Stendhal
Eine Geldheirat
Stendhal

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Anmerkungen des Herausgebers

Dieser erste Band von Stendhals novellistischem Werke enthält, ohne in der Folge unseres Druckes die Reihenfolge der Entstehungszeit einzuhalten, jene Novellen und Erzählungen, deren Abfassung vor das Erscheinen von Le Rouge et Le Noir fällt, mit der einen Ausnahme der späteren Novelle Mina von Wangel, deren erste Niederschrift in das Jahr 1829, deren letzte Bearbeitung in das Jahr 1832 fällt. – Die folgende Bibliographie der in diesem Bande vereinigten Novellen gibt deren sichere oder gemutmaßte Abfassungszeiten und den ersten Druckort, verzichtet aber darauf, die vielen späteren Druckorte in den vielen und oft ganz willkürlich zusammengestellten Novellenbänden mitzuteilen.

Der Liebestrank.

Geschrieben um 1828 und erstmalig unter dem Titel Le Philtre gedruckt in der Revue de Paris 1830, XV, S. 24ff.

Philibert Lescale.

Geschrieben um 1829 und erstmalig gedruckt unter dem Titel: Philibert Lescale. Esquisse de la vie d'un jeune homme riche à Paris in: Le Diable à Paris, Paris et Les Parisiens. Paris, J. Hetzel, 1846, S. 84-87 im zweiten Bande dieses Sammelwerkes verschiedener Autoren.

Ernestine oder die Entstehung der Liebe.

Geschrieben 1822, dem Erscheinungsjahr von De L'Amour. Wurde der Calmann-Levyschen Ausgabe dieses Werkes 1891 aus Stendhals Nachlaß beigegeben, wofür kein zureichender Grund besteht.

Der Jude.

Geschrieben um 1830 und zuerst gedruckt in Nouvelles Inédits, Paris 1855, unter dem Titel Le Juif Filippo Ebreco. Die unvollendete Erzählung hat folgende kurze Vorbemerkung Stendhals: »An den Neugierigen. Triest, den 14. und 15. Januar 1831. Nichts zu lesen habend, schreibe ich. Es ist das gleiche Vergnügen, nur intensiver. Das Kohlenbecken geniert mich sehr. Kalte Füße und Kopfschmerzen.«

Vanina Vanini.

Geschrieben um 1828 und zuerst gedruckt in der Revue de Paris, IX, 1829, S. 101-125 unter dem Titel: Vanina Vanini, ou Particularités sur la dernière vente de Carbonari Découverte dans les États du Pape.

Mina von Wangel.

Erste Niederschrift datiert aus dem Jahre 1829. Auf die Rückseite des Titelblattes schrieb Stendhal: »29. Dezember 1829. Aufgegeben, da wenig geeignet, einem französischem Publikum zu gefallen. Wiedergefunden durch Zufall im Februar 1832. Das Leben und der Tod der Mina von Wangel. Erzählung nach dem Dänischen des H. Oehlenschläger. Der Verfasser kannte diese Erzählung nur aus den lebhaften Kritiken in deutschen Journalen, die den dänischen Verfasser unmoralisch finden und ihm ein System vorwerfen. Man hat die Auswüchse dieser Fehler zu mildern gesucht. Es ist zu wünschen, daß man die Fehler einem Erziehungssystem und nicht der Ungeschicklichkeit des Herrn von Stendhal zuschreibe.« Auf dem Versum dieses Blattes: »Den Schluß arrangiert am 19. Januar 1836. Das wahre Glück, – ist es hier Albernheit?« Hierauf folgt nochmals der Titel mit dem Namen des dänischen Autors und diese Bemerkung: »Übersetzt aus der Jütländischen Revue, zugeschrieben Oehlenschläger. Made after le 18. Janvier 1830. Vertrauliche Vorrede für K[olon-Colomb, Stendhals Freund]. Die Sitten in einem Roman zu beschreiben ist eine kalte Sache, ist fast moralisieren. Wende die Beschreibung in Verblüffung, bring einen erstaunten Fremden hinein, und die Beschreibung wird Empfindung. Der Leser hat jemanden, mit dem er ungeduldig werden kann. Mina ist die Fremde aus einem Lande, in dem man philosophiert, – Julien, junger Mensch aus der Provinz, Schüler Plutarchs und Napoleons ... in Mina ist der starke junge Mann Marquis und Liberaler, möchte Amerika zusamt dem Mittelalter lieben, während welches seine Familie glänzte, und daher ist er triste Figur.« Erstmalig gedruckt wurde Mina von Wangel in der Revue des deux Mondes vom 1. August 1853, S. 551 bis 578.

Erinnerungen eines römischen Edelmannes.

Geschrieben 1824/25. Zuerst gedruckt in englischer Sprache u. d. T.: The life and Adventures of an Italian Gentleman; Containing his Travels in Italy, Greece, France etc. in: The London Magazine, Oktober 1825 bis April 1826. Französisch zuerst u. d. T.: Souvenirs D'un Gentilhomme Italie in: Revue britannique, T. IV, Paris 1826, S. 250-283.

Die Truhe und das Gespenst.

Geschrieben um 1829. Zuerst gedruckt u. d. T.: Le Coffre et le Revenant in: Revue de Paris, 1830, S. 80 ff.

