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Ernestine, oder die Entstehung der Liebe

Übertragen von Franz Kessel

Eine Frau von viel Geist und einiger Erfahrung behauptete eines Tages, die Liebe entstünde nicht so plötzlich wie man sage. »Ich glaube, sieben ganz verschiedene Epochen bei der Entstehung der Liebe wahrzunehmen.« Und, um ihr Wort zu beweisen, erzählte sie die folgende Anekdote. Man war auf dem Lande, es regnete in Strömen, man war äußerst glücklich zuzuhören.

In einer vollkommen gleichmütigen Seele, einem jungen Mädchen, das ein einsames Schloß in entlegener Landschaft bewohnt, erregt das geringste Erstaunen tiefste Aufmerksamkeit. Zum Beispiel, ein junger Jäger, den sie unvermutet im Walde beim Schloß bemerkt.

Mit einem so einfachen Ereignis begann das Mißgeschick Ernestines von S... Das Schloß, das sie allein mit ihrem alten Oheim, dem Grafen von S... bewohnte, war im Mittelalter nahe dem Ufer des Drac auf einen der ungeheuren Felsen gebaut, die den Lauf dieses Bergstromes einengen, und beherrschte eine der schönsten Landschaften der Dauphiné. Ernestine fand, daß der junge Jäger, dessen Anblick ihr der Zufall bot, vornehm aussah. Sein Bild erschien mehrere Male in ihren Gedanken; denn woran sollte man denken in dieser alten Ritterburg? Sie lebte dort inmitten einer gewissen Herrlichkeit; sie gebot über eine zahlreiche Dienerschaft. Aber seit zwanzig Jahren, seit Herr und Untergebene alt waren, geschah dort alles immer zur nämlichen Stunde; immer begann die Unterhaltung damit, alles was geschieht zu tadeln und sich über die einfachsten Dinge zu betrüben. An einem Frühlingsabend, der Tag ging zur Neige, war Ernestine an ihrem Fenster; sie schaute auf den kleinen See und den Wald jenseits; die außergewöhnliche Schönheit der Landschaft mochte dazu beitragen, sie in eine dunkle Träumerei zu versenken. Plötzlich sah sie den jungen Jäger wieder, den sie einige Tage zuvor bemerkt hatte; er war wieder in dem Wäldchen jenseits des Sees; er hielt einen Blumenstrauß in der Hand; er blieb stehn wie um sie anzusehn; sie sah, wie er einen Kuß auf die Blumen drückte und dann den Strauß mit einer Art zarter Ehrerbietung in das Astloch einer großen Eiche am Seeufer legte.

Wieviel Gedanken erweckte diese eine Handlung! Gedanken von sehr lebhaftem Interesse im Vergleich mit den eintönigen Eindrücken, die bis zu diesem Augenblick Ernestines Leben erfüllt hatten! Ein neues Dasein beginnt für sie; wird sie es wagen, den Strauß aufzusuchen? »Gott! welcher Unverstand,« sagt sie sich zitternd, »und wenn im Augenblick, wo ich mich der großen Eiche nähere, der junge Jäger aus dem nahen Gehölz heraustritt! Welche Schande! Was würde er von mir denken?« Dieser schöne Baum war gleichwohl das gewohnte Ziel ihrer einsamen Spaziergänge; oft setzte sie sich auf die gigantischen Wurzeln, die, über das Gras aufsteigend, rings um den Stamm ebensoviel natürliche Bänke bildeten, beschattet von dem breiten Laubdach.

In der Nacht konnte Ernestine kaum ein Auge schließen; am nächsten Tag, seit fünf Uhr früh, kaum daß die Morgenröte erschienen ist, steigt sie in den Giebeln des Schlosses umher. Ihre Augen suchen die große Eiche jenseits des Sees; kaum hat sie sie gefunden, so bleibt sie unbewegt und wie außer Atem stehn. Das heftige Glück der Leidenschaften folgt auf die gegenstandslose und fast mechanische Zufriedenheit der ersten Jugend.

Zehn Tage vergehn. Ernestine zählt die Tage! Nur einmal hat sie den jungen Jäger gesehn; er hat sich dem geliebten Baum genähert, und er hielt einen Blumenstrauß, den er an den Platz des ersten legte. – Der alte Graf von S... bemerkt, daß sie ihr Leben damit zubringt, eine Voliere zu warten, die sie im Dach des Schlosses eingerichtet hat; so kann sie, an einem kleinen Fenster hinter geschlossenen Läden sitzend, die ganze Breite des Waldes jenseits des Sees überblicken. Sie ist ganz sicher, daß ihr Unbekannter sie nicht bemerken kann, und so denkt sie ungehindert an ihn. Ein Gedanke kommt ihr, der sie beunruhigt: Wenn er glaubt, daß man seine Blumensträuße gar nicht beachtet, wird er daraus schließen, daß man seine Huldigung geringschätzt, die schließlich nur eine einfache Höflichkeit ist, und wenn anders er das Herz auf dem rechten Fleck hat, wird er nicht mehr erscheinen. Vier Tage verstrichen wieder, aber wie langsam! Am fünften kommt das junge Mädchen zufällig bei der großen Eiche vorbei und kann der Versuchung nicht widerstehn, einen Blick auf das kleine Astloch zu werfen, in das sie die Sträuße hat niederlegen sehn. Sie war mit ihrer Gouvernante und hatte nichts zu fürchten. Ernestine dachte nur welke Blumen zu finden; zu ihrer unbeschreiblichen Freude sieht sie einen Strauß der seltensten und reizendsten Blumen; er ist von blendender Frische; nicht ein Blatt der köstlichsten Blumen ist verwelkt. Kaum hat sie das mit einem flüchtigen Blick bemerkt, so läuft sie leicht wie eine Gazelle durch diesen ganzen Teil des Waldes hundert Schritt in der Runde. Sie hat niemanden gesehn; sicher, nicht beobachtet zu werden, kommt sie wieder zur großen Eiche und getraut sich nun mit Wonne den reizenden Strauß zu betrachten. O Himmel! da ist ein kleines Stück Papier, kaum sichtbar; es ist an die Schleife des Straußes geheftet. »Was haben Sie, meine Ernestine?« sagt die Gouvernante, aufgeschreckt von dem leisen Schrei, der diese Entdeckung begleitet. – »Nichts, Liebe, Gute, ein Rebhuhn ist vor meinen Füßen aufgeflogen.« – Vor zwei Wochen wäre Ernestine noch nicht auf den Gedanken gekommen, zu lügen. Sie nähert sich mehr und mehr dem reizenden Strauß, und mit feuerroten Wangen, ohne den Mut, anzufassen, liest sie, was auf dem kleinen Stück Papier steht:

»Seit einem Monat bringe ich jeden Morgen einen Blumenstrauß her. Wird dieser hier so glücklich sein, bemerkt zu werden?«

Alles ist bezaubernd an dem hübschen Briefchen; die englische Handschrift, in der die Worte aufgesetzt sind, ist von elegantester Form. Seit sie vor vier Jahren Paris und das modischste Kloster des Faubourg Saint-Germain verlassen, hat sie nichts so Hübsches gesehn. Plötzlich errötet sie heftig; sie nähert sich ihrer Gouvernante und drängt, ins Schloß zurückzukehren. Statt das Tal hinaufzugehn und den See zu umkreisen, wählt Ernestine, um schneller heimzukommen, den Pfad zur kleinen Brücke, der in gerader Linie zum Schloß führt. Sie ist in Gedanken, sie gelobt sich, nicht wieder dorthin zu gehn. Denn nun hat sie entdeckt, daß es schließlich eine Art Liebesbrief ist, was man an sie zu richten wagt. Allerdings, der Brief war nicht geschlossen, sagt sie sich ganz leise. Von diesem Augenblick an ist ihr Leben von einer schrecklichen Bangigkeit bewegt. Was denn! Kann sie nicht, auch nur von weitem, den geliebten Baum wiedersehn gehn? Das Pflichtgefühl erhebt Einspruch dagegen. »Gehe ich auf das andere Seeufer,« sagt sie sich, »so kann ich mich nicht mehr auf das verlassen, was ich mir selbst gelobt habe.« Als sie um acht Uhr hörte, wie der Pförtner das Gitter der kleinen Brücke schloß, befreite dies Geräusch, das ihr alle Hoffnung nahm, ihre Brust von einer gewaltigen Last; jetzt konnte sie nicht mehr gegen ihre Pflicht verstoßen, auch wenn sie die Schwäche hätte, es zu wollen.

