringschätzung erwiderte. Der Erzbischof war eine jener aufgeklärten Despotennaturen, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht selten sind. Er war in religiöser Hinsicht ziemlich frei gesinnt und hatte Verwaltungsgrundsätze, deren Erfüllung dem Wohlstande seines Landes zugute kamen. Er war ein Mann von scharfem Verstand, aber kalt, hart und von rücksichtsloser Selbstsucht erfüllt. Ein schmächtiger, kleiner Mann, etwas kränklich, wußte er durch die Barschheit seines Auftretens und die scharfe Strenge seines Ausdrucks alle von ihm Abhängigen in scheuer Unterwürfigkeit zu erhalten. Daß einem in Salzburg das Widersprechen abgewöhnt werde, hat Wolfgang später noch oft betont. Hatten unter diesen Umständen alle seine Untergebenen zu leiden, so doch ganz besonders die Mozarts. Einmal als Künstler. Ob es nun wirklich persönlicher Geschmack war oder nur vom Widerwillen gegen die Salzburger Verhältnisse eingegeben, der Erzbischof trug jedenfalls eine Verachtung der deutschen Musik und noch mehr der deutschen Musiker zur Schau und zog bald nach seinem Regierungsantritt zur »Verbesserung« der Salzburger Musik italienische Kräfte ins Land. Das entsprach ja so weit den allgemeinen Verhältnissen in Deutschland. Die deutschen Fürsten waren in musikalischen Dingen noch länger von einem »Welschlandsparoxismus«, wie Vater Mozart es nannte, besessen als in gesellschaftlicher Hinsicht. Der Engländer Burney erzählt in seiner »Musikalischen Reise« (Band III, S. 275): »Die Musiker fast einer jeden Stadt beneiden einer den anderen, und alle beneiden einmütiglich die Italiener, welche in ihr Land kommen. – Indessen muß man eingestehen, daß man den Italienern liebkost, schmeichelt und oft zweimal so viel Gehalt bezahlt als selbst denen unter den Einheimischen, die größere Verdienste besitzen.« Erzbischof Hieronymus hielt es jedenfalls so. Der Vater Mozarts erhielt nach Abgang des alten Lolli nicht den ihm rechtmäßig zustehenden Kapellmeisterposten, sondern es wurde ihm ein wenig bedeutender Italiener, Fischielli, vorgezogen. Außerdem waren noch eine ganze Reihe italienischer Solisten für Orchester und Gesang gewonnen, die nicht nur ein weit größeres Einkommen bezogen als die einheimischen Musiker, sondern sich auch aufs ungebührlichste benahmen, endlich aber auch nur sehr wenig leisteten, so daß trotzdem den beiden Mozarts fast die ganze Arbeit zufiel.

Mochte der Erzbischof die beiden Mozarts als deutsche Künstler geringschätzen, so faßte er bald einen Haß gegen sie. Sicher hat schon der Umstand ihnen geschadet, daß die Familie Mozart von dem Grafen Ferdinand v. Zeil, der später in Chiemsee Bischof wurde, sehr begünstigt wurde. Denn nur durch den Rücktritt dieses Mannes war die Wahl des Hieronymus zustande gekommen. Mozarts machten aber noch weniger als die übrigen Salzburger ein Hehl daraus, wieviel angenehmer ihnen die Wahl des Grafen Zeil gewesen wäre. Vor allem aber war es sicher die überragende Stellung, die Mozarts einnahmen, die den Erzbischof erzürnte. In seinem herrischen Sinn betrachtete er seine Untergebenen unterschiedslos als Lakaien, die dazu da waren, seine eigene Hofhaltung und seine Person zu verherrlichen, nicht aber sich selbst in glänzendes Licht zu setzen. Die ganze Familie Mozart hatte sich nun durch ihren reinen und tüchtigen Lebenswandel und ihr bedeutendes Können eine angesehene Stellung in der Stadt verschafft, die ihnen um so weniger geraubt werden konnte, als sie auf innerer Tüchtigkeit beruhte. Vater Mozart stach durch seinen Pflichteifer im Dienste, durch seine tüchtige Erfüllung aller Aufgaben so günstig von allen anderen Fachgenossen ab, daß ihm auch von dieser Seite nicht beizukommen war. Je mehr er aber sich der Pflichterfüllung bewußt war, um so weniger glaubte er zu kriecherischem Verhalten und dienerhaftem Benehmen Veranlassung zu haben. Nun kam dieses Wundergenie des Knaben dazu, das von der ganzen Welt angestaunt worden war.

