Stendhal
Eine Geldheirat
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Eine Geldheirat

I

Als Feder siebzehn Jahre alt war, wurde er von seinem Vater verstoßen, weil er als Sohn einer der begütertsten Familien von Marseille sich soweit vergessen hatte, eine Schauspielerin zu heiraten. Sein Vater war seit langem in Marseille ansässig, Deutscher von Geburt und als solcher etwas leicht sittlich entrüstet. Er verfluchte mindestens zwanzigmal im Tage Voltaire und den lockeren französischen Geist. Diese unnatürliche Heirat seines Sohnes war ihm ein Greuel; daß aber sein Sohn um sich zu entschuldigen, Ansichten äußerte, die einem leichtlebigen Franzosen zur Ehre gereicht hätten – dieses Benehmen brachte den Vater vollkommen aus dem Gleichgewicht.

Feder war fast zweihundert Meilen von Paris entfernt aufgewachsen, ging jedoch mit der Mode und gefiel sich darin, Handel und Gewerbe zu verachten, insbesondere, weil sein Vater mit derartigen Dingen zu tun hatte. In den Augen seines Vaters war er zwar ein Künstler, da er an den antiken Gemälden im Museum zu Marseille Gefallen fand und den modernen Schund, den der Staat in die Provinzmuseen sandte, verabscheute, aber tatsächlich fehlten ihm alle Eigenschaften zum echten Künstler. Geldgeschäfte waren ihm unerträglich – das ist wahr, doch nur, weil er bloß die beschwerliche Außenseite dieser Geschäfte, die Kontorarbeiten seines Vaters sah. Michael Feder hütete sich wohl, vor seinem Sohne zuzugeben, daß ihm die Lobeshymnen seiner Geschäftsfreunde schmeichelten und er himmlische Freuden empfand, wenn er nach einer gelungenen Spekulation, die sich sein alter Kopf ausgedacht hatte, ihnen in eitlem Stolze ihre Gewinnanteile auszahlen konnte. Predigte er doch unermüdlich gegen die französischen Laster der Eitelkeit und des Leichtsinns. Aber in seinen Bedürfnissen war er genügsam und begnügte sich in seinen freien Stunden mit den kargen Freuden, die ihm ein Buch oder seine lange Pfeife gewährten. Während er so Millionen anhäufte, mußte er es zu seinem Ärger erleben, daß seine Geschäftsfreunde trotz seiner Moralpredigten nichts Eiligeres zu tun hatten, als ihren Gewinst auf Ausflügen, auf der Jagd und ähnlichen Vergnügen zu verjubeln.

Als Feder die junge siebzehnjährige Schauspielerin Amelie heiratete, die eben das Konservatorium verlassen hatte und in ihrer ersten Rolle als »Kleiner Matrose« viel Beifall fand, da verstand er sich lediglich auf zwei Dinge: er konnte reiten und kleine Miniaturporträts malen. Die Bildnisse von seiner Hand waren verblüffend ähnlich – dies muß man zugeben, aber sie rechtfertigten in keiner Weise die Überhebung des Malers, denn sie waren von einer abstoßenden Häßlichkeit und nur deshalb ähnlich, weil sie die Schönheitsfehler der Modelle hervorhoben und übertrieben.

Obwohl Michael Feder, der Inhaber der weitbekannten Firma Michael Feder und Kompanie, tagtäglich voll Eifer über die natürliche Gleichheit aller Menschen deklamierte, vermochte er doch niemals zu verzeihen, daß sein Sohn eine kleine Schauspielerin geheiratet hatte. Vergeblich stellte ihm der Anwalt, mit dem er alle Rechtsfragen der Firma erörterte, vor, daß die Ehe seines Sohnes nur durch einen spanischen Kapuziner vollzogen worden sei und sie nicht daran gedacht hätten, sie vom Standesamt bestätigen zu lassen. Michael Feder aus Nürnberg war ein Erzkatholik, wie es die meisten Bayern zu sein pflegen, und hielt eine Ehe, die mit dem heiligen Sakrament eingesegnet worden war, für unauflöslich. Zudem wurde der stark ausgeprägte Stolz unseres deutschen Grüblers durch einen Spottvers verletzt, den die Spatzen von Marseille von den Dächern pfiffen:

»Herr Feder ist Bayer und viel Millionen schwer,
Wo hat er das ›Matröschen‹ als Schwiegertochter her?«

Diese neue Gewalttat ›französischen Witzes‹ brachte ihn in Hitze. Er erklärte, niemals mehr, solange er lebe, seinen entarteten Sohn wiedersehen zu wollen, sandte ihm fünfzehnhundert Franken und verbot ihm, sich jemals wieder blicken zu lassen.

Feder tanzte vor Freuden, als er die fünfzehnhundert Franken leibhaftig vor sich liegen sah. Er mußte sich lange und unsäglich anstrengen, bis es ihm gelang, sich noch eine ungefähr gleich hohe Summe zu beschaffen. Dann reiste er nach Paris ab, dem Zentrum geistigen und kulturellen Lebens, begleitet von dem »Kleinen Matrosen«, der mit großer Freude der Hauptstadt und dem Wiedersehen all seiner Freunde vom Konservatorium entgegensah.

Doch einige Monate später verlor Feder seine Frau, die starb, nachdem sie ihm eine Tochter geboren hatte. Kaum hatte sich Feder nach längerem Zögern dazu aufgerafft, seinem Vater von diesem verhängnisvollen Ereignis zu berichten, da erfuhr er, daß sich sein Vater ruiniert hatte und auf der Flucht befand. Sein ungeheurer Reichtum war ihm in den Kopf gestiegen. In hohler Selbstgefälligkeit hatte er sich in eitlen Träumen gewiegt, alle Vorräte eines französischen Tuches aufkaufen zu können, jeden Abschnitt am Rande mit den Worten »Feder aus Deutschland« besticken zu lassen und dieses Tuch, das natürlich hinfort Federtuch genannt werden würde, dann um den doppelten Preis zu verkaufen. Die Unsterblichkeit schien ihm sicher. Als er aber an die Ausführung dieses Gedankens ging, der übrigens gar wohl einen Franzosen zum Vater hätte haben können, machte er in kürzester Zeit Bankrott.

So fand sich unser Held plötzlich auf sich selbst gestellt, mit tausend Franken Schulden und einer kleinen Tochter allein mitten in Paris, das er nicht kannte und das ihm Hirngespinste, die ihm seine Einbildungskraft vorgaukelte, auch nicht in seiner erdenhaften Schwere erkennen ließen. Er war bis jetzt nichts als ein Geck gewesen, der im Grunde auf den Reichtum seiner Vaters ungeheuer stolz war. Vom Wunsche getrieben, eines Tages ein berühmter Künstler zu werden, hatte er mit vielem Eifer Lebensbeschreibungen der großen italienischen Maler gelesen und entdeckt, daß fast alle arm und unbedacht gewesen waren und ihnen manches im Leben mißglückt war. So hatte er auch sein Leben, ohne weiter zu denken, ganz nach seinen Leidenschaften und Wünschen eingerichtet und sich bisher wenig um Geld und Brauch gekümmert.

Als seine Frau starb, bewohnte er eine kleine möblierte Wohnung in einem Hause in der rue Taibout bei einem Schuhmacher namens Martineau. Herr Martineau erfreute sich eines geruhsamen Wohlstandes und war wohlbestallter Korporal der Nationalgarde, obwohl die Natur ihn ziemlich stiefmütterlich behandelt und ihm das unmilitärische Maß von vier Fuß und zehn Zoll gegeben hatte. Aber der Fußbekleidungskünstler war dieses ärgerlichen Fehlers Herr geworden, indem er sich Stiefel mit zwei Zoll hohen Absätzen nach Ludwig XIV. zurechtgeschustert hatte und ein wunderschönes Pelzbarett trug, das zweieinhalb Fuß hoch war. Das Glück war ihm hold gewesen. Bei einem der letzten Aufstände hatte er, als er in jener stolzen Aufmachung einherstolzierte, eine Kugel durch den Arm bekommen. Dieses Erlebnis blieb ihm stets lebendig im Gedächtnis und wandelte seinen Charakter dermaßen, daß er ganz gegen die Gewohnheit seines Standes vornehm zu denken begann.

Feder war beim Tode seiner Frau Herrn Martineau den Mietzins für vier Monate, insgesamt dreihundertzwanzig Franken, schuldig. Der Schuhmacher sagte ihm: »Ich habe Mitleid mit Ihrem Unglück und will Sie nicht behelligen. Malen Sie mich in Uniform als Korporal der Nationalgarde, und Ihre Schuld soll damit getilgt sein.«

Das Bildnis, das nun entstand, war so entsetzlich ähnlich, daß es bei den Kaufleuten der Nachbarschaft Staunen und Bewunderung erweckte. Der Korporal stellte es ganz nahe an das Auslagenfenster des Ladens, das nach englischem Muster gegen die Straße zu angebracht war. Bald kam die ganze Kompanie Martineaus, um das Konterfei zu bewundern. Einige der Gardisten faßten den blendenden Plan, im Amtshaus ihres Kreises ein Museum zu errichten, das die Bildnisse aller Wehrmänner enthalten sollte, die in ruhmreichem Kampfe den Tod gefunden oder sich eine Verwundung geholt hätten. Da die Kompanie außer dem Schuhmacher noch zwei Verwundete hatte, malte sie Feder ab. Der eine wie der andere war grauenerregend gut getroffen. Als sie ihn fragten, was sie ihm schuldig seien, antwortete er, es genüge ihm das freudige Bewußtsein, die Züge seiner großen Mitbürger verewigt zu haben. Diese Antwort sprach sich herum und brachte ihm Glück.

Die ehrbaren Bürger nahmen die Schmeichelei wohlgefällig entgegen und hielten in ihrer maßlosen Eitelkeit alles, womit sie der vornehme Abkömmling neckte, für bare Münze. Der beabsichtigte Erfolg blieb nicht aus. Mehrere Nationalgardisten aus der Kompanie Martineaus verfielen auf den Gedanken, vorsichtigerweise sich schon jetzt malen zu lassen, denn – so argumentierten sie – vorteilhaft sei es auf alle Fälle, wenn das Bildnis fix und fertig für die Ruhmeshalle bereit stände. Käme es einmal zum Kampfe, so würden sie ohne Zweifel durch das Getöse und den Geruch des Pulvers entflammt, sich tatendurstig in das Getümmel stürzen und möglicherweise eine Wunde davontragen oder den Tod finden. Es sei klug, für einen solchen Fall möglichst frühzeitig vorzubauen. Bis in die Reihen des Bataillons drangen solche Erwägungen.

Solange Feder an dem Reichtum seines Vaters einen Rückhalt gehabt hatte, waren seine Gemälde nicht verkäuflich gewesen. Seine Armut aber zwang ihn, für ein Porträt hundert Franken zu fordern. Für die guten Gardisten ermäßigte er den Preis auf fünfzig Franken und bewies dadurch, daß er seit dem Bankrott seines Vaters seinen Vorteil kläglicher zu wahren gelernt und auf das äffische Nachahmen alberner Künstlergebräuche verzichtet hatte. Er verlor auch viel von seiner Zurückhaltung und nahm ruhig und bescheiden, wenn er das Bild eines Gardisten vollendet hatte, die Einladung zur Feier des neubackenen Unsterblichen an. Es wurde in den Legion üblich, daß der betreffende Familienvorstand den jungen Modemaler an jenem denkwürdigen Tage zum Essen einlud.

Feder besaß eine jener hübschen, regelmäßigen und geschmeidigen Gestalten, denen man in Marseille wahrscheinlich als Nachkommen der Griechen, die die Stadt einstmals begründet haben, inmitten des derben, knochigen Schlages der Provence häufig begegnen kann. Die Frauen der Gardisten von der zweiten Legion erfuhren bald von der wagemutigen Tat des jungen Malers, von seiner Heirat mit einem jungen Mädchen, das nichts als ihre Schönheit besessen habe und von seiner trotzigen Entschlossenheit den Drohungen seines schwerreichen Vaters gegenüber. Diese rührende Geschichte ward immer romantischer, je weiter sie von Mund zu Mund getragen wurde, immer unwahrscheinlicher und toller. Als vollends zwei oder drei tapfere Kämpen von der Kompanie Martineaus, die aus Marseille stammten, für ihren Landsmann eintraten und erzählten, in welche Bedrängnis ihn seine übermenschliche Liebe versetzt hatte, da wußte sich Feder vor seinen Erfolgen bei den Weibern der Gardisten nicht mehr zu retten und mußte mancher Dame der Kompanie, des Bataillons, ja selbst der Legion, die ihn ihrer Liebe würdigte, sein neunzehnjähriges Feuer opfern. Seine Schulden hatte er Herrn Martineau aus dem Erlös seiner Bilder längst bezahlt.

Einer von den Kaufleuten, bei denen er häufig zu Gast war, weil er seine beiden kleinen Töchter malte, arbeitete für die Oper und bot ihm Freikarten an. Feder aber tat nicht mehr so unüberlegt wie früher, was ihm seine Einbildungskraft in tollen Bildern durch die Seele jagte, denn er war durch das stete Zusammenleben mit dem eitlen rohen Volke, das sich ganz gefühlsmäßig vom Augenblicke leiten ließ, reifer und klüger geworden. So ließ er es nicht an Erkenntlichkeit fehlen, erklärte jedoch gleichzeitig, daß er, trotz seiner großen Liebe für Musik, der gütigen Einladung nicht folgen könne. Seit jenem Tage nämlich, da ihm seine Frau, die er aus Liebe geheiratet hätte, entrissen worden und er vom Leben keine Freuden mehr zu erwarten habe – er liebte diese eindrucksvolle Wendung und bediente sich ihrer häufig – seien seine Augen durch unaufhörliches Vergießen von Tränen so geschwächt, daß sie, ganz gleich von welcher Stelle des Zuschauerraumes, die Flut des Lichtes zu ertragen außerstande wären. Das Ergebnis dieser Achtung einflößenden Mitteilung stellte Feder zufrieden. Die tapferen Gardisten der zweiten Legion kamen zur Überzeugung, daß ein freundschaftlicher Verkehr mit diesem Künstler für ihre Frauen gänzlich gefahrlos sei. Er aber fand nunmehr, wie er es erwartet hatte, Eingang in die Welt der Kulissen. Die paar Banknoten über fünfhundert Franken, die der junge Marseiller in seiner Brieftasche angesammelt hatte, ließen ihn der Erfolge, die er bei den Ladenprinzessinnen geerntet hatte, überdrüssig werden. Seine Phantasie spiegelte ihm vor, daß er wirkliches Glück nur bei den vornehmen Frauen der großen Welt finden könne, bei jenen Frauen mit schmalen, weißen Händen, denen weite, prächtige Wohnräume in Palästen und eine Leibequipage zur Verfügung ständen. Er suchte solchen Frauen, von denen er Tag und Nacht träumte, zu begegnen, gab zu diesem Zweck seine Zimmer bei Martineau auf, mietete sich im vornehmen Viertel der Vorstadt Saint-Honoré ein und verbrachte seine Abende im Theater bei Vorstellungen italienischer Opern oder in den Sälen bei Tortoni.

Feder erinnerte sich der Sitten während der Regierungszeit Ludwig XV., der zwanglosen Beziehungen, die zur Zeit der Monarchie von den tonangebenden Persönlichkeiten mit den ersten Bühnenkünstlerinnen unterhalten worden waren und machte die Erfahrung, daß im Gegensatz hierzu unüberschreitbare Schranken die Welt des Handels von der Welt der vornehmen Gesellschaft trennten. Als er zum ersten Male seine Schritte zur Oper lenkte, tat er es mit dem Vorsatz, unter den paar großen Tänzerinnen und Sängerinnen die gleichgestimmte Seele zu suchen, deren er bedurfte, um in die vornehme Gesellschaft Eingang zu finden. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf Rosalinde. Diese berühmte Tänzerin war in ganz Europa bekannt. Niemand sah ihr die zweiunddreißig Jahre an, die sie zählte, denn sie hatte es verstanden, sich jung zu erhalten. Sie zeichnete sich durch zwei Eigenschaften aus, die heutzutage immer seltener werden, nämlich durch Anmut und Vornehmheit. Mindestens dreimal in jedem Monat beschäftigten sich die vier oder fünf bekanntesten Tageszeitungen mit ihr und rühmten ihr einwandfreies Betragen und ihre Sittenreinheit. Eines von diesen Feuilletons, das besonders gut geschrieben war – es hatte auch fünfhundert Franken gekostet – entschied endgültig die Wahl Feders. Einen vollen Monat brachte er nun damit zu, das Terrain zu sondieren, während seine Freunde von der Nationalgarde damit beschäftigt waren, die Märe von seinem unglücklichen Schicksal bis in die Kulissenkreise zu tragen. Dann entschied er sich, auf welchem Wege er zum Ziele gelangen wollte.

Als Rosalinde eines Abends in dem Ballett, das gerade in Mode war, auftrat, schlich sich Feder durch Baumgruppen auf die Bühne, um aus nächster Nähe ihren Tanz zu verfolgen und fiel in dem Augenblick, da sich der Vorhang senkte, in Ohnmacht. Rosalinde fand bereits das ganze Personal um den jungen Mann bemüht, dessen Zustand um so mehr Besorgnis erweckte, als ja jeder von seinem trüben Schicksal schon reden gehört hatte. Sie war noch freudig bewegt von dem Beifall, mit dem sie eben überschüttet worden, und daher von dem Anblick, der sich ihr in jähem Übergang darbot, doppelt ergriffen. Nicht ihrer vornehmen Haltung, die ihr von ihren ersten vornehmen Freunden beigebracht worden war, verdankte sie Talent und Ruhm, sondern dieser Gabe des Einfühlens und Mitempfindens, mit der sie sich jetzt eben in die Lage des Ohnmächtigen, der trotz seiner Jugend vom Schicksal so hart mitgenommen worden war, hineinversetzte. Feders Gesicht schien ihr von seltsamer Noblesse, und sein tragisches Erlebnis packte ihre Phantasie.

»Lassen Sie ihn Ihre Hand küssen«, sagte ihr eine alte Figurantin, die Feder eben an einem Salzfläschchen riechen ließ. »Nur weil er Sie liebt, hat er die Besinnung verloren. Verliebt und dabei bettelarm – der Arme ist wirklich ein Pechvogel!«

Rosalinde verschwand, tauchte in ihrer Garderobe Hände und Arme in den Parfüm, der gerade damals in Mode war und eilte wieder zu Feder zurück. Das war für ihn der langersehnte Augenblick, da er aus der tiefen Umnachtung erwachen durfte. Welcher rührende Ausdruck lag in seinen Zügen! Dreiviertel Stunden lang hatte er mit geschlossenen Augen, regungslos und stumm das langweilige Geschwätz um ihn herum über sich ergehen lassen müssen – ist es da erstaunlich, wenn sein Blick in dem Augenblick, da er die Augen aufschlug, besonders lebhaft und beredt war? Rosalinde ward von dieser Sprache so tief ergriffen, daß sie unseren Helden gleich in ihrem Wagen mit nach Hause nahm.

Feder entsprach allen Anforderungen, die sich aus der Situation, die er selbst herbeigeführt hatte, ergaben, so trefflich, daß Rosalinde die ganze Welt vergaß und kaum einen Monat nach jener ersten Begegnung die Revolverblätter den dankbaren Stoff aufgriffen. Sie verlor vollkommen den Kopf, nicht allein, was ihren Ruf betraf, sondern auch in bezug auf ihr bedeutendes Vermögen, denn eines Tages machte sie ihrem Geliebten allen Ernstes den Vorschlag, sie zu heiraten.

»Du hast aber dreißig, vierzig – ich weiß nicht wieviel – Tausende von Franken jährlich auszugeben«, erwiderte Feder seiner Freundin. »Lieben werde ich dich bis zu meinem letzten Atemzug, dich jedoch zu heiraten, verbietet mir, das fühle ich, meine Ehre, solange ich nicht wenigstens die Hälfte dieses Einkommens habe.«

»Du wirst bald so weit sein, mein Schatz. Nur mußt du mir folgen und einige unbedeutende, aber langweilige Prozeduren geduldig über dich ergehen lassen. Gehorchst du meinen Ratschlägen, so bist du in zwei Jahren ein berühmter Maler, läßt dir für jedes Bild bis zu fünfzig Louisdor geben und ziehst bald danach in die Akademie ein. Wenn du dieses höchste Ziel erreicht hast, werde ich mit deiner Erlaubnis deine Pinsel, Paletten und Farben zum Fenster hinauswerfen. Alle Welt wird dann wissen, daß du jährlich sechshundert Louisdor ausgeben kannst, wir schließen nicht mehr eine Liebes-, sondern eine Vernunftehe, und du wirst dadurch glücklicher Besitzer eines jährlichen Einkommens von mehr als zwanzigtausend Talern werden. Denn auch ich werde sparen!«

Feder schwor, daß er sich allen ihren Befehlen unterwerfe. »Aber du wirst mich für eine unerträgliche Schulmeisterin halten und mich verabscheuen!«

Feder versicherte ihr, er werde nie und nimmer nachlassen, ihr zu gehorchen und sie zu lieben. Er ahnte, daß er einzig und allein auf jenem Dornenwege, den sie ihm weisen wollte, zu jenen Frauen aus der großen Welt gelangen würde, die ihm in seiner Einbildung so himmlisch schön und anbetungswürdig dünkten.

Rosalinde seufzte. »Also gut. Ist es dir recht, so werde ich mich von nun an schulmeisterlich geben müssen. Aber wenn du mir nicht schwörst, daß du es mir sagen wirst, wenn ich dir langweilig werde, lasse ich es lieber. Scheint mir doch diese Rolle, die ich von nun an vor dir spielen soll, gefährlicher als jede andere, die ich bisher übernommen habe.«

Feder leistete den Schwur, den sie von ihm verlangte, mit soviel Eifer, daß sie ihm glaubte und sich fügte. »Also gut. Was ich vor allem an dir aussetzen muß, ist die Art, wie du dich kleidest. Du bist viel zu elegant und wählst viel zu helle Farben. Hast du denn ganz vergessen, welchen Verlust du erlitten? Du bist und bleibst der untröstliche Gatte der armen, schönen Amelie. Wenn du ihr nicht nachgefolgt bist, sondern noch lebst, so erträgst du dieses Dasein nur, indem du dich ihrer erinnerst und dich ihrem Gedächtnis weihst. Ich werde für dich eine so geschmackvolle Tracht auswählen, daß unsere ›Elegants‹, wenn sie es versuchen sollten, sie nachzuahmen, in Verzweiflung geraten werden. Jeden Tag, bevor du ausgehst, werde ich über dich Musterung abhalten, wie ein General über seine Truppen. Du wirst ferner die klerikale Tagespost abonnieren und dir die Werke der heiligen Väter kaufen. Denn wer adlig ist, ist auch fromm, und du bist adlig, weil dein Vater Nürnberg als ›Herr von Feder‹ verließ, und mußt daher auch fromm sein. Diese gottesfürchtige Frömmigkeit trotz der wirren Verhältnisse, in denen du lebst, wird einst unsere Ehe heiligen. Wenn du jederzeit und in jeder Lage deinen Pflichten als Christ nachkommst, und für deine Bilder nicht unter fünfzig Louisdor forderst, prophezeie ich dir eine glänzende Zukunft. Ich bin so sicher, daß du Erfolg haben wirst, wenn du dich so benimmst, wie ich will, daß ich dir eigenhändig eine Wohnung einrichten werde. Junge Frauen werden sich um die Ehre streiten, von einem so gefeierten und schönen jungen Mann wie du dort empfangen und gemalt zu werden. Das aber sage ich dir: diese Wohnung muß einen traurigen und düsteren Eindruck hinterlassen. Denn wenn du es nicht fertig bringst, vor der Öffentlichkeit traurig zu erscheinen, dann ist es besser, keine Luftschlösser mehr zu bauen und mich heute noch zu heiraten. Doch du wirst dir alle Mühe geben, nicht wahr? Ich werde ausziehen und mit dir irgendein Landhaus beziehen, das weit genug von der Stadt in einem gottverlassenen Winkel steht. Die Fahrten dorthin und von dort nach Paris werden uns Geld kosten, aber dein Ruf wird gerettet sein. Dort kannst du dann deinem südlichen Temperament die Zügel schießen lassen. Die braven Provinzler der Nachbarschaft werden dich nicht daran hindern. Aber im Weichbild von Paris darfst du einzig und allein als untröstlicher Witwer, Edelmann und pflichteifrigster Christ auftreten – trotzdem du mit einer Tänzerin lebst. Wenn ich auch, mit deiner armen Amelie verglichen, gar nicht schön bin, wirst du doch sagen können, daß ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, weil ich ihr ähnlich sei, und daß du damals in der Oper – bei diesen Worten warf sich Rosalinde in die Arme Feders – ohnmächtig wurdest, weil ich in dem Ballett, in welchem ich tanzte, ganz zufällig eine Bewegung machte, die dich an deine Frau erinnerte.«

Sie derart reden zu machen, hatte Feder damals, als er hinter den Kulissen eine Stunde lang ohnmächtig und gelangweilt alle Glieder von sich streckte, bezweckt. Aber er war weit davon entfernt gewesen, an solch strenge Anforderungen zu denken, wie sie nun an ihn gestellt wurden! Er, der gewöhnlich so lebhaft und heiter war, sollte mit einem Male trübsinnig und melancholisch werden!