Am nächsten Tage kann sie nichts einer düstern Träumerei entreißen; sie ist niedergeschlagen, blaß; der Oheim bemerkt es; er läßt die alte Kutsche anspannen; man fährt durch die Umgegend, man kommt bis zur Auffahrt des Schlosses von Madame Dayssin, drei Meilen weit. Bei der Rückfahrt gibt der Graf von S... den Befehl, im Wäldchen jenseits des Sees zu halten; die Kutsche kommt auf die Wiese; er will den gewaltigen Eichbaum wiedersehn, den er immer nur den Zeitgenossen Karls des Großen nennt. »Dieser große Kaiser kann ihn gesehn haben,« sagt er, »als er unsre Berge überschritt, um in die Lombardei zu ziehn und den König Desiderius zu besiegen«, und der Gedanke an ein so langes Leben scheint den fast achtzigjährigen Greis zu verjüngen. Ernestines Gedanken sind weit entfernt von den Betrachtungen ihres Oheims; ihre Wangen glühen; sie wird also doch noch einmal bei der alten Eiche sein; sie hat sich gelobt, nicht in das kleine Versteck zu schauen. Instinktiv, ohne zu wissen, was sie tut, wendet sie die Augen hin, sieht den Strauß, erbleicht. Es sind schwarz gefleckte Rosen. – »Ich bin sehr unglücklich, ich muß fort für immer. Die, welche ich liebe, geruht nicht, meine Huldigung zu bemerken.« – Diese Worte stehn auf dem Stück Papier, das am Strauß befestigt ist. Ernestine hat sie gelesen, ehe sie Zeit hatte, sich ihren Anblick zu verwehren. Sie ist so schwach, daß sie sich an den Baum lehnen muß; und bald fließen ihre Tränen. Am Abend sagt sie sich: »Er wird fortgehn für immer, ich werde ihn nicht mehr sehn!«

Am nächsten Tag, am hellen Mittag, wie sie in der Augustsonne mit dem Oheim unter den Platanen am See auf und ab geht, sieht sie am andern Ufer den jungen Mann auf die große Eiche zukommen; er ergreift seinen Strauß, wirft ihn in den See und verschwindet. Ernestine kommt es vor, als habe Enttäuschung in seiner Gebärde gelegen; bald zweifelt sie nicht mehr daran. Sie wundert sich, daß sie einen Augenblick zweifeln konnte; es ist klar, er sieht sich verschmäht, er wird fortreisen; nie wird sie ihn wiedersehn.

An diesem Tage ist man sehr in Sorge auf dem Schloß, wo sie allein sonst einige Heiterkeit verbreitet. Der Oheim erklärt, daß sie entschieden unpäßlich sein muß; eine tödliche Blässe, eine Art Krampf in den Zügen haben dieses harmlose Gesicht entstellt, in dem sich noch jüngst die sanften Empfindungen der ersten Jugend malten. Am Abend, als die Stunde des Spaziergangs gekommen ist, hat Ernestine nichts dagegen, daß der Oheim ihn auf die Wiese jenseits des Sees richtet. Sie blickt im Vorbeigehn mit trübem Auge, das die Tränen kaum zurückhalten kann, auf das kleine Versteck drei Fuß über dem Boden und ist sicher, nichts zu finden; sie hat ja gesehn, wie der Strauß in den See geworfen wurde. Aber welche Überraschung! Sie erblickt einen neuen Strauß. – »Aus Mitleid mit meinem großen Unglück nehmen Sie gnädig die weiße Rose.« – Während sie noch einmal diese wunderlichen Worte liest, hat ihre Hand, ohne daß sie es weiß, die weiße Rose mitten aus dem Strauß losgemacht. – »Er ist also sehr unglücklich,« sagt sie sich. In diesem Augenblick ruft sie der Onkel, sie folgt ihm, aber sie ist glücklich. Sie hält ihre weiße Rose in ihrem Batisttüchlein, und der Batist ist so fein, daß sie die ganze Zeit, die der Spaziergang noch dauert, die Farbe der Rose durch das zarte Gewebe sehn kann. Sie hält ihr Tuch so sorgsam, damit sich die geliebte Rose nicht entblättert.

Kaum heimgekommen, läuft sie die steile Treppe hinauf zu ihrem kleinen Turm im Winkel des Schlosses. Endlich wagt sie, ungehindert, diese angebetete Rose zu betrachten und durch süßquellende Tränen hindurch ihre Blicke zu sättigen.

Was wollen diese Tränen sagen? Ernestine weiß es nicht. Könnte sie das Gefühl, das sie fließen läßt, erraten, so hätte sie den Mut, die Rose, die sie eben mit soviel Sorgfalt in das Kristallglas auf ihrem kleinen Mahagonitisch getan hat, zu opfern. Aber wenn anders der Leser den Kummer hat, nicht mehr zwanzig Jahre alt zu sein, so wird er erraten, daß diese Tränen, weit entfernt, Schmerzenstränen zu sein, die unzertrennlichen Begleiter des unerwarteten Anblicks eines höchsten Glückes sind; sie wollen sagen: » Wie süß ist es, geliebt zu werden!« – In einem Augenblick, wo der Schauer des ersten Lebensglücks ihr Urteil verwirrte, hat Ernestine das Unrecht begangen, diese Blume zu nehmen. Aber noch ist sie nicht so weit, diese Inkonsequenz einzusehen und sich vorzuwerfen.

Wir, die wir weniger Illusionen haben, erkennen die dritte Periode der Entstehung der Liebe: das Erscheinen der Hoffnung. Ernestine weiß nicht, daß ihr Herz sich beim Anblick dieser Rose sagt: »Jetzt ist es sicher, daß er mich liebt.«

Aber kann es wahr sein, daß Ernestine schon bei der Liebe angelangt ist? Verstößt dies Gefühl nicht gegen alle Regeln des gesunden Menschenverstandes? Wie! Sie hat den Mann, um den sie jetzt glühende Tränen vergießt, nur dreimal gesehn! Noch dazu über den See hin, auf große Entfernung, vielleicht fünfhundert Schritt. Und weiter: wenn sie ihn träfe ohne Gewehr und ohne Jagdanzug, sie würde ihn vielleicht nicht wiedererkennen. Sie kennt weder seinen Namen noch seinen Stand und doch nähren sich all ihre Tage von leidenschaftlichen Gefühlen, deren Ausdruck ich abzukürzen gezwungen bin, denn ich habe nicht den nötigen Raum für einen Roman. Diese Gefühle sind immer nur Variationen der Idee: »Welches Glück, geliebt zu werden.« Oder sie untersucht die andere, noch viel wichtigere Frage: »Kann ich hoffen, wahrhaft von ihm geliebt zu werden? Sagt er mir am Ende nur zum Scherz, daß er mich liebe?« Obgleich sie in einem Schloß wohnt, das Lesdiquières gebaut hat und der Familie eines der tapfersten Gefährten des berühmten Connotable angehört, machte sich Ernestine nicht diesen andern Einwurf: »Er ist vielleicht der Sohn eines Bauern aus der Umgegend.« Warum? Sie lebte in tiefer Einsamkeit.