Der Ruhm und der Buckel.

Von einem fünfaktigen Theaterstück in Alexandrinern »Letellier« sind aus Stendhals Nachlaß von Stryinski und de Nion im Anhange zum »Journal 1801-1814« im Jahre 1888 einige Seiten veröffentlicht worden, deren sehr schlechte Verse nicht die Spur eines Planes erkennen lassen, den auch die andern Titel, die der sehr junge Stendhal diesem dramatischen Versuche gab, nicht deutlich machen: Les deux Hommes. Le bon parti. Quelle horreur! L'ami du despotisme pervertisseur de l'opinion publique. Diese abgedruckte Szene trägt zum Schlusse den Vermerk Stendhals: »Nach sechs Tagen bin ich des Versemachens müde. 15. Juni 1804.« Noch 1816 denkt Stendhal an diesen »Letellier«; er schreibt am 30. September dieses Jahres an Louis Crozet, den Freund aus Grenoble: »Mais je m'en crois pas moins sage, à 34 ans moins 3 mois, d'en revenir à Letellier, et de tacher de faire une vingtaine de comédies de 34 à 54«. Von dem Stück in Alexandrinern ist fürderhin nicht mehr in der Correspondenz die Rede, aber von den zwanzig Komödien sind Plan und Fragmente einer einzigen erhalten, die ihres novellistischen Charakters wegen in diesem Bande ihren besten Platz findet. Das Manuskript ist vom 30. Januar 1826 datiert und hat den Titel: La Gloire et La Bosse, ou Le Pas Est Glissant. Comédie par un homme de mauvais ton. Zuerst veröffentlicht von G. Stryinski in den Soirées du Stendhal Club, Paris 1904, S. 165 bis 174.

Eine Unterhaltung zwischen Elf und Mitternacht.

– Une conversation entre onze heures et minuit – ist eine Anekdote, die Stendhal, wie sich aus dem folgenden Text ergibt, 1830 erzählte. Balzac hat sie in dem verschollenen Band Contes bruns, par Une Tète à l'envers, 1832 erschienen, aufgenommen, den er gemeinsam mit Ph. Châsle und Gh. Rabon herausgab. Der in unserem Texte gegebenen Anekdote, die wenn auch nicht von Stendhal aufgeschrieben, doch ihm gehört, gehen diese Sätze Balzacs voraus: »– ›Alle Ihre Geschichten sind schrecklich!‹ sagte die Dame des Hauses. ›Sie verschaffen mir für diese Nacht entsetzliche Cauchemars. Sie sollten wirklich die Eindrücke Ihrer Geschichten damit vertreiben, daß Sie uns eine lustige Sache erzählen‹, und damit wandte sie sich an einen großen und fetten Herrn von viel Geist, und der demnächst in diplomatischer Mission nach Italien reisen sollte. – ›Gern‹, sagte der.« Auf die Anekdote hat zuerst Paul Bourget in seiner Studie über Stendhal aufmerksam gemacht, wo er von einem morceau peu connu de Balzac spricht, qui quête à Stendhal une anecdote rabelaissienne jusqu'au cynisme.« (Bourget, Essais de Psychologie Contemporaine, p. 271.)

Eine Geldheirat:

Feder, Le Mari d'argent, ist um 1829 geschrieben und zuerst gedruckt in den Nouvelles Inédits, Paris 1902, pp. 263 ff. An das im Texte dieses Bandes Gedruckte fügte Stendhal die Bemerkung: »Hier sollte vielleicht diese Novelle schließen,« welchem Urteil der Herausgeber dieser Aufgabe folgte. Die Fortsetzung, welche Stendhal der Erzählung gab, finde in der Übersetzung des Herausgebers hier ihren Platz:

»Überrascht und entzückt von diesem Empfang, vergaß Feder völlig die Klugheit, die zu bewahren er sich so oft eingeschärft hatte; er bedeckte das himmlische Antlitz mit Küssen. Nach und nach merkte er die außerordentliche Erregung Valentines; ihr Gesicht war naß von Tränen; aber der immer so beherschte Feder hatte alle Macht über sich verloren; er küßte die Tränen weg. Man muß zugeben, es war das Gehaben Valentines nicht von der Art, ihn zur Vernunft zurückzubringen; sie gab sich ganz seinen Küssen hin, preßte ihn an ihre Brust und, wir wissen nicht wie es mit Dezenz ausdrücken, gab ihm zwei- oder dreimal seine Küsse wieder.

»Du liebst mich also?« sagte Feder mit erstickter Stimme.

»Ich liebe dich!«

Dieser ungewöhnliche Dialog füllte bereits einige Minuten, als plötzlich Valentinen bewußt wurde, was ihr geschah. Sie machte mit einer erstaunlichen Beweglichkeit einige Schritte zurück und ein Gefühl der Überraschung gemischt mit Grauen trat auf ihr Gesicht.

»Herr Feder, wir müssen auf immer vergessen, was hier geschah.«

»Nie, ich schwöre es Ihnen, niemals soll ein Wort davon über meine Lippen kommen und Sie an diesen Augenblick himmlischen Glückes erinnern. Da ich imstande bin, mich einer so peinvollen Anstrengung zu unterwerfen, muß ich ihnen noch versichern, daß in Zukunft wie in der Vergangenheit niemals Ihr Name von mir genannt werden wird!«

»Ich sterbe vor Scham, wenn ich Sie ansehe. Seien Sie so gut, mich für eine Weile allein zu lassen.«

Feder entfernte sich mit allen Zeichen tiefen Respektes.