»Laß mich einige Tage überlegen,« sagte er zu Rosalinde, »bevor ich dir antworte. Oder mache mich unglücklich, dann brauche ich nicht zu heucheln, wenn du mich mit traurigem Gesicht auf den Boulevards sehen willst.«

»Du mußt so handeln, wie ich am Anfang meiner Laufbahn«, erwiderte Rosalinde. »Die Leute waren damals so töricht, daß ich in der Öffentlichkeit Tanzschritte machen und stets auf meine Füße Obacht geben mußte. Vergaß ich das nur durch zehn Minuten, so konnte ich sicher sein, eine Woche lang vergeblich mich bemüht zu haben. Doch, du mußt wissen, was du zu tun hast. Nur wenn du dich mit gesenktem Kopf in die düsteren Tiefen des Trübsinns stürzst, täglich die klerikale Tagespost so genau studierst, daß du nötigenfalls die Phrasen ihres Leitartikels auswendig wiederholen und im Gespräch verwenden kannst, wirst du Mitglied der Akademie werden, zu einem Einkommen von fünfzehntausend Franken gelangen und aus mir eine Frau Feder machen. Bleibe ich noch lange ledig, so sterbe ich an gebrochenem Herzen«, setzte sie lachend hinzu. Die nächsten Monate waren recht anstrengend für unseren Helden, denn es kostete ihn viel Mühe, trübsinnig zu sein. Bedenklich war dabei, daß er infolge seines lebhaften und leicht erregbaren Temperaments tatsächlich den Kopf hängen ließ, wenn er betrübt erscheinen sollte, und es dann kein Mittel gab, um ihn aufzuheitern. Rosalinde aber, die ihn liebte und ganz verteufelt klug war, fand einen Ausweg. Sie kaufte irgendwo einen modernen, jedoch ganz abgetragenen Anzug, einen abenteuerlichen Hut, eine Uhr aus Nickel und eine Krawattennadel mit einem großen, falschen Diamanten. Dann ließ sie den Anzug waschen und aufbügeln, legte alles bereit, und als Feder eines Tages wieder in düstere Träume versunken war, weil er ganze zwei Stunden auf den Boulevards als trostloser Witwer zugebracht hatte, rief sie plötzlich triumphierend aus: »Gott, wie gescheit ich bin! Mir ist etwas Glänzendes eingefallen! Wir werden früher als sonst essen. Dann werde ich dich als Ladenjüngling ausstaffieren und zur ›Chaumière‹ begleiten. Ich erlaube dir, dort eben so ausgelassen zu sein, wie du es als Junggeselle warst, als du die Umgebung von Marseille unsicher machtest. Nach unserer Ankunft in der ›Chaumière‹ wirst du mir gewiß sagen, daß du die Redoute herzlich langweilig fändest. Darum will ich dir jetzt schon verraten, daß du dich nur unterhalten wirst, wenn du dich ganz in deine Rolle hineinlebst und dir als Ladenschwengel die närrischsten Bocksprünge leistest. Nachdem ich dich hingebracht habe, werde ich zu Saint-Ange eilen«, – das war ein alter und vornehmer Tänzer, der ziemlich zurückgezogen lebte – »er wird mir seinen Arm reichen und wir werden beide die ›Chaumière‹ aufsuchen, um über deine Späße zu lachen. Wir müssen so tun, als ob wir uns nicht kennen und dürfen nicht miteinander sprechen, denn das wäre zu gefährlich und würde uns verraten. Damit ich mich nicht zurückgesetzt fühle und mich auch ein wenig unterhalte, will ich Saint-Ange erzählen, daß wir uns gestritten hätten. Ich bin schon neugierig, was für schöne Dinge er mir auf deine Rechnung sagen wird.«

Die Idee war gut, ihre Ausführung nicht minder, um so mehr als sich Rosalinde noch einige Extraspäße leistete und in der »Chaumière« von zwei oder drei jungen Leuten den Hof machen ließ. Sie war erkannt worden und vergalt die Aufmerksamkeit, die man ihr schenkte, mit verstohlenen, zündenden Blicken.

Unser Paar unterhielt sich so ausgezeichnet, daß es noch mehrmals die »Chaumière« aufsuchte. Rosalinde freute sich, als sie Feder sich erwärmen sah. Sie gab ihm immer neue Ideen, wiederholte unverdrossen, daß er sich nur unterhalten würde, wenn er ganz in seiner Rolle aufginge. So erreichte sie es, daß er in dem Typ, den er darstellen sollte, vollkommen gerecht die lächerlichen Seiten eines Ladenschwengels mit derartiger Vollendung hervorkehrte und übertrieb, als ob er sein ganzes Leben nur hinter dem Ladentisch gestanden hätte.

Eines Tages kam er zu Rosalinde. »Das ist doch merkwürdig!« sagte er zu ihr. »Gestern abend bin ich in der Durchführung meiner Rolle allen närrischen Ideen, die mir durch den Kopf gegangen sind und die mir Spaß gemacht haben, gefolgt und fand heute, daß es mir viel leichter geworden ist, auf dem Boulevard so geistesabwesend und teilnahmslos zu erscheinen, wie es einem Manne, der von dem Verlust seines liebsten Schatzes noch ganz benommen ist, zukommt.«

»Ich freue mich, daß du selbständig zu werden beginnst und ein Thema berührst worauf ich dich schon längst habe hinweisen wollen. Was du eben ganz allein entdeckt hast, ist das Hauptprinzip des Lebens, mein Liebling, und besagt für Leute mit solch südlichem Temperament, wie du, die in Paris leben wollen, daß sie immer Komödie spielen müssen! Immer und unentwegt, mein lieber Freund! Ausschließlich! Ihre Aufgeräumtheit, ihr steter Hang zu Späßen, die Schnelligkeit, mit der sie auffassen und zu antworten pflegen, macht den bodenständigen Pariser, der das Schneckentempo liebt und auf den der ewige Großstadtnebel lastet, kopfscheu. Er wird ärgerlich über ihre Schlagfertigkeit, denn er bildet sich leicht ein, sie wollten ihm zeigen, daß er selbst im Gegensatz zu ihnen nicht mehr jung sei. Und das ist die Stelle, an der er am empfindlichsten ist. Um sich zu rächen, nennt er die Südländer taktlos und ungeschliffen und beschuldigt sie, daß sie unfähig wären, jene witzigen Spöttereien zu würdigen, die das Glück jedes Parisers ausmachen. Deshalb mußt du dir, mein Liebling, wenn du in Paris vorwärts kommen willst, stets das Benehmen eines Menschen vor Augen halten, der gedrückt und mutlos ist, weil er Bauchschmerzen hat. Der lebhafte und freudige Blick deiner Augen, der dir so natürlich ist und den ich so liebe, werde matt und stumpf! Er ist für dich so gefährlich, daß du dir ihn nur erlauben darfst, wenn wir unter vier Augen sind. Sieh dir dieses Bild von Rembrandt an! Wie sparsam ist dieser Maler, was das Licht betrifft! Und gerade ihr Maler glaubt, daß Rembrandt durch diese spärliche Lichtverteilung seine Hauptwirkung erzielt hat. Ich rede jetzt gar nicht davon, was du zu tun hast, wenn du in Paris Erfolge erringen willst, ich sage dir nur: Wenn du hier überhaupt unterkommen und dich nicht der Gefahr aussetzen willst, daß dich die öffentliche Meinung eines schönen Tages einfach hinausbefördert, dann sei sparsam mit dem Feuer deines Blickes, geize mit ihm und mit deinem südlichen Temperament. Denke an Rembrandt!«

»Aber mein Engel! Ich tue ja mein Möglichstes, um deiner würdig zu sein. Du machst mich glücklich, Geliebte, indem du mich traurig machst! Weißt du übrigens, was mir passiert? Es gelingt mir nur zu gut, deinem Rat zu folgen. Infolgedessen sehen die armen Teufel, die ich male, noch viel gelangweilter als gewöhnlich aus, wenn sie mir sitzen. Meine melancholischen Reden bringen sie um.«

Freudestrahlend fiel ihm Rosalinde um den Hals. »Wirklich?« rief sie aus. »Aber ich habe ja ganz vergessen, dir zu. sagen, daß ich schon von verschiedenen Seiten von deiner Niedergeschlagenheit gehört habe!«

»Der Erfolg wird sein, daß niemand mehr zu mir kommen wird.«

»Das brauchst du nicht zu befürchten, wenn du die Frauen unter zweiundzwanzig so malst wie du sie siehst, den Fünfunddreißigjährigen dreist fünfundzwanzig Jahre und den guten weißhaarigen Großmüttern ohne weiteres Augen und Lippen von Dreißigjährigen gibst. Das ist das ABC deines Berufes. Du scheinst mir gerade in dieser Hinsicht viel zu schüchtern und zaghaft zu sein. Schmeichle doch den lieben Leuten, die zu dir kommen, übertreibe so, als ob du dich über sie lustig machen wolltest. Es sind noch nicht acht Tage her, seit du das Porträt jener alten Dame gemalt hast. Wie konntest du sie nur als Frau von fünfundvierzig Jahren malen, obwohl sie erst sechzig Jahre alt war? Ich sah wohl durch mein kleines Guckloch im Rahmen deines Rembrandtbildes, wie unzufrieden sie war. Würdest du sie jünger gemalt haben, so hätte sie dich nicht zweimal ihre Frisur neu anfangen lassen!«

Nicht lange hernach hörte Rosalinde, wie Feder zu einem seiner Freunde sagte: »Denken Sie sich! Diese Handschuhe da hat mir der Theaterportier um fünfundzwanzig Sous verkauft. Wenn ich sie in einem Laden gekauft hätte, würde ich mindestens drei Franken bezahlt haben.«

Der Freund lächelte vielsagend, antwortete jedoch nicht. Nachdem er sich entfernt hatte, fuhr Rosalinde ärgerlich auf: »Bist du denn wirklich imstande, über derartige Lappalien zu schwätzen! Das verzögert deinen Eintritt in die Akademie um drei volle Jahre! Man könnte fast glauben, daß du dich freust, wenn du die Achtung, die man dir entgegenbringt, durch deine Schuld wieder verlierst. Dein Freund wird nun denken, daß du ein armer Schlucker bist, wenn du so sparst. Sprich doch um Himmels willen nicht mehr von Dingen, die darauf schließen lassen, daß du sparen mußt. Die Folgen wären ganz entsetzlich! Überhaupt – wer wird denn von solchen Lappalien reden! Ist es denn so schwer, sich zu verstellen? Wenn du einen Bekannten triffst, so brauchst du nur liebenswürdig zu sein und dich zu fragen: Was könnte ich ihm Angenehmes sagen? Mein armer Freund, der Prinz von Mora-Florez, von dem ich hunderttausend Franken geerbt habe, hat mich diesem Grundsatz folgen gelehrt. Als du mit jenen braven Nationalgardisten lebtest und sie für dich zu gewinnen trachtetest, warst du nicht so schwerfällig. Denn du hast damals begriffen, daß der Pariser sehr gerne hört, wenn man, eben von Sibirien heimkehrend, ihm versichert, daß das Klima von Paris nicht kalt sei, oder von San Domingo eintreffend, ihm bestätigt, daß man es in Paris nicht zu warm fände – mit einem Wort, daß man ihm sagt, was er zu hören erwartet. Damals nahmst du Rücksicht auf diese Eigenart – heute aber sprichst du über so eine Lächerlichkeit wie den Preis von Handschuhen, als ob sich solches Reden von selbst verstünde! Obwohl dir im letzten Jahre deine Malerei nur ungefähr zehntausend Franken eingebracht hat, habe ich Valdor – nach sieben mißglückten Versuchen mit anderen Bankiers bin ich endlich bei ihm gelandet – vorgeschwindelt, daß du dir zwölftausend Franken erspart hättest, und habe diesen Betrag für deine Rechnung bei ihm deponiert. Dieses Allerweltklatschmaul hat nichts Eiligeres zu tun gehabt, als in der ganzen Stadt zu erzählen, daß dein Talent dir mehr als fünfundzwanzigtausend Franken jährlich einbringt. Und heute tust du furchtbar wichtig wegen fünfundzwanzig Sous!«

Feder warf sich in die Arme seiner Freundin. Eine wachsamere Geliebte konnte er sich gar nicht wünschen.

Seitdem er in dem schäbigen Anzug mit der gleißenden Krawattennadel so gefeiert worden war, hatte er die Chaumière und ähnliche Vergnügungslokale noch öfters aufgesucht. Rosalinde wußte es und war darüber verzweifelt. Die Zahl derer, die ihrem Geliebten wohlwollten und ihn als untröstlichen Witwer kannten, vermehrte sich ungeheuer rasch, und es war deshalb unvermeidlich, daß er nicht von diesem oder jenem in der Chaumière gesehen wurde. Ertappte man ihn, so gab er sein ausschweifendes Leben offen zu, wandte jedoch ein, daß er nur durch solche Ablenkung sich der Niedergeschlagenheit über sein verlorenes Leben erwehren könne. Wenn man von einem Manne sagt, er sei ausschweifend, so ist das noch immer besser, als wenn man ihn für herzlos hält. Man ließ ihm deshalb seine Liederlichkeit durchgehen und sprach sogar manchmal mit Achtung über die närrische Anwandlung, die ihn gewöhnlich Sonntags überkam und dann zu jenen Amandas und Athenais trieb, die an den Wochentagen bei Delille oder Victorine Hüte und Kleider zurichten.

Rosalinde weinte öfters. Da er sich ihr gegenüber jedoch stets taktvoll benahm, hatte sie keinen Grund, zu klagen. Bis sie ihm eines Tages ernstliche Vorhaltungen machen mußte. Als Feder zu Rosalinde zog, hatten sie vereinbart, daß er nicht die Hälfte des Mietzinses beisteuern sollte, den ihre prächtige Wohnung am Boulevard in der Nähe der Oper kostete, sondern nur sechshunderteinundzwanzig Franken und fünfzig Centimes. Soviel hatte er nämlich als Junggeselle für sein Zimmer im fünften Stock gezahlt, bevor er zu Rosalinde übergesiedelt war. So kam er eines Tages, um ihr seinen Beitrag für ein halbes Jahr, nämlich dreihundertzehn Franken fünfundsiebzig Centimes zu bezahlen. Er gab ihr zuerst die dreihundertzehn Franken und begann dann mit solcher Genauigkeit seine Taschen umzudrehen und die fünfundsiebzig Centimes zusammenzusuchen, daß Rosalinde in Verzweiflung geriet.

»Wahrhaftig,« klagte sie mit Tränen in den Augen, »du beeilst dich so, mir diese paar Groschen zu bezahlen, daß ich fast glaube, du willst mich morgen schon verlassen. Deine Handlungsweise ist nur zu verstehen, wenn man annimmt, daß du dich auf den Augenblick freust, da du deinen Freunden sagen kannst: ›Rosalinde war einst meine Geliebte‹, ja vielleicht sogar: ›Es ist wahr, ich habe mit ihr drei Jahre zusammengelebt und bin ihr sehr dankbar, weil sie sich bemüht hat, meinen Bildern auf der Ausstellung die besten Plätze zu verschaffen. Was aber die finanzielle Seite betrifft, so muß ich doch sagen, daß wir in dieser Hinsicht immer wie Bruder und Schwester gelebt haben.«

Rosalinde weinte so herzzerbrechend, daß sie diese Vorwürfe, die nicht ganz unberechtigt waren, nur stoßweise hervorbrachte.

II

Seitdem sich Feder als untröstlicher Witwer und Porträtist mit reißender Schnelligkeit die Gunst des Publikums gewann und er als sichtbaren Beweis seiner wachsenden Beliebtheit eine vollgefüllte Brieftasche buchen konnte, regte sich in ihm ein spekulatives Talent. Das Börsenspiel fiel ihm nicht schwer, da er sich noch aus seiner Kindheit her erinnerte, wie sein Vater gespielt hatte und über seine Abschlüsse am Laufenden geblieben war. So spekulierte er mit Baumwolle, Zucker, Branntwein und dergleichen. Anfangs war ihm das Glück hold. Als jedoch in Amerika die Baumwollkrise einsetzte, verlor er alles, was er besaß, bis auf das letzte Hemd. Die Erinnerung an die starken Gemütsbewegungen, mit welchem er das Steigen und Sinken der Kurve verfolgt hatte, war der einzige Gewinn, den er aus seinen mißglückten Börsenunternehmen zog. Er war gezwungen gewesen, sich nichts vorzumachen und kühl abwägend seine Entschlüsse zu treffen und trat nun ernüchtert und gereift aufs neue in das Leben.

Als er sich eines Tages schwarz gekleidet, wie es seinem melancholischen Charakter entsprach, unter die Menge mischte, die in der Ausstellung im Louvre bewundernd vor seinen Porträts stand, mußte er zu seinem Entsetzen mitanhören, wie seine Verehrer bis zur Bewußtlosigkeit die Phrasen der Feuilletons wiederholten, die erst vor kurzem siebzehn Pariser Zeitungen dank der Geschicklichkeit Rosalindes über seine Kunst gebracht hatten.

Feder war kein Kind seiner Zeit, denn es ergriff ihn, als er diese Gemeinplätze hörte, ein derartiger Ekel, daß er seinen Rundgang schnell wieder aufnahm. Nach wenigen Schritten gelangte er zu den Gemälden der Frau von Mirbel und fühlte förmlich, wie jene Übelkeit, die ihn momentan ergriffen hatte, schwand und er in Entzücken geriet. Das Bildnis eines Mannes war es vor allem, das ihn in seinen Bann zog und stehen zu bleiben zwang.

»Tatsache ist,« sprach er erregt zu sich selbst, »ich bin ein ganz talentloser Stümper. Meine Bilder sind scheußliche Karikaturen und in der Wahl der Farben vergreife ich mich immer. Wenn die Leute, die sich meine Arbeiten ansehen, imstande wären, ihren Empfindungen nachzugehen, so müßten sie darauf kommen, daß ich alle Frauen male, als ob sie Porzellanpuppen wären.«

Obwohl man Feder bei Schluß der Ausstellung als Zeichen der Anerkennung für seine hervorragende künstlerische Begabung die Ehrenmedaille überreichte, ließ er sich von seiner Meinung über sich selbst nicht abbringen. Je mehr er überlegte, desto tiefer prägte sich ihm die Überzeugung von seiner Talentlosigkeit ein. Jeder Tag bewies es ihm von neuem.

»Wozu ich noch einigermaßen tauge«, sagte er sich, »ist das Spielen an der Börse. Denn ich verlasse mich nicht auf den Zufall, bin auch nicht voreingenommen und kann die getroffenen Entschlüsse vor mir rechtfertigen, selbst wenn das Ergebnis mich scheinbar Lügen straft. Und von zehn Spekulationen gelingen mir zweifellos mindestens sechs oder sieben.«

Durch solche und ähnliche Überlegungen tröstete sich unser Held darüber, daß er von nun an sein künstlerisches Schaffen nur mit Bitterkeit und Kummer verfolgen konnte. Daß seine Beliebtheit durch die Auszeichnung, die ihm zuteil geworden war, noch stieg, bemerkte er daher mit recht gemischten Gefühlen. Von da ab gab er sich ganz offensichtlich keine Mühe mehr, natürliche Farbenwirkungen zu erzielen. Die Frauengesichter, die er nun malte, hatten alle etwas puppenartiges, wie wenn man auf einen schön lackierten Porzellanteller ein Blatt einer roten Rose legt. Infolge dieses schematischen Arbeitens malte er natürlich viel rascher. Mit jedem Jahr aber, das vorüberzog, wichen seine künstlerischen Sorgen mehr und mehr. Schließlich schämte er sich nur noch, daß er zehn Jahre gebraucht hatte, um endlich das Handwerk zu entdecken, das für ihn taugte.

Da pochte eines Tages Herr Delangle an seiner Tür. Delangle war einer der ersten Kaufleute von Bordeaux und wußte ihm Dank, weil er es verstanden hatte, in seinem Namen eine sehr ungünstige Verpflichtung in befriedigender Weise zu lösen. Er pochte mit solcher Gewalt am Eingang zu den prächtigen Atelierräumen in der rue de la Fontaine Saint-George, daß die Türen erzitterten, und sprach, als man ihm öffnete, derartig laut und dröhnend, daß Feder, schon lange bevor er in das Atelier trat, wußte, wer ihn besuchen kam. Delangles grauer Hut saß noch viel kühner und schiefer als gewöhnlich auf seinem schwarzen, lockigen Haar, als er wie ein Sturmwind hereinsauste.

»Ans Werk! Ans Werk!« schrie er aus vollem Halse. »Ich habe eine Schwester, die einfach fabelhaft schön ist. Sie ist noch kaum zweiundzwanzig, aber ganz anders als die Weiber in diesem Alter. Herr Boissaux hat sie direkt zwingen müssen, ihn hierher nach Paris zu begleiten, wo er die Erzeugnisse seiner Fabrik ausstellen will. Ich muß ihr Bild haben. Niemand anders kann das machen als Sie, lieber Freund. Aber Sie müssen sich dafür bezahlen lassen! Haben Sie verstanden? Ich kenne Ihre mädchenhafte Empfindlichkeit wohl, aber andrerseits weiß ich auch, was sich gehört. Wenn Sie kein Geld annehmen, dann gehe ich einfach wieder.«

»Sie müssen sich an Frau von Mirbel wenden, lieber Freund«, antwortete ihm Feder in bescheidenem und natürlichem Ton. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie zu ihr gehen müssen, wenn Sie Wert darauf legen, eine Arbeit zu erhalten, die auf der Höhe der modernen Malerei steht.«

Delangle machte alle Anstrengungen, ihm diese fixe Idee auszureden. Seine Komplimente waren vielleicht gar zu stürmisch, dafür aber wirklich aufrichtig gemeint.

»Ich sehe schon, mein lieber Delangle, daß ich Ihrer Dickköpfigkeit anders beikommen muß. Wenn Ihre Schwester tatsächlich so schön ist, wie Sie behaupten, so bin ich unbedingt der Ansicht, daß Sie ein Bild anfertigen lassen müssen, das ihre Züge, wie sie leibt und lebt, auch wirklich wiedergibt, nicht aber eines jener konventionellen, rosigen Puppengesichter, wie ich sie male.«

Delangle widersprach ihm nochmals.

»Nun gut, lieber Freund. Um Ihnen zu beweisen, daß ich recht habe, bitte ich Sie, von all den Porträts in meinem Tresor auszuwählen, das Ihnen am besten gefällt. Wir werden es mit uns nehmen und miteinander zu dem Kunstfreund gehen, der eines der schönsten Bilder, die in diesem Jahre von Frau von Mirbel zu sehen waren, erworben hat. Er hat mir erlaubt, von Zeit zu Zeit seine Galerie studienhalber aufzusuchen. Bei dem Vergleich beider Arbeiten wird es mir nicht schwer fallen, Sie auf die Unterschiede aufmerksam zu machen, obwohl Sie sich mit der Malerei nicht weiter befaßt haben. Wie Schuppen wird es Ihnen da von den Augen fallen und Sie werden einsehen, daß Sie sich an die große Künstlerin wenden müssen, deren Namen ich Ihnen genannt habe.«

»Unglaublich!« rief Delangle mit der ganzen Lebhaftigkeit eines sanguinischen Temperamentes aus. »Einem solchen Musterknaben, wie Sie einer sind, bin ich hierzulande, wo es nur Betrüger und Hochstapler gibt, noch nicht begegnet. Sie sind so komisch, daß an Ihnen auch meine Schwester Vergnügen haben soll! Gut! Ich tue Ihnen also den Willen. Wir werden morgen dem Bild der Malerin, die mit Ihnen um die Künstlerlorbeeren ringt, unsere Aufwartung machen.»

Am nächsten Morgen sagte Feder zu Rosalinde: »Ich treffe heute vormittag eine Provinzlerin. Sie ist gewiß recht lächerlich. Bitte stelle mir eine Tracht zusammen, die einen recht düsteren, trauermäßigen Eindruck macht. Wenn ich mich schon mit dieser Kleinstädterin langweilen und ihr albernes Geschwätz ergeben über mich ergehen lassen soll, so will ich mich dabei doch ein wenig zerstreuen, indem ich die Verzweiflung Werthers kopiere. Auf diese Weise werde ich in Bordeaux den Boden bereitet finden, wenn ich einmal hinkomme, denn die Nachricht von meiner bemitleidenswerten tiefen Niedergeschlagenheit wird mir vorauseilen.«

Um zwei Uhr fand er sich gemäß der Verabredung in einem der prächtigsten Hotels der Rue de Rivoli, wo Herr und Frau Boissaux abgestiegen waren, ein. Der Portier schien nicht recht zu verstehen, wen Feder zu sprechen wünsche, und führte ihn auf gut Glück zu einem hochgewachsenen, ziemlich beleibten Mann. Nach seinen gesunden Farben zu urteilen, war dieses Menschenkind nicht älter als sechsunddreißig, höchstens achtunddreißig. Den Eindruck der großen, schönen Augen beeinträchtigte ihr leerer, ausdrucksloser Blick, aber Herr Boissaux – er war es in der Tat – war stolz auf sie. Er hatte eine solche Angst, den Großstädtern lächerlich zu erscheinen, daß er in der ersten Nacht nach seiner Ankunft kein Auge schloß, am nächsten Morgen sofort den Schneider, den ihm der Hotelier empfohlen hatte, berief, und tags darauf unförmig und in einem Anzug debütierte, den tatsächlich nur ganz schmächtige Modejünglinge tragen konnten.