Sicherlich war Ernestine weit davon entfernt, die Natur der Gefühle, die in ihrem Herzen herrschten, zu erkennen. Hätte sie voraussehen können, wohin diese sie führten, so hätte sie eine Möglichkeit gehabt, ihrer Herrschaft zu entfliehen. Eine junge Deutsche, eine Engländerin, eine Italienerin hätte die Liebe erkannt; unsere weise Erziehung hat sich dafür entschieden, vor jungen Mädchen das Vorhandensein der Liebe zu leugnen, und so fühlte Ernestine über die Vorgänge in ihrem Herzen nur eine unklare Besorgnis; wenn sie tief nachdachte, sah sie in ihnen nur einfache Freundschaft. Sie hatte die eine Rose genommen, weil sie fürchtete, wenn sie es nicht tat, den neuen Freund zu betrüben, ihn zu verlieren. »Und außerdem,« sagte sie sich, nachdem sie lange darüber nachgesonnen, »man darf nicht unhöflich sein.«

Ernestines Herz ist von den heftigsten Gefühlen bewegt. Vier Tage lang, die der jungen Einsiedlerin wie vier Jahrhunderte vorkommen, hält eine unerklärliche Furcht sie zurück; sie verläßt das Schloß nicht. Am fünften Tage zwingt sie ihr Oheim, der sich immer mehr um ihre Gesundheit beunruhigt, ihn in das Wäldchen zu begleiten; sie befindet sich vor dem verhängnisvollen Baum; sie liest auf dem Stückchen Papier, das in dem Blumenstrauß verborgen ist:

»Wenn Sie diese gefleckte Kamelie zu nehmen geruhen, werde ich am Sonntag in der Kirche Ihres Dorfes sein.«

Ernestine sah in der Kirche einen äußerst einfach gekleideten Mann, der fünfunddreißig Jahre alt sein mochte. Sie bemerkte, daß er nicht einmal einen Orden trug. Er las, und indem er sein Gebetbuch auf eine bestimmte Art hielt, ruhten seine Augen fast unablässig auf ihr. Damit ist schon gesagt, daß während des ganzen Gottesdienstes Ernestine außerstande war, an irgend etwas zu denken. Sie ließ, als sie den alten Herrschaftsstuhl verließ, ihr Gebetbuch fallen und wäre beinah selbst umgesunken, als sie es aufhob. Sie errötete heftig über ihr Ungeschick. »Er wird mich so linkisch finden,« sagte sie sich sogleich, »daß er sich schämen wird, sich mit mir abzugeben.« In der Tat, seit dem Augenblick, an dem dieser kleine Unfall geschah, sah sie den Fremden nicht mehr. Umsonst hielt sie sich dann, als sie in den Wagen gestiegen war, damit auf, unter die kleinen Burschen des Dorfes einige Geldstücke zu verteilen; sie erblickte in den Gruppen von schwatzenden Bauern vor der Kirche denjenigen nicht, welchen sie während der Messe niemals voll anzusehn gewagt hatte. Ernestine, die bisher die Aufrichtigkeit selbst gewesen war, gab vor, ihr Schnupftuch vergessen zu haben. Ein Bedienter ging in die Kirche zurück und suchte lange unter dem Kirchenstuhl der Herrschaft dies Schnupftuch, das er natürlich nicht finden konnte. Aber der Aufenthalt, den diese kleine List herbeiführte, war nutzlos; sie sah den Jäger nicht wieder. »Es ist klar,« sagte sie sich, »Fräulein von C... sagte mir einmal, daß ich nicht hübsch wäre und daß ich etwas Gebieterisches und Zurückstoßendes im Blick hätte; nun fehlte mir nur noch Ungeschicklichkeit; er verachtet mich ohne Zweifel.«

Traurige Gedanken quälten sie während zwei oder drei Besuchen, die ihr Oheim vor der Rückkehr ins Schloß machte.

Kaum war sie gegen vier Uhr heimgekommen, so lief sie in die Platanenallee am Seeufer. Das Gitter nach der Landstraße war geschlossen wegen des Sonntags; glücklicherweise bemerkte sie einen Gärtner, den sie rief und bat, das Boot loszumachen und sie ans andere Seeufer zu rudern. Sie stieg hundert Schritt von der großen Eiche ans Land. Das Boot fuhr am Ufer entlang und blieb immer für ihre Sicherheit nah genug. Die unteren, fast wagerechten Zweige der gewaltigen Eiche erstreckten sich beinah bis zum See. Mit festem Schritt und einer Art düster entschlossener Kaltblütigkeit näherte sie sich dem Baum, mit einer Miene, als ginge sie in den Tod. Sie war fest überzeugt, nichts in dem Versteck zu finden: in der Tat sah sie nur eine welke Blume, die zu dem Strauß von gestern gehört hatte: – »Wäre er mit mir zufrieden gewesen,« sagte sie sich, »so hätte er nicht versäumt, mir mit einem Blumenstrauß zu danken.«

Sie ließ sich zum Schloß zurückbringen, stieg eilends hinauf in ihren kleinen Turm, und dort angelangt und sicher, nicht überrascht zu werden, brach sie in Tränen aus. »Fräulein von C... hatte ganz recht,« sagte sie sich, »um mich hübsch zu finden, muß man mich von fünfhundert Schritt Entfernung sehn. Da in diesem Land von Liberalen mein Oheim nur mit Bauern und Pfarrern verkehrt, müssen meine Manieren etwas Derbes, vielleicht Rohes bekommen haben. Ich werde im Blick einen gebieterischen und zurückstoßenden Ausdruck haben.« Sie nähert sich dem Spiegel, um diesen Blick zu beobachten; sie sieht dunkelblaue Augen in Tränen schwimmen. – »In diesem Augenblick,« sagte sie sich, »kann ich nicht die herrische Miene haben, die mich immer hindern wird, zu gefallen.«

Man läutete zum Essen; sie hatte viele Mühe, ihre Tränen zu trocknen. Endlich erschien sie im Salon; sie traf dort Herrn Villars, einen alten Botaniker, der alljährlich acht Tage bei Herrn von S... verbrachte, zum großen Kummer der zur Gouvernante erhobenen Bonne, die während dieser Zeit ihren Platz am Tisch des Herrn Grafen einbüßte. Alles lief gut ab, bis der Champagner gebracht wurde; man stellte den Kühler neben Ernestine. Das Eis war längst geschmolzen. Sie rief einen Diener und sagte: »Bringen Sie frisches Wasser und tun Sie Eis hinein, schnell.« – »Dieser kleine herrische Ton steht dir recht gut«, sagte lachend der gute Oheim. Bei dem Wort herrisch füllten sich Ernestines Augen mit Tränen, die sie nicht verbergen konnte; sie mußte den Salon verlassen, und als sie die Tür schloß, hörte man, wie Schluchzen sie erstickte. Die alten Herren waren ganz bestürzt.