»Aber Sie müssen mich ja für verrückt halten!« rief Valentine und trat ans Fenster.

Auch Feder machte ein paar Schritte und stand ganz nah bei Valentine.

»Man meldete mir Ihren Tod; Sie seien im Duell gefallen und der Moment, der uns von einem wahren Freund trennt, ist, wie Sie wissen, immer so sehr verwirrend..., daß wir dafür nicht verantwortlich sind... Es wäre ungerecht, uns dessen anzuklagen.«

Valentine suchte eine Entschuldigung; der Kontrast zwischen dem fast offiziellen Ton ihrer Stimme, den sie anzunehmen suchte, und dem zärtlichen und hinfließenden Klang einen Augenblick zuvor, war frappant; Feder genoß das Glück, Zeuge und Objekt zu sein.

»Sie suchen den glücklichsten Moment meines Lebens zu trüben«, sagte er und ergriff ihre Hand.

Sie besaß die Kraft nicht, das Spiel bis zum Ende zu spielen.

»Ja, gut, gehen Sie, mein Freund,« und sie ließ ihm die Hand, »lassen Sie mich aus so großem Wahnsinn und so großer Verwirrung zu mir kommen. Sprechen Sie mir nie wieder davon; und gehen Sie jetzt; ich habe meine Gefühle nicht geändert. Adieu, ich will Ihnen nichts heucheln und mich nicht verstellen, aber lassen Sie mich um Gottes willen allein. Man hat mir Ihren Tod gemeldet; lassen Sie mich zukünftig nicht bereuen, daß ich Sie so verrückt beklagt habe, als ich Sie nie mehr wiederzusehen glaubte.«

Feder gehorchte und tat, als ob er die tiefste Ehrfurcht vor ihr hätte; wofür sie ihm einigen Dank wußte; denn von zwanzig Stellen aus dem Garten konnten sie gesehen werden. Und doch gefiel ihr im Grunde diese Ehrfurcht nicht; sie erschien ihr von etwas Geheucheltem verdorben, und was würde aus ihr, mischte Feder in sein Benehmen gegen sie die Heuchelei?

Es war ja wohl auch so, daß dieser äußerste Respekt eine Affektation war. Feder wußte genau, daß in dem Moment, wo eine Frau daran ist, sich zu kompromittieren, man ein Plus darin tuen müsse, sie die ganz besondere Narrheit, die sie begeht, damit vergessen zu machen, daß man ihren Wahn beruhigt und in die ungeheure Schlingkraft dieser solches gewohnten weiblichen Seele die übertriebensten Zeichen des Respektes wirft.

Aber eine der süßesten und eigenartigsten Wirkungen des seltsamen Gefühles, das Feder mit Valentine vereinte, war, wenn so zu sprechen erlaubt ist, daß in beiden von der Liebe vereinten Seelen das Glück sich immer auf dem gleichen Niveau hielt.

Feder sah sehr gut die Nuancen getäuschter Hoffnung in Valentines Augen, als er seine respektvollsten Grüße sagte. Diese Unzufriedenheit, sagte er sich, wird sie zu einem Mißtrauen führen, das ihr, morgen vielleicht schon, wie bloße Klugheit vorkommen wird; sie wird dahin kommen, zu leugnen, daß es ihr, als sie mich tot glaubte, passierte, mir ihre leidenschaftliche Liebe zu gestehen. Ich werde außerordentliche Mühe haben, dieser Klugheit Herr zu werden; statt göttliches Glück zu genießen, das mich ihre so leidenschaftlichen Geständnisse vor einer kurzen Zeit hoffen ließen, werde ich manöverieren müssen.

Diese Reflexionen drängten einander.

Ich muß sie beunruhigen, sagte sich Feder; man erkennt die Nachteile eines Glückes in dem Maße, als man seiner sicher ist.

Feder näherte sich Valentine zuverlässig und ziemlich kühl, so sah es aus, besonders wenn man dies Gehaben verglich mit den rauschhaften Verzückungen von kurz vorher. Er nahm ihre Hand; sie sah ihn überrascht und unentschieden an; er sagte mit einer philosophischen Kühle:

»Ich bin mehr anständiger Mensch als Liebhaber; ich wage es nicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie leidenschaftlich liebe, aus Angst, das könnte eines Tages nicht mehr wahr sein; und ich möchte vor allem nicht eine Freundin täuschen, die für mich so aufrichtige Gefühle hegt. Vielleicht hab ich Unrecht; wahrscheinlich hat es bisher der Zufall nicht gefügt, daß ich einer Frau wie Ihnen begegnet bin; aber schließlich und mit meinen Augen und bis zu dieser Stunde sah ich im Charakter der Frau solche Unbeständigkeit und Leichtigkeit, daß ich mich eine Frau leidenschaftlich zu lieben erst dann hinreißen lasse, wenn sie ganz mein ist.«

Nach diesen im Tone ehrlichster Überzeugung gesprochenen Worten grüßte Feder Valentine wie in zärtlicher Freundschaft und ging. Sie blieb unbeweglich, in Gedanken. Schon dachte sie nicht mehr daran, sich bitter dem Augenblick des Wahnsinns vorzuwerfen, der sie Feder in die Arme geworfen hatte.