Boissaux hatte eine unvorhergesehene Unterredung und entfernte sich auf einen Augenblick. So blieb es Freund Delangle vorbehalten, Feder der Frau Boissaux vorzustellen. Delangle war an diesem Tage in glänzender Laune und ließ sich bei seinen Possen durch die Anwesenheit seiner Schwester wenig stören. Auftrumpfend suchte der temperamentvolle vierzigjährige, reiche Gaskogner dem jungen Maler zu imponieren, mit einem Selbstbewußtsein, wie es ihm als älteren, erfahrenen Geschäftsmann zukam, und einer Unbekümmertheit, wie sie nur einem Manne eigen ist, der großen Reichtum besitzt und gewohnt ist, die Seelen um sich – Kleinstadtseelen in unserem Falle – zu beherrschen. Er leistete sich derartige Aussprüche, daß Feder oft krampfhaft an sich halten mußte, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Aber er verzog keine Miene, sondern wußte seine Gemütsbewegung so geschickt zu verwerten, daß er seine Wertherrolle mit um so größerem Glanz spielte.

»Es ist schade,« dachte er sich, »daß Rosalinde mich nicht sieht. Sie wirft mir immer vor, ich sei vor den Dummköpfen, denen ich meine Leiden anvertraue, zu schüchtern. Heute hätte sie ihre helle Freude an mir und könnte sich überzeugen, daß ich der Akademie würdig bin.«

Frau Boissaux sah wie ein Kind aus, obwohl ihr Bruder jeden Augenblick wiederholte, daß sie am kommenden St. Valentinstag (dem 14. Februar) schon zweiundzwanzig Jahre alt würde. Ihr Geburtstag war gleichzeitig ihr Namenstag, denn sie hieß Valentine. Sie war groß und hatte eine gute Gestalt. Man hätte sie ihrem Profile nach eher für eine Engländerin als für eine Französin, jedenfalls aber für eine vollkommene Schönheit gehalten, wenn ihre Lippen, insbesondere die Unterlippe, nicht so stark entwickelt gewesen wären. Immerhin bekam ihr Antlitz durch diesen Schönheitsfehler einen Zug von Gutmütigkeit, vor allem aber von Rasse, verborgener Leidenschaftlichkeit. Daß dies dem jungen Maler im Werthergewande nicht verborgen blieb, ist klar. Was ihm an dieser schönen Frau noch auffiel, war Stirne und Nase. Der Schnitt beider ließ auf tiefe Frömmigkeit schließen. Als sie vor dem Palais des Kunstfreundes, der das schöne Bild der Frau von Mirbel besaß, den Wagen verließen, fragte Feder in einem günstigen Moment ihren Bruder:

»Sie ist fromm, nicht wahr?«

»Meiner Seel', lieber Freund! Mir scheint, Sie können ebensogut wahrsagen, wie malen!« rief Delangle aus. »Schwester! Schwester! Denke dir! Dieser Teufelskerl hat erraten, daß du fromm bist! Und dabei schwöre ich dir, daß ich ihm kein Wort davon gesagt habe. Zu Bordeaux gibt man etwas auf Frömmigkeit, erst recht aber, wenn die Betreffende, die sie besitzt, so steinreich ist, wie meine Schwester. Deshalb wird ihr an den größten Feiertagen auch erlaubt, in der Kirche Almosen zu sammeln. Ich versichere Sie, lieber Freund, es gibt nichts Putzigeres als meine Schwester, wenn sie da ihren Beutel aus rotem Samt mit den goldenen Troddeln den Leuten offen darreicht. Sie hat ihn von mir bekommen, als ich vor zwei Jahren von meiner dritten Pariser Reise heimkehrte. Der besondere Freund meiner Schwester, müssen Sie wissen, ist ein ganz bigotter Herr. Wie stolz er an solchen Festtagen in seinem samtenen Feiertagsgewand mit dem Degen an der Seite einhergeht! Wirklich großartig! Man muß dieses Schauspiel in unserer Kathedrale Saint-André sehen! Wenn sie auch von den Engländern erbaut worden ist, so ist sie doch die schönste in Frankreich.«

Diese drastischen Worte ließen Frau Boissaux rot werden. Ihre Befangenheit war so reizend und jede ihrer Bewegungen, während sie die prächtigen Räume durchschritten, so anmutig, daß Feder in Verwirrung geriet.

Während mehr als einer Viertelstunde vergaß er gänzlich die Wertheriade, die er den Provinzlern hatte vorspielen wollen und hing seinen eigenen Gedanken nach. Als Herr Boissaux ihm daher jovial auf die Schulter klopfte und ihn fragte: »Wenn meine Frau fromm ist, was bin dann ich?« war er zu betroffen, um sich über diesen feisten Kleinstädter lustig zu machen und antwortete ihm ohne viel Besinnen:

»Ein reicher Kaufmann, dessen glückliche Hand in Geschäften man kennt.«

»Sehen Sie, Herr Feder, wie Sie sich täuschen! Fürs erste rührt mein Reichtum von meinem Vater her. Wenn Sie mich besuchen, will ich Ihnen einen Wein vorsetzen, den er selbst gekeltert und in den herrlichen Weinbergen die ich von ihm geerbt habe, gezogen hat. Das ist aber noch nicht alles. Ich halte mich auch in der Literatur am Laufenden. Sie sollten sehen, was für einen prachtvoll gebundenen Victor Hugo ich in meiner Bibliothek habe!«

Feder wäre diesem Protzen bei jeder anderen Gelegenheit die Antwort nicht schuldig geblieben, aber er versuchte es gerade, Frau Boissaux schüchtern anzusehen. Zagend und errötend erwiderte sie seinen Blick, mit einer Ängstlichkeit, die nicht ohne Reiz war. Diese hübsche Frau war tatsächlich so unglaublich furchtsam, daß sie erst auf die nachdrücklichsten Vorstellungen ihres Mannes und ihres Bruders hin sich hatte bestimmen lassen, in Begleitung eines ihr unbekannten Malers die Gemäldegalerie zu besuchen. Sie hatte sich diesen berühmten und gefeierten Maler in ihrer Phantasie als ein schreckliches Monstrum vorgestellt, als einen Bramarbas mit langem, schwarzen Vollbart, bedeckt von unzähligen, goldenen Medaillen und Ketten. Zitternd hatte sie erwartet, daß er sie fortwährend von Kopf bis zu den Füßen messen und ihr mit dröhnender Stimme die verfänglichsten Dinge sagen würde.

Da sah sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung den schmächtigen, sympathischen, jungen Mann in seinem schwarzen Anzug mit dem schwarzen Band an seiner Uhr daherkommen. Nichts Außergewöhnliches war an ihm, bis auf das winzige, kaum sichtbare rote Bändchen im Knopfloch. Voll Erregung drückte sie den Arm ihres Gatten an sich.

»Ist das wirklich der berühmte Maler?« fragte sie ihn und begann neuen Mut zu schöpfen. Als sie aber die groben Worte Delangles hörte, die ihre Frömmigkeit in ein so schiefes Licht rückten, wurde sie wieder kleinmütig und wagte nicht, den jungen Künstler anzusehen. Denn sie fürchtete, jeden Augenblick seinem spöttischen Blick zu begegnen. Aber sein bescheidenes und ruhiges Betragen gab ihr ein wenig Selbstvertrauen zurück, so daß sie schließlich wieder die Augen zu erheben wagte. Wie freute sie sich, da sie dem ernsten, ja fast teilnahmsvollen Blick des jungen Malers begegnete! Wenn eine schüchterne und zaghafte Seele Klugheit besitzt, so vermag sie mit der größten Scharfsinnigkeit aus geringen Kleinigkeiten, die den meisten Menschen entgehen, Schlüsse zu ziehen. Valentine besaß diese Gabe. Infolge einer Choleraepidemie war sie früh verwaist und hatte das Kloster, wo sie untergebracht worden war, erst kurz vor ihrer Heirat mit Herrn Boissaux verlassen. Boissaux erschien ihr ebenso seltsam wie ihr Bruder, aber sie vermißte an ihm jenen Frohsinn und Witz, den Delangle besaß und der ihn zu einem beliebten Gesellschafter machte, wenn er an sich hielt und einmal nicht ausschließlich liebenswürdig sein wollte.

Als Valentine den berühmten Maler, von dem sie sich ein so ganz anderes Bild gemacht hatte, ansah, stürmten tausend Gedanken auf sie ein. Einem Unbekannten zu sitzen, sich auf lange Zeit seinem forschenden Blick auszusetzen, hatte sie sich früher qualvoll und unerträglich vorgestellt. Nur das Gebot der Kirche, das, wie sie sich erinnerte, ihren Gatten zum unbeschränkten Herrn über ihr Schicksal einsetzte, hatte sie nach langer und ernsthafter Krisis zu dem Entschluß bewogen, sich von dem berühmten Künstler malen zu lassen. Aber die Mission Delangles war nicht erfolgreich gewesen. Ihr Bruder hatte es nicht unterlassen, ihr zwei oder drei Male in grotesker Übertreibung die Gründe vorzutragen, die nach den eigenen Angaben des Künstlers für die Ablehnung des Auftrages und für den Rat, sich an die viel begabtere Frau von Mirbel zu wenden, maßgebend waren. Damals hatte sie dieses Widerstreben nicht weiter berührt, im Augenblick aber, da sie ihn nun betrachtete und es ihr wieder einfiel, empfand sie doch ein wenig Kummer darüber.

Man verglich die beiden Gemälde miteinander. Feder bat nochmals, ihn von dem Auftrag zu entbinden. Was er an Gründen hierfür am Vortage ausführlich dargelegt hatte, ward nun von ihm so eintönig und lähmend wiederholt, daß Valentine sich verwundert fragte, warum er keine eindrucksvolleren Momente für die Richtigkeit seiner Ansicht vorzubringen wußte. Sie empfand mit der natürlichen Feinfühligkeit eines klugen Weibes, das seine spärlichen Erfahrungen zu nützen weiß, wie Feder sich merkwürdig verändert hatte, seit er die Vorzüge und Nachteile seiner Arbeit vor dem Gemälde der Künstlerin erwog. Über den Grund dieses plötzlichen Wechsels war sie sich nicht im klaren.

Als Feder das Unschöne ihrer vorgeschobenen Unterlippe bemerkte und er diesen Schönheitsfehler für ein Zeichen verhaltener Liebesleidenschaft hielt, war er so tief ergriffen, daß er auf einmal nichts sehnlicher wünschte, als sie zu malen. Wollte er dies erreichen, so mußte er sich Delangle gegenüber anders als bisher benehmen. Es war kaum zu erwarten, daß dieser Mensch seiner Spottlust Einhalt gebieten würde, wenn ihm der Stimmungsumschwung seines jungen Freundes auffiel. Feder hörte fast schon seinen lauten Aufschrei: »Komm Schwesterchen! Sag deinen schönen Augen Dank! Denn ihretwegen hat der hohe Herr seine Ansicht geändert!« Er hörte schon seine Stentorstimme, wie sie mindestens zwanzigmal dieses Thema in immer neuen Wendungen wiederholte, und erschrak bis in die Knochen. Nein. Er mußte es anders anfangen, mußte sich ganz allmählich von Delangle überzeugen lassen, und die Tatsache, daß er seine Gesinnung ändere, wenigstens ebenso geschickt verschleiern, wie ein redegewandter Anwalt. Ein solcher Sinneswechsel ist ja nichts mehr Seltenes. Vor allem aber durfte er nicht erkennen lassen, daß er, um die Erlaubnis, sie zu malen, die ganze Welt gegeben hätte. Feder vergaß seine Wertherrolle, als er alle Kräfte seines Geistes zu Hilfe nahm, um diesen Meinungsumschwung so schnell und unauffällig als möglich durchzuführen. Aber Valentine ertappte ihn doch mitten in der Verwandlung. Auch Delangle war aufmerksam geworden und zog seine Brauen drohend zusammen. In dieser kritischen Situation hielt es unser Held für das Gescheiteste, einfach zu gestehen, daß der Ausdruck von engelhafter Unschuld und Frömmigkeit im Antlitz der jungen Frau über seine Trägheit den Sieg davongetragen habe. Er gäbe es zu: einzig und allein aus Trägheit habe er gestern abgelehnt. Die vielen Aufträge, denen er nach Schluß der Ausstellung habe entsprechen müssen, hätten ihn ermüdet. Doch denke er nun daran, eine Madonna zu malen und sie einem Marienkloster, dem er Dank schuldig sei, zu schenken.

»Welches Kloster meinen Sie?« fragte ihn Valentine. Mutig wagte sie diese Frage, denn auf Klöster verstand sie sich. Während ihrer Kindheit hatte sie häufig die prächtige Wandkarte im Refektorium, auf welcher alle Klöster eingezeichnet waren, studiert und wußte daher genau Bescheid.

Feder hatte nicht geahnt, daß ihn dieses schüchterne Mädchen in ein Kreuzverhör nehmen würde. In größter Verlegenheit antwortete er, zweifellos werde er ihr in wenigen Tagen den Namen des Klosters angeben können. Augenblicklich sei er aber noch verpflichtet, darüber zu schweigen. Frau Boissaux merkte seine Verwirrung nicht. Ihr war so leicht um das Herz, weil sie der berühmte Künstler nun doch malen wollte. Sie scheute nicht mehr, sich seinen Augen preisgeben zu müssen, sondern hatte mit Zittern und Zagen befürchtet, daß er auf seiner Weigerung beharren werde. Sein bescheidenes, natürliches Auftreten entschied bei ihr zu seinen Gunsten. Ungeschminkte Natürlichkeit zwingt eben – auch wenn sie zu Tollheiten neigt und im Leben oft Unheil anrichtet –. Seelen, die ihr ähnlich sind, unaufhaltsam und rückhaltlos in ihren Bann. Wie Feder war auch Valentine die treuherzigste und natürlichste Person von der Welt, wenn ihr nicht gerade unbezwingliche Schüchternheit die Lippen versiegelte.

Der Besuch in der Gemäldegalerie endete recht kühl und förmlich, wenigstens was Feder und Valentine betrifft, denn jeder von beiden war noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er seinerseits versuchte, seine Empfindungen zu enträtseln. Gleichzeitig aber peinigte ihn der Gedanke, wie schwer er sich aus der Situation wieder herauswinden werde, in die er durch die Übernahme eines Auftrages geraten war, den er tags zuvor noch so energisch abgelehnt hatte. Sie anderseits wunderte sich und staunte, ohne daß sie sich über ihr Gefühl genau Rechenschaft geben konnte. Im Grunde vermochte sie nicht zu fassen, daß es in Paris Menschen gab, die so schlicht waren wie er und ebensowenig Wert darauf legten, liebenswürdig zu erscheinen und in der Gesellschaft zu glänzen.

Dabei muß man wissen, daß der Kleinstädter unter Liebenswürdigkeit ganz etwas anderes versteht als der Großstadtbewohner. Liebenswürdig sein bedeutet nach ihm in Gesellschaft das große Wort zu führen, laut sprechen und eine Reihe von absonderlichen und übertriebenen Geschichten erzählen, die noch dadurch besonders lächerlich sind, daß stets der Erzähler darin die Hauptperson spielt. Valentine fragte sich daher insgeheim in mädchenhafter Treuherzigkeit: »Ist er liebenswürdig, dieser Herr Feder?« Sie vermochte sich nicht vorzustellen, daß jemand liebenswürdig sein könnte, ohne weithin hörbar und weitschweifig zu sprechen. Ihr Gatte, Herr Boissaux, und ihr Bruder, Herr Delangle, wetteiferten gerade im Augenblick, diesen gesellschaftlichen Ansprüchen, die man fern von Paris in ihrer Vaterstadt stellte, voll und ganz zu entsprechen. Sie schrien um die Wette und redeten stets gleichzeitig aufeinander ein. Die Malerei war der Anlaß ihres Wortwechsels. Und da weder der eine noch der andere von dieser Kunst auch nur eine leise Ahnung hatte, waren sie bemüht, diesen Mangel durch Aufwendung all ihrer Lungenkraft zu ersetzen.

Feder und Valentine waren inzwischen so eifrig beschäftigt, sich gegenseitig zu betrachten, daß sie jenem Streit der Weisen nicht allzuviel Aufmerksamkeit schenkten. Und doch waren sie da verschiedener Meinung. Die gute Valentine glaubte noch alles, was man ihr im Kloster und in den Provinzkreisen vorgeredet hatte. Sie fand daher jene Unterhaltung wundervoll, während Feder sich sagte: »Dieser Streit ist doch nur eine kleine Kostprobe des Höllenkonzertes, das dir Tag und Nacht in die Ohren gellen würde, wenn du dich mit dieser Frau näher einläßt.« Er tat indessen, als ob er den Wortwechsel aufmerksam verfolge. Boissaux und Delangle waren über ihren erlauchten Zuhörer so entzückt, daß sie wie auf Kommando gleichzeitig ihrem Herzen Luft machten und Feder mit dröhnender Stimme zum Speisen einluden.

Feder erschrak. Der Schädel brummte ihm. Ohne viel zu überlegen, lehnte er daher brüsk ab. Die beiden Gaskogner waren so mit Blindheit geschlagen und von sich eingenommen, daß sie die verletzende Art seiner Absage gar nicht bemerkten. Als Feder seiner übereilten Schroffheit inne wurde, beeilte er sich sofort, ein ganzes Schock von bei den Haaren herbeigezogenen Gründen vorzubringen, um die tiefer veranlagte Frau Boissaux, die er verletzt haben konnte, wieder zu versöhnen. Valentine aber blieb kalt und ungerührt. Lange hatte sie auf die Frage: »Ist dieser Herr Feder liebenswürdig?« eine Antwort gesucht. Da er aber keine netten Geschichten erzählte und seine Stimmbänder nicht überanstrengte, kam sie schließlich zu dem Ergebnis, daß er nicht liebenswürdig sei, und freute sich darüber; und ohne recht zu wissen warum, scheute sich die junge Frau ganz instinktmäßig vor dem Jüngling, der so bleich war, sich so bescheiden benahm und, wenn er wenig sprach, um so beredter zu blicken verstand. Sie atmete daher auf, als er die Einladung ablehnte, war jedoch erstaunt, daß er dies mit solcher Schroffheit tat. Aber sie fand nicht Zeit, darüber nachzudenken, denn sie fragte sich angelegentlich: »Wenn Feder nicht liebenswürdig ist, was ist er dann? Ein langweiliger Patron?« Sie war zu klug, um dies bejahen zu können und suchte daher unentwegt nach einer Antwort, die sie befriedigen würde.

Abends saß sie wie gewöhnlich im Theater, um ihrer Pflicht als Frau des Vizepräsidenten der Handelskammer zu genügen. Das Stück von Scribe, das man aufführte, behagte ihr erst von dem Augenblicke an, da sie der Schauspieler, der den Liebhaber gab, in seinem Benehmen an Feder erinnerte. Und als sie mit Mann und Bruder nach Hause fuhr, horchte sie auf, als sie im Gespräch der beiden Männer den Namen Feder fallen hörte. Sonst gab sie nie darauf acht, was sie redeten, denn sie verstand noch vom Kloster her vortrefflich, Dinge, die sie langweilten, einfach zu überhören. Ihr Mann sagte eben:

»Sechzig schöne Napoleons wird mir das Bild von dieser Pariser Berühmtheit kosten. Aber man wird mich auch dafür in Bordeaux beneiden. Delangle, du bist sein Freund. Bring ihn mir zuliebe dazu, daß er seinen Namen recht groß und deutlich daraufsetzt. Es wär zu scheußlich, wenn dieser Name, den ich mit Gold aufwiegen muß, am Ende gar vom Rahmen verdeckt würde. Fügt er seinem Namenszug nicht ein Kreuz hinzu, seit er Ritter der Ehrenlegion geworden ist? So ein Kreuz, weißt du, wie es im Königlichen Almanach abgebildet ist. Wenn er es noch nie getan hat, so vergiß nicht, ihm zu sagen, daß er es auf dem Bild anbringt. Diese verdammten Maler stehen ja verschieden im Kurs. Mit dem kleinen Kreuz ist das Bild vielleicht doppelt so viel wert und jeder wird sicher sein, daß es von ihm gemalt ist.«

Damit war dieses Thema für Boissaux noch nicht erledigt. Er redete noch lange in der gleichen Tonart auf Delangle ein. Der freute sich diebisch und dachte sich: »So ein reicher Provinzler ist doch zum Schießen! Dort, wo er her ist, streut man ihm Weihrauch und ehrt ihn auf jede Weise. Statt daß er dort bleibt, kommt er nach Paris, um sich zu blamieren! Ein kleines Kreuz hinter der Unterschrift des Malers. Herrgott! Wenn das der ›Charivari‹ wüßte!«

Delangle fühlte sich vollkommen als Pariser, seit er die Hälfte des Jahres in der Großstadt lebte. Plötzlich rief er aus: »Aber wir vergessen ja über der Debatte, wie wir den Widerstand Feders brechen und ihn zur Übernahme des Auftrages bereden wollen, das Wichtigste! Valentine wird in ihrer klösterlichen Zimperlichkeit ganz gewiß ablehnen, ihm in seinem Atelier in der rue de la Fontaine Saint-George zu sitzen!«

Valentine war fassungslos. »Was? Ich soll zu ihm hingehen?«

»Es ist falsch, was du da sagst. Nicht zu ihm. Das Atelier, zu dem dich dein Mann führen wird, ist von seiner Wohnung eine Viertelstunde weit entfernt. Es ist ein wahres Kleinod. In deinem ganzen Leben wirst du etwas Ähnliches noch nicht gesehen haben. Aber dein Mann und ich, wir haben zu tun. Die Pariser Reise soll doch Früchte tragen. Und dir bei den langen Sitzungen im Maleratelier Gesellschaft zu leisten, wäre doch verlorene Zeit.«

Boissaux ließ ihn kaum ausreden. »Was!« schrie er erbost. »Mit den schönen sechzig Napoleons soll's noch nicht genug sein? Ich, Johann Thomas Boissaux, Vizepräsident der Handelskammer, soll noch obendrein meine kostbare Zeit bei diesem kleinen Maler versitzen?«

Valentine nahm es ihm übel, daß er von Feder so geringschätzig sprach. Delangle aber fuhr seinen Schwager an:

»Bist du des Teufels? Er hat es seinerzeit sogar abgelehnt, die Prinzessin N ... in ihrer Wohnung zu malen, trotzdem sie ihm an die viertausend Franken für ein größeres Porträt bot. Alle müssen in sein Atelier kommen, selbst die Damen aus den höchsten Kreisen. Er hat hinten im Hofe sogar einen gedeckten Schuppen bauen lassen, wo die prächtigen Wagenpferde während des Besuches eingestellt werden. Doch das tut alles nichts zur Sache. Er hat seine Eigenheiten, wie jedes Genie, und hat mich gern. Ich darf es daher wagen, ihm mit einer Bitte zu kommen. Du aber, verehrter Schwager, hüte deine lose Zunge vor ihm. Überlege dir genau, was du sagst. Wie leicht sagt man oft etwas hin und bedauert es nachher, wenn es zu spät ist.«

»Verdammt noch einmal! Ich, Johann Thomas Boissaux, soll Gott weiß was für Rücksichten nehmen, damit ich ihm nicht zu weh tue! Diesem Farbenschmierer!«

»Siehst du, schon wieder bist du grob und verletzend. Das lassen sich vielleicht die Leute von Bordeaux bieten, wo jeder Mensch bis zum kleinsten Schusterbuben herunter deinen drei Millionen schweren Geldsack kennt. Hier in Paris aber, wo man sich gegenseitig nicht kennt, beurteilt man einen Menschen nach seiner Kleidung. Und du wirst doch nicht bestreiten wollen, verehrter Schwager und Vizepräsident der Handelskammer, daß er dir da um ein ganz winziges Bändchen voraus ist?«

»Hör' auf, Schwager! Du könntest mir auch etwas Angenehmeres sagen. Ich bin ganz und gar nicht einverstanden, daß man das Kreuz solchen Habenichtsen gibt. Die Regierung wird sich schneiden, wenn sie glaubt, daß sie auf solche Weise eine neue Klasse von Adeligen schaffen kann. Die Grundbesitzer vor allem muß das Volk respektieren ... Übrigens drehst du dich wie eine Wetterfahne. Gestern – es ist nicht länger her – warst du über die Unverschämtheit der Pariser Arbeiter ebenso entrüstet wie ich.«

III

Diese abgeschmackte Unterhaltung war lediglich ein schaler und vergröberter Abklatsch der Gespräche, die tatsächlich in den Pariser Salons, auch in den vornehmsten geführt werden. Jeder kann sich dort überzeugen, daß selbst Leute mit allerersten Namen sich als hochnotpeinliche Richter aufspielen, wenn es ihr Vorteil erheischt. Die scheinheilige Predigt Boissaux' hätte noch lange gedauert, wenn der Wagen nicht bei Tortoni stehen geblieben wäre. Valentine war so verträumt, daß sie auszusteigen zögerte.