Zwei Tage danach kam sie an der alten Eiche vorbei; sie näherte sich und sah in das Versteck, wie um die Stätten wiederzusehen, wo sie glücklich gewesen war. Wie groß war ihr Entzücken, als sie dort zwei Blumensträuße fand! Sie ergriff sie und die kleinen Zettel und lief zum Schloß zurück, ohne sich Sorgen zu machen, ob etwa der Unbekannte, im Wald verborgen, ihre Bewegungen beobachtet hatte, ein Gedanke, der sie bis zu diesem Tag niemals verlassen hatte. Sie kam außer Atem, konnte nicht weiter und mußte halbwegs auf der Landstraße stehen bleiben. Kaum hatte sie etwas Atem geschöpft, so fing sie wieder zu laufen an mit der ganzen Schnelligkeit, deren sie fähig war. Schließlich fand sie sich in ihrem kleinen Zimmer, nahm die Sträuße aus dem Schnupftuch, und ohne die kleinen Briefe zu lesen, begann sie, die Sträuße mit Hingerissenheit zu küssen, eine Bewegung, über die sie errötete, als sie sie bemerkte. »Ach! nie wieder will ich eine herrische Miene haben,« sagte sie sich, »ich will mich bessern.«

Schließlich als sie diesen hübschen aus den seltensten Blumen zusammengestellten Sträußen genugsam ihre ganze Zärtlichkeit bezeugt hatte, las sie die Briefchen. (Ein Mann hätte damit begonnen.) Das erste war vom Sonntag, um fünf Uhr; es sagte: »Ich mußte mir die Freude versagen, Sie nach dem Gottesdienst zu sehen; ich war nicht allein; ich fürchtete, man könnte in meinen Augen die Liebe lesen, die mich für Sie entflammt.« – Sie las dreimal die Worte: die Liebe, die mich für Sie entflammt, dann erhob sie sich und ging vor ihren Spiegel, um zu sehen, ob sie eine herrische Miene hätte. Sie fuhr fort: »Liebe, die mich für Sie entflammt. Wenn Ihr Herz frei ist, so nehmen Sie gütigst dieses Briefchen aus dem Baume fort; es könnte uns kompromittieren.«

Das zweite Briefchen, vom Montag, war mit Bleistift und sogar ziemlich schlecht geschrieben; aber Ernestine war schon fern von der Zeit, wo die hübsche englische Handschrift ihres Unbekannten Zauber besaß für ihre Augen; sie hatte schon zu ernste Angelegenheiten, um auf diese Kleinigkeiten zu achten.

»Ich bin gekommen. Ich habe das Glück gehabt, daß jemand in meiner Gegenwart von Ihnen sprach. Man hat mir gesagt, daß Sie gestern über den See gefahren sind. Ich sehe, daß Sie nicht so gütig waren, das Briefchen zu nehmen, das ich zurückließ. Es entscheidet über mein Schicksal. Sie lieben, aber nicht mich. Es war Tollheit in meinem Alter mich an ein Mädchen Ihres Alters zu heften. Leben Sie wohl für immer. Ich will nicht noch das neue Mißgeschick haben, lästig zu sein, nachdem ich so unglücklich war, Sie allzulange mit einer Leidenschaft zu beschäftigen, die in Ihren Augen vielleicht lächerlich ist.« – Eine Leidenschaft! sagte Ernestine und hob die Augen zum Himmel. Dieser Augenblick war sehr süß. Dieses junge Mädchen von bemerkenswerter Schönheit und in der Blüte der Jugend rief entzückt: »Er würdigt mich seiner Liebe; ach mein Gott! wie bin ich glücklich!« Sie fällt auf die Knie vor einer reizenden Madonna Carlo Dolcis, die einer ihrer Ahnen aus Italien mitgebracht hat. – »Ach ja, ich werde gut und tugendhaft sein!« ruft sie mit Tränen in den Augen. »Mein Gott, zeige mir doch nur aus Gnade meine Fehler, damit ich mich bessern kann; jetzt bin ich zu allem fähig.«

Sie erhob sich und las die Briefchen zwanzigmal durch. Der zweite besonders versetzte sie in glückselige Verzückungen. Bald bemerkte sie eine Wahrheit, die schon seit langer Zeit in ihrem Herzen bestand: nie hätte sie sich einem Mann von weniger als vierzig Jahren verbunden fühlen können. (Der Unbekannte sprach von seinem Alter.) Sie erinnerte sich, in der Kirche kam er ihr, da er ein wenig kahl war, wie vierunddreißig oder fünfunddreißig vor. Aber sie konnte dieser Vorstellung nicht sicher sein; sie hatte so wenig hinzusehn gewagt! und sie war so verwirrt gewesen! Während der Nacht schloß Ernestine kein Auge. Nie im Leben hatte sie sich ein ähnliches Glück vorgestellt. Sie erhob sich und schrieb auf englisch in ihr Gebetbuch: »Niemals herrisch sein. Dies gelobe ich am 30. September 18.. «

In dieser Nacht entschied sie sich mehr und mehr zu der Wahrheit: man kann unmöglich einen Mann von unter vierzig Jahren lieben. Sie träumte so viel von den guten Eigenschaften ihres Unbekannten, daß ihr in den Sinn kam, er habe außer dem Vorzug seiner vierzig Jahre wahrscheinlich auch noch den, arm zu sein. In der Kirche war er so einfach gekleidet, kein Zweifel, er war arm. Nichts konnte ihrer Freude über diese Entdeckung gleichkommen. »Niemals wird er die dumme und fade Miene unserer Freunde, der Herren Soundso, haben, wenn sie zu Sankt Hubertus herkommen, meinem Oheim die Ehre erweisen, seine Rehe zu töten, und uns bei Tisch die Heldentaten ihrer Jugend erzählen, ohne daß man sie darum bittet.«

»Wäre es möglich, großer Gott! daß er arm wäre! Dann würde nichts zu meinem Glücke fehlen!« Sie erhob sich ein zweites Mal, steckte ihre Kerze an dem Nachtlicht an und suchte eine Aufstellung ihres Vermögens, die eines Tages ein Vetter in eins ihrer Bücher geschrieben hatte. Sie fand siebzehntausend Frank Einkommen bei der Hochzeit und später vierzig oder fünfzigtausend. Als sie über diese Ziffer nachdachte, schlug es vier Uhr; sie zitterte. »Vielleicht ist es hell genug, daß ich meinen geliebten Baum sehn kann.« Sie öffnete die Läden; tatsächlich sah sie die große Eiche mit ihrem düstern Laub; aber im Mondschein, nicht im ersten Glanz der Morgenröte, die noch weit entfernt war.

Morgens beim Ankleiden sagte sie sich: »Die Freundin eines Mannes von vierzig Jahren darf nicht wie ein Kind gekleidet sein.« Und eine Stunde lang suchte sie in ihren Schränken nach einem Kleide, Hut und Gürtel, die dann eine so eigenartige Zusammenstellung ergaben, daß, als sie in den Speisesaal trat, der Oheim, die Gouvernante und der alte Botaniker ein Gelächter nicht unterdrücken konnten. »Komm doch näher,« sagte der alte Graf von S..., Ritter des Sankt-Ludwig-Ordens, bei Quiberon verwundet, »komm näher, liebe Ernestine; du siehst ja aus, als hättest du dich heut früh in eine Frau von vierzig Jahren verkleiden wollen.« Bei diesen Worten errötete das junge Mädchen und das lebhafteste Glück malte sich in ihren Zügen. »Gott vergebe mir!« sagte der gute Onkel am Ende der Mahlzeit zu dem alten Botaniker, »ich möchte wetten, Fräulein Ernestine hat heut früh ganz das Benehmen einer Frau von dreißig Jahren, nicht wahr? Vor allem hat sie, wenn sie mit den Bedienten spricht, solch eine kleine väterliche Miene, deren Komik mich entzückt; ich habe sie zwei-, dreimal auf die Probe gestellt, um meiner Beobachtung sicher zu sein.« Diese Bemerkung verdoppelte Ernestines Glück, wenn man dies Wort gebrauchen kann bei einer Glückseligkeit, die schon auf der höchsten Stufe ist.