Sicherlich war überdies noch ein persönliches Element dabei vorhanden. Es steht fest, daß sich der Erzbischof durch große, männlich stolze Erscheinungen imponieren ließ; er selbst war klein und schwächlich und empfand das offenbar bitter. In der Hinsicht brauchte ihm ja nun der kleine Wolfgang gewiß keinen Neid einzuflößen; er ist ja auch, im Gegensatz zu seinen Eltern, zeitlebens körperlich unscheinbar geblieben. Dennoch flogen ihm alle Herzen zu, dennoch bildete er in jedem Kreise, in den er kam, den natürlichen Mittelpunkt. Es ist ganz sicher, daß gerade das den grimmigen Neid des überall verhaßten oder doch scheu behandelten Erzbischofs erregte. Man möchte ihm sein Verhalten Mozarts gegenüber noch eher verzeihen, wenn er nicht ganz sicher die geniale Begabung des Knaben vollauf erkannt hätte. Es war also ein ganz bewußtes Niederhalten, eine Behinderung der Entfaltung seines Talentes, wenn der Erzbischof dem jungen Künstler jeglichen Weg zum Bekanntwerden und zu größerer Tätigkeit verlegte. Ebenso machte er selber grundsätzlich alle Leistungen Mozarts als Virtuose wie als Komponist herunter, verfehlte aber nie, seine Dienste in Anspruch zu nehmen, sobald irgend eine Gelegenheit sich darbot. Er hoffte offenbar, auf diese Weise den Mozarts alle großen Pläne zunichte zu machen und eine geniale Kraft für ein Spottgeld in seinem Dienst zu behalten. Hätte er nicht diese ganz kalte rechnerische Überzeugung vom Werte Wolfgangs gehabt, er würde ihn später niemals wieder angestellt haben.

Bei solchen Zuständen war das Leben in Salzburg eine fortlaufende Kette von Kränkung und Zurücksetzung. Wir Heutigen können uns überhaupt gar nicht mehr vorstellen, wie die Mozarts so lange unter diesen Verhältnissen aushalten konnten. Wir müssen auch hin uns wieder in die Zeit zurückversetzen. Im übrigen getraute sich der Vater die einzige sichere Einnahme, wenn sie auch noch so kärglich war, nicht preiszugeben, um dann eine ganze Familie auf das, wie er ja aus Erfahrung wußte, unsichere Los eines Virtuosen und Komponisten zu setzen.