»Aber Kind! Warum denn?« fragte sie gönnerhaft und gutgelaunt der Vizepräsident der Handelskammer.

Valentine suchte nach einem Vorwand.

»Ich habe einen ganz alten Hut auf.«

»Na, zum Teufel! Dann wirf ihn beim Fenster hinaus, diesen Deckel, und kauf dir zwei andere. Was hat das für mich zu bedeuten, ob ich auf der Reise zwanzigtausendzweihundert Franken oder zwanzigtausendvierhundert ausgebe! Ich habe eine schöne Frau und will mit ihr Ehre einlegen. Das kann ich mir schon leisten.«

Valentine stieg aus dem Wagen und nahm den Arm ihres Gatten.

Feder lungerte eben inmitten einer Schar unternehmungslustiger Freunde, die bei Tortoni Stammgäste waren, in der Nähe des Eingangs herum. Die Erwartung, daß der reiche Provinzler, der in Paris mit seiner Frau und seinen Waren auftrumpfen wollte, sich bei Tortoni einfinden würde, hatte ihn hergetrieben. Denn in der Erinnerung war ihm das Geschrei des Mannes nicht mehr so wüst und die Unterhaltung nicht mehr so abgeschmackt vorgekommen. Er hatte sich durch den treuherzigen und lebhaften Blick der jungen Frau reichlich entschädigt gehalten. Kaum zwei Stunden waren seit dem Augenblick verflossen, da er die Einladung so schroff abgelehnt hatte, und schon sagte er sich: »Ich muß dieser kleinen Frau unbedingt auf den Grund kommen. Mehr als drei Tage wird das nicht in Anspruch nehmen. Danach mag ihren gräßlichen Mann und ihren Bruder der Teufel holen. Dadurch, daß ich meine Neugierde befriedige, werde ich mich von der Geziertheit meiner Ateliersschönen erholen und von dem eintönigen Verkehr mit den kleinen Mädels, die ich Sonntags als Ladenjüngling zum Tanz führe.«

Kaum wartete er aber bei Tortini, als seine Stimmung umschlug. Er bebte zurück, wenn er an Valentine dachte. Um sich aber die volle Wahrheit nicht eingestehen zu müssen, sagte er sich: »Ganz gewiß werde ich mich hüten, diese kleine Pensionärin, die den Klostermauern kaum entschlüpft ist, näher an mich zu fesseln. Kaum hätten wir die ersten Worte miteinander gewechselt, würde sie mich mit vielen erbärmlichen Albernheiten, die die Nonnen in die Köpfe ihrer Zöglinge hineinstopfen, zur Verzweiflung bringen. Ich werde mich sicher nicht damit abgeben, diesen Boden urbar zu machen und die Verschrobenheiten zu entfernen. Damit am Ende irgendein reicher Weinhändler aus Bordeaux sich als mein Nachfolger darüber freut. Aber viel ärger übrigens ist noch ihr Mann, mit seiner gräßlichen Baßstimme, die einem das Trommelfell sprengt und alle Nerven aufpeitscht. Wenn man spricht, warte ich gegen meinen Willen nur darauf, daß er wieder zu brüllen anfängt. Bei meinen kleinen Sonntagsmädeln brauche ich nicht zu fürchten, daß mir Ehemänner auf die Nerven gehen. Sie sind gewöhnlich, das ist wahr. In ihrer Armut denken sie häufig über den Preis eines Hutes oder über ein Speisenrezept nach. Das kann mich wohl langweilen, aber nicht ärgern, während es mich in allen Fingern juckt, wenn ich den bäurischen Stolz und herrischen Dünkel dieser beiden reich gewordenen Provinzler sehe. Nächstesmal werde ich gleich nach der Begrüßung zu zählen anfangen, wie oft der Gatte pathetisch wiederholen wird: Ich, Johann Thomas Boissaux, Vizepräsident der Handelskammer! Es würde mich reizen, diesen Menschen einmal inmitten seiner Angestellten zu überraschen. Ein Pariser, wenn er reich geworden ist, versucht es wenigstens, seine Eitelkeit zu verbergen und nicht zu laut zu sprechen, aber so ein Provinzler... Nein! Die schöne Valentine könnte noch so reizend sein – daß sie einen solchen Mann hat, macht sie für mich unerreichbar. Sein ›liebenswürdiges‹ Betragen ist tatsächlich herzerfrischend und macht jeden Haremswächter überflüssig! Und wenn sie zu mir in das Atelier kommen wird, die kleine Frau, werden bald alle meine Luftschlösser, die ich um sie und mich herum gebaut habe, in nichts zerrinnen, so dumm wird sie daherreden und ihre äußere Schönheit Lügen strafen. Doch im Grunde ist nur zweierlei schön an ihr: Die Augen, wenn sie sich vertiefen, um ihren Worten Nachdruck zu geben. Mir kommt es dann immer vor, als wenn aus einem Gassenhauer plötzlich mozartähnliche Klänge emporwüchsen. Wer könnte das aber malen? Und zweitens: Ihre Gesichtszüge, vor allem die ruhige, ja fast strenge Partie um die Stirne und die wollüstige Zeichnung des Mundes, insbesondere der Unterlippe. Ich werde mir nicht nur das Porträt kopieren, sondern will auch noch Eugen Delacroix inständigst bitten, daß er sich in einem Winkel des Ateliers hinter einer spanischen Wand versteckt und ihren Kopf skizziert. Er könnte diese Zeichnung als Vorstudie für eine Kleopatra verwenden, die aber ganz anders aufgefaßt wäre, als die Kleopatra, die von ihm auf der letzten Ausstellung zu sehen war. Herrgott! Es ist doch blödsinnig, daß ich mir soviel Sorgen mache. Ich werde mich einfach nicht weiter mit dieser kleinen Frau einlassen, die ihr reizender Gatte so gut beschützt, sondern werde dem einzigartigen Modell, das mir der Zufall beschert, Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

Diese Gedanken beschäftigten Feder so sehr, daß er den Wagen, der eben vorgefahren war, nicht merkte. Aber der Maler in ihm erwachte, als er die entzückende Gestalt eines jungen Weibes graziös die Treppe zum Café ersteigen sah. Kaum hatte er ihren Hut schärfer in das Auge gefaßt, da bekam er Herzklopfen und verfärbte sich. Hastig sah er den Mann an, der sie am Arm führte. Wahrhaftig. Dieser ungeschlachtete Riese, mindestens fünf Fuß und sechs Zoll hoch und unförmlich dick, war tatsächlich der ehrenwerte Vizepräsident der Handelskammer. Feder wandte seinen Blick wieder der jungen Frau zu. Sie durchquerte das Café und stieg die Treppe hinan, die im Hintergrund zu den Gesellschaftsräumen im ersten Stockwerk führte. Immer neue Reize entdeckte er an ihrer Gestalt, als sie dahinschritt, Reize, die ihm verborgen geblieben waren, solange er sie betrachtet hatte, ohne sie zu erkennen. Und er freute sich grenzenlos.

»Diese Kleinstädterin macht mich wieder jung«, fuhr es ihm durch den Kopf, trotzdem er noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahre alt war. Dieses Erlebnis hatte für ihn als Künstler unendliche Bedeutung, denn um nachhaltige Erfolge in Literatur und Kunst zu erringen, bedarf es stets ähnlicher Begeisterung. Er war seelisch und körperlich gealtert, während ihn die kluge Rosalinde zum Weltmann erzogen hatte und er unter ihrer Leitung zu einem gewandten Schauspieler geworden war. Jeder Gebärde enthielt sich der Arme. Wenn er einmal auf dem Boulevard stehen blieb, um mit einem Freunde zu sprechen, so tat er das nur, nachdem er schnell gewohnheitsmäßig überlegt hatte: »Schickt sich das auch?« Seit der Zeit, da ihn Rosalinde derartig gebändigt hatte, legte er sich wohl zum ersten Male diese Frage nicht vor, als er hastig, stets zwei Stufen auf einmal nehmend, hinter der reizenden Person, die er zu flüchtig gesehen hatte, die Treppe bei Tortoni hinaufeilte. Valentine hatte sich an einem Ecktisch im Hintergrunde niedergelassen. Feder hielt es für überflüssig, sich die lärmende Unterhaltung der beiden Männer mitanzuhören und nahm an einem Tische Platz, von dem er die junge Frau gut sehen konnte, andrerseits aber durch die Hüte von zwei Frauen in seiner Nachbarschaft ihrem Blick entzogen war. Da träumte er nun still vor sich hin. Seine Gedanken wanderten zurück und er lächelte traurig, als ihm einfiel, daß er gerade vor acht Jahren, als er dem armen »Kleinen Matrosen« nachgestiegen war, ganz ähnlich empfunden hatte. Aber er erwachte jählings, denn eine wilde Stimme brüllte ihm ins Ohr:

»Nun, lieber Freund?«

Gleichzeitig legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Alle Gäste des Saales wandten sich auf diesen lauten Ruf hin um. Die Hüte der Frauen gerieten in Bewegung. Herr Boissaux hatte seinem lieben Freunde Feder eine Artigkeit erweisen wollen. Lächelnd näherte sich hierauf der junge Künstler dem Tische, an dem Valentine saß. Aber das Lächeln verlor sich und wich unversehens einer ernsten und tiefen Verblüffung. Er forschte in den Zügen Valentines, die er doch erst vor wenigen Stunden verlassen hatte, aber er vermochte sie kaum wiederzuerkennen, so sehr unterschied sich das, was er jetzt sah, von dem phantastisch übertriebenem Bild, das seine Einbildungskraft ihm vorgespiegelt hatte. Er bemühte sich, Zug um Zug dieses Bild auf seine Richtigkeit hin zu prüfen und horchte kaum auf den Schwall freundschaftlicher Redensarten, mit dem ihn Delangle überschüttete. Ganz zweifellos hatte er darin die Einleitung zu irgendeinem besonderen Vorschlag zu sehen, den ihm jener machen würde. Aber er sagte sich: »Wenn er damit herausrückt, werde ich mich noch immer zeitig genug darum kümmern können«, und durchforschte einstweilen die Gesichtszüge Valentines mit dem geübten Blick des Porträtisten. Er erschrak. Denn er fand, insbesondere an der Stirne, Linien, wie sie des öfteren an antiken Skulpturen wahrzunehmen sind, und die fast stets auf Unbeugsamkeit schließen lassen, auf eine Beharrlichkeit, die an einer beschlossenen Maßnahme unbedingt festhält.

»Wie mir ihr Bruder sagte, ist sie fromm. Wenn ich ihr daher andeute, daß ich sie schön finde, ist sie imstande, mir den Verkehr mit ihr zu verbieten und an diesem Entschlusse festzuhalten.« Ein solcher Gedanke hatte wohl manches Bedenkliche, anderseits aber war er so neuartig, daß er Feder reizte. Da riß ihn Delangle aus seinen Träumen. Jäh und unvermittelt schlug er ihm vor, Valentine im Hotel, wo sie wohnte, zu malen. Er sagte nicht »Frau Boissaux« oder »meine Schwester«, sondern schlicht und einfach »Valentine«.

Der junge Künstler ward von dieser Vertraulichkeit so ergriffen, daß er anfänglich zusagte. Aber ein wenig später zauderte er und fand plötzlich tausend Schwierigkeiten. Doch sie sah ihn forschend an und blieb trotz aller seiner Anstrengungen einsilbig und wortkarg. In seiner Unruhe verrannte er sich nun in Ungereimtheiten und redete, nur um das Bildnis nicht außerhalb seines Ateliers machen zu müssen, so wirr daher, daß sein Benehmen Delangle auffiel. Er neigte sich zu seiner Schwester und sagte ihr:

»Er ist zerstreut. Offenbar ist irgendeine schöne Frau im Saal, die ihn beschäftigt.«

Die junge Kleinstädterin wandte sofort ihren Kopf und sah forschend und neugierig von einer Frau zur andern. Eine von ihnen, mit edlen Gesichtszügen und prächtiger Gestalt, ließ unseren Helden nicht aus den Augen.

Es war eine deutsche Prinzessin, die er einmal gemalt hatte, und die nun an seiner Gewohnheit, seine Modelle niemals zu grüßen, selbst wenn er recht intim mit ihnen war, Anstoß nahm.

Während der Unterredung, die fast eine Stunde dauerte, unterhielt sich der ganze Saal köstlich über die beiden Schreihälse aus der Provinz. Feder war fast gerädert, als Boissaux und Delangle schließlich übereinkamen, daß sie auf alle Fragen antworten würden, es handle sich bei diesem Bilde um eine Wette. Dieser Umstand sei eine hinreichende Rechtfertigung seines Entschlusses, außerhalb seines Ateliers zu arbeiten.

Mit einem Male erinnerte sich Feder an seine Absicht, den liebenswürdigen Eugen Delacroix den Sitzungen beizuziehen, und rief: »Aber ich habe ja den begabten jungen Maler vergessen, der so schwer zu tragen hat, weil er seine Mutter und vier Schwestern erhalten muß. Ich habe es mir fest vorgenommen, ihm an bestimmten, vorher vereinbarten Tagen in der Woche kostenlos Unterricht zu geben. Er arbeitet still und bescheiden in einer Ecke und ich sehe mir dann jede Viertelstunde flüchtig an, was er gemalt hat. Er ist äußerst schweigsam und manierlich. Ich bitte also, mir zu gestatten, daß ich ihm irgendeinen Winkel in dem Zimmer anweise, wo ich den Vorzug genießen soll, die gnädige Frau zu malen.«

Die erste Sitzung fand am nächsten Tage statt. Weder Maler noch Modell tat den Mund dabei auf. Aber sie hatten Vorwände genug, um sich gegenseitig anzusehen und machten von dieser Freiheit fleißigen Gebrauch. Feder lehnte hernach die Einladung des reichen Provinzlers zum Speisen zwar ab, da jedoch abends in der Oper ein neues Stück zum ersten Male aufgeführt wurde, nahm er den Antrag an, sich die Vorstellung in der Loge Boissaux's anzusehen.

Feder und Valentine langweilten sich bei der Vorstellung, wie man sich in der Oper eben zu langweilen pflegt. Wer aber Geist und Phantasie besitzt, die den Durchschnitt ein wenig überragen, wird nicht nur Langweile, sondern direkt Überdruß empfinden. Feder und Valentine fingen allmählich miteinander zu sprechen an. Ihre Unterhaltung war bald so zwanglos wie zwischen alten Freunden. Sie unterbrachen sich oft gegenseitig mitten im Wort und freuten sich ganz offenkundig, wenn sie einander eines Irrtums zeihen konnten. Zum Glück waren Boissaux und Delangle zu schwerfällig, um erraten zu können, daß die beiden sich so gehen ließen, weil einer dem andern vertraute. Wäre Valentine erfahrener gewesen, so hätte sie zweifellos verhütet, daß die Unterhaltung mit ihrem Partner, den sie erst seit drei Tagen kannte, derartig vertraulich wurde. Aber das Leben hatte sie noch nicht weiter geführt als zu Verwandten ihres Mannes, und seit ihrer Ehe hatte sie nur das Dutzend von Einladungen und Festlichkeiten als Hausfrau mitgemacht, die Boissaux bei sich veranstaltet hatte.

Bei der zweiten Porträtsitzung unterhielten sie sich sehr lebhaft und vollkommen ungezwungen. Delangle und Boissaux traten oft ein, um ebenso rasch das Schlafzimmer Valentines, das man notgedrungen zum Atelier bestimmt hatte, wieder zu verlassen. Dieses Gemach war das einzige, das nach Norden lag und daher stets gleichmäßiges Licht hatte.

»Sagen Sie mir doch,« fragte Valentine ihren Maler, »aus welchem Grunde haben Sie sich denn umstimmen lassen und sich bereit erklärt, hierher zu kommen, um mich zu malen?«

»Weil ich mit einem Male merkte, daß ich Sie liebte.« Erst als Feder diese befremdliche Antwort ausgesprochen hatte, kam ihm zum Bewußtsein, was er wagte. Aber gleichmütig sagte er sich: »Mag geschehen, was will. Mag sie ihren Mann rufen, damit er sie nicht mehr allein lasse. Dann werde ich durch die reizenden Manieren dieses Menschen wenigstens schnell von den lächerlichen Ausgeburten meiner Phantasie erlöst werden und keinen Kummer empfinden, wenn der Tag ihrer Abreise von Paris herannaht.«

Als Valentine die sonderbare Antwort vernahm, die Feder in herzlich überzeugendem Tone und mit so ruhiger unbewegter Stimme hervorgebracht hatte, als ob er etwa auf die Frage: "Gehen Sie morgen auf das Land?« geantwortet hätte, da war sie im ersten Augenblick tiefbewegt und freute sich grenzenlos. Ihre Augen weiteten sich. Nicht der geringste Zug in seinem Antlitz entging ihrem Blick. Gar schnell aber schlug sie die Augen nieder und verriet durch eine jähe Bewegung ihren Zorn.

»Wie kann er es nur wagen,« sagte sie sich, »mir in einem solchen Tone ein Gefühl anzuvertrauen, das mir gegenüber eine Unverschämtheit bedeutet! Mein Betragen muß doch ziemlich leichtsinnig gewesen sein, denn sonst hätte er wohl nie den Vorsatz zu einem derartigen Geständnis fassen können. Tat er das aber mit Vorsatz? Nein,« sagte sie sich, wagte aber bei diesem Umstand, der zu seiner Entschuldigung hätte dienen können, nicht stehen zu bleiben, sondern erwog hastig, was sie ihm erwidern sollte.

»Ich hoffe, mein Herr, daß sich Derartiges nicht wiederholt, sonst müßte ich plötzlich krank werden – Ihre Keckheit wäre übrigens Grund genug dazu –, und müßte jeden Verkehr mit Ihnen abbrechen. Und das Bild würde unvollendet bleiben. Wollen Sie bitte in Zukunft mit mir nur sprechen, wenn es unbedingt notwendig ist.«

Valentine war aufgestanden, bevor sie noch geendet hatte und näherte sich dem Kamin, um ihrer Kammerzofe zu läuten. Denn sie wollte ihr den Auftrag geben, Boissaux oder ihren Bruder Delangle herbeizuholen, damit sie mit ihnen einen kleinen Ausflug in die Umgebung von Paris verabreden könnte. Sie hatte schon die Glockenschnur erfaßt, als sie sich sagte: »Lieber nicht, sie könnte in meinen Augen lesen.« Der Gedanke, gänzlich mit Feder zu brechen, erschien ihr bereits unerträglich.

Er seinerseits fühlte sich versucht, den Fehdehandschuh aufzunehmen. »Nie mehr« sagte er sich, »werde ich auf eine so glänzende Art von dieser jungen Frau loskommen! Es ist ganz gut möglich, daß ich der erste Mann bin, der sie so stürmisch begehrt. Sie wird also ihr ganzes Leben lang an dieses halbfertige Bildnis denken müssen.« Feder pflegte stets mit äußerster Schnelligkeit zu handeln, denn er war keine bedächtige Natur. Und da er in diesem Augenblick den brennenden Wunsch fühlte, in seiner Liebeserklärung fortzufahren und sich hinauswerfen zu lassen, so suchte er hastig nach einigen hochtrabenden Worten. Nachhaltig sollten sie sich ihrem Herzen einprägen und in ihren Folgen unabsehbar sein. Er behielt die junge Frau im Auge, als sie zum Kamin eilte. Würde sie läuten? Er wandte keinen Blick von ihr, während er nach tönenden und pathetischen Worten suchte. Da wandte sie sich ein wenig zur Seite. Er hatte sie fast immer nur von vorne gesehen.

»Wie fein und schön ist doch der Schnitt dieser Nase!« jubelte seine Malerseele. »Und wie leidenschaftlich muß sie nach ihrem Gesichtsausdruck lieben können!« jauchzte sein liebestolles Herz. »Meine Worte würden ihr zweifellos Eindruck machen – aber ich verscherze mir die Möglichkeit, sie zu sehen. Wer bürgt mir, daß ich in achtundvierzig Stunden darüber nicht unglücklich sein werde? Deshalb muß ich mich ihr zu Füßen werfen, sie um Gnade bitten, weil ich sie so verächtlich behandelt habe und es im übrigen dem Schicksal anheimgeben, ob sie mir künftig ihre Türe verschließt.«

»Ich bin untröstlich, meine Gnädigste, und bitte Sie inständigst und untertänigst, mir meine Unbesonnenheit zu verzeihen.«

Als Valentine dies hörte, wandte sie sich ihm zu und vermochte ihre große Freude nicht zu verbergen. Wie ein Stein fiel es ihr vom Herzen, weil es nun nicht nötig war, ihn hinauszuweisen oder nur in Gegenwart ihres Mannes oder ihrer Kammerzofe zu sprechen. Feder war überrascht. »Mit welcher Schnelligkeit doch ihr Gesichtsausdruck die Gefühle ihres Herzens widerspiegelt! Die alberne Kleinstädterin, für die ich sie hielt, ist sie ganz gewiß nicht. Ich wollte ihrer Eitelkeit schmeicheln, indem ich um Verzeihung bat. Das ist mir geglückt. Nun heißt es, die Dosis zu verdoppeln.«

»Gnädigste,« rief er in größter Zerknirschung, »vor Ihre Füße möchte ich mich werfen und Sie anflehen, daß Sie mir meine Unüberlegtheit und mein freches Betragen verzeihen, wenn ich nicht fürchtete, daß Sie mein Benehmen fälschlich wieder als Keckheit auffassen. Ich zittere bei diesem Gedanken. Als ich mit Ihnen sprach, war ich so in meiner Arbeit vertieft, daß ich laut zu denken begann. Und so drängte sich mir, ohne daß ich es wollte, ein Geständnis auf die Lippen, das ich nicht hätte machen dürfen. Seien Sie doch gnädig und vergessen Sie meine Worte! Ich hätte sie nicht aussprechen sollen und bitte Sie nochmals inständigst um Entschuldigung.«

Valentine war, wie gesagt, des Lebens vollkommen unkundig. Und außerdem verriet sie durch ihren Blick und ihr Mienenspiel alles, was sie sich dachte. Das ist ein Mißgeschick, ohne Zweifel, aber nichts macht eine Frau verführerischer. So blieb auch Feder nicht ungerührt, als er mit dem Blick des erfahrenen Mannes ihr verzeihendes Lächeln erspähte. Ja, er ward fast trunken vor Freude. »Ich habe ihr nicht nur gestanden, daß ich sie liebe,« sagte er sich, »sondern weiß nun auch, daß sie mich liebt. Zumindest bedarf sie meiner, um die Rauhbeinigkeit ihres Mannes zu vergessen, die ihr nicht entgangen ist. Was für eine Entdeckung habe ich da gemacht! Ich werde sie künftig nicht mehr verachten, wenn dieser ungeschliffene Provinzler mich durch seine alberne und gräßliche Taktlosigkeit ärgert. Denn, sie kann ja nichts dafür, daß er sich so lächerlich benimmt, weil sein Geld ihm in den Kopf gestiegen ist. Ich bin froh! Es wäre schade, ihre Stimmung ungenützt vorübergehen zu lassen.

»Wenn ich hoffen dürfte, meine Gnädigste,« sprach er zu Valentine, »daß Sie meine törichte Unbesonnenheit, die mich laut denken ließ, vergessen, so wäre mein Glück vollkommen.«

Feder rechnete darauf, daß die kleine Frau den Doppelsinn seiner Worte in ihrer ländlichen Einfalt nicht merken würde. Aber diesmal verrechnete er sich. Valentine war feinhörig. Sie zog die Stirne in Falten und antwortete ihm mit Festigkeit:

»Sprechen wir von etwas anderem, mein Herr.«

IV

Feder gehorchte ihr, ohne zu zögern. »Bitte, gnädige Frau, drehen Sie sich ein ganz klein wenig mehr nach rechts. Der Arm, der sich auf den Lehnstuhl stützt, gehört etwas näher zu mir her. Der Kopf ist etwas zu sehr vorgebeugt. Sie haben nicht mehr ganz die gleiche Stellung wie anfangs, als wir begonnen haben.«

Valentine nahm die gewünschten Änderungen zwar vor, aber sie tat es ein wenig trotzig und kalt. Ein Schweigen senkte sich hernach auf die Liebenden herab, das nicht ohne Reiz war. Von Zeit zu Zeit hörte man die Stimme Feders:

»Gnädigste! Sehen Sie mich, bitte, an!«

Als die Sitzung beendet war, zauderte er nicht, die Einladung zum Diner anzunehmen. Auch den Logenplatz für die Theatervorstellung am Abend lehnte er nicht ab. Aber gelegentlich sagte er zu Delangle:

»Es war von mir ein großer Fehler, daß ich auf den freiwerdenden Sitz der Akademie rechnete. In dem Hause, wo das schwerkranke Mitglied der Akademie wohnt, ist ein Anwärter mit Unterstützung eines Freundes in einem Zimmer im sechsten Stock untergekommen. Über den Kranken kann ich mich heute abend nicht beklagen, denn es steht schlecht mit ihm. Aber zwei Kollegen von ihm, die meinem Förderer versprochen hatten, daß sie mir ihre Stimme geben würden, scheinen neuerdings für meinen Nebenbuhler eintreten zu wollen. Er ist nämlich ein Verwandter des Finanzministers, der gestern ernannt worden ist.«

»Das ist doch eine Gemeinheit!« brüllte Delangle wutentbrannt.