Nur mit Mühe konnte sie sich nach dem Frühstück von der Gesellschaft losmachen. Der Onkel und sein Freund, der Botaniker, wurden nicht müde, sie mit ihrer kleinen bejahrten Miene zu necken. Sie ging in ihr Zimmer hinauf, sie betrachtete die Eiche. Zum erstenmal seit zwanzig Stunden verdunkelte eine Wolke ihr Glück; aber ohne daß sie sich von dem plötzlichen Wechsel Rechenschaft geben konnte. Das Entzücken, dem sie hingegeben war, seit dem Augenblick gestern, wo sie nach tiefer Verzweiflung die Blumensträuße im Baum gefunden hatte, wurde eingeschränkt durch diese Frage, die sie sich stellte: »Welches Benehmen muß ich meinem Freunde zeigen, damit er mich achtet? Ein Mann von soviel Geist, der den Vorzug hat, vierzig Jahre alt zu sein, ist gewiß sehr streng. Seine Achtung vor mir wird ganz aufhören, wenn ich mir ein falsches Betragen erlaube.«

Während Ernestine sich in der geeignetsten Situation zur Förderung ernster Betrachtungen eines jungen Mädchens, vor ihrem Spiegel, diesem Selbstgespräch ergab, bemerkte sie mit Erstaunen, das sich mit Entsetzen mischte, daß sie am Gürtel ein goldnes Häkchen hatte, das an kleinen Ketten Fingerhut, Schere und Scherenfutteral trug, ein reizendes Schmuckstück, das sie noch gestern bewundert hatte; der Oheim hatte es ihr vor knapp zwei Wochen zu ihrem Namensfest geschenkt. Das Entsetzen, mit dem sie nun diesen Schmuck ansah und eiligst abtat, kam daher, daß ihr einfiel, daß er, wie ihre Bonne ihr erzählt hatte, achthundertfünfzig Frank gekostet hatte und bei dem berühmtesten Pariser Juwelier, bei Laurencot, gekauft war. »Was soll mein Freund von mir denken, er, der die Ehre hat, arm zu sein, wenn er an mir ein Schmuckstück von so lächerlichem Preis sieht? Was kann abgeschmackter sein, als auf diese Art den Geschmack der guten Hausfrau zur Schau zu stellen; denn das besagen diese Schere, Futteral und Fingerhut, die man beständig bei sich trägt; und die gute Hausfrau denkt nicht daran, daß dieser Schmuck jedes Jahr die Zinsen seines Preises kostet.« Sie fing ernsthaft zu rechnen an und bekam heraus, daß das Schmuckstück annähernd fünfzig Frank im Jahre kostete.

Diese schöne hauswirtschaftliche Erwägung – Ernestine verdankte sie der gründlichen Erziehung durch einen Verschwörer, der mehrere Jahre im Schloß ihres Onkels verborgen lebte - diese Erwägung, sage ich, konnte die Schwierigkeit nur ein wenig entfernen. Nachdem sie das lächerlich teure Kleinod in ihre Kommode eingeschlossen hatte, kehrte natürlich die bedrängende Frage wieder: »Was ist zu tun, um nicht die Achtung eines Mannes von soviel Geist zu verlieren?«

Die Betrachtungen Ernestines (in denen der Leser wohl ganz einfach die fünfte Periode der Entstehung der Liebe erkannt hat) würden uns sehr weit führen. Dieses jungen Mädchens Geist war klar, eindringlich und lebhaft wie die Luft ihrer Berge. Ihr Oheim, der einst geistreich war und es noch jetzt sein konnte in bezug auf die zwei, drei Themen, die ihn seit langer Zeit interessierten, ihr Oheim hatte bemerkt, daß sie spontan alle Folgerungen einer Idee übersah. Der gute Alte pflegte Ernestine, wenn er seinen munteren Tag hatte, zu necken (und diese Neckerei war nach der Beobachtung der Gouvernante das untrügliche Anzeichen seiner Munterkeit), pflegte, sage ich, Ernestine zu necken mit ihrem militärischen Blick. Vielleicht war es diese Eigenschaft, die sie später, als sie in der Gesellschaft erschien und zu sprechen wagte, eine so glänzende Rolle spielen ließ. Aber in dem Zeitabschnitt, von dem wir uns unterhalten, verwirrte sich Ernestine, trotz ihres Geistes, ganz und gar in ihren Erwägungen. Zwanzigmal war sie darauf und daran, nicht mehr ihren Spaziergang in die Gegend der Eiche zu machen. »Eine einzige Unbesonnenheit«, sagte sie sich, »die den kindischen Sinn eines kleinen Mädchens anzeigt, kann mich um die Gunst meines Freundes bringen.« Aber trotz der äußerst feinen Beweisführung, auf die sie die ganze Kraft ihres Kopfes verwendete, besaß sie noch nicht die schwere Kunst, ihre Leidenschaften durch den Geist zu beherrschen. Die Liebe, von der das arme Mädchen ergriffen war, ohne es zu wissen, trieb sie, nur allzu früh für ihr Glück, zu dem verhängnisvollen Baum zu gehen. Nach langem Zaudern fand sie sich dort gegen ein Uhr mit ihrer Kammerfrau ein. Sie verließ diese und näherte sich dem Baum, freudestrahlend, die arme Kleine! Sie schien über den Rasen zu fliegen, nicht zu schreiten. Diese Bemerkung machte der alte Botaniker, der mit dabei war, zu der Kammerfrau, als Ernestine von ihnen fortlief.

Das ganze Glück Ernestines verschwand in einem Augenblick. Wohl fand sie im Baumloch einen Strauß. Er war reizend und ganz frisch, und das machte ihr lebhafte Freude. Ihr Freund mußte also vor kurzer Zeit an derselben Stelle gestanden haben, wo jetzt sie stand. Sie suchte im Gras nach Spuren seiner Schritte; und noch eins bezauberte sie: statt eines einfachen Stückchens Papier gab es einen Brief, einen langen Brief. Sie eilte zur Unterschrift; sie mußte seinen Taufnamen wissen. Sie las; der Brief fiel ihr aus der Hand, ebenso der Blumenstrauß. Ein Todesschauer ergriff sie. Sie hatte unten am Brief den Namen Philipp Astézan gelesen. Herr Astézan war auf dem Schloß des Grafen von S... bekannt als Liebhaber von Madame Dayssin, einer sehr reichen, sehr eleganten Pariserin, die alle Jahre die Provinz empörte, indem sie es wagte, vier Monate in ihrem Schloß allein mit einem Mann zuzubringen, der nicht ihr Gatte war. Um den Schmerz voll zu machen, war sie Witwe, jung, hübsch und konnte Herrn Astézan heiraten. Alle diese traurigen Dinge, die so, wie wir sie gesagt haben, wahr waren, erschienen noch ganz anders, waren mit Gift getränkt in den Reden der traurigen und den Irrungen der schönen Jugendzeit arg feindlichen Persönlichkeiten, die bisweilen in die alte Ritterburg von Ernestines Großoheim zu Besuch kamen. – Nie wurde in wenigen Sekunden ein so reines und lebhaftes Glück – das erste ihres Lebens – verdrängt durch einen stechenden und hoffnungslosen Schmerz. – »Der Grausame! er wollte sein Spiel mit mir treiben«, sagte sich Ernestine; »wollte seinen Jagdpartien ein Ziel geben, einem jungen Mädchen den Kopf verdrehen, vielleicht in der Absicht, damit Madame Dayssin zu belustigen. Und ich dachte daran, ihn zu heiraten! Welche Kinderei! Welch tiefste Demütigung!« Bei diesem traurigen Gedanken fiel Ernestine ohnmächtig neben dem verhängnisvollen Baum nieder, den sie seit drei Monaten sooft betrachtet hatte. Wenigstens fanden sie dort eine halbe Stunde später die Kammerfrau und der alte Botaniker regungslos liegen. Zum Überfluß des Unglücks gewahrte Ernestine, als man sie ins Leben zurückgerufen hatte, zu ihren Füßen den Brief Astézans, offen mit der Seite der Unterschrift und so, daß man sie lesen konnte. Rasch wie ein Blitz fuhr sie auf und setzte den Fuß auf den Brief.