Feder suchte Boissaux und dessen Gesellschaft auf und entledigte sich der Episode seines Todes, indem er einige Händedrucke gab und empfing.

»Ich wußte es ja,« sagte Boissaux, »Sie sind nicht der Mann, der sich so töten läßt.«

Delangle empfing ihn weniger freundschaftlich. Feder erzählte, ein Narr, der sich von ihm verulkt behauptete, hätte ihn attackiert; der Narr hatte eine Wunde in die Brust erhalten, worauf er ruhiger geworden wäre, zumal man ihm noch in der Folge einen Blutegel gesetzt habe. Das Lachen über dieses Detail machte der unangenehmen Aufmerksamkeit ein Ende, welches alle diese von guten Weinen angeregten Geldleute den Taten Feders schenkten. Bald konnte er Madame Boissaux anzusehen versuchen; aber der Gatte hatte ihr die Rückkehr nach Paris erlaubt, und sie war schon lange fort.

Andern Tags erkundigte sich Feder mit der schönsten Kaltblütigkeit nach der Gesundheit von Frau Boissaux; er fand sie in ihrem Salon, in Gesellschaft ihrer Jungfer und zweier Mädchen, und alle waren damit beschäftigt, Gardinen herzustellen. Jeden Augenblick stand Madame Boissaux auf, Kaliko zu messen und zu zerschneiden; die Blicke waren so kalt wie was man tat; das Benehmen der beiden, welche die Nacht vorher einander in den Armen lagen, weinend ihre Liebe sich versichernd, hätte einen überkritischen Beobachter recht erstaunt. Valentine hatte sich geschworen, jedes Alleinsein mit Feder zu vermeiden für immer. Auf der andern Seite stellte sich, was er die Nacht zuvor gesagt hatte: daß er mit einer gewissen Hingabe nur dann lieben könne, wenn er geliebt zu werden sicher sei, als nahezu genaue Wahrheit heraus.

War er auch kaum fünfundzwanzig Jahre alt, so glaubte er doch in keiner Façon an die Demonstrationen der Frauen; das graziöseste Geständnis der allerzärtlichsten Leidenschaft gab ihm keinen andern Gedanken als: ›man legt Wert darauf, mich zu überreden, daß man mich leidenschaftlich liebe.‹ Er hatte Angst vor seiner Seele, erinnerte sich aller Tollheiten, die er für seine Frau angestellt hatte, und er sah wirklich nicht ein, warum. Die Erinnerung daran war nichts weiter als die an ein kleines Mädchen sehr lustigen Charakters, das die aus Paris kommenden Moden anbetete. Mehr noch: es war ihm keine einzige distinkte und detaillierte Erinnerung von jenen Gefühlen geblieben, die ihn alle die Zeit, die er verliebt war, bewegten. Er sah sich nur seltsame Tollheiten begehen; aber der Gründe, die er sich damals dafür selber gegeben, erinnerte er sich nicht mehr.

Die Liebe flößte ihm also ein Gefühl sehr deutlichen Schreckens ein, und hätte er vorausgesehen, daß er sich in Valentine verliebe, er wäre ohne Zweifel verreist. Er ließ es geschehen, daß er sie jeden Tag sah, zunächst weil sie hervorragend schön war: ihr Gesicht hatte gewisse Züge, die anzusehen er als Maler nicht ermüdete; zum Beispiel die Lippen, die ein bißchen zu stark waren und fähig, heftigste Leidenschaft auszudrücken und die dann weder seltsam kontrastierten mit der ganz idealischen Kontur der Nase und dem keuschen und sublimen Ausdruck in den Augen, deren so lebhafter Blick einer Heiligen des Paradieses zu gehören schien, hoch über allen Leidenschaften.

Dann ließ sich Feder bei seinen täglichen Besuchen Valentines davon verlocken, daß sie ihm eine Zerstreuung war. Bei ihr dachte er nicht an die Unannehmlichkeiten seines Metiers, nachdem und seitdem er in einem Anfall von kritischem Menschenverstand entdeckt hatte, daß er für Miniaturporträts nicht das geringste Talent besaß. Er fühlte, daß er einen Entschluß zu fassen habe; unbesiegbare Abneigung war ihm eigen dagegen, wissentlich Schlechtigkeiten begehend zu leben. Es steckte in dieser Seele ein Fond südlicher und passionierter Anständigkeit, über die ein richtiger Pariser sicher gelacht hätte. In dem Jahre, das dem Porträt der Frau Boissaux vorausging, warf Feder das Atelier achtzehntausend Franken ab. Wenn auch öffentlich mit einer Schauspielerin lebend, galt er für einen jungen Mann von bester Haltung. Man wußte genau, daß Rosalinde für ihn nicht einen Sous ausgab; aber dank der Geschicklichkeit dieser selben Rosalinde beschränkte das Publikum nicht darauf allein sein Wohlverhalten zu Feder. Man kannte ihn nicht anders, als aufs tiefste die Gattin beklagend, die er vor sieben Jahren verloren hatte, und dieses Renommee leidenschaftlicher Anständigkeit begann bis hinauf zu jenen Frauen zu dringen, welche einen Namen und Pferde haben.