»Was ist da gemein, du Tölpel?« fragte sich Feder und dachte insgeheim: »Nun kann ich schweigen und träumen, soviel ich mag. Jeder wird glauben, daß an meiner Niedergeschlagenheit diese Akademiegeschichte schuld ist.« Zufrieden und glücklich beschäftigte er sich von da ab ausschließlich damit, Valentine bewundernd anzustaunen.

Bald darauf vernahm er, wie Boissaux mit einer Stimme, die vor Neid und Mißgunst zitterte, zu seinem Schwager sagte:

»Teufel! Ritter der Ehrenlegion und im selben Jahre Mitglied der Akademie! Der Bursche ist nicht von Pappe!« Der Vizepräsident der Handelskammer hatte sich bemüht, leise zu sprechen. Aber seine Bemerkung war in den Nachbarlogen wohl vernommen worden. Nach zwei oder drei Minuten fuhr er fort:

»Es ist wahr. Seine Bilder werden von nun an den Besitzern mehr Ehre einlegen, wenn er Mitglied der Akademie ist.«

Valentine war ebenso einsilbig wie Feder. Aber ihr Blick verriet Befangenheit. Und wenn sie sprach, so zeigte ihre Stimme die Merkmale tiefster Bewegung. Trotz seiner lebhaften Versuche, die Veranlassung zu dem verletzenden Überfall zu verschleiern, konnte sie sich von dem reizvollen Gedanken nicht freimachen: »Es war nicht Dünkel, der den armen Jungen dazu trieb, mir eine Liebeserklärung zu machen. Es war auch nicht Unverschämtheit. Er tat es vielmehr, weil er mich wirklich liebt.« War sie jedoch in ihren Schlußfolgerungen soweit gekommen, dann erinnerte sie sich stets an seine eifrigen Ableugnungsversuche und suchte nach einer endgültigen Entscheidung. Die war so schwer zu fällen, daß sie alle ihre Geisteskräfte zu Hilfe nehmen mußte.

Aber ihr Herz pochte und pochte. Und die leisen Zweifel wollten nicht weichen. So war sie nicht imstande, sich über diese gräßliche Sache, die man draußen in der Provinz »Liebeserklärung« nennt, Klarheit zu verschaffen und ward plötzlich von brennender Neugierde erfaßt, die Lebensgeschichte Feders kennen zu lernen. Sie erinnerte sich, daß in jenen Tagen, da ihr Bruder ihr zum ersten Male seine Ansicht, sie malen zu lassen, mitgeteilt hatte, er ihr wörtlich gesagt hatte: »Ein junger Maler wird dich malen. Er ist fabelhaft begabt und hat in der Oper die größten Erfolge!« Sie schreckte davor zurück, Delangle wieder daran zu erinnern und ihn um nähere Einzelheiten auszuforschen. Trotzdem aber suchte sie seine Gesellschaft und wandte ihre ganze Geschicklichkeit auf, um ihn in unauffälliger Weise über den jungen Maler und sein Glück auszuforschen.

Boissaux wünschte nichts sehnlicher, als für zwei Monate eine Loge in der Oper zu mieten. Er träumte davon, am Tage darauf allen in Paris versammelten Bekannten aus seiner Heimat ein großes Festessen zu geben und sich um acht Uhr stolz mit den Worten zu verabschieden: »Ich habe eine geschäftliche Verabredung in meiner Loge in der Oper.« Valentine schürte sein Feuer, denn auch in ihr war plötzlich die Leidenschaft erwacht. Sie sagte zu ihrem Mann:

»Nichts ärgert mich so, wie diese dumme Überhebung der reichen Pariser. Sie fühlen sich weiß Gott wie erhaben über Leute wie wir, die nicht in der Hauptstadt zu Hause sind, es mit ihnen aber in jeder Beziehung aufnehmen können. Ich glaube, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt, um in dem Kreise dieses hochnäsigen Adels aufgenommen zu werden: Wir müssen entweder in dem Stadtviertel, wo die reichen Steuereinnehmer und Bankiers wohnen, ein Haus kaufen oder wenigstens eine Loge in der Oper mieten. Denn nichts setzt uns in den Augen der Leute mehr herab, als wenn sie sehen, daß wir gezwungen sind, jeden Abend unsere Plätze zu wechseln.«

Zum erstenmal in ihrem Leben spottete Valentine insgeheim über ihren Mann und bediente sich, um ihn zu überzeugen, aufgeblasener Redewendungen, die sie innerlich höchst lächerlich fand. Aber ihre leidenschaftliche Begierde nach einer Stammloge verleitete sie dazu. Sie rechnete nämlich damit, im Theater einige Landsleute ihres Mannes, die aus Ballettliebhaberei jeden Tag die Oper besuchten, kennenzulernen und von diesen Gascognern Näheres über die Erfolge Feders zu erfahren. Gascogner sind ja bekanntlich alles eher als verschwiegen.

Der Vizepräsident strahlte vor Freude.

»Endlich!« sprach er zu seiner Frau und nahm zärtlich ihre Hand. »Endlich geht dir ein Licht auf, wie ein Mann wie ich sein Leben einzurichten hat. Warum soll ich, Vizepräsident der Handelskammer, nicht einmal Abgeordneter werden? Geld habe ich ja genug dazu. Portal, Ravez, Martignac und wie sie alle heißen mögen, haben auch nicht anders angefangen. Du wirst sicher bemerkt haben, daß ich mich bei den Einladungen, die wir geben, bemühe, mich als Redner einzuüben. Ich bin im Grunde für den Absolutismus. Das ist die einzige Regierungsform, die ruhige Zeiten gewährleistet und Leuten mit realeren Interessen, wie mich zum Beispiel, Gelegenheit gibt, das Geld mit Scheffeln einzuheimsen. Aber wer gewählt werden will, muß mit den Wölfen heulen. Ich halte ihnen daher öfter ein Zuckerbrot hin, indem ich Freiheit der Presse, eine Wahlreform und ähnlichen Blödsinn befürworte. Zweimal in der Woche übe ich mit einem jungen Rechtsanwalt, der noch keine Praxis hat und mir empfohlen worden ist, die Reden Benjamin Constants ein. Der ist jetzt berühmt. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Da hat kein Hahn nach ihm gekräht. Unserem Freund Feder geht es anders!«

Valentine erbebte, als sie den Namen des Malers vernahm, Boissaux aber fuhr fort: »Herr N**, Standesherr von Frankreich, hat mir gesagt, daß man sich erst für einen Staatsmann halten darf, wenn man für eine fremde Meinung wie für seine eigene eintreten kann. Den Anfang damit habe ich schon gemacht. Wenn nämlich der junge Rechtsanwalt zu mir kommt und mit mir die Staatsgrundgesetze durchnimmt, dann stelle ich mich, als ob ich mit den Lehren seines Benjamin Constant – der Kerl muß dem Namen nach ein Jude gewesen sein – völlig einverstanden wäre. So mache ich mich innerlich über den grünen Jungen lustig und bin ihm weit überlegen. Herr N**, Standesherr von Frankreich, hat recht, wenn er sagt: ›Wer einen anderen übers Ohr haut, zeigt damit, daß er der Gescheitere von beiden ist.‹«

Feder mietete bald darauf eine Loge für das Ehepaar und suchte dann eilig in dem Stadtteil, wo die Steuereinnehmer und Bankiers wohnten, nach einem passenden Haus. Diese Hast aber behagte der jungen Frau nicht, denn sie war sich noch nicht im klaren, wo sie wohnen wollte. Sie nahm sich deshalb vor, mit Feder über diese Angelegenheit zu sprechen. Die Redeflut, mit denen ihr Mann seine Gäste stets überschüttete, tobten ungehört an ihren Ohren vorüber. Wenn Feder an den Mahlzeiten teilnahm – und er war fast stets anwesend –, so war sie taub für die Unterhaltung der Tafelnden. Die gewagtesten Bemerkungen verhallten wirkungslos, auch vor ihm, denn seine Gemütsverfassung war eine ähnliche. Die Blicke, die das Liebespaar sich zuwarf, sprachen eine viel wärmere Sprache als ihre Worte. Hätte ein Stenograph ihr Geplauder wörtlich festgehalten, so wäre es von ihm voraussichtlich bloß als Austausch von Höflichkeitsphrasen gewertet worden. Ihre Augen aber sagten sich ganz andere Dinge. Sie redeten miteinander in einer Sprache, die nicht mehr irdisch war.

Bei einem der Diners, die Herr Boissaux gab, um bei seinem vorzeitigen Aufbruch sagen zu können: »Ich bitte die Herren um Entschuldigung. Leider muß ich Sie verlassen, weil ich eine geschäftliche Verabredung in meiner Loge in der Oper habe«, – bei einem dieser Diners fiel es einigen Gästen auf, daß die junge Frau bei allem, was man sprach, den Künstler so ängstlich fragend ansah, als wollte sie stets von ihm Bescheid haben. Feder wich diesem stummen Zwiegespräch nicht aus, sondern gab sich alle Mühe, der geliebten Frau beizubringen, wie man über Paris und alles, was die Hauptstadt betraf, zu denken hatte. Nicht um alles in der Welt hätte er geduldet, daß sie die verrückten oder zumindest geschmacklosen Bemerkungen, die sich ihr Mann ununterbrochen leistete, wiederholt hätte.

Die besagten Kleinstädter waren viel zu ungehobelte Naturen, als daß sie daran gedacht hätten, das zartbesaitete Gemüt der jungen Frau zu schonen. Kaum hatte Boissaux mit Feder, den er unterwegs absetzen wollte, den Saal verlassen, als sie, in dem Wunsche, noch öfters zu derart köstlichen Diners eingeladen zu werden, derb und hastig Feder zu preisen begannen. Frau Boissaux wurde durch diese Lobeshymnen zu Ehren des jungen Malers merkwürdigerweise nicht verletzt, obwohl ihre empfindliche Seele doch sonst in der Öffentlichkeit die leisesten Absichten merkte. Einer von den Schmarotzern, der sich durch die Unverschämtheit seiner Lobsprüche am lautesten hervorgetan hatte, ward für den gleichen Abend in die Oper gebeten und obendrein in der Liste der für das nächste Diner einzuladenden Persönlichkeiten nicht vergessen.

Feder war weit davon entfernt, die Empfindung, die er für sie hatte, etwa zu überschätzen. Ja, er bemühte sich im Gegenteil, was er fühlte ein wenig vor sich herabzusetzen, wenn er dies auch unbewußt tat, und vertraute fest darauf, in kürzester Zeit seine Ausflüge zu den sonntäglichen Bällen in der Umgebung von Paris wieder aufnehmen zu können. Seit ihm mit solcher Gelassenheit vor Valentine das Wort »Liebe« entschlüpft war, hatte er nie mehr Ähnliches über seine Lippen gebracht.

»Sie muß mich bitten, wenn sie dieses Wort wieder von mir hören will!« sagte er sich anfangs. Tatsächlich aber war der Grund, der seine Zurückhaltung veranlaßte, ein anderer. Der überaus herzliche Ton, der seinen Verkehr mit Valentine auszeichnete, tat ihm außerordentlich wohl. An einer schnellen Änderung dieses Verhältnisses lag ihm gar nichts. »Denn«, so sagte er sich, »im Grunde steht sie noch immer unter der Einwirkung ihrer klösterlichen Erziehung. Will ich einen Schritt weitergehen, so wird dieser Schritt zweifellos die Entscheidung bringen. Entweder flüchtet sie sich nach Bordeaux, wenn ihre Frömmigkeit den Sieg davonträgt. Ich habe dann nicht nur das Nachsehen, sondern bringe mich auch jeden Abend um die köstliche Stunde, die eigentlich meinem Leben den Hauptinhalt gibt. Oder sie fügt sich und tritt in die Fußtapfen ihrer Vorgängerinnen. Dann werde ich ihrer binnen einem oder zweier Monate überdrüssig sein. Sie wird mich nicht mehr reizen, sondern nur langweilen. Ich werde mir ihre Vorwürfe anhören müssen. Und bald wird der Bruch unausbleiblich sein. Deshalb: ob sie sich nun so oder so entscheiden würde, ich müßte auf jeden Fall jene köstliche Stunde missen, die ich bisher allabendlich genießen kann und deren Erwartung mir das Tagewerk verschönt.«

Valentine sah nicht so scharf wie Feder in die verborgenen Falten ihres Herzens, war sie doch erst zweiundzwanzig Jahre alt und von Kindheit auf von klösterlicher Fürsorge umhegt. Aber allmählich machte sie sich ernstliche Vorwürfe. Lange Zeit hatte sie sich gesagt: »Zwischen mir und Feder gibt es doch nichts gutzumachen.« Dann war sie inne geworden, daß sie sich fortwährend mit ihm beschäftigte, und hatte vollends mit Scham und Reue entdeckt, daß sie ihn sehnsüchtig herbeiwünschte, wenn er fern von ihr war. Einmal hatte sie irgendwo die schlechte Reproduktion eines Bildes gesehen, das einen jungen Mann darstellte, der ihr Ähnlichkeit mit Feder zu haben schien. Sofort hatte sie den kläglichen Druck gekauft, einrahmen lassen und ihn, um jeden Argwohn irrezuleiten, mit mehreren anderen in ihrem Salon aufgestellt. Nicht selten geschah es ihr da, wenn sie allein mit ihren Träumen zu Hause weilte, daß sie das Bild nahm und das Antlitz des jungen Soldaten, dem Feder so ähnlich sah, mit Küssen bedeckte. An der Unterhaltung der beiden Liebenden hätte, wie gesagt, der sittenstrengste und argwöhnischeste Zuhörer nichts auszusetzen gehabt. Der Zwiesprache ihrer Augen allerdings wäre bei genauer Beobachtung manches zu entnehmen gewesen.

Trotz der Gewissensbisse der jungen Frau und trotz aller guten Vorsätze Feders handelten beide wie leidenschaftlich Verliebte, wenn sie es sich auch nicht gestanden. Als Beispiel sei ein Ereignis angeführt, das sich, lange nachdem das Porträt Valentines beendet war, zugetragen hat. Als Valentine eines Tages mit Delangle und noch zwei oder drei Bekannten das Atelier des Künstlers besuchte, benützte Feder einen Augenblick, da die Begleitpersonen in der Betrachtung eines prächtigen Rembrandts vertieft waren, drehte eines der Prunkstücke seiner Galerie um und zeigte Valentine darunter ein prächtiges Ölbild. Es schien eine Nonne darzustellen, doch tatsächlich war es Valentine, die da, meisterhaft getroffen, von der Wand herabblickte. Der jungen Frau stieg bei dem Anblick das Blut in die Wangen, Feder aber gab Fersengeld und hastete schleunigst zu Delangle zurück. Nur wie von ungefähr sprach er beim Abschied in gleichgültigstem Tone zu ihr:

»Es war nicht ohne Absicht, daß ich mir die Freiheit nahm, Ihnen das Bild dieser Nonne zu zeigen. Viel wert ist es in meinen Augen nicht; aber wenn Sie nicht gleich sagen, daß Sie mir das Bild schenken, so trage ich es in den Wald von Mont-Morency und verbrenne es. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

Valentine wandte ihm ihr Köpfchen zu und errötete.

»Nun gut ... Ich schenke es Ihnen.«

Zärtliche Vertraulichkeit sprach aus den Blicken der beiden, eine Vertraulichkeit, die Feder sehnsüchtig noch zu vertiefen trachtete, die aber anderseits Anlaß zu argwöhnischen Beobachtungen hätte geben können. Herr Boissaux war jedoch weit davon entfernt, einen Verdacht zu hegen. Er beschäftigte sich zu sehr mit irdischeren Dingen, als daß in seiner Seele für Einbildungen und Gedankenspuk Raum gewesen wäre. Er dachte in diesem Augenblick lediglich an die zunehmende Macht des Kapitals, an die Abhängigkeit der Regierung von den Kreisen der Finanz, und daß die Ausnahmestellung des Adels, dessen vornehmste Geschlechter in Faubourg Saint-Germain wohnten, den Reichen zugefallen war, die den Ministern gegenüber keck und rücksichtslos ihren Vorteil zu wahren verstanden.

»Draußen in der Provinz«, sagte Boissaux zu seiner Frau, »hat man keine Ahnung, was es zu bedeuten hat, wenn man reich ist. Ich könnte wirklich was Besseres sein, als bloß Vizepräsident der Handelskammer; Wenn ich es nicht für meine Stellung in Bordeaux zweckmäßig gefunden hätte, ein paar Tausender zu opfern, um meiner jungen Frau Paris zu zeigen, so hätte ich niemals geahnt, was man alles zuwege bringen kann. In Bordeaux werde ich künftig für die Pressefreiheit und die Wahlreform Lanzen brechen und auch in Paris für ähnliche Reformen eintreten. Unter allen Umständen aber will ich mich bei den Ministern, die jetzt bei Hof am besten angeschrieben sind, Liebkind machen. Das ist der Weg, auf dem man Generaleinnehmer, Standesherr von Frankreich und sogar Abgeordneter werden kann. Bin ich einmal Deputierter, so wird mir mein kleiner Anwalt ohne Praxis die schönsten Reden von der Welt aufsetzen. Du aber bist sehr schön. Außerdem spiegelt sich in deinen Gesichtszügen die Reinheit deines Charakters. Das gibt dir eine bezaubernde Anmut, die man in Paris sonst nicht zu finden gewohnt ist. Insbesondere nicht bei einer Frau aus der Finanzwelt. So hast du alle Eigenschaften, um Erfolg über Erfolg zu erringen. Wenn du nur willst. Und ich bitte dich nun kniefällig, hab' die Gnade! Tu es mir, deinem Gatten zuliebe! Trachte, ein wenig zu gefallen! Ich habe da zum Beispiel für nächsten Freitag zwei Generaleinnehmer zum Essen eingeladen. Wahrscheinlich essen sie bei sich zu Hause besser als bei uns. Aber antworte ihnen, wenn sie dich fragen, damit die Unterhaltung nicht einschläft. Und falls sie dir Geschichten erzählen, so stelle dich, als ob du ihnen aufmerksam folgen würdest. Vielleicht erinnerst du dich an den fabelhaften englischen Garten, den ich zehn Meilen von Bordeaux entfernt habe anlegen lassen. An den reizenden Ufern der Dordogne, auf einem Grund, den ich nur deshalb gekauft habe, weil er an zwanzig alte Baumriesen trug. Erzähle ihnen davon. Wenn du magst, kannst du noch hinzufügen, daß dieser Park eine genaue Kopie des Parkes ist, den einmal Pope in Twickenham angelegt hat. Wenn du mich aber ganz für dich einnehmen willst, dann erwähne, daß du aus lauter Begeisterung über dieses Naturwunder mich veranlaßt hast, mitten im Park ein Haus bauen zu lassen. Doch nicht ein Schloß. Du mußt ausdrücklich betonen, daß du Dinge, die bloß auf äußerliche Wirkung berechnet sind, nicht ausstehen kannst. Es ist für mich von größter Wichtigkeit, mit den Generaleinnehmern in ein näheres Verhältnis zu kommen. Diese Leute bilden nämlich das Bindeglied zwischen den Kapitalisten und dem Finanzminister. Und von diesem Minister werden wir dann zu den andern gelangen. Es hat also für uns am meisten Bedeutung. Feder hat mich auf diesen Gedanken gebracht. Du hast es in der Hand, wie gesagt. Wenn du nur willst, so kannst du alles, was ich tue und beschließe, entscheidend beeinflussen. Was mich betrifft, so werde ich so tun, als ob ich mich meinen neuen Freunden vollkommen zur Verfügung halte. Das sind alles Leute, die sich nichts abgehen lassen, und ich werde ihnen natürlich nicht nur mit Worten dienlich sein. Schöne Worte hören sie hier in Paris, in dieser Schwatzbude, genug. Die haben sie satt, wie du dir denken kannst. Ich aber werde sie für mich gewinnen, indem ich sie an meinen Transaktionen teilnehmen lasse, mich aber dabei natürlich sichere für den Fall, daß diese Herren mich ein wenig zu stark schröpfen. Als Trumpf werde ich für einen solchen Fall die eigensinnige Laune der reizenden Frau ausspielen, deren geistvolle Liebenswürdigkeit sie sooft bei den Einladungen am Freitag entzückt hat. Auf diese Weise werden sie meinem Geld nicht zu nahe kommen und dabei doch nicht zweifeln, daß ich ernstlich gewillt bin, ihren Interessen zu dienen.«

Dieser Gedankengang Boissaux's ließ klar erkennen, daß Feder in seinem Heldenmut nicht nur das ohrenbetäubende Organ dieses Menschen ertragen hatte, sondern darüber hinaus dazu übergegangen war, ihn bei seiner maßlosen Eitelkeit zu packen und zu bewegen, aus seinen wohlgefüllten Geldsack Vorteil zu ziehen. Feder selbst war nicht reich. Aber er wußte die glücklichen Leute, die mit Glücksgütern gesegnet waren, zu schätzen. Boissaux war daher sicher, von ihm geachtet zu werden, insbesondere, weil er mit ihm ebenso freundschaftlich verkehrte, wie mit seinen neuen Bekannten aus der Finanzwelt, den Generaleinnehmern usw. Mit scheinbarer Gleichgültigkeit (man muß sich diesen tollpatschigen und geldgierigen Boissaux vorstellen, mit welchem Erfolg er sich in dieser Rolle versuchte), hatte er ihm eines Tages verschiedene Papiere gezeigt, die beweisen sollten, daß er tatsächlich von seinem Vater Grundstücke im Werte von – gering gerechnet – drei Millionen geerbt hätte, daß die Mitgift seiner Frau in einer Höhe von neunmalhundertfünfzigtausend Franken, in verschiedenen industriellen Unternehmen von Bordeaux angelegt sei und sie im übrigen noch zwei schwerreiche, kinderlose Erbonkels hätte.

Feder sprach über diese eingehenden Mitteilungen, die für jemand anderen als gerade einen Verehrer recht belanglos gewesen wären, erfahren wie ein Fachmann, und setzte sich durch sein Benehmen bei Boissaux in jeder Hinsicht so sehr in Gunst, daß sein Verhältnis zu Valentine bei dem Gatten keinen Argwohn erweckte. Freund Delangle aber ging dem jungen Maler nicht auf den Leim. Dieser Kleinstädter hatte zweifellos lächerliche Eigenschaften. So war er zum Beispiel stolz darauf, daß er mit dem Blick eines Finanzgenies bei Geschäften stets im ersten Anhieb seinen Vorteil erspähte und stets rasch abschloß. Er rühmte sich ferner, daß er keinen Gehilfen hatte und pflegte prahlend die Spielkarten zu zeigen, auf die er seine Notizen aufzeichnete. Aber trotz dieser Eigenschaften, – manche andere kamen noch hinzu – war er nicht der Mann, sich an der Nase herumführen zu lassen. Sechs Jahre lebte er nun ununterbrochen in Paris. Dieser Zeitraum hatte genügt, um ihm die Augen zu öffnen. So blieb ihm nicht verborgen, daß der Ausdruck von Langeweile im Antlitz Valentines verschwand, wenn Feder in den Salon eintrat und sich zu den versammelten Gästen gesellte. Er erhaschte die zärtlichen und freudigen Blicke, mit dem sie jede Bewegung des jungen Malers begleitete, und die wie hilfesuchend auf ihm ruhten, wenn sie eine Meinung äußern wollte. Delangle merkte, was da im Gange war und begegnete Feder daher begreiflicherweise mit einer gewissen Zurückhaltung.

Eines Tages, als sich die Freunde ein reizendes Wohnhaus im Stadtteil von Saint-Gratien, nicht weit von der Kapelle, wo die Gebeine Catinats ruhen, ansahen, fand Feder im Park Gelegenheit, mit Valentine allein zu sprechen.

»Delangle,« sprach er mit einem Lächeln zu ihr, das seine leidenschaftliche Liebe nicht verhehlte, »Delangle argwöhnt etwas, zweifellos ganz ohne Grund. Er vermutet, daß wir einander lieben. Eben als wir in diese Allee, wo wir jetzt gehen, eingebogen sind, hat er sich in die Büsche geschlagen. Ich wette, daß er uns belauschen will. Aber ich habe gute Augen. Wenn ich wortlos meine Uhr ziehen werde, so wird das für Sie ein Zeichen sein, daß ich unseren Freund entdeckt habe, wie er sich im Gebüsch heranschleicht. Wohl oder übel müssen wir dann eine Zwiesprache miteinander halten, schöne Frau, die schlagend beweist, daß ich Sie nicht liebe.«

In welchem Tone er diese Worte sprach, kann man sich unschwer vorstellen. Seit jenem Geständnis am Tage der zweiten Porträt-Sitzung war das Wort Liebe niemals im Gespräch zwischen den beiden gefallen. Obwohl Feder die junge Frau fast alltäglich sah, und er tagtäglich diese Begegnung herbeisehnte und danach in der Erinnerung schwelgte. Valentine erglühte, als Feder im Garten zu Saint-Gratien zu ihr sprach. Ein kleiner Akazienzweig, den sie in der Hand hielt, fiel zu Boden. Feder bückte sich, wie um ihn aufzuheben und zog, als er sich wieder erhob, seine Uhr. Denn er hatte Delangle hinter einer Akaziengruppe wohl bemerkt.