Sie erklärte ihren Unfall und konnte unbeobachtet den verhängnisvollen Brief an sich nehmen. Lesen konnte sie ihn noch lange nicht. Denn die Gouvernante half ihr, sich hinzusetzen und verließ sie nicht mehr. Der Botaniker rief einen Arbeiter vom Feld, der den Wagen vom Schloß holen ging. Um nicht auf die Betrachtungen über ihren Unfall antworten zu brauchen, tat Ernestine, als könnte sie nicht sprechen. Ein schreckliches Kopfweh diente ihr zum Vorwand, ihr Schnupftuch an die Augen zu halten. Der Wagen kam an. Sie wurde hineingesetzt und war nun wieder mehr sich selbst überlassen. Unbeschreiblich war der zerreißende Schmerz, der die ganze Zeit, bis der Wagen ans Schloß kam, ihre Seele durchwühlte. Das Schrecklichste an ihrem Zustand war, daß sie gezwungen war, sich selbst zu verachten. Der verhängnisvolle Brief in ihrem Schnupftuch brannte ihr die Hand. Die Nacht kam, während man sie ins Schloß zurückführte; sie konnte unbemerkt die Augen öffnen. Der Anblick der funkelnden Sterne einer schönen südfranzösischen Nacht tröstete sie ein wenig. So sehr sie die Wirkungen der Leidenschaft erfuhr, ihre jugendliche Einfalt war weit davon entfernt sich darüber Rechenschaft geben zu können. Nach zwei Stunden wildester Seelenqual gab ein tapferer Entschluß ihr den ersten ruhigen Augenblick. »Ich werde diesen Brief, von dem ich nur die Unterschrift gesehen habe, nicht lesen; ich werde ihn verbrennen«, sagte sie sich, als sie ins Schloß kam. So konnte sie wenigstens den eignen Mut anerkennen; denn die Partei der Liebe, obwohl dem Anschein nach besiegt, hatte nicht versäumt, ihr bescheiden einzuflüstern, daß dieser Brief vielleicht in befriedigender Art die Beziehungen des Herrn Astézan zu Madame Dayssin erklärte.

Beim Eintreten in den Salon warf Ernestine den Brief ins Kaminfeuer. Am nächsten Tag setzte sie sich um acht Uhr morgens an das Klavier, das sie seit zwei Monaten sehr vernachlässigt hatte, und übte. Sie nahm die Sammlung von Memoiren über die Geschichte Frankreichs, herausgegeben von Petitot, wieder auf und begann wieder lange Auszüge aus den Memoiren des blutdürstigen Montluc zu machen. Sie verstand es, sich von dem alten Botaniker wieder einen Kursus in der Naturgeschichte anbieten zu lassen. Nach zwei Wochen konnte der wackere Mann, der einfältig war wie seine Pflanzen, nicht verschweigen, welch erstaunlichen Fleiß er bei seiner Schülerin wahrnahm; er war höchst verwundert. Ihr aber war alles gleichgültig; alle Gedanken führten sie gleichmäßig zur Verzweiflung. Der Oheim war sehr beunruhigt. Dieser gute Alte vereinigte nicht, wie gewöhnlich die Leute seines Alters, das ganze Interesse, das er an den Lebensdingen nahm, auf die eigne Person; und als Ernestine zufällig eine kleine Erkältung bekam, bildete er sich ein, ihre Brust sei angegriffen. Sie glaubte es auch, und dieser Vorstellung verdankte sie die ersten erträglichen Augenblicke, welche sie in diesem Zeitabschnitt hatte: die Hoffnung zu sterben ließ sie bald das Leben ohne Ungeduld ertragen.

Einen langen Monat hindurch war ihr einziges Gefühl der Schmerz, der um so tiefer war, als er seine Quelle in ihrer Selbstverachtung hatte; da sie gar keine Lebenserfahrung besaß, konnte sie sich nicht mit dem Gedanken trösten, daß niemand auf der Welt vermuten konnte, was in ihrem Herzen vorgegangen war und daß wahrscheinlich der Grausame, der sie so sehr beschäftigt hatte, nicht den hundertsten Teil von dem, was sie für ihn gefühlt, erraten könnte. Mitten in ihrem Unglück fehlte es ihr nicht an Mut; es machte ihr keine Mühe, zwei Briefe ungelesen ins Feuer zu werfen, auf deren Adresse sie die unheilvolle englische Handschrift erkannte.

Sie hatte sich gelobt, niemals die Wiese jenseits des Sees anzuschaun; im Salon hob sie nie die Augen zu den Fenstern, die nach dieser Seite gingen. Eines Tages ungefähr sechs Wochen nach dem, an welchem sie den Namen Philipps Astézan gelesen hatte, kam ihr Naturgeschichtslehrer, der gute Herr Villars, auf den Gedanken, ihr eine Lektion über Wasserpflanzen zu geben; er stieg mit ihr ins Boot und ließ sich nach dem Teil des Sees fahren, der an das Tal grenzte. Als Ernestine ins Boot stieg, gab ihr ein fast unwillkürlicher Seitenblick die Sicherheit, daß niemand bei der großen Eiche war; kaum fiel ihr auf, daß ein Stück der Baumrinde ein etwas helleres Grau zeigte als das übrige. Zwei Stunden später kam sie nach der Lektion wieder gegenüber der alten Eiche vorbei; ein Schauer überlief sie, als sie erkannte, daß das, was sie für einen Fehler in der Baumrinde gehalten hatte, die Farbe des Jagdrockes von Philipp Astézan war, der seit zwei Stunden auf einer Wurzel der Eiche saß, unbeweglich, als wäre er tot. Als Ernestine diesen Vergleich machte, bediente ihr Geist sich auch dieses Wortes: als wäre er tot; es erschütterte sie. »Wenn er tot wäre, könnte ich mich, ohne gegen die Sitte zu verstoßen, mit ihm, soviel ich wollte, beschäftigen.« Während einiger Minuten wurde diese Annahme der Vorwand, sich einer Liebe hinzugeben, welche der Anblick des geliebten Gegenstandes allmächtig gemacht hatte.

Diese Entdeckung verwirrte sie sehr. Am nächsten Abend war ein Pfarrer der Umgegend zu Besuch auf dem Schloß; er bat den Grafen von S..., ihm den Moniteur zu leihen. Während der alte Kammerdiener den Moniteur des Monats in der Bibliothek suchte, sagte der Graf: »Aber, lieber Pfarrer, dies Jahr sind Sie gar nicht neugierig, denn heut zum erstenmal bitten Sie mich um den Moniteur!« – »Herr Graf,« antwortete der Pfarrer, »Madame Dayssin, meine Nachbarin, hat ihn mir, solange sie hier war, geliehen; aber seit vierzehn Tagen ist sie verreist.«

Dieses gleichgültige Wort verursachte Ernestine eine solche Erschütterung, daß sie meinte, ohnmächtig zu werden; sie fühlte ihr Herz bei dem Wort des Pfarrers zittern und schämte sich sehr. »Da sieht man,« sagte sie sich, »wie weit ich mit meinem Vorsatz, ihn zu vergessen, gekommen bin!«

An diesem Abend geschah es ihr seit langer Zeit zum erstenmal, daß sie lächelte. »Immerhin,« sagte sie sich, »er ist auf dem Lande geblieben, hundertfünfzig Meilen von Paris, er hat Madame Dayssin allein abreisen lassen.« Wieder kam ihr in den Sinn, wie unbewegt er unter der Eiche saß, und sie litt darunter, daß ihr Gedanke bei dieser Vorstellung stehen blieb. Seit einem Monat bestand ihr ganzes Glück darin, sich zu überzeugen, daß sie brustkrank war; am nächsten Tag überraschte sie sich bei dem Gedanken, daß der Schnee die Berggipfel zu bedecken anfing und daß es abends oft recht frisch war. Sie dachte daran, daß es geraten wäre, wärmere Kleider anzuziehen. Eine gewöhnliche Seele hätte nicht verfehlt, dieselbe Vorsichtsmaßregel zu ergreifen; Ernestine dachte erst nach dem Wort des Pfarrers daran.