Zu all dem entdeckte man noch seine sehr gute Abkunft. Hatte sich auch der etwas närrische Vater in den Handel geworfen, so war dafür der Großvater Feders ein guter nürnbergischer Edelmann gewesen, und Feder hatte solcher Abkunft würdige Gefühle. Als Maler sprach er nie von Politischem; aber es war zweifelsohne, daß er nie eine andere Zeitung las als die Gazette de France, und dieser junge Miniaturmaler besaß in seinem Bücherspind alle heiligen Patres, von denen frommer Eifer neue Ausgaben auflegte.

Eskortiert von so schöner Reputation konnte Feder auf einen der nächsten freiwerdenden Plätze des Institutes Anspruch machen; nur von ihm hing es ab, eine noch sehr wohlerhaltene Frau zu heiraten, die ihm achtzigtausend Franken Rente in die Ehe brächte und welcher er keinen andern Fehler vorwerfen könnte, als ihre von Tag zu Tag zunehmende Leidenschaftlichkeit. Durch den allerunwürdigsten Zerfall entdeckte Feder etwas, das ihm sehr mißfallen hatte: anläßlich der letzten Ausstellung hatte Rosalinde an viertausend Franken für Zeitungsartikel ausgegeben zum Lobe von Feders Rahmen mit Miniaturen. Nun, nachdem Feder mit seiner Talentlosigkeit ins Reine gekommen war, wuchsen seine Erfolge und nichts ist leichter zu erklären: Er war besonders für weibliche Porträte gesucht und seitdem er es aufgegeben, sich für die wahre Naturwiedergabe ans Kreuz zu schlagen, schmeichelte er seinen Modellen mit einer Schamlosigkeit, die er früher nicht kannte, als es ihm auf nichts sonst als die Wahrheit der Natur ankam.

Zum Beweise, daß Feder im Grunde doch das war, was man in Paris einen Nigaud, im Deutschen etwa einen Schafskopf nennt, genügte die Bemerkung, daß er gegen alle des langen von uns aufgezählte Erwartungen Bedürfnis nach Zerstreuung hatte. Das entscheidende Wort über all das ist, daß er es wenig honett, im Porträtfache fortzufahren, wissend, daß er schlechtes Zeug mache; und auch über dieses Wort schlecht ist noch viel zu sagen: dreiviertel der Leute, die in Paris davon leben, Miniaturen zu malen, standen an Talent über Feder. Was noch seine lächerlichen Skrupel vermehrte, war, daß er, sonst alles was er dazu dachte getreu Rosalinde erzählend, ihr nichts von der fatalen Entdeckung sagte, die er anläßlich der Porträte der Madame de Mirbel gemacht hatte.

Situation und Charakter Feders werden genügend gezeichnet sein, wenn wir erwähnen, daß die Gewohnheit seiner täglichen Besuche bei Frau Boissaux alle andern Empfindungen, die sonst sein Leben im Schwung hielten, ausschalteten. Bevor er sie kannte, sagte er manchmal: »Ich sollte so närrisch sein, eine Liebe zu haben?« Gewöhnlich nahm er sich dann an solchen Tagen vor, nicht zu Valentine zu gehen; aber die Stunde, die er sie zu sehen pflegte, schlich grausam; und oft konnte er der Versuchung nicht standhalten; er lief zu ihr, indem er sein sich selbst gegebenes Wort brach und voller Scham darüber war. Das letzte Mal, daß er ernsthaft fürchtete, von der Liebe gepackt zu sein, war er zu Pferd gestiegen und befand sich zur Stunde, wo er Valentine hätte sehen können, in Triel, am Ufer der Seine, zehn Meilen weg von Paris.

Die Szene in Viroflay änderte alles; er konnte den Verdacht einer Finte im leidenschaftlichen Benehmen der Frau Boissaux nicht zulassen: sie hatte ihn sicher für tot geglaubt. In der Nacht, die auf Viroflay folgte, fiel Feder in grenzenlose hilflose Liebe. Er dachte: »mach ich Dummheiten wie jene, zu denen mich meine erste Liebe veranlaßte, dann werd' ich beim Aufwachen ja in einem netten Zustand sein... aber, diesmal ist es nicht mein Vermögen, das kompromittiert ist; um mein Unglück herbeizuführen, bedarf die Liebe nur ihrer selber; ich muß die Sache so gut drehen, daß in Valentine die Frömmigkeit lebendig wird, und dann endet's damit, daß sie mir verbietet, sie zu sehen. Aber ich kenne meine Schwäche; ich brauche nur leidenschaftlich zu begehren, um ein Idiot zu werden; sie ist fromm, abergläubisch fast; nie werd' ich die Courage aufbringen, Gewalt gegen sie anzuwenden und zu riskieren, ihr zu mißfallen. In solcher Position habe ich immer nur Kraft gegen mich selber, und um zu der Courage zu kommen, die ein Mann haben muß, dazu habe ich keine andere Ressource, als diese Leidenschaft, die mich beherrscht, mir aus dem Herzen zu reißen.«