»Warum richten Sie sich denn in ihrem Heim in Bordeaux den Salon, der auf den Garten hinausgeht, nicht ebenso ein, wie den in diesem Hause da? Er ist vollendet in seiner Art und ich zweifle nicht, daß man uns gern erlauben wird, seine Anordnung aufzuzeichnen. Herr Boissaux kann damit den Architekten beauftragen, der den Plan zu dem Hause am Ufer der Dordogne entworfen hat.«

Der Gesichtsausdruck Valentines während dieser kühnen Worte des jungen Malers war köstlich. Sie wollte lächeln, anderseits aber fand sie es unpassend, ihren Bruder zu täuschen. War es nicht ein Verbrechen, wenn sie ihren Bruder, der ihr so zugetan war, hinterging? Die Art und die Weise, mit der sie sonst mit Feder verkehrte, mußte also recht ungehörig sein, wenn sie nun gezwungen war, vor ihrem Bruder auf der Hut zu sein und sich zu verstellen! Vor ihrem Bruder, der sein Leben, ja sogar sein ganzes Hab und Gut jederzeit auf das Spiel gesetzt hätte, um ihr helfen zu können. Anderseits aber erschien ihr diese Vorsichtsmaßregel so seltsam, daß ihr der Gedanke kam, die Tage des vertrauten Verkehrs mit Feder könnten gezählt sein. »Wie es auch sein mag,« dachte sie bei sich, »so bedeutungslos kann diese Maßnahme jedenfalls nicht sein, wie er mir gern glauben machen möchte. Ich bin zu erregt, um ruhig überlegen zu können. Ich habe vielleicht Unrecht getan, ihm zu folgen. Ich muß meinen Beichtvater sobald als möglich darüber fragen.«

Dieses Selbstgespräch bewies, daß die junge Frau über diesen mutwilligen Streich, der eine Pariserin wohl nur ergötzt hätte, ernstlich besorgt war. Sie besaß wohl Scharfsinn genug, um sich während der Unterhaltung nicht bloßzustellen. Doch ihre Stimme bebte so stark, daß der Beweis nicht ganz so durchschlagend ausfiel, wie es Feder erhofft hatte. Was sie sprach, war gewiß nicht unverständig, aber wie zitternd und zagend kam jedes Wort über ihre Lippen! Feder hielt es daher für angezeigt, schon nach wenigen Minuten sein Taschentuch zu nehmen und es fallen zu lassen. Sogleich rief Valentine:

»Sie fahren auf den See hinaus! Nehmen wir auch einen Kahn!«

Doch Feder und Valentine fanden kein Fahrzeug mehr, als sie zum Hafen kamen. Die Freunde waren schon weit vom Lande entfernt und verschwanden hinter einem Hause bald gänzlich ihren Blicken. Feder sah Valentine an und wollte sie eben tadeln, weil sie ihre Rolle so schlecht gespielt hatte. Da sah er Tränen in ihren Augen und war nahe daran, ihr etwas zu sagen, nur ein Wort zwar, aber eines, das er niemals über seine Lippen bringen durfte. Er kämpfte mit sich. In dem Augenblick jedoch, da er sich tapfer überwand, und das Wort unterdrückte, geschah es, ohne daß er sich seiner Tat bewußt wurde, ja fast ohne ein Zutun, daß er mit seinen Lippen ihren Hals berührte.

Valentine verlor im ersten Moment fast die Besinnung. Dann warf sie sich mit ausgebreiteten Armen herum und wandte ihm ihr Antlitz zu, in dem sich Furcht, ja fast Abscheu malte.

»Wenn Delangle jetzt herbeikommt, werde ich ihm sagen, daß Sie fast in den See gefallen wären.«

Feder machte zwei Schritte und stieg in das Wasser, bis es ihm bis an die Knie reichte. Dieses sonderbare Betragen lenkte die Aufmerksamkeit Valentines von dem, was vorgefallen war, ab. Sie hatte daher ihre Fassung fast vollständig wiedergewonnen, als Delangle erhitzt herbeistürmte und keuchend rief:

»So wartet doch! Ich will ja mit!«

V

Dieses Erlebnis kostete unserem Helden ziemliches Kopfzerbrechen. Der Argwohn Freund Delangles war nicht zum Schweigen gebracht und Feder kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß er nicht der Mann war, eine Beobachtung, die er einmal gemacht hatte, so ohne Weiteres auf sich beruhen zu lassen oder wohl gar zu vergessen. Die Klemme, in der sich der junge Künstler befand, machte ihn nachdenklich. Er mußte sich eingestehen, daß im Falle einer Trennung von Valentine geraume Zeit verstreichen würde, bis er sie vollkommen vergessen hätte. Delangle war imstande, ihm den Eintritt in das Haus Boissaux auf immer zu verwehren. Der Gedanke ließ ihn erzittern. Dann ärgerte er sich, daß ihm dieser Umstand so naheging. Er hatte tatsächlich Angst vor Delangle, wie er voll Scham feststellte, und suchte daher rein gefühlsmäßig Boissaux zu seinem Freunde zu machen. Es kam ihm da gelegen, daß einer der Generaleinnehmer, die ihre Einkünfte mit Anstand auszugeben wissen, sein prächtiges Landhaus in Viroflay aufgab. Schnell eilte er zu Boissaux. »Sichern Sie sich dieses Landhaus! Überlegen Sie nicht erst lange. Die Pferde all der Leute, um deren Umgang Sie sich bemühen, fahren aus Gewohnheit nach Viroflay. Die schönsten Feste werden Sie dort veranstalten können und Pferde und Gäste bei sich sehen, die früher Ihren Vorgänger, den Generaleinnehmer Bourdois, besucht haben.«

Boissaux befolgte diesen Rat, ohne viel darüber zu reden oder gar seiner Erkenntlichkeit Ausdruck zu geben. Denn er liebte es nicht, sich irgend jemand verpflichtet zu fühlen. Rasch folgte nun ein Diner dem anderen. Als die Gäste eines Tages an der Tafel Platz genommen hatten, konnte sich Boissaux nicht versagen, laut festzustellen, daß die Anwesenden, trotzdem ihre Zahl nicht höher als elf war, doch einen Besitz von insgesamt sechsundzwanzig Millionen repräsentierten und sich unter ihnen ein Pair von Frankreich, ein Generaleinnehmer und zwei Abgeordnete befanden. Dabei machte der Berater Feder die ziemlich lehrreiche Entdeckung, daß der Gastgeber in seiner Aufstellung das Hab und Gut seines klugen Beraters mit einer großen Null in Anrechnung brachte, und daß er obendrein allein in der Versammlung die Klasse der Habenichtse vertrat. Einer unter den Essern, der im Gegensatz zu Feder eineinhalb Millionen besaß, hatte am Vormittag vor dem Diner eine schöne Bibliothek erstanden. Jedes Buch hatte Goldschnitt. Der glückliche Käufer war nicht der Mann, seinen Kauf zu verschweigen. Er hatte sich eifrigst bemüht, noch schnell vor dem Mahle, die Namen der Hauptautoren seiner Bibliothek auswendig zu lernen. Nun suchte er sie der Reihe nach herunterzusagen und begann mit Diderot und dem Baron von Holbach, den er »Holbasch« aussprach. »Sagen Sie doch ›Holbach‹«, rief der Pair von Frankreich mit der ganzen wichtigtuerischen Prahlerei eines erst jüngst erworbenen Wissens.

Man sprach mit ziemlicher Verachtung von diesem ›Schriftsteller‹ mit dem barbarischen Namen. Da erwähnte Delangle so nebenher, daß dieser Baron von Holbach der Sohn eines Kaufmanns gewesen sei und mehrere Millionen besessen habe. Diese Bemerkung gab den versammelten Gästen Stoff zum Nachdenken. Man sprach daher noch einige Zeit über Diderot und Holbach. Doch das Thema war längst nicht mehr Gegenstand der Unterhaltung, als Frau Boissaux sich erkühnte, ganz bescheiden zu fragen, ob Diderot und Holbach nicht mit Cartouche und Mandrin den Tod am Galgen gefunden hätten. Sie erntete stürmisches und allgemeines Gelächter. Aus Höflichkeit trachtete die Tafelrunde wohl, sich allmählich zu beherrschen. Aber der Gedanke, daß Diderot, der Günstling der Kaiserin Katharina II., als Mitschuldiger Cartouches gehenkt worden sein könnte, war so reizend, daß alle Gäste weiter wie toll wieherten.

»Aber, meine Herren,« fuhr Frau Boissaux fort, während sie selbst, ohne zu wissen warum, vor Heiterkeit fast zu ersticken drohte, »im Kloster, wo ich erzogen worden bin, hat man uns niemals deutlich unterrichtet, was es eigentlich mit Mandrin, Cartouche, Diderot und anderen schrecklichen Verbrechern für eine Bewandtnis hat. Ich glaubte, daß sie alle unter einer Decke gesteckt hätten.«

Nach diesem kühnen Vorstoß sah Frau Boissaux forschend Feder an. Er geriet in Unruhe über ihren unvorsichtigen Blick. Hernach aber versank er in köstliche Träume. Ähnliche Träume täuschten ihn oft tagelang über seinen Kummer hinweg, während zehn langer Jahre sich in seinem Beruf geirrt zu haben. Die treuherzigen Worte Valentines glätteten die stürmischen Wogen der allgemeinen Heiterkeit. Nur mehr ein feines Lächeln glitt über die Lippen der Gäste. Außerdem beeilte sich Delangle, dessen Familiensinn durch das Malheur stark erschüttert worden war, seiner Schwester zur Hilfe zu kommen und erzählte einige possierliche Geschichten, die allgemeinen Anklang fanden. Aber der Gast, der eine ganze Bibliothek von Werken in goldgeschnittenem Einband wohlfeil erworben hatte, begann wieder über Literatur zu sprechen. Er rühmte vor allem die herrliche Ausgabe der Werke J.-J. Rosseaus von dem Verleger Dalibon.

»Ist die Schrift deutlich genug?« fiel ihm der eine Abgeordnete, der vier Millionen besaß, dröhnend ins Wort. »Ich habe während meines Lebens soviel gelesen, daß meine Augen oft nicht mehr mittun. Wenn diese Ausgabe Rousseaus eine lesbare Schrift hat, so möchte ich mir sie gerne ausleihen, um nochmals die ›Abhandlung über die Sitten‹ zu lesen. Das ist das schönste Geschichtswerk, das ich kenne.«

Der ehrenwerte Abgeordnete verwechselte offensichtlich die beiden Haupturheber der Verbrechen von 1793, nämlich Voltaire und Rousseau. Delangle fing so laut zu lachen an, daß bald die ganze Tafelrunde seinem Beispiel folgte. Er zwang sich zu besonders lärmendem Gelächter, um über den Heiterkeitsausbruch die Unwissenheit seiner Schwester vergessen zu lassen. Und tatsächlich fielen alle Gäste, die wenigstens einigermaßen sicher zu sein glaubten, daß Voltaire und nicht Rousseau die »Abhandlung über die Sitten« geschrieben habe, erbarmungslos über den bedauernswerten Abgeordneten her, Leinwandhändler von Beruf, der angeblich sich seine Augen verdorben hatte, weil er so ein eifriger Leser gewesen war. Kaum war die Tafel beendet, als Feder sich klüglich aus dem Staube machte, denn er hatte vor neuen Blicken Angst. Während des Spazierganges im königlichen Wald, der vom Landhause aus durch eine kleine Pforte zu betreten war, fand Delangle, den das Hohngelächter über seine Schwester noch immer wurmte, Gelegenheit, seiner Schwester einige Worte vertraulich zu sagen.

»Dein Mann ist dir zweifellos sehr zugetan und behandelt dich gut. Aber schließlich ist er eben auch ein Mann und kein Waschlappen, und würde es innerlich vielleicht nicht ungern sehen, wenn er dir für deine Mitgift, eine Million achtmalhunderttausend Franken, mit deren Hilfe er Vizepräsident der Handelskammer geworden ist, nicht gar so erkenntlich sein müßte. Er braucht nur ein paarmal vieldeutig mit der Achsel zu zucken. Seine Gäste wissen dann, daß du keine Bildung hast. Gerade weil sie selbst vor kaum sechs Monaten Diderot und Holbach nicht kannten, werden sie lange Zeit über deine Unwissenheit herziehen. Vergiß deshalb so schnell als möglich alle die frommen Notlügen, mit denen die guten Nonnen deine Wißbegierde, bei der ihnen Angst und bang wurde, einzuschläfern suchten. Aber verlier nur nicht den Mut. Beide Male, als ich dich im Kloster besuchte, sagte mir die Oberin, Frau von Aché, wortwörtlich, daß du einen so klugen Kopf hättest, daß sie direkt davor erzittere.«

Delangle wollte seine Schwester mit dieser letzten Bemerkung beruhigen, weil er sah, daß sie schon fast in Tränen ausbrach.

»An zwei Tagen in der Woche«, setzte er fort, »wirst du, ohne jemandem außer deinem Mann etwas zu sagen, Geschichtsstunden nehmen. Ich werde dir eine Lehrerin suchen, die dir beibringen wird, was sich in den letzten hundert Jahren ereignet hat. Daß muß jeder, der in der Gesellschaft verkehren will, wissen, denn man spielt oft auf die Geschehnisse der jüngsten Geschichte an. Um dich von diesen läppischen Nonnenmärchen freizumachen, rate ich dir, jeden Abend vor dem Schlafengehen ein oder zwei Briefe von Voltaire zu lesen oder von Diderot, der weder wie Cartouche noch wie Mandrin am Galgen endigte. Durchaus nicht!«

Und Delangle mußte ganz gegen seinen Willen neuerlich lachen, als er seine Schwester verließ.

Valentine blieb den ganzen Abend recht nachdenklich. In dem vornehmen Kloster war ihr Geist aus lauter Ängstlichkeit, ihr ja keine anderen Werke als nur die sorgfältigst ausgewählten Lehrbücher in die Hand zu geben, verarmt. In dem Geschichtsbuch, das sie studiert hatte, kam Napoleon stets nur als »Herr von Bonaparte« vor, und sie war unglaublicherweise nicht ganz sicher, ob »Herr von Bonaparte« während eines bestimmten Abschnittes seines Lebens nicht einer der Generäle Ludwigs des XVIII. gewesen sei.

Ein glücklicher Zufall hatte es gewollt, daß eine der Nonnen ihr mitleidig entgegenkam und sie in ihr Herz schloß. Diese Klosterfrau stammte aus einem ärmlichen und unansehnlichen Hause und wurde von ihren Mitschwestern recht verächtlich behandelt, weil sie ihre Abkunft nicht zumindest durch um so geschäftigeres Frömmlertum zu sühnen trachtete. Abscheu packte sie, als sie sah, wie man Valentine gewaltsam stumpfsinnig machen wollte. Gaben sich doch alle Klosterinsassen eifrig dieser Beschäftigung hin, als die Mär von Valentinens Mitgift in der Höhe von sechs Millionen im Kloster Tagesgespräch wurde. Was für ein Triumph für die Kirche, wenn das reiche Mädchen veranlaßt werden könnte, der Welt zu entsagen und ihr Vermögen der Gründung neuer Klöster zu widmen! Mutter Gerlat, die arme Nonne, Tochter eines Müllers, wie jedermann im Kloster wußte, mußte jeden Montag Valentine ein Kapitel aus den Werken des heiligen Franz von Sales abschreiben lassen. Tags darauf war das junge Mädchen gezwungen, dieses Kapitel der armen Nonne zu erklären, als ob sie jemandem vor sich hätte, dem der behandelte Stoff vollkommen unbekannt wäre. Jeden Donnerstag schrieb Valentine ein Kapitel aus der »Nachfolge Christi« ab und mußte es am nächsten Tage erklären. Die Nonne war während ihres unglücklichen Lebens so hellhörig geworden, daß sie die Worte ihrem Sinne nach recht genau zu unterscheiden verstand und dem jungen Mädchen, wenn es ein Kapitel erklärte, nicht den geringsten mehrdeutigen Ausdruck durchgehen ließ, sondern darauf beharrte, daß sie jeden Gedanken in der prägnanten und kürzesten Redewendung ausdrückte. Nonne wie Schülerin wären streng bestraft worden, wenn die Frau Oberin einmal wahrgenommen hätte, daß ihre Befehle nicht immer mit der nötigen Genauigkeit ausgeführt wurden. Was in Erziehungsanstalten besonders streng verboten ist, sind Privatfreundschaften, denn sie sind imstande, die jungen Seelen zu stärken und ihnen mehr Rückgrat zu geben.

Lange vor jenem verletzenden Gelächter, dem Valentine seit der Mitteilung Delangles erhöhte Bedeutung beimaß, hatte sie in Gesellschaft über Geschehnisse oder Ideen reden hören, deren Erwähnung im Kloster Abscheu erregt hatte. Das war ihr wohl aufgefallen, doch hatte sie weiter nicht darüber nachgedacht, sondern sich nur fest vorgenommen, in der Öffentlichkeit auf bestimmte Themen, wenn sie besprochen würden, nicht einzugehen. Die folgende Tatsache, die wir mitzuteilen haben, mag wohl fast unglaublich erscheinen, aber sie ist verbürgt: Delangle fand nämlich trotz allen Suchens keine Lehrerin, die nach anderen Lehrbüchern gelehrt hätte, als jenen, die Valentine bereits kannte.

Alle antworteten ihm übereinstimmend: »Wir würden nur zu bald alle Zöglinge verlieren. Und außerdem den heftigsten Angriffen ausgesetzt, wenn wir aus Büchern lehren wollten, die nicht in den ›Sacré-Cœurs‹ im Gebrauch sind.«

Delangle stieß endlich auf einen alten irländischen Geistlichen, den ehrwürdigen Pater Yeké, der es übernahm, der jungen Frau die europäische Geschichte seit 1700 zu lehren.

Ohne böse Absicht, lediglich aus bärbeißiger Grobheit, spielte Herr Boissaux noch zwei- oder dreimal auf das Höllengelächter an, mit dem der Gedanke, sich Diderot und Holbach neben Cartouche und Mandrin am Galgen baumelnd vorzustellen, begrüßt worden war. Boissaux gedachte öfters dieses Versehens, weil er eine heillose Angst hatte, daß ihm selbst etwas Ähnliches passieren könnte. Denn tatsächlich war es erst zwei Jahre her, seit er die Namen Diderots und Holbachs hatte nennen hören. Was ihn aber vollends bedrückte, war der Umstand, daß er damals bei jenem Fest der Meinung gewesen war, die »Abhandlung über die Sitten« stamme von Rollin. Sofort am nächsten Tage hatte er sich sechshundert Bände mit goldgepreßtem Rücken kommen lassen und war sofort in seinem Wagen mit einer prächtigen Ausgabe der Werke Voltaires nach Viroflay gefahren. Allein der Einband eines jeden Exemplares war ihm auf zwanzig Franken zu stehen gekommen. In seinem Kontor lag seit jenem Tage aufgeschlagen mitten unter Geschäftsbriefen der erste Band der »Abhandlung über die Sitten«.

Die Vorwürfe ihres Mannes spornte Valentinens Tatkraft zu höchster Leistung an. Sie las nun abends, bevor sie die Kerzen verlöschte, nicht bloß ein oder zwei Briefe Voltaires, sondern wohl an die zweihundert bis dreihundert Seiten. Zweifellos verstand sie nicht alles, was sie las. Als sie eines Tages Feder gegenüber darüber klagte, schleppte er ihr Wörterbuch und die Memoiren von Dangeau, bearbeitet von Frau von Genlis, herbei. Die süße Valentine wurde eine begeisterte Verehrerin der langweiligen und trockenen Werke der Frau von Genlis. Was ihr gefiel, war gerade was uns mißfällt. Suchte sie doch nicht stoffliche Spannung, sondern zuverlässige Belehrung.

Die derbe Lustigkeit Boissaux', die vorzügliche Küche seines Hauses, die Gewißheit, hier stets die Primeurs genießen zu können und nicht zuletzt die blendende Schönheit der Hausfrau waren die Veranlassung, daß es allmählich zur Gepflogenheit wurde, nach Schluß der Börse in Viroflay zu speisen. Diese geheimnisvolle und mächtige Anziehungskraft, die stets neue Finanzleute in das Heim der Vizepräsidenten führte, war in der Gewißheit aller Gäste begründet, daß in diesen gastlichen Räumen die Eigenliebe eines jeden Besuchers respektiert wurde. Boissaux und insbesonders Delangle verstanden es äußerst geschickt, irgendeine Ware dort zu kaufen, wo sie am wohlfeilsten war und sie prompt in eine Gegend zu verschieben, wo sie am höchsten im Preise stand. Aber außer in der Kunst, das Geld in Scheffeln einzuscharren, waren sie auf jedem anderen Gebiet solche Ignoranten, daß sie da jeden Menschen unbehelligt ließen.

Valentine ihrerseits hütete sich gar sehr in Gesellschaft über ihre oft reizvollen Beobachtungen zu reden, zu denen die eifrige Lektüre ihr Gelegenheit gab. Sie fürchtete, sie von diesen Menschen, deren ungehobeltes Betragen sie einzusehen begann, ins Lächerliche gezogen zu sehen. Das tiefgehende Studium, das sie im Kloster den Werken Franz von Sales und der Nachfolge Christi hatte widmen müssen, gab ihr nun die Möglichkeit, gewisse Teile aus der »Prinzessin von Cleve«, der »Marianne« von Marivaux und der »Neuen Heloise« zu verstehen, und nachhaltigen Genuß aus der Beschäftigung mit diesen Werken zu ziehen. Alle diese Bücher waren den Sendungen entnommen, die zur Ergänzung der Bibliothek täglich von Paris in Viroflay einliefen.

Während sie ihre Tage inmitten eines Schwarmes von Finanzleuten verlebte, kam ihr einmal ein Gedanke, der wegen seiner strengen Sachlichkeit bemerkenswert war. »Wir zahlen jeden Abend achtzig bis hundert Franken für eine Loge im Theater, um eines Vergnügens willen, das oft genug recht zweifelhaft ist und immer eine Stunde, höchstens zwei dauert. Wenn mich manchmal eine so brennende Begierde erfaßt, ein Werk aus der schönen Sammlung meines Mannes zu lesen, wem muß ich für diesen Trieb danken, wenn nicht jener guten Mutter Gerlat, die, anstatt mich vorsätzlich stumpfsinnig zu machen, mich lehrte, jene sublime ›Nachfolge Christi‹ und die Werke des Heiligen Franz von Sales zu studieren?« Am nächsten Morgen, als Boissaux gerade einen seiner Gehilfen als Eilboten nach Bordeaux sandte, bat sich Valentine von ihrem Bruder hundert Napoleons aus und befahl dem Boten, die Mutter Gerlat in das Sprechzimmer des Klosters rufen zu lassen und ihr als Andenken den Betrag zu geben, dessen Besitz ihr im Kloster größeres Ansehen verschaffen konnte.

Der erste Monat, da Valentine fühlte, daß ihre geistigen Kräfte sich zusehends entwickelten, leitete einen neuen Abschnitt ihres Lebens ein und stimmte sie froh. Ohne Scheu sprach sie mit Feder über die Gedanken, die bei der ersten Lektüre ihr kamen. Insbesondere fand sie, wie wohl jede Frau in ihrem Alter, Werke wie die »Prinzessin von Cleve«, die »Neue Heloise« und »Zadig« ganz köstlich. Bücher, die in ironischem, überlegenen Ton abgefaßt waren, waren ihr ein Greuel. Wo sie aber zarte Empfindungen ausgedrückt fand, fühlte sie für den Autor sogleich Sympathie. Feder geriet in eine arge Klemme, da er dieser unschuldvollen Seele in dieser Welt der Empfindsamkeit als Führer dienen sollte. Unablässig fand er sich versucht, sich zu verraten, und es bedurfte einer ungeheuren Willensstärke, um ihr nicht zu gestehen, daß er sie liebe. Er genoß fast jeden Tag das Vergnügen, den staunenswerten Geist Valentines bewundern zu können.

Der Leser wird sich vielleicht erinnern, daß gegen Schluß der »Neuen Heloise« Saint-Preux in Paris eintrifft und seiner Freundin den Eindruck schildert, den die Großstadt bei ihm hervorgerufen hat. Die Beobachtungen, die Valentine in Paris gemacht hatte, waren von denen Saint-Preux's so verschieden, daß sie zu ganz anderen Folgerungen gelangte. Feder bewunderte ihren Scharfsinn, mit dem sie aus scheinbar ganz geringfügigen Wahrnehmungen Schlüsse zu ziehen wußte. Alles was sie dachte, war wohl begründet. Wenn sie sich irrte, war es nicht minder reizvoll, ihre Gedanken zu verfolgen. So vermochte sie zum Beispiel nicht zu fassen, daß all die schönen Privatwagen, die im Boulogner Wäldchen durch die schattigen Alleen rollten, in der Mehrzahl nur gelangweilte Frauen in ihrem Innern bergen sollten. Wenn Valentine sich in das Bois fahren ließ, hielt sich fast immer Feder zu Pferd an der Seite ihres Wagenschlages.