Es ist leicht erklärlich, daß auch die günstigsten übrigen gesellschaftlichen Zustände kaum imstande gewesen wären, Mozarts für dieses unerquickliche Dienstverhältnis zu entschädigen. Aber solche angenehmen Gegenwerte waren überhaupt kaum vorhanden. Am unerquicklichsten war der Kreis der Berufsgenossen. Unter diesen ragten durch musikalische Tüchtigkeit der Domkapellmeister Michael Haydn, des größeren Joseph jüngerer Bruder, und der Organist Adlgasser hervor. Beide angesehene Vertreter ihres Faches, aber gesellschaftlich doch recht heruntergekommen und verlottert. Die tüchtigen, nach einem gediegenen äußeren Lebensgehaben strebenden, durch ihre weiten Reisen und den Verkehr in vornehmsten Kreisen empfindlich gewordenen Mozarts litten besonders unter diesen äußeren Mängeln der Kollegenschaft. Mit offener Spitze gegen Salzburg rühmt der Vater Mozart 1763 von der Mannheimer Kapelle, es seien »lauter junge Leute durchaus von guter Lebensart, weder Säufer noch Spieler noch liederliche Lumpen, so daß sowohl ihre Konduite als ihre Produktionen hochzuschätzen sind«. Und 15 Jahre später schreibt Wolfgang: »Das ist auch eine von den Hauptursachen, was mir Salzburg verhaßt Macht – die grobe, lumpenhafte und liederliche Hofmusique – es kann ja ein honetter Mann, der Lebensart hat, nicht mit ihnen leben – er muß sich ja ihrer schämen; dann ist auch, und vielleicht aus dieser Ursache, die Musique bei uns gar nicht beliebt und in gar keinem Ansehen.« Man kann sich vorstellen, wie gerade die lieben Kollegen mit besonderer Mißgunst die Erfolge der Familie Mozart begleiteten und ihnen die üble Behandlung von selten des Erzbischofs von Herzen gönnten. Nur mit einem Musiker, dem auch durch Bildung über die Umgebung herausragenden Schachtner, dessen großes Schreiben an Marianne Mozart uns über Wolfgangs Kindheit soviel Wertvolles bewahrt hat, unterhielt die Familie engeren Umgang. Im übrigen fehlte es an Verkehr natürlich nicht. Aber der mit der Bürgerschaft trug doch durchweg mehr den Charakter einer gewöhnlichen Unterhaltung, bot jedenfalls keinerlei Anregung. Unter dem Adel waren einige Männer und Frauen von echtem Kunstgeschmack, und wie aus allem, zumal aus zahlreichen Aufträgen zu Kompositionen hervorgeht, haben sie auch Mozarts Bedeutung zu würdigen gewußt. Trotzdem kam es auch hier zu keinem für den Jüngling anregsamen persönlichen Verkehr; abgesehen vom Standesunterschied brachte gerade das Dienstverhältnis zum Erzbischof die Trennung.

So war es natürlich, daß die Mozarts sich immer mehr in ihr Haus zurückzogen, immer mehr ihr ganzes Dasein auf das Familienleben gründeten. Und dieses bietet ein hocherfreuliches Bild; in ihm fand das junge Genie eine Stütze und eine Kräftigung fürs ganze Leben, wie sie nicht vielen großen Künstlern zuteil geworden ist. Das ganze Hauswesen umschloß ein Band wechselseitiger aufrichtiger Liebe und Zuneigung. Das gilt von den Eltern wie von den Kindern. Und das Gefühl der Zugehörigkeit erstreckte sich auch auf die Dienstboten, ja sogar auf die Haustiere, die in den Briefen Wolfgangs ihre regelmäßigen Grüße zugestellt erhalten. Wie dieses schöne Familienleben hat auch sicher die wunderbare Umgebung Salzburgs einen großen Einfluß auf Mozart ausgeübt und ihm manche Bitterkeit des dortigen Lebens leichter ertragen helfen. Aber alles das konnte schließlich gegenüber dem traurigen Dienstverhältnis um so weniger ein Gegengewicht bilden, als Mozarts sich sagen mußten, daß auf diese Weise Wolfgangs Entwicklung unterbunden werde, daß sein Künstlertum nicht zur vollen Blüte reifen könne. Wie diese ganzen Verhältnisse auf dem Leben dieser braven Leute lasteten, erkennen wir aus zahlreichen Briefstellen, so wenn der Vater dem bereits abwesenden Sohne schreibt (17. Nov. 1777): »Du hast wohl recht, daß ich den größten Verdruß wegen der niederträchtigen Begegnung, die wir erdulden müssen, empfunden habe; das war es, was mir das Herz abnagte, was mich nicht schlafen ließ, was mir immer in Gedanken lag und mich am Ende verzehren mußte.«