Ziemlich verschreckt von diesen Gedanken, endete Feder damit, die energischsten Entschließungen gegen Valentine zu fassen. Er sagte sich: »In einer so aufrichtigen und jungen Seele löscht sich das mir gezeigte leidenschaftliche Gefühl nicht in wenigen Tagen aus und besonders habe ich nicht zu fürchten, daß ich diese Leidenschaft damit zum Verschwinden bringe, daß ich sie leiden lasse. Glücklicherweise gab ich, genau genommen, im Glashaus keinerlei Zeichen leidenschaftlicher Liebe. Eine scharmante Frau in der Blüte ihrer ersten Jugend wirft sich, die Wangen naß von Tränen, mir in die Arme und fragt mich, ob ich sie liebe! Welcher junge Mann an meiner Stelle hätte nicht mit Küssen geantwortet? Aber sofort kommt mir einen Augenblick darauf die Vernunft wieder und ich mache ihr diese vortreffliche Erklärung: ›Ich erlaube mir eine Frau leidenschaftlich zu lieben nur dann, wenn sie sich mir ganz gibt‹. Es handelt sich jetzt nur darum, auszuhalten, dabei zu bleiben. Bringt mich Unklugheit dazu, ihr die Hand zu drücken, diese scharmante Hand gar zu küssen, so wäre für mich alles verloren, und ich müßte zu den abscheulichsten Remedien greifen, zum Beispiel zur Abreise.«

Feder hatte es nötig, sich unausgesetzt dieser häßlichen Gedankenfolgen zu erinnern während dieser ersten Visite bei Valentine, umgeben von Schneiderinnen und allem Anschein nach nur damit beschäftigt, Koton für Vorhänge auszumessen und zu zerschneiden. Er fand sie zum Anbeten in diesen häuslichen Betätigungen. Das war ja eine brave Deutsche, ganz verbunden ihren hausfraulichen Pflichten! Aber in welchem Tun hätte er sie nicht zum Anbeten gefunden und sich neue Gründe zu leidenschaftlicher Liebe gegeben?

Schweigen ist ein Zeichen der Liebe, sagte sich Feder; daher nahm er bei seinem Eintritt in das Gemach sofort das Wort und ließ es nicht mehr aus, gab es nicht mehr her, schwätzte über Dinge tausend Meilen von der Liebe entfernt und allen Zärtlichkeiten. Erst tat Valentinen dieser Wortstrom wohl; ihre lebhafte Phantasie hatte sich angstvoll vorgestellt, Feder würde die Unterhaltung nahe dort aufnehmen, wo sie im Treibhaus geendigt hatte. Darum auch Koton, Vorhänge, die Mädchen. Aber in wenigen Augenblicken war Valentine beruhigt; doch bald war sie es zu sehr; sie schluckte schweres Atmen, als sie Feders Hirn mit so ganz andern Dingen gefüllt sah, als es nach ihrer Meinung hätte belebt sein sollen. Und besonders seine Lustigkeit empfand sie beleidigend fast, sie sah ihn an mit einem naiven und zärtlichen Erstaunen, das göttlich war. Feder hätte sein Leben gegeben, die geliebte Frau zu beruhigen damit, daß er sich in ihre Arme warf. Die Versuchung dazu war so stark, daß er zu diesem banalen Rückzug Zuflucht nahm: er sah rasch auf seine Uhr und verschwand unter dem Vorwand einer wichtigen geschäftlichen Verabredung. Wahr ist, daß er auf der Treppe stehen bleiben mußte, so stark war seine Erregung. Es kommt sicher ein Tag, wo ich mich verrate, sagte er sich, und hielt sich mit aller Kraft am Treppengeländer, um nicht hinzustürzen. Dieser erstaunte, ja man könnte sagen unglückliche Blick, Liebe dort nicht zu finden, wo er zu viel Liebe zu finden gefürchtet hatte, dieser Blick bedeutete vielleicht mehr für das Glück unseres Helden als die so leidenschaftlichen Umarmungen der vergangenen Nacht.

Es war die Stunde der Promenade im Bois. Feder war ausgeritten, aber am Eingang zum Bois de Boulogne ritt er in ein paar Wagenpferde hinein und ein Stück weiter hätte er um ein Haar einen Philosophen erledigt, der, um gesehen zu werden, diese Gegend zum Meditieren gewählt hatte und lesend daherkam.

Ich bin zu zerstreut, um auf einem Gaul zu sitzen, sagte sich Feder und fiel in kurzen Trab, um immer die Augen vor sich hinzuhalten.

Achtes Kapitel

Abends kam ihm noch stärker zu Bewußtsein, was für ein Narr er war; er traf im Opernfoyer Delangle, der ihn begrüßte. Schreck packte ihn für einen Moment, und die lärmende Stimme des Provinzlers, so wenig geeignet, zur Seele zu sprechen, tönte bis in die Tiefen der seinen. Delangle donnerte: »Wollen Sie nicht zu meiner Schwester? Sie ist in der Loge?« Trotz seiner Entschlüsse überredete sich Feder, daß ihn dieses Wort einfach zwinge; daß, nicht in der Loge von Frau Boissaux zu erscheinen, bemerkt werden würde. Er ging also. Zum Glück traf er in der Loge eine ganze Gesellschaft; er verharrte im Schweigen und war linkisch bis zum Lachen.