Es war ihr unbegreiflich, daß die Langweile fast ausnahmslos die Handlungen all der Leute bestimmen sollte, die mit Pferden im Stall auf die Welt kommen.

»Diese Menschen, die das Volk für glücklich hält«, sprach Feder zu ihr, »bilden sich ein, die gleichen Leidenschaften zu haben wie ihre ärmeren Brüder und Schwestern, also Liebe, Haß, Freundschaft usw. Während doch ihr Herz nur mehr die Genüsse befriedigter Eitelkeit empfindet. Echte Leidenschaft ist in Paris lediglich in den obersten Stockwerken der Häuser anzutreffen. Ich halte jede Wette, daß zum Beispiel in der schönen Rue du Faubourg Saint Honoré, in der Sie wohnen, niemals ein wärmeres Gefühl von Zärtlichkeit und Hochherzigkeit in den beiden ersten Stockwerken der Häuser sich bemerkbar gemacht hat.«

»Sie sind ungerecht gegen uns!« rief Valentine ihm zu. Sie weigerte sich hartnäckig, seine traurigen Behauptungen gelten zu lassen.

Manchmal zögerte Feder, im Gespräch fortzufahren und verübelte es sich, daß er der jungen Frau reinen Wein einschenkte. Setzte er ihr ferneres Schicksal nicht dadurch erhöhten Gefahren aus? Anderseits aber mußte er sich zubilligen, daß er alles unterließ, was ihn dem Ziel seiner Liebeswünsche näherbringen konnte. Er folgte tatsächlich keinem Plane, sondern ließ sich treiben, und genoß diese Tage lauteren Verkehrs mit einer jungen Frau, die ihn möglicherweise liebte. Der Gedanke, ihrem Zauber etwa zu erliegen, machte ihn beben. Hätte er anders gedacht, so hätte er zweifellos Paris sofort verlassen, um der Leidenschaft für Valentine nicht zu verfallen. Aber er wagte es auch nicht, sich eingehender mit sich selbst zu beschäftigen, und sich Rechenschaft abzulegen, denn er hatte Furcht, sich in einer freiwilligen Verbannung allzusehr zu langweilen. »Ich würde mich selbst von Valentine absperren. Delangle hätte nur eine spöttische Bemerkung für mich übrig und würde mir künftig jeden Verkehr unmöglich machen. Und die Gedanken dieser kleinen Frau wären nicht mehr mir zugewandt. Sechs Wochen, nachdem sie mich aus dem Gesichtskreis verloren hätte, würde sie sich an einen gewissen Feder nur mehr ebenso schattenhaft erinnern können, wie an all ihre anderen Pariser Bekannten.«

Aber es geschah äußerst selten, daß unser Held sich über seine Lage Gedanken machte, die von tieferer Einsicht zeugten. Den Grundsatz: Hüte dich vor der Liebe und den unbeständigen Launen einer Frau! hielt er zwar hoch und glaubte an seine Richtigkeit, aber er fand nicht die Kraft, sich darüber hinaus klar zu machen, daß er abreisen mußte, wenn er in seiner Weichherzigkeit gefährlichen Netzen ausweichen und jenem Grundsatz gemäß handeln wollte.

Feder gab sich alle erdenkliche Mühe, einem Entschluß von solcher Tragik zu entrinnen. Waren die Liebenden geraume Zeit sich selbst überlassen, so fragte er sich prüfend: »Handle ich in Valentinens Interesse, wenn ich diese klösterlichen Hirngespinste eines nach dem andern umblase? Und sie nüchterner und verständiger wird, als es ihren Jahren zukommt?« Feder hatte im Jünglingsalter soviel Tollheiten begangen, daß er nun in kluger Gefaßtheit seinen Weg ging und sich bemühte, auch Valentine von Begriffen zu heilen, die sie in seiner Gegenwart zu peinlichen Äußerungen verleiten konnten. Wenn er eingreifen wollte, fehlte ihm aber öfters die Zeit oder die Gelegenheit, seine junge Freundin anzuweisen, wie sie sich angemessen zu benehmen hätte. Und Delangle und Boissaux waren viel zu eingefleischte Kleinstädter, als daß es ihm möglich gewesen wäre, seine Ansicht vor ihnen mit der nötigen Breite und ernsten Eindringlichkeit zu vertreten. Sie hätten an jedem aufrichtigen Wort Anstoß genommen. Man muß in Gegenwart von Leuten solchen Schlages vermeiden, Gedanken zu äußern, die ihnen noch nicht untergekommen sind.

Feder faßte in seiner Verlegenheit den sonderbaren Entschluß, Valentine selbst zu fragen, ob er ihr stets die Wahrheit sagen sollte. Dieser Ausweg war zweifellos für unseren Helden in seiner närrischen Verliebtheit am reizvollsten. Aber er war, offengestanden, etwas kindisch. Denn Valentine hatte aus dem Kloster fünf oder sechs Lebensregeln mitbekommen, und wandte diese zumeist recht schiefen Gebote bei jeder Gelegenheit mit einer Beherztheit an, die in dem Kontrast zu dem sonst so zaghaften und bedächtigen Charakter der jungen Frau unterhaltend und belustigend wirkte.

Feder sagte ihr eines Tages: »Wenn ich weiter fortfahre, Ihnen auf Ihren Wunsch hin schmerzliche Wahrheiten zu sagen, so wird der liebenswürdige Zauber, der Ihnen alle Herzen zuführt, bald verflogen sein. Sie werden bald aufhören, die Äußerung eines waghalsigen Grundsatzes mit einem gewinnenden Lächeln aufzunehmen und seine Richtigkeit zu bestreiten, sobald Sie sich über seine Tragweite klar geworden sind. Damit werden Sie aber den Vorzug eindruckvollster Überlegenheit allen anderen Frauen Ihres Alters gegenüber verloren haben.«

»Gut. Sagen Sie mir also nicht mehr die Wahrheit. Ich will lieber vor anderen Leuten einige Dummheiten sagen, auch wenn man sich vielleicht über mich lustig macht, als Ihnen weniger liebenswürdig erscheinen.«

Feder wollte zu ihr hinstürzen und ihre Hand mit Küssen bedecken. Aber er bezwang sich und fing, um über die Gefahr des Augenblicks hinwegzukommen, hastig zu reden an.

»Immer, wenn Sie mit alteingesessenen Parisern sprechen,« rief er mit pedantischer Miene aus, »steht diesen Leuten Hochmut im Gesicht geschrieben. Alles, was sie sagen, ist auf die große Menge zugeschnitten, während Sie ihnen mit größter Offenheit und treuherzigem Wohlwollen entgegenkommen. Ohne Schutz, mit bloßer Brust begegnen Sie diesen geriebenen Leuten, die den Kampfplatz nur betreten, wenn sie sich überzeugt haben, daß sie wohlgerüstet sind und ihre Eitelkeit hieb- und stichfest ist. Wären Sie nicht so schön und, dank meiner Mühe, die Diners bei den Boissaux' nicht so köstlich, Sie hätten für den Spott nicht zu sorgen.«

Die Tage verstrichen. Feder hätte ihren Zauber bis zur Neige ausgekostet, wenn er tatsächlich, wie er sich oft einzureden suchte, Valentine mit bloßer Sympathie begegnet wäre. Aber seine arge Furcht vor Deiangle ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Je stärker er von leidenschaftlichem Begehren ergriffen wurde und die köstlichen Stunden seines hindämmernden Lebens genoß, desto tiefer drang seine Erregung, wenn er daran dachte, daß ein einziges Wort dieses grobschlächtigen Riesen, der grobes Geschütz liebte, sein Glück in Trümmer schlagen konnte. »Ich muß Boissaux für mich gewinnen,« sagte er sich, »mich ihm zu diesem Zweck nützlich machen. Meine Bescheidenheit, meine guten Manieren mißfallen ihm. Das weiß ich. Imponieren kann ich diesem plumpen Kerl, der für nichts als für Geld Achtung hat, nur durch irgendeine offensichtliche Leistung. Meine pariserischen Gewohnheiten werden ihm dann in milderem Lichte erscheinen. Gestern erst, als der Abgeordnete von Lille uns auf der Promenade begegnete, hat er es uns deutlich fühlen lassen. Jeder Mensch, der sich ihm nähert, muß schreien und ihm zum Zeichen seiner wohlwollenden Gesinnung auf die Schulter klopfen, sonst sagt er sich: ›Ich glaube wirklich, der Kerl verachtet mich.‹ «

Feder suchte den Wünschen Boissaux' immer mehr auf den Grund zu kommen. Es zeigte sich bald, daß die jüngste Ernennung von fünf oder sechs Standesherrn ihn nicht schlafen ließ und gewaltiger Ehrgeiz sich zu seiner unersättlichen Geldgier gesellt hatte. Als Boissaux eines Tages vom Besuch bei einem zum Pair ernannten Hutmacher zurückkehrte, blieb er den ganzen Abend schweigsam und in sich gekehrt. Tags darauf befahl er seiner Dienerschaft, sich von vier Uhr nachmittags ab nur mehr in Seidenstrümpfen zu zeigen und bat Feder, ihm drei neue Diener zu verschaffen.

VI

Dieser Aufwand, den Boissaux noch einen Monat nach seiner Ankunft in Paris für blödsinnig gehalten hätte, gab den Ausschlag. Nach vierzehn Tagen Erwägens und Überlegens war sich Feder über den zu beschreitenden Weg im klaren. Zweifellos hatte es seine Gefahren, einem kleinstädtischen Millionär Ratschläge zu geben. Anderseits aber waren die finsteren Pläne, die Delangle nach Feders Meinung ausbrütete, weit gefahrdrohender. Um seinen Rat weniger peinlich zu gestalten, beschloß der junge Künstler, grob und rücksichtslos vorzugehen.

Frisch erworbener Reichtum macht eitel. So konnte es Boissaux sich eines Tages nicht versagen, Feder achtzig neue Werke mit Goldschnitt, die eben von Paris eingetroffen waren, bewundern zu lassen,

»Fehler über Fehler!« rief Feder in unheilverkündendem Tone aus. »Sie täuschen sich! Wenn Sie das Geld hinauswerfen, um solche Bücher zu kaufen, werden Sie die Stellung nie erreichen, die ich Ihnen zugedacht habe.«

»Was meinen Sie damit?« fragte ihn Boissaux in ungetrübter Laune.

»Ich meine, daß Sie sich jede Möglichkeit nehmen, weiterzukommen! Ein Mann wie Sie, Besitzer eines solchen Vermögens, könnte einen Weltruf erlangen – aber Sie wollen es ja nicht! Sie selbst ziehen unter sich die Leiter weg, auf der Sie zu den höchsten Würden gesellschaftlichen Ansehens gelangen können! Gott, wie einfältig Sie sind!«

»Ich glaube nicht, daß ich gar so einfältig bin«, erwiderte ihm Boissaux in verhaltenem Zorn. Dabei steckte er die rechte Hand in den Hosensack, wie er es zu tun pflegte, wenn er in unvorhergesehener Betroffenheit seine Selbstbeherrschung zurückgewinnen wollte, nahm eine Handvoll Napoleons, klimperte kräftig mit ihnen und ließ sie dann wieder los. Dieses Spiel wiederholte er mehrmals, um sich am vertrauten Klang des Goldes zu beruhigen.

»Sie kaufen vor allem Bücher! Aber wissen Sie, daß ein Buch recht verhängnisvoll wirken kann? Daß es ein zweischneidiges Schwert ist, dem man mißtrauen muß?«

»Wer weiß denn nicht, daß es nicht auch schlechte Bücher gibt?« rief Boissaux im Tone äußerster Geringschätzung aus. Er suchte auf diese Weise das Unbehagen zu verbergen, das ihn bei Feders Frage überkommen hatte.

»Nein! Sie wissen nicht alles, was in diesen verfluchten Büchern steht,« antwortete ihm Feder, der immer gröberes Geschütz aufführte. »Reden Sie mir das nicht ein. Niemand weiß es, der nicht seit seinem zehnten Lebensjahr liest. Das geringste Versehen über den Inhalt bringt Ihnen bitteren Spott ein und bedeckt sie mit unauslöschlicher Schande. Sie brauchen nichts weiter als eine einzige Jahreszahl zu vergessen, um dem Hohngelächter einer ganzen Tafelrunde ausgesetzt zu sein.«

Boissaux hörte ihm voll Aufmerksamkeit zu und vergaß darüber die Handvoll Napoleons, die er aus seiner Westentasche gezogen hatte, wieder einzustecken. Wenn das geschah, so konnte man sicher sein, daß er andächtig, ja nicht ohne Unruhe zuhörte.

»Ich weiß, daß Sie eine starke Einbildungskraft besitzen und wunderbare Geschehnisse lieben. Also gut. Ich werde mich des Wunderbaren bedienen, um Ihnen die Gefahr, in der Sie sich befinden, auszumalen. Denken Sie sich, daß Sie einem Zauberkünstler zwei Banknoten von je tausend Franken geben, damit er Sie als Entgelt lehrt, was in all den Büchern steht, die Sie da in der Verschwendungssucht, die Sie auszeichnet, zusammengekauft haben. Ich sage Ihnen, selbst wenn Sie sich das alles eintrichtern ließen, so wären Sie bei diesem Handel trotzdem der Genarrte. Denn wo müssen Sie gut angeschrieben sein, wenn Sie in Paris emporkommen und gute Geschäfte machen wollen? Bei den Leuten, die Geld haben, in den Kreisen der Hochfinanz, bei den Generaleinnehmern. Wenn Sie noch höher hinauf wollen, etwa in das Herrenhaus, müssen Sie die Regierung für sich gewinnen.«

Boissaux verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Er legte die Stirne in Falten und zog die Mundwinkel herab, wie ein Kaufmann, der einen Verlust erlitten hat. Als Feder von der »Regierung« sprach, befürchtete er, daß der Künstler hinter seine ehrgeizigen Wünsche gekommen war.

»Gut. Der Finanzmann, der Sie in Viroflay besuchen wird, um an Ihren prächtigen Diners teilzunehmen, er wird diese verteufelten Bücher, mit denen sie prunken, sehen und mißtrauisch werden, weil er fürchtet, daß Sie mehr als er davon verstehen. Und was die Politik betrifft, – ist es nicht offensichtlich, daß jeder klügere Kopf oder jeder Mensch, der wenigstens so tut, als ob er ziemlich bewandert wäre, von irgendeinem frechen Schwätzer, der ihn anspricht, zu einer Ansicht überredet werden kann? Denn kein Mensch mit etwas Grütze kümmert sich um die Politik. Sie sind es Ihrer eigenen Würde schuldig, diese Bücher dem Händler wieder zurückzuschicken. Nicht ein einziger Band darf bei Ihnen zu sehen sein. Sonst setzen Sie sich dem Gespötte aus. Wenn Sie die Werke aufstellen, so zeigen Sie damit, daß Sie die Leute schätzen, die solche Werke lesen, und zwingen Sie dadurch, selbst so zu tun, als ob sie sie gelesen hätten. Gibt es für Sie etwas Gefährlicheres? Halten Sie mit Ihrer Mißachtung aller Bücher nicht hinter den Berg und Sie werden unangreifbar sein. Sollte irgend jemand der Star stechen, daß er mit Ihnen über die Werke Rousseaus oder Voltaires sich unterhalten will, so antworten Sie ihm nur ruhig mit dem Stolz, der Ihrer Stellung zukommt: »Des Morgens verdiene ich Geld und Abends widme ich mich den Vergnügungen, die mir Freude machen.« Die Vergnügungen haben einen reellen Wert hier in Paris. Nur reiche Leute können sich sie leisten. Ganz anders als in Bordeaux. Alle Leute, die in Paris irgendwie tätig sind, oder hervortreten, treffen sich auf dem Boulevard. Es ist klar, daß von ihnen der Mann geachtet wird, den sie jeden Abend um sechs Uhr in einer prächtigen Kalesche bei dem Café de Paris vorfahren sehen und der sich später ihren Blicken zeigt, wie er an einem Fenstertisch speist und rings um ihn die Eiskübel mit Champagnerflaschen paradieren! Ich spreche Ihnen da nur von den herkömmlichen Mitteln, um die öffentliche Meinung für Sie zu gewinnen und Ihren Namen auf die Liste zu bringen, die die Regierung einer Durchsicht unterzieht, wenn sie zwei oder drei Kaufleute bei einem neuen Pairsschub berücksichtigen will. Ich zweifle nicht, daß ein Mann wie Sie sich jedes Jahr von einer anderen Equipage in das Boulogner Wäldchen führen lassen wird. Zu den Rennen in Chantilly werden Sie auf einem Pferde reiten, dessen Namen weltbekannt ist. Und sie werden hundert Louisdor auf ein Roß setzen, das von den unverständigen Zuschauern kaum beachtet worden ist. Suchen Sie doch unter den belesensten Köpfen von Paris, ob Ihnen das einer nachmachen kann! Nicht einer wird es können. Oder nehmen wir an, es sei Februar; Sie wollen eine Einladung geben und Ihren Gästen die ersten Frühjahrsköstlichkeiten vorsetzen; Sie würden sich in den Kopf setzen, die ersten grünen Erbsen aufzutischen und Ihrem Händler fünfhundert Franken senden, damit er sie Ihnen verschaffe. Alle Ihre Gäste werden dann diese grünen Erbsen auf der Tafel sehen und ihren Neid einem Manne wie Sie gegenüber, obendrein in diesen jakobinischen Zeiten, nicht verhehlen können. Während jeder über einen gelehrten Herrn, selbst wenn er Mitglied der Akademie ist, sagen kann: »Ich habe wohl seine Arbeiten gelesen, aber sie langweilen mich.« Übersehen Sie nicht, daß die Pariser Zeitungen, seit es ihrer so viele gibt, Stoff von überallher herbeischleppen müssen und von tausenderlei erzählen. Glauben Sie mir, auch wenn ich Ihnen unverschämt vorkomme, Ihr größter Fehler ist, daß Sie Ihre grünen Erbsen um hundert Dukaten schamhaft verschweigen wollen. Denn Sie besitzen den seltenen Vorzug, in ganz Paris nicht einmal fünfhundert Nebenbuhler zu besitzen, die mit Ihnen da wetteifern können. Jedes Ihrer Diners können Sie mit Köstlichkeiten, um fünfhundert, tausend, ja fünfzehnhundert Franken bereichern. Und dabei kaufen Sie Bücher in teuren Einbänden, nur um zu zeigen, daß Sie ein Bücherfreund sind. Nicht nur, daß Sie sie nicht lesen können, jeder kleinste Advokat kann Sie in dieser Hinsicht um den Finger wickeln, indem er Sie in ein Gespräch zieht und Sie als dummen Jungen hinstellt. Während, wenn Sie sich ausschließlich dem Kultus physischer Freuden widmen, kaum fünfhundert Leute Ihnen die Palme streitig machen können und alle Welt Sie um Vergnügungen beneiden wird, die jeder ersehnt und nicht leugnen kann. Geben Sie ein Festessen für zwölf Personen und möge es Ihnen zweitausend Franken kosten. Dann werden wohl mißgünstige und böswillige Leute sagen können: »Dieser ehrenwerte Boissaux, der erste Kaufmann von Bordeaux, lebt auf einem Fuße, den er nicht lange wird durchhalten können. Er wird sich ruinieren.« Man wird dies sagen, aber niemand wird die Tatsache aus der Welt schaffen können, daß Sie eine Einladung gegeben haben, die Ihnen zweitausend Franken gekostet hat. Sie haben nicht nur die Werke Rousseaus und Voltaires gekauft, sondern in unglaublicher Wagehalsigkeit einen Band offen in Ihrem Kontor aufgeschlagen. Der erste, der Sie dort besucht, wird Ihnen sagen: »Diese Stelle, die Sie eben lesen, ist sinnlos,« oder wenn Sie sie schlecht finden, wird er diese in den Himmel hinein loben. Lassen Sie sich nicht in eine Unterhaltung darüber ein, so wird sie jeder für einen Dummkopf halten, der nicht versteht, was er liest, oder der auf seinem Schreibtisch ein Buch offen liegen hat, obwohl er es nicht liest. Nehmen wir doch an, daß zwei oder drei Leute Sie besuchen kommen. Ich weiß, daß Sie tollkühn und mutig sind. Da werden Sie um keinen Preis irgendeinem kleinen Philister weichen wollen, der vielleicht nicht einmal ein Einkommen von tausend Talern hat. Sie sind zweifellos viel schlagfertiger und beweglicher als er. Aber er hat vielleicht zwanzigmal diese Stelle von Rousseau, die sie auf Ihrem Schreibtisch aufgeschlagen haben, gelesen und hat als Ersatz für eine geringere geistige Beweglichkeit ein gutes Gedächtnis. Er mag außerdem zehn Zeitungsartikel über diese Arbeit Rousseaus gelesen haben. Dann kann es Ihnen geschehen, daß Sie in dem Kreuzverhör von Fragen, die er Ihnen stellen wird, eine Bemerkung entschlüpfen lassen, zum Beispiel etwa eine, aus der zu entnehmen ist, daß Sie ein antireligiöses Pamphlet Voltaires Rousseau zuschreiben. Sofort wird Ihr Mann irgendeinen Witz darüber machen, ihn überall verbreiten und jeder wird, wenn er Ihren Namen nennen hört, sich sofort lachend daran erinnern. Nichts auf der ganzen Welt wird Sie von dieser Schmach mehr retten können. Sie werden daran Ihr Leben lang zu tragen haben, wie ein Baum, den man eines Teiles seiner Krone beraubt hat. Es wird nur nötig sein, in einer Gesellschaft Ihren Namen zu nennen und unverweilt wird sofort irgendein Dummkopf aus einem Winkel her rufen: »Ach ja! Das ist ja der gute Kaufmann, der Rousseau mit Voltaire verwechselt und der glaubt, daß der ›Mann mit den vierzig Talern‹ von dem Dichter der ›Neuen Heloise‹ stammt.«

Dieses beredte Bild Feders ließ Boissaux derartig erzittern, daß er, ohne weiter zu überlegen, zu dem Bande Voltaire, den er auf seinem Schreibtisch offen aufgeschlagen hatte, hinstürzte und ihn in einen Winkel feuerte.

»Was könnte aber ein solcher Schwätzer über jene Einladung sagen, die Ihnen für zwölf Personen zweitausend Franken gekostet hat? Was er auch daran mäkeln sollte, stets würde einer von Ihren Freunden einwerfen können: »Er spricht aus Neid. Der arme Teufel hat wohl noch nie ein derartiges Diner gesehen, außer durch ein Schlüsselloch.« Die Regierung wird stets von einem Schwarm von Anwälten angegriffen. Wenn Sie Rousseau und Voltaire kaufen, so deuten Sie damit an, daß Sie mit jener Partei von Schwätzern und Unzufriedenen unter einer Decke stecken. Wenn Sie physischen Vergnügungen huldigen, so wird Sie jeder zu den reichen Leuten zählen und in Ihnen einen Vertreter ihrer Interessen sehen. Die Regierung wird sich dann auf Sie verlassen. Denn ein Mann, der für Einladungen zweitausend Franken ausgibt, scheut sich vor der Hefe des Volkes.«

Feder hatte diese Worte kaum gesprochen, als er auf seine Uhr sah und eiligst davonstürmte. Er gab vor, eine wichtige Verabredung vergessen zu haben und ließ Boissaux, in seiner Eitelkeit dadurch erleichtert, zurück. Er gab sich nicht lange damit ab, die vorgebrachten Fakten Feders auf ihre Veranlassung hin zu prüfen, sondern überlegte mit größtem Eifer und vollster Hingebung, was an den Eröffnungen des jungen Malers Wahres sein könnte.

Feder hinterbrachte Valentine getreulich, daß er gegen die Bücherliebhaberei ihres Mannes und für den Kultus physischer Freuden gesprochen habe.