Der Sankt-Hubertustag kam näher und mit ihm der Zeitpunkt des einzigen großen Diners, das während des ganzen Jahres auf dem Schloß stattfand. Man trug Ernestines Klavier in den Salon hinunter. Als sie es am nächsten Tage öffnete, fand sie auf den Tasten ein Stück Papier, darauf stand:

»Schreien Sie nicht auf, wenn Sie mich bemerken.«

Das war so kurz, daß sie es las, ehe sie erkannte, wer es geschrieben hatte: die Schrift war verstellt. Da Ernestine dem Zufall oder vielleicht der Gebirgsluft der Dauphiné eine standhafte Seele verdankte, hätte sie, vor den Worten des Pfarrers über die Abreise der Madame Dayssin, sich ganz sicher in ihr Zimmer eingeschlossen und wäre erst nach dem Fest wieder erschienen.

Am zweitnächsten Tage fand das große alljährliche Sankt-Hubertusdiner statt. Ernestine saß ihrem Oheim gegenüber und machte die Honneurs; sie war sehr elegant gekleidet. Die Tafel bot die fast vollständige Sammlung der Pfarrer und Bürgermeister der Umgegend, ferner fünf oder sechs Provinzgecken, die von sich redeten, von ihren Heldentaten im Kriege, auf der Jagd, und selbst in der Liebe, und vor allem von dem hohen Alter ihres Stammbaums. Niemals machten sie zu ihrem Kummer so wenig Eindruck auf die Schloßerbin. Die tiefe Blässe Ernestines, verbunden mit der Schönheit ihrer Züge, gab ihr ein geradezu hochmütiges Aussehn. Die Gecken, die mit ihr zu sprechen suchten, wurden schüchtern, wenn sie sie anredeten. Sie aber war weit entfernt, ihre Gedanken bis zu ihnen herabzulassen.

Der erste Teil des Diners verging, ohne daß sie etwas Ungewöhnliches sah. Sie atmete schon auf; da, gegen Ende der Mahlzeit, hob sie einmal die Augen und ihr Blick begegnete dem eines Bauern von schon reifem Alter ihr gegenüber. Es schien der Bediente eines Bürgermeisters vom Ufer des Drac zu sein. Sie spürte die seltsame Regung in der Brust, welche ihr schon das Wort des Pfarrers verursacht hatte; aber noch war sie unsicher. Der Bauer sah Philipp gar nicht ähnlich. Sie wagte es, ihn zum zweitenmal anzusehn; sie hatte keinen Zweifel mehr; er war es. Er hatte sich so verkleidet, daß er sehr häßlich aussah.

Es wird Zeit, ein wenig von Philipp Astézan zu sprechen, denn er handelt als Liebender, und wir finden vielleicht auch in seiner Geschichte Gelegenheit, die Theorie der sieben Epochen der Liebe zu bestätigen. Als er vor fünf Monaten mit Madame Dayssin auf das Schloß von Lafrey kam, wiederholte einer der Pfarrer, die sie im Schloß empfing, um dem Klerus den Hof zu machen, ein sehr hübsches Wort. Philipp wunderte sich, Geist aus dem Munde eines solchen Menschen zu vernehmen, und fragte, wer das eigenartige Wort gesagt habe. »Die Nichte des Grafen von S..., ein Mädchen, das einst sehr reich sein wird, dem man aber eine sehr schlechte Erziehung gegeben hat. Es vergeht kein Jahr, in dem sie nicht eine Bücherkiste aus Paris empfängt. Ich fürchte sehr, sie wird ein böses Ende nehmen und sich so gar nicht verheiraten lassen. Wer wird sich solch eine Frau aufladen wollen?« usw. usw.

Philipp tat einige Fragen, und der Pfarrer konnte nicht umhin, die seltene Schönheit Ernestines zu beklagen, die sie sicher ins Verderben ziehn werde; er beschrieb so wahrheitsgetreu die Langeweile der Lebensweise auf dem Schloß des Grafen, daß Madame Dayssin ausrief: »Um Gottes willen, hören Sie auf, Herr Pfarrer, Sie werden mir Ihre schönen Berge verleiden.« – »Man kann nicht aufhören, ein Land zu lieben, wo man soviel Gutes tut,« erwiderte der Pfarrer, »und das Geld, das Madame gegeben hat, um uns beim Ankauf der dritten Glocke unserer Kirche zu helfen, sichert ihr ...« Philipp hörte ihn nicht mehr; er dachte an Ernestine und was wohl in dem Herzen eines jungen Mädchens vorgehn mochte, das eingesperrt war in ein Schloß, welches selbst einem Landpfarrer langweilig schien. »Ich muß sie unterhalten,« sagte er zu sich selbst, »ich werde ihr den Hof machen auf romantische Art; das wird diesem armen Mädchen ein paar neue Gedanken geben.« – Am nächsten Tag ging er in die Gegend des Grafenschlosses jagen; er bemerkte die Lage des Waldes, der vom Schloß durch den kleinen See getrennt war. Er kam auf den Gedanken, Ernestine mit einem Blumenstrauß zu huldigen; wir wissen schon, was er mit den Sträußen und Briefchen machte. Wenn er in der Gegend der großen Eiche jagte, legte er sie selbst hin; die andern Tage schickte er einen Bedienten. Philipp tat dies alles aus Menschenliebe, er dachte nicht einmal daran, Ernestine zu sehn; es wäre zu schwer und zu langweilig gewesen, sich bei ihrem Oheim einführen zu lassen. Als Philipp Ernestine in der Kirche sah, war sein erster Gedanke, daß er recht alt sei, um einem jungen Mädchen von achtzehn oder zwanzig Jahren zu gefallen. Er war bewegt von der Schönheit ihrer Züge und besonders von einer edlen Einfachheit, die ihrem Gesichtsausdruck sein Gepräge gab. »Es liegt Unbefangenheit in diesem Wesen«, sagte er zu sich selbst; einen Augenblick später schien sie ihm reizend. Als er sah, wie sie beim Verlassen des Kirchenstuhls ihr Gebetbuch fallen ließ und es mit so liebenswürdiger Unbeholfenheit aufzuheben versuchte, träumte er von Liebe; denn er hoffte. Er blieb in der Kirche, als sie hinausging; er sann über ein Problem wenig belustigend für einen Menschen, der anfängt, sich zu verlieben: er war fünfunddreißig Jahre alt und sein Haar begann dünner zu werden, was ihm wohl nach Doktor Gall eine schöne Stirn verschaffen konnte, ihn aber sicher noch um drei oder vier Jahre älter machte. »Wenn mein Alter nicht alles auf den ersten Blick verloren hat,« sagte er sich, »so muß sie an meinem Herzen zweifeln, damit sie mein Alter vergißt.«

Er näherte sich einem kleinen gotischen Fenster, das auf den Platz ging; er sah Ernestine in den Wagen steigen; er fand ihren Wuchs und ihren Fuß reizend. Sie verteilte Almosen; ihm schien, ihre Augen suchten jemand. »Warum«, sagte er sich, »schauen ihre Augen in die Ferne, während sie ganz nah beim Wagen kleine Münzen verteilt? Sollte ich ihr Teilnahme eingeflößt haben?«