»Da ich nun schon einmal nicht spreche, dachte er, kann ich mich ganz meinem Glück hingeben.«

Irgendein frisch aus Toulouse Neugeladener war da, der etwas davon gehört hatte, daß die Herren manchmal ein Flacon mit Riechsalz bei sich tragen; er hatte nun eine Flasche gekauft, die er, kaum war er in der Loge, entstöpselte, so daß der Essiggeruch den Logeninsassen höchst unangenehm in die Nasen roch.

»Und Sie, Herr Feder, machen Gerüche doch krank!« sagte Valentine, und er konnte darauf keine gescheitere Antwort finden als ein zweimal wiederholtes eh bien, Madame. Ihm war ein unbesiegbarer Widerwille gegen alle derlei Gerüche eigen, aber seit diesem Abend wurde der Geruch von Kleesalz heilig für ihn; so oft er ihn später roch, empfand er ein lebhaftes Glücksgefühl.

Valentine dachte: »Des Morgens so sehr Sprecher, so fruchtbar an scherzhaft vermeinten Anekdoten, und so mundtot am Abend? Was nur geht in diesem Menschen vor?«

Die Antwort war nicht zweifelhaft und ließ die junge Fragerin zärtlich seufzen. »Er liebt mich.«

An diesem Abend war Frau Boissaux lebhaft für das Stück interessiert; jedes Wort von Liebe, das darin vorkam, ging ihr senkrecht ins Herz. ›Nichts war gemein und nichts war übertrieben.‹

So vergingen zwei volle Monate. Der heftig verliebte Feder entfernte sich nicht um ein Schrittchen von den Regeln allerstrengster Vorsicht. Jedes Wiedersehen mit Feder änderte immer alle Gedanken, die sich Valentine über ihn machte. Sein so simpler und bescheidener Charakter zeigte nun die bizarrsten Störungen. Da hatte sie zum Beispiel in der ersten Zeit ihres Pariser Aufenthaltes mit deutlich geäußertem Widerwillen die Geschichten angehört, die man von den Geldausgaben der von Geldleuten ausgehaltenen Damen erzählte. Jetzt ahmte sie diese Damen im Extravagantesten ihrer Lebensführung nach. So machte ihr der Gatte eines Tages eine Szene, weil sie an einem Nachmittage vier Domestiken von Viroflay nach Paris geschickt hatte; es handelte sich, und vor dem Diner, um eine bestimmte Robe der Madame Deslisle.

»Und dazu erwarten wir nicht einmal jemanden zum Diner!«

Herr Boissaux zählte nämlich Feder nicht; der gehörte zum Hause und Valentine hatte ein Anzeichen dafür, daß er heute käme. Die Robe kam um halb sechs; aber Feder kam nicht, und Valentine war nahe daran, darob ihre Beherrschung zu verlieren. Sie war weit davon, die Gedanken und die oft grausamen Erfordernisse zu ahnen, welche gebieterisch die Haltung dieses Liebhabers dirigierten, der ihr niemals sagte, daß er sie liebe.

Rosalinde war eifersüchtig wie der Othello; manchmal tat sie Tage lang nicht den Mund auf, manchmal explodierte diese so wohlerzogene, gütige und sanfte Frau in heftigsten Vorwürfen, und was sie tat, entsprach ihren Worten. So zahlte sie zum Beispiel Feders Domestiken, und um Szenen zu vermeiden hatte er seinem Groom gekündigt und mußte sich vor seinem Kammerdiener verstecken. Sein Pferd hatte er bei einem Pferdehändler in den Champs-Elysees eingestellt; und trotz aller langweiliger und anderer Vorsichtsmaßregeln kam Rosalinde auf alles, was er tat. Die liebenswürdige Tänzerin war immer fromm gewesen, welche Qualität die Welt bei einer Tänzerin meist nicht vermutet. Seit Rosalinde eifersüchtig war, wurde sie auch abergläubisch; den Tag verbrachte sie bei Priestern, denen sie Geld gab für die Bedürfnisse der Kirche, und nicht wenig Geld; sie kündete ihre Absicht an, der Bühne zu entsagen. Geschickte Leute hatten sie mit der Hoffnung gefüttert, sie würde nach diesem Schritt Aufnahme in eine Gesellschaft frommer Damen finden, unter denen einige mit hohen Namen. Sie brachte es eher mit allen ihren plagenden Demarchen nur dahin, daß Feder die Idee kam, Paris für immer zu verlassen. Er zitterte davor, daß sie nach Viroflay kommen könnte, da einen Salat anzurichten. Was hätte daraus Delangle mit seinen Verdachten für Gewinn gezogen!

Niemals mit Frau Boissaux von Liebe zu sprechen und dabei alles nötige zu tun, seine Leidenschaft bis zum Delirium zu steigern, diese Leidenschaft als ehrlich und ernstlich bestehend vorausgesetzt, das war der Plan für Feders Haltung, an dem er mehr aus Ängstlichkeit festhielt als aus guter Berechnung. Hatte Frau Boissaux eine wirkliche Leidenschaft für ihn, dann konnte sie sich kompromittieren, und das schlösse ihm das Haus. Aber seine Ängstlichkeit, seine Furcht, Frau Boissaux zu verletzen, zu kränken, wollten sie zwingen, als erste zu sprechen, was notwendigerweise zu einem entscheidenden Schluß führen müßte. Da es außer seiner Gewalt war, ihr etwas zu verbergen, gestand er ihr die große Angst, die er vor Delangles Verdachten habe, was einen seltsamen Dialog zur Folge hatte zwischen einer sehr frommen Frau von zweiundzwanzig und einem Manne von sechsundzwanzig Jahren, der die Frau irrsinnig liebt.