»Wenn Herr Boisseaux«, so schloß er seine Mitteilungen, »seine Feste gemäß den Anweisungen, die ich ihm geben werde, abhalten wird, so kann ihn das fünfzigtausend Franken kosten. Aber er wird auch in weniger als sechs Monaten in der Oper und auf dem Boulevard eine bekannte Erscheinung sein und seine Vergnügungen werden ihn in seiner Eitelkeit so in Anspruch nehmen, daß er Delangle glatt ins Gesicht lachen wird, wenn der ihm sagen sollte: ›Ja, siehst du denn nicht, daß Feder in Valentine verliebt ist?‹ «

In solchem Tone sprachen die beiden Liebenden miteinander, denn es war dem Künstler gelungen, Frau Boissaux an diese Sprache zu gewöhnen. Freilich sagte er niemals: »Ja, ich liebe Sie leidenschaftlich. Ich bin ein anderer geworden, seit ich Sie liebe. Werden Sie denn niemals Erbarmen haben?« Niemals war ein Wort ähnlichen Sinnes über seine Lippen gekommen, aber sein Benehmen, jede seiner Bewegungen, ließ die Liebe ahnen, die ihn beseelte. Valentine scheute sich nicht, sich mit ihm öfters zu verabreden. Sie teilte ihm stets mit peinlicher Genauigkeit mit, wann sie von Viroflay im Boulogner Wäldchen eintreffen würde. Dort trafen sich nämlich die jungen Leute regelmäßig an den Tagen, da Feder nicht nach Viroflay kam. Er hatte Boissaux den Kutscher und die Lakaien verschafft, die Valentine auf ihrer Fahrt begleiteten. Sobald er sich überzeugt hatte, daß diese beiden Domestiken verschwiegen waren, wagte er es allmählich unter dem Vorwand, seinem Pferde Bewegung zu verschaffen, den Wagen der Frau Boissaux bis zur Brücke von Neuilly zu begleiten. Niemals zeigte er sich im Boulogner Wäldchen neben ihr. Er verschwieg ihr kaum etwas, wahrte jedoch eine gewisse Vorsicht, um ihre naive Seele nicht zu beunruhigen.

Boissaux sprach mehrere Tage nicht weiter über seine Bücherliebhaberei, Dann kam er unversehens, wie wenn er die Ratschläge Feders nicht begriffen hätte, auf den Gegenstand zurück und tat so, als ob er, Boissaux, es sei, der Feder zu überzeugen versuche, daß man im Hause eines Mitgliedes der guten Gesellschaft keine Bücher sehen dürfe, Feder frohlockte, als er die eingetretene Wendung sah und suchte mit größter Geschicklichkeit während der langatmigen Unterredungen jedes Wort zu vermeiden, das den reichen Kaufmann hätte erinnern können, daß nicht er selbst auf die geniale Idee gekommen sei, die Bücher mit Goldschnitt durch junge grüne Erbsen und ähnliche Köstlichkeiten zu ersetzen.

Boissaux gab auch seiner Frau gegenüber vor, daß er selbst der Vater dieses Gedankens sei.

»Niemals mehr werden die Leute, die bei uns zu Abend speisen, nach ihrer Rückkehr nach Paris sagen: ›Dieser Boissaux hat eine Ausgabe von Voltaire, deren Einband der Bibliothek des reichsten englischen Bücherfreundes Ehre machen könnte;‹ sie werden dafür im ersten Frühjahr sagen: ›Die grünen Erbsen, die wir heute bei Boissaux aßen, hatten wirklich einen köstlichen Geschmack.«

Feder war ihm in jeder Weise behilflich. Noch vor einigen Monaten, da ihm der dröhnende Baß Boissaux' auf die Nerven gegangen war, hätte er jeden für einen Narren gehalten, der ihm dies prophezeit hätte. Um elf Uhr vormittags suchte er den Herrn von Cussi auf, um eine Viertelstunde lang mit diesem ersten Meister seines Faches die Speisenfolge eines Essens durchzusprechen, das Boissaux drei Tage später geben sollte. Ja, er stand sogar mehrere Male um sechs Uhr früh auf und fuhr mit einem alten Koch zur Markthalle, um für die Diners zu Viroflay all die Ingredienzien einzukaufen, die zu den einzigartigen Platten notwendig waren.

Während mehrerer Monate tat Feder Wunder dieser Art. Boissaux klagte niemals über die lächerlichen Ausgaben, die ihm seine Diners verursachten, obwohl sein Ansehen nur im Schneckentempo wuchs. Er war stets rot wie ein Hahn, wenn er eine neue kostspielige Platte aufmarschieren ließ. Er plusterte sich vor Eitelkeit und Vergnügen derartig auf und wirkte in dieser Überhebung so abstoßend, daß alle Gäste wie auf Verabredung kein Wort über die herrliche Platte fallen ließen.

Zu all den geistigen Vorzügen, die wir an Boissaux schon kennengelernt haben, gesellten sich Manieren, die den Mangel jeglicher Erziehung verrieten und physisches Unbehagen verursachten. Er kanzelte die Dienerschaft während des Essens herunter. Er nannte mitten im Schimpfen den Betrag, den ihm die seltenen Speisen, die er seinen Gästen vorsetzte, gekostet hatten. Er ward fast grob, wenn man von jeder Speise nicht zweimal nahm. Und schließlich – ich weiß kaum, wie ich das ausdrücken soll – zermalmte er jeden Bissen so bedächtig und mit einem derartigen Lärm, daß man es bis an das andere Ende der Tafel vernahm. Diese kleinen Unzukömmlichkeiten, die sich aus dem allzu frisch erworbenen Reichtum herleiten, erhöhten noch das selbstgefällige Wohlbehagen der Kapitalisten, die hinunterschlangen, was ihnen vorgesetzt wurde, ohne viel zu bewundern oder darauf aufmerksam zu werden, daß manche Platte ein wahres Kleinod genialer Künstlerschaft darstellte.

Anstatt über die wunderbaren Speisen, die erfinderische und appetitanregende Art, wie sie den Gästen dargeboten wurde, zu reden, unterhielten sich die ungehobelten Gäste des Millionärs von Viroflay über die ländlichen Albernheiten, die dem Munde ihres Gastgebers entschlüpften.

Feder war verzweifelt, daß Boissaux trotz seiner wahnsinnigen Ausgaben so wenig rühmlich abschnitt. Er versuchte einen letzten, nicht ungefährlichen Schritt. Unversehens erschienen eines Tages zuerst in der Loge der Oper, hernach als Gäste bei den Mahlzeiten in Viroflay, einige jener vornehmen Feinschmecker, die es als ihren Beruf ansahen, stets bei Fremden zu speisen. Diese Herren verstehen sich ausgezeichnet und mit seltener Feinfühligkeit auf gastronomische Fragen, doch in moralischen Fragen versagt ihr Unterscheidungsvermögen manchmal. Sie waren erst zweimal in Viroflay zu Gast gewesen und schon sprach ganz Paris von nichts anderem als von den Diners der Boissaux'. Dieser Erfolg gemahnte in der Schnelligkeit, mit der er sich eingestellt hatte, an manchen Effekt, den man auf der Bühne mit Dekorationen erzielen kann. Er überraschte Boissaux wohl, aber er überwältigte ihn nicht. Froh über die glückliche Wendung, zog er Feder in ein Gespräch und sprach mit ihm in fast freundschaftlichem Ton. Der junge Künstler frohlockte, schienen sich doch endlich all die Anstrengungen bezahlt zu machen! Und durfte er doch hoffen, wenigstens für die nächste Zeit, vor einem unheilvollen Anschlag Delangles sicher zu sein! Delangle war übrigens gerade derart in Zuckerspekulationen verstrickt, daß seine Zeit voll in Anspruch genommen war. Da Feder sich geweigert hatte, für die Porträts des Ehepaares und Delangles ein Honorar anzunehmen, war Delangle mit dem Vorschlag an ihn herangetreten, an den verheißungsvollen Zuckerspekulationen teilzunehmen. In gleichen Teilen sollten er und Boissaux an dem Geschäfte partizipieren. Feder hatte bereitwilligst zugestimmt. Denn er legte Wert darauf, vor den Gästen aus den Finanzkreisen, die hinfort fast ausschließlich die Salons der Frau Boissaux besuchten, nicht bloß als simpler Maler, sondern auch ein wenig als Kapitalist aufzutreten.

Wir haben uns jedoch in der gastronomischen Entwicklung unserer Geschichte zu weit fortreißen lassen und zu erzählen vergessen, wie Boissaux von seinen Büchern Abschied nahm. Er hatte durch ihren Kauf eine große Unvorsichtigkeit begangen und wäre ohne den weisen Rat unseres Helden auf finstere Abwege geraten. Er ließ es ihnen entgelten, indem er die Trennung recht geräuschvoll gestaltete.

An einem seiner glanzvollen Diners geschah es. Noch immer fehlte ihrem Ruhm die strahlende Helle, die ihrer würdig gewesen wäre. Noch immer brachte sie der Gastgeber selbst durch seine Unarten und allzu deutlich zur Schau getragenen Eitelkeit um jede tiefere Wirkung. Da erhob er eines Tages, beim Nachtisch, seine Stimme und rief weithin vernehmbar:

»Ich habe die Bücher satt. Lästig sind sie mir. Deshalb habe ich befohlen, daß man im Vorzimmer einige Hunderte von Bänden aufstapelt. Taugen tun sie nichts, außer ihren Einbänden. Wer will sie haben? Jeder von Ihnen, meine Herren, mag seinen Wagen damit anfüllen. Drei Monate stehen sie mir da herum und der Teufel soll mich holen, wenn ich mehr als drei Seiten gelesen habe. Was ich da lese, erinnert mich allzusehr an das Gewäsch, das unsere Abgeordneten in der Kammer daherreden, um ganz sachte die seligen Zustände von 1793 wieder auferstehen zu lassen. Gott soll mich davor bewahren, daß ich diesen Habenichtsen und Jakobinern auf den Leim gehe! Doch gestern, zur Börsenstunde, das heißt gerade in dem Augenblick, da ich mich von hier auf den Weg mache, um ein Uhr ungefähr – denn ich bin kein Pferdeschinder –, da hat mir ein Kerl von einem Buchbinder die Ohren vollgeschwätzt und mir die Werke des Herrn von Florian, Kammerherrn des Herzogs von Penthièvre, angehängt. Er soll kein Jakobiner sein, obwohl er ein Zeitgenosse Voltaires war. Aber ich gebe es zu, daß ich nicht eine einzige Zeile von ihm gelesen habe. Wenn ich Ihnen diesen Mann empfehle, so tue ich es nur, weil mir der Einband eines jeden Bandes sechzehn Franken gekostet hat. Und was habe ich schließlich von diesem verteufelten Werk gehabt? Nichts. Nur, daß ich um Dreiviertelstunden zu spät zur Börse gekommen bin und alle Leute, die ich sprechen wollte, schon weg waren. Ich brauche keine Bücher, denn ich hasse die Jakobiner und lese überhaupt nicht. Nicht ein einziger Band soll in meinem Hause sein. Was Sie nicht mitnehmen, das werde ich noch heute abend unserem ehrwürdigen Pfarrer schicken, damit er alles verkauft und den Erlös den Armen gibt.«

Kaum hatte er geendet, als sich die Gäste wie Aasgeier auf die Bücher stürzten. Nicht ein einziger Band blieb übrig. Aber Feder hörte am nächsten Morgen, daß jeder Gast einen Wust von nicht zusammengehörigen Bänden heimgebracht hatte. Was ihnen in der Hitze des Gefechtes gerade unter die Hände gekommen war, das hatten sie sofort zu ihren Wagen geschleppt.

Dieses Geschehnis, das einzig und allein dem Geiste Boissaux' entsprungen war, erschien dem jungen Künstler nicht ohne Bedeutung. »Tatsächlich!« sagte er sich. »Seine maßlose Sehnsucht, Pair von Frankreich zu werden, macht ihn erfinderisch, ja sogar geistreich! Möglich wäre es, daß er sich endlich auch etwas erträglichere Manieren angewöhnt!«

Der Zufall half dem jungen Künstler. Ein Beweis, daß man in schwierigen. Verhältnissen nicht untätig verharren soll. Delangle hatte seinen Schwager nach Paris gerufen. Er hatte ihn bei seinen Freunden eingeführt, war ihm behilflich gewesen, in einigen Unternehmungen Fuß zu fassen. Aber dabei hatte er stets stillschweigend vorausgesetzt, daß Boissaux sich ihm unterordnen würde. Da änderte das Aufsehen, das die Feste in Viroflay erregten, plötzlich die Beziehungen zwischen den beiden Verwandten von Grund auf. Delangle hatte früher mit seiner Bewunderung für das Spekulationstalent seines Schwagers nicht hinter dem Berg gehalten. Willig hatte er ihm zugebilligt, daß er es verstand, Gewinne aus Unternehmungen herauszuholen, die keinerlei Erfolg zu versprechen schienen.

Aber Delangle war immer der Meinung gewesen, daß er, was gesellschaftliche Umgangsformen anbetrifft, turmhoch über seinem Schwager stünde, über diesem Menschen, der als Prototyp körperlicher Plumpheit gelten konnte. Er hatte es Boissaux nicht übel genommen, wenn er sich in schlecht verhehlter Schadenfreude bei dem geringsten Erfolg, den er davontrug, spreizte und aufblähte. Denn er hatte sich auf die Schwächen seines besten Freundes, der nun sein Nebenbuhler wurde, verlassen, über den roten Kopf und die vor Wonne stotternde Stimme des Gastgebers, über dessen Art, eine köstliche Platte, die ihm recht teuer zu stehen gekommen war, anzupreisen, hatte er dem Glanz der Diners von Viroflay keine Beachtung geschenkt. Als aber Feder rasch entschlossen einige Schmarotzer aus den ersten Kreisen einführte und der Ruf der leckeren Mahlzeiten sich weithin verbreitete, fühlte sich Delangle in das Herz getroffen. Er spöttelte mehrmals mit seinen Tischnachbarn über die sonderbare Art, mit der der Gastgeber seine Gäste unterhielt. Doch Feder hatte, als er es bemerkte, nichts Eiligeres zu tun, als Boissaux auf das schändliche Benehmen seines lieben Schwagers aufmerksam zu machen. Eines Tages fuhren sich die beiden leicht erregbaren Schwager während des Essens fast in die Haare. Delangle behauptete plötzlich, daß einer der Hauptgänge nichts tauge. Boissaux geriet sofort in Hitze. Immer heftiger ward das Wortgeplänkel, immer gröber die Beschuldigungen, die die beiden Freunde einander zuschleuderten. Da schrie einer der Gäste, der erst vor wenigen Tagen aus Bordeaux eingetroffen war, in köstlicher Unbefangenheit und mit einer Stimme, die laut durch den Saal hallte:

»Freund Delangle ist seinem lieben Schwager neidig, weil er solche Feste gibt.«

Diese naive Bemerkung fiel auf so günstigen Boden, daß alle Gäste auflachten.

»Nun ja! Zum Teufel! Ich gebe es zu! Ich bin ihm neidig!« schrie Delangle, der vor Wut zitterte und sich kaum mehr beherrschen konnte. »Ich habe zwar kein solches Heim wie Boissaux, auch keinen guten Freund, um mir Rat zu holen. Aber wenn euch der Tag paßt, so kommt am nächsten Mittwoch ins ›Rocher de Cancale ‹. Da werde ich euch ein Essen vorsetzen, das sich ganz anders gewaschen hat als das da!«

Das Gastmahl fand statt. Doch brachte es nicht den beabsichtigten Erfolg, denn die Gäste waren sich einig, daß die Mahlzeiten in Viroflay entschieden vorzuziehen seien. Der Entschluß, keine Kosten zu scheuen, führt nämlich in einem solchen Fall noch nicht zum Ziele. Auch nicht in Paris. Selbst in einem allerersten Speisehaus kann das Essen unbefriedigend sein. Zudem verbreitete sich bei dem Mahle, das Delangle veranstaltete, ein so widerlicher Geruch von Fett, als man den Braten auftrug, daß Frau Boissaux gegen ihren Willen den Saal verlassen und frische Luft schöpfen mußte. Die Geruchnerven der Gäste waren zwar durchaus nicht verwöhnt. Doch als sie die junge Frau eilig forthasten sahen, fanden sie den Geruch plötzlich unerträglich und folgten ihr einer nach dem andern fluchtartig nach. Delangle war über die vernichtende Niederlage, die er erlitten hatte, außer sich. Boissaux aber spielte ganz aus eigenem Antriebe die Rolle eines mitleidigen Freundes, der das Leid des Gefährten bedauert.

Als die Tafel aufgehoben wurde, wandte sich Boissaux an die Anwesenden und benachrichtigte sie, daß er die Einladung nach Viroflay für kommenden Donnerstag absagen müsse. Die Bude, die er dort gemietet hätte, sei so altersschwach, daß sie eines Tages über den Köpfen seiner Gäste zusammenbrechen könnte. Er sei es seinem Rufe schuldig, da Abhilfe zu schaffen. Am kommenden Donnerstag aber, über acht Tage, erwarte er sie pünktlich um sechs Uhr.

Dann berief er Maurer und Zimmerleute nach Viroflay und ließ in aller Hast einen zweiten Speisesaal bauen. Da keiner von den Gästen davon wußte, war die Überraschung ungeheuer, als er am Tage der Einladung bevor der Nachtisch aufgetragen wurde, ihnen zurief:

»Meine Herren! Lassen Sie sich in meinen zweiten Speisesaal führen. Da er diesem wie ein Ei dem andern gleicht, kann jeder von Ihnen seinen gewohnten Platz wieder einnehmen. Ich habe diesen Saal errichten lassen, damit Sie der Bratengeruch nicht stört.«

Delangle war wie vom Schlage gerührt. Der Bau dieses zweiten Speisesaals entfremdete die beiden Schwager derart, daß sich Boissaux nach der Meinung Feders kaum aus seiner Ruhe hätte bringen lassen, wenn Freund Delangle an ihn herangetreten wäre: »Siehst du denn nicht, warum dieser Feder einen solchen Eifer an den Tag legt? Er macht deiner Frau den Hof!« Boissaux hätte sich höchstens gedacht, daß sein Schwager den Plan verfolge, ihn mit dem Künstler zu entzweien, dem er seinen Erfolg in Paris verdankte.

VII

Eines Tages unterhielten sich die Gäste gegen Ende des Mahles über die jüngsten Pariser Neuigkeiten. Ein Gast, der erst seit kurzem im Hause Boissaux verkehrte, erwähnte dabei:

»Heute vormittag ist in einem Duell ein junger Mann getötet worden. Sie werden ihn gewiß kennen, denn er besuchte jeden Tag die Oper. Er war wirklich ein prächtiger Bursche, ließ aber immer den Kopf hängen, als ob er sein Ende vorausgeahnt hätte. Er hieß Feder.«

Ein Nachbar suchte ihn zum Schweigen zu bringen, zupfte ihn heftig am Ärmel und flüsterte ihm einige Worte zu. Weder Boissaux noch Delangle hatten die Mitteilung vernommen. Frau Boissaux aber war keine einzige Silbe entgangen. Sie fühlte sich dem Tode nahe und hielt sich krampfhaft am Tischrande fest, um nicht umzusinken. Dann spähte sie forschend, ob niemand von den Gästen ihre Bestürzung bemerkt hatte. »Zwischen fünfundzwanzig und dreißig Personen sitzen hier!« sagte sie sich. »Das gäbe einen schrecklichen Skandal! Was würde man nicht alles vermuten!« Ihre Furcht, Aufsehen zu erregen, war so groß, daß sie gefaßt und mutig ihr Taschentuch hervorholte, es an ihr Antlitz drückte und ihrem Gatten durch Zeichen zu verstehen gab, daß sie Nasenbluten hätte. Boissaux fiel dies nicht weiter auf, da sie häufig unter diesem Übel litt. Einige Worte genügten, um die Hausfrau zu entschuldigen.

Kaum war Valentine in ihrem Zimmer, als sie in Tränen ausbrach. »Wenn ich mich niederlegen würde,« sagte sie sich, »so könnte ich niemals mehr aufstehen! Und die Zimmer sind so eng nebeneinander, die Leute alle solche Grobiane, daß sie imstande sind, nach dem Essen zu mir hereinzustürzen ... Ach! Ich muß noch heute abend nach Paris fahren und morgen nach Bordeaux. Das ist die einzige Möglichkeit, meine Ehre zu retten!«

Die arme Frau war in Tränen aufgelöst. Sie vermochte sich kaum aufrechtzuerhalten und brauchte eine halbe Stunde, um sich von ihrem Schlafzimmer bis in den anstoßenden Wintergarten zu schleppen. Sie stützte sich auf die Kübel einiger Orangenbäumchen, die im Frost des verflossenen Winters verdorrt noch der lichtenden Hand des Gärtners harrten, und gelangte endlich mit vieler Mühe zu einer amerikanischen Tanne, die ganz im Hintergrunde des Wintergartens mit ihren hunderten Ästen fast bis an die Decke langte. Da verbarg sie sich und wagte zum ersten Male sich zu sagen: »Er ist tot! Niemals mehr werde ich ihn sehen!« Sie wollte sich auf den Tannenkübel stützen. Aber ihre zitternde Hand entglitt. Sie fiel der Länge nach zu Boden. Gerade in diesem Augenblick hatte sich ihr Gatte erhoben, um sie, über ihre lange Abwesenheit beunruhigt, zu suchen.

Als Valentine wieder zur Besinnung kam, vermochte sie sich im ersten Augenblick nicht zurecht zu finden und fühlte mit Erstaunen, daß sie auf staubigem Lehmboden lag. Doch es währte nicht lange, und sie ward sich alles Erlebten wieder mit erschreckender Klarheit bewußt. In jähem Emporschrecken meinte sie schon ihren Gatten eilig herannahen zu sehen. Mit ihm fünf oder sechs Gäste, die zu seinem engsten Freundeskreis gehörten. »Was soll ich tun? Was wird mit mir geschehen?« stöhnte die unglückliche Frau verzweifelt auf. »Alle werden es erfahren. Womit soll ich denn meinen Zustand und meine Lage glaubhaft machen? Es werden kaum zehn Minuten vergehen und ich bin entehrt, ich Unselige! Niemand auf der Welt wird mir glauben, daß wir bloß als Freunde miteinander verkehrt haben. Meinte ich selbst noch vor acht Tagen, daß Feder nur mein Freund sei.«

Als sie den teuren Namen aussprach, schluchzte sie noch heftiger. Ihre Tränen flossen in Strömen und sie erzitterte dermaßen, daß ihr der Atem zu vergehen drohte. »Doch was geht das mich an, was sie über mich reden wollen? Unglücklicher kann ich ja nicht mehr werden. Aber mein armer Mann tut mir leid. Ist es seine Schuld, daß ich bei ihm nicht jenes himmlische Glück empfand, jene köstliche Erregung, wie sie mich von Kopf bis zu den Füßen durchzitterte, wenn Feder bloß in das Zimmer trat?«

Mühselig richtete sich Valentine im Staube halb auf, lehnte ihren Kopf an einen großen Blumentopf und verharrte mit geschlossenen Augen hindämmernd mehr als eine halbe Stunde in dieser Stellung. Von Zeit zu Zeit rann eine Träne langsam über ihre Wange herab. Und unaufhörlich flüsterte sie: »Ich werde ihn nie mehr sehen.« Schließlich aber sagte sie sich: »Ich bin vor allem verpflichtet, die Ehre meines Mannes rein zu erhalten. Darum muß ich anspannen lassen und nach Paris zurückfahren, ohne daß mich jemand sieht ... Wenn mich nur einer von den Gästen in dem Zustande sieht, in dem ich mich befinde, ist mein armer Mann auf immer entehrt.«

Valentine suchte zu verhindern, daß dieser furchtbare Gedanke wirklich werde. Aber sie war zu kraftlos, um den Kutscher herbeizuholen. Und doch sollte niemand als nur er sie sehen. Er war hochbetagt und stand bei dem Fuhrwerksbesitzer, von dem Boissaux seinen Wagen gemietet hatte, im Dienst. »Wenn ich ihm Geld gebe oder mit seinem Herrn spreche, werde ich vielleicht erreichen, daß er nicht mehr hierherkommt«, sagte sie sich. »Oder wenn er doch morgen wiederkommt, so hat er gewiß vergessen, in welchem Zustand ich zu ihm gekommen bin. Aber ich bin verloren, wenn mich ein einziger von meinen Leuten sieht.«

Valentine raffte sich zu einem letzten, verzweifelten Versuch auf. Sie stützte sich auf den Kübel eines Orangenbäumchens und zog sich allmählich in die Höhe. Dann schleppte sie sich mit unbeschreiblicher Mühe in ihr Schlafzimmer, kramte ein Umschlagtuch hervor und hüllte ihren Kopf damit ein, als wenn sie frieren würde. »Ich werde dem Kutscher sagen, daß mich ein fiebriger Schüttelfrost gepackt hätte und ich, um meinen Mann nicht zu beunruhigen, sofort nach Paris zurückfahren müsse.«

Valentine wollte auf dem Wege zum Schuppen nicht mehr durch das Haus. So trat sie wieder in den Wintergarten und öffnete die Glastüre, die in den Park hinausführte. Das Zurückschieben der Riegel hatte jedoch ihre letzten Kräfte fast völlig aufgebraucht; vollständig erschöpft blieb sie regungslos auf der Schwelle stehen. Da hörte sie ganz in ihrer Nähe jemand leise und wie mit Vorsicht gehen. Tief erschreckt, barg sie ihren Kopf in den Händen und trat in das Glashaus zurück. Aber der Mann, der da an der Mauer entlang näherkam, hatte sie durch die Tür schon erblickt und trat ohne Zögern ein. Valentine zürnte diesem kecken Eindringling und suchte ihn, zwischen ihren Fingern hindurch, zu erkennen. Es war Feder.

»Ach! Einziger Freund!« schrie sie auf, »Sie sind also nicht gestorben!« Und warf sich in seine Arme.


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