Immerhin, so wie früher in die Welt hineinzureisen, dazu konnte sich der Vater Mozart nicht entschließen. Er war viel zu klug, um sich nicht zu sagen, daß die äußeren pekuniären Erfolge der früheren Kunstreisen mehr auf der Sensation, die das »Wunder der Natur« erregte, als auf echter Kunstbegeisterung oder der wahren Erkenntnis der erstaunlichen Kunstleistungen seines Sohnes beruht hatten. Er mochte auch einsehen, daß der Erzbischof und auch jedenfalls seine Feinde nur auf einen günstigen Augenblick warteten, um ihn selber aus seiner Stellung zu verdrängen, womit er dann die einzige sichere Einnahme für seine Familie verloren hätte. Andererseits hegte er die größten und wohl begründeten Besorgnisse, seinen Sohn allein in die Welt hinausziehen zu lassen. Gerade weil er bis dahin seinem Sohne alle praktischen Sorgen abgenommen hatte, war auch alle Mühe umsonst gewesen, in Wolfgang jene Grundsätze der Lebensklugheit werktätig zu machen, die er sich selber in seinem mühseligen Empordringen zu eigen gemacht hatte. Klugheit und Vorsicht gegenüber den Menschen, Berechnung und gewandte Ausnutzung der gegebenen Verhältnisse hat Wolfgang niemals gelernt. Das erlernt sich eben nur im Lebenskampfe. Gerade von diesem aber hatte der Vater seinen Sohn immer ferngehalten, um die künstlerische Entwicklung nicht zu hemmen. Man hat dem Vater daraus einen Vorwurf gemacht. Vielleicht hat er in der Tat zu lange und zu sehr sich die äußere Regelung des Lebens seines Sohnes vorbehalten. Aber er kannte eben besser, als jeder andere, die ungeheure Macht, die die Kunst über Wolfgang halte. Er wußte, daß diese ihn nicht nur vollständig erfüllte, daß er eigentlich von der gesamten Welt kaum etwas sah, wenn er in seine schöpferische Tätigkeit eingebannt war; er wußte auch, daß jede Gelegenheit zu künstlerischen Leistungen den Sohn alle anderen, mühselig errungenen oder sorgfältig vorbereiteten Vorteile preisgeben ließ. Aus diesen Gründen hatte er immer zum Ausharren in Salzburg gemahnt. Diese Jahre waren ja für die Gesamtentwicklung seines Sohnes nicht verloren. Es wurde nicht nur die technische Ausbildung nach allen Seiten hin aufs höchste gesteigert, sondern auch ein großer Vorrat von Kompositionen angelegt, der für die längste Reihe von Konzerten ausreichen konnte. Erst als nun in jeder Hinsicht die Zeit gekommen, als die Gefahr aufs höchste gestiegen war, daß die Welt den Virtuosen und Komponisten Mozart, von dem sie nichts mehr hörte, vergessen würde, reichten Vater und Sohn beim Erzbischof ein Gesuch um Urlaub zu einer Kunstreise ein. Es wurde ihnen rundweg abgeschlagen. Der Erzbischof erklärte, er könne es nicht leiden, wenn seine Leute »so ins Betteln herumreisten«. Die Bitte um Gehaltserhöhung schlug er aber ebenfalls ab.

Da endlich blieb kein anderer Ausweg mehr übrig, und Wolfgang Mozart reichte, vermutlich im August 1777, sein Entlassungsgesuch ein. So unterwürfig der Ton im Kanzleistil der damaligen Zeit gehalten ist, es klingt doch die tiefe Erbitterung durch, und überdies mochte der Erzbischof sehr gut die spitzige Feder des kaustischen Vaters spüren. Eigenhändig schrieb er in zorniger Entrüstung, daß man es derartig wagte, ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen, den Erlaß, »daß Vater und Sohn nach dem Evangelio die Erlaubnis haben, ihr Glück weiter zu suchen«. Die Entlassung des Vaters freilich blieb unausgeführt. Mit seiner Klugheit hat er zwei Jahre später ja sogar dem Sohne wieder die Wege in die erzbischöflichen Dienste geebnet. Das erschien dem Vater wenigstens damals als klug, und der Sohn fand sich schließlich in dem Gedanken darein, daß er wieder mit seinen Lieben zu Hause zusammen sein konnte.

Jetzt aber hatte er nur ein Gefühl, das der endlichen Befreiung; und mit stolzen Hoffnungen zog er in die Welt, sein Glück zu machen. Er hat es nicht gefunden. Er war so reich beglückt im Innern durch die Wundergabe, die ihm verliehen, und durch das herrlichste Gemüt, das ihn die Welt immer von ihrer besten Seite nehmen ließ, daß es das Menschliche überschritten hätte, wenn ihm auch noch ein Gelingen im äußeren Leben beschieden gewesen wäre.


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