»Was tun, wenn er Herrn Boissaux sagt, daß alles was ich tue, um seine ehrgeizigen Träume zu erfüllen, sich durch ein Wort erkläre: daß ich Sie verrückt liebe? Was antworten?«

»Entschlossen eine Liebe ableugnen, die verbrecherisch wäre.«

»Aber wenn ein Mann mit auch nur geringer Kenntnis des Lebens und der Liebe einen Blick auf mich wirft, so sieht er auf der Stelle, daß ich liebe. Mit welcher Stirne eine so deutlich sichtbare Wahrheit leugnen?«

»Leugnen, nichts als immer und immer leugnen; wir werden ja bald diese sündhafte Liebe vergehen sehen.«

Bei einem der vorzüglichen Diners in Viroflay sprach man einmal von den so plötzlichen Erfolgen der Mademoiselle Rachel.

»Was ich besonders an diesem jungen Mädchen liebe, ist, daß sie den Ausdruck der Leidenschaft nicht übertreibt; selbst bei einigen Stellen in der Rolle der Emilie in Cinna hat man den Eindruck, als läse sie ihre Rolle ab – das ist admirabel unter einem Volke, das nur in der Übertreibung lebt. Denn bei uns übertreibt alles, um sich Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, Romanciers, ernsthafte Schriftsteller, Dichter, Maler, alles.«

Keiner der Gäste sagte etwas zu dieser Bemerkung des Herrn Boissaux; er war mit dieser Äußerung so weit weg von dem, was er sonst zu reden pflegte, daß alle erstaunt schwiegen.

Feder hatte seinem Freunde Boissaux einen literarischen Korrespondenten gegeben, einen armen ausgedienten Vaudevillisten. Jeden Tag trafen zwanzig Zeilen literarische Korrespondenz in Viroflay ein: das zu sagen nötige Wort über das letzte Stück, über eine Industrieausstellung, eine Bilderausstellung, über das Ableben der großen Schildkröte im Zoologischen Garten, über den Prozeß des Tages usw. usw. Herr Boissaux hatte nicht gehandelt und zahlte zehn Franken für jeden dieser Briefe, deren meiste Feder schrieb. Man muß der Wahrheit Ehre geben: die Sätze fleckten ein wenig in der Konversation der Millionäre, aber die Leute, vor denen er sie losließ, hatten genug damit zu tun, sie zu verstehn. Das Amüsante an der Sache war, daß Boissaux, der seit der Einrichtung der Korrespondenz nicht ein Wort mehr davon zu Feder sprach, ihm die Sätze ganz frech so ins Gesicht sagte, als wären sie von ihm selber und eben von ihm geformte Einfalle und gar nicht die Sätze aus der Korrespondenz von gestern, die er übrigens meist schauderbar mißverstehend verdarb.

Was Feder da den künftigen Pair von Frankreich für Gedanken, und manchmal recht feine, aussprechen machte, kontrastierte sehr spaßig mit den sonstigen Manieren des Mannes. Um z. B. sein gewohntes Stocken zu verbergen hatte Boissaux, seitdem er reich war, die Gewohnheit angenommen, seine Worte sich überstürzen zu lassen, daß es nur so regnete, aber immer mit ganz kleinen Pausen zwischen den Worten. Vernahm man die derbe Fuhrmannsstimme, so wandte jedes den Kopf; man hatte den Eindruck, als erzählte da einer eine dreckige Anekdote und ahmte die Stimme eines weintrunkenen Kutschers nach.

So war der beschaffen, den Feder, so empfindlich gegen alle Derbheiten, auch wenn sie Brauch heiligt, im Salon des Handelsministers zu produzieren unternommen hatte. Der junge Mann, den dieser Minister auf den wichtigen Posten seines Bureauchefs berufen hatte, als er sein Portefeuille übernahm, war der Neffe der Mademoiselle M**, einer ganz annehmbaren Sängerin der Académie royale de musique, bei welcher der Minister die Erholungsstunden von den öden Geschäften des penibelsten Ministeriums verbrachten. Dieser Staatsmann hatte es auf sich genommen, die entgegengesetztesten und unversöhnlichsten Interessen unter einen Hut zu bringen; es ging damals bei diesem Ministerium um den Zucker, von dem, um die Verlegenheit und die Verwirrung komplett zu machen, der Minister auch nicht ein Stäubchen verstand. Wo findet man in Paris und zumal bei den hohen Regierungsstellen einen Menschen, der Zeit hat, fünfzehn Stunden im Tag der Lektüre von Originalakten zu widmen?«

Hier schließt das veröffentlichte Manuskript Stendhals. Der erste Herausgeber bemerkte in einer Note dazu: »Es existieren außer diesen noch zwei Seiten von der Hand Beyles, aber sie sind nahezu unentzifferbar.«

Franz Blei.


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