Er sah Ernestine einem Lakaien einen Auftrag geben; inzwischen berauschte er sich an ihrer Schönheit. Er sah sie erröten; seine Augen waren sehr nah bei ihr; der Wagen befand sich nur zehn Schritt von dem kleinen gotischen Fenster; er sah den Bedienten in die Kirche zurückkommen und etwas im Kirchenstuhl des Grafen suchen. Während der Abwesenheit des Dieners bekam er die Gewißheit, daß Ernestines Augen viel höher schauten als die Menge war, die sie umgab, und folglich jemanden suchten; aber dieser Jemand brauchte durchaus nicht Philipp Astézan zu sein, der in den Augen dieses jungen Mädchens vielleicht fünfzig Jahre alt war oder sechzig Jahre, wer weiß? Hat sie nicht bei ihrer Jugend und ihrem Vermögen einen Bewerber unter den Junkern der Umgegend? – »Immerhin, ich habe während der Messe niemand gesehn.«

Sobald der Wagen des Grafen fort war, stieg Astézan aufs Pferd, ritt auf einem Umweg, um ihr nicht zu begegnen, in den Wald und begab sich rasch auf die Wiese. Zu seiner unaussprechlichen Freude gelangte er zur großen Eiche, bevor Ernestine den Blumenstrauß und das Briefchen gesehn hatte, das er am Morgen hatte hinbringen lassen. Er nahm den Strauß weg, ritt tief in den Wald, band sein Pferd an einen Baum und ging auf und ab. Er war sehr aufgeregt; ihm kam der Gedanke, sich im dichtesten Buschwerk eines kleinen bewaldeten Hügels hundert Schritt vom See zu verbergen. Von diesem Versteck, das ihn vor allen Blicken verbarg, konnte er durch eine Lichtung die große Eiche und den See erblicken.

Wie groß war sein Entzücken, als er bald darauf Ernestines kleines Boot ankommen sah auf der durchsichtigen Flut, welche die Mittagsbrise weich bewegte! Dieser Augenblick war entscheidend. Das Bild des Sees und Ernestines, die er eben erst in der Kirche so schön gesehn hatte, gruben sich tief in sein Herz. Von diesem Augenblick an bekam Ernestine in seinen Augen etwas, das sie von allen andern Frauen unterschied, und ihm fehlte nur noch die Hoffnung, um sie bis zum Wahnsinn zu lieben. Er sah sie eifrig auf den Baum zukommen; er sah ihren Schmerz, keinen Strauß zu finden. Dieser Augenblick war so köstlich und so lebhaft, daß Philipp, als sie fortgelaufen war, meinte, er habe sich getäuscht, als er glaubte, Schmerz in ihren Zügen zu sehn, da sie keinen Strauß im Baum fand. Das ganze Schicksal seiner Liebe beruhte auf diesem Umstand. Er sagte sich: »Sie sah schon traurig aus, als sie aus dem Boot stieg und selbst bevor sie sich dem Baum näherte. Aber,« antwortete die Partei der Hoffnung, »in der Kirche sah sie nicht traurig aus; im Gegenteil, sie strahlte vor Frische, Schönheit, Jugend und war ein wenig verwirrt; lebhaftester Geist war in ihren Augen.«

Als Philipp Astézan Ernestine, die am andern Ufer bei der Platanenallee ausgestiegen war, nicht mehr sehn konnte, verließ er sein Versteck: er war ein ganz anderer Mensch als der hineingegangen war. Im Galopp ritt er zum Schloß der Madame Dayssin zurück und hatte nur zwei Gedanken: »Hat sie Traurigkeit gezeigt, als sie keinen Strauß im Baum fand? Kommt diese Traurigkeit nicht einfach von enttäuschter Eitelkeit?« Diese wahrscheinlichere Annahme bemächtigte sich schließlich ganz und gar seines Geistes und gab ihm alle Vernunft eines Mannes von fünfunddreißig Jahren wieder. Er war sehr ernst. Er fand viel Besuch bei Madame Dayssin; im Lauf des Abends neckte sie ihn mit seiner Feierlichkeit und Eitelkeit. »Er kann nicht mehr an einem Spiegel vorbeigehn, ohne hineinzuschauen«, sagte sie. »Ich finde diese Gewohnheit der jungen Modeherrn schrecklich. Früher hatten Sie nicht diese Art Grazie; versuchen Sie, sie wieder abzutun, oder ich spiele Ihnen einen üblen Streich und lasse alle Spiegel wegnehmen.» Philipp war verlegen; er hatte vor, sich zu entfernen und wußte diesen Plan nicht zu bemänteln. Übrigens sah er wirklich viel in die Spiegel, um festzustellen, ob er alt aussähe.

Am nächsten Tag suchte er wieder seinen Platz auf jenem Hügel auf, von wo man den See deutlich sah; er hatte sich mit einem guten Fernglas versehen und verließ diesen Sitz erst, als es ganz dunkel wurde.

Den folgenden Tag nahm er ein Buch mit; es wäre ihm allerdings schwer gewesen, anzugeben, was auf den Seiten stand, die er las; aber hätte er kein Buch mitgenommen, so hätte er sich eins gewünscht. Endlich, zu seiner unaussprechlichen Freude, sah er gegen drei Uhr Ernestine langsam auf die Platanenallee am Ufer zugehn, er sah, daß sie sich nach der Landstraße wandte. Sie trug einen großen Florentiner Strohhut. Sie näherte sich dem verhängnisvollen Baum; ihre Miene war niedergeschlagen. Er sah, wie sie die beiden Sträuße nahm, die er am Morgen hingelegt hatte, wie sie sie in ihr Schnupftuch tat und mit Blitzesschnelle verschwand. Dieser einfache Zug vollendete die Eroberung seines Herzens. Ihre Bewegung war so lebhaft, so behend, daß er keine Zeit hatte zu sehn, ob Ernestine die traurige Miene bewahrt hatte oder ob ihre Augen Freude strahlten. Was sollte er denken von diesem seltsamen Benehmen? Wollte sie die beiden Sträuße ihrer Gouvernante zeigen? In diesem Falle war Ernestine nur ein Kind, und er kindischer als sie, sich in solchem Maße mit einem kleinen Mädchen zu beschäftigen. »Zum Glück,« sagte er sich, »weiß sie nicht meinen Namen; ich allein weiß von meiner Tollheit, und ich habe mir manche andre verziehen.«

Philipp verließ mit kaltblütiger Miene sein Versteck und ging nachdenklich, sein Pferd zu holen, das er eine halbe Meile vom Platz bei einem Bauern gelassen hatte. »Man muß gestehn, ich bin noch ein rechter Narr«, sagte er sich, als er im Schloßhof von Madame Dayssin abstieg. Als er in den Salon trat, war sein Gesicht starr, verwundert, eisig. Er liebte nicht mehr.

Als Philipp sich am nächsten Tage seine Krawatte band, fand er sich recht alt. Erst hatte er keine Lust, drei Meilen weit zu reiten, um sich in ein Dickicht zu kauern und einen Baum anzusehn; aber er fühlte kein Verlangen, anderswohin zu gehn. »Das ist lächerlich«, sagte er sich. »Aber in wessen Augen lächerlich? Übrigens soll man niemals das Glück versäumen.« Er begann einen sehr gut geschriebenen Brief, in welchem er, ein neuer Lindor, Namen und Art bekannte. Dieser gut geschriebene Brief hatte, wie man sich vielleicht erinnert, das Unglück, verbrannt zu werden, ohne daß ihn jemand las. Nur die Worte des Briefes, bei denen unser Held am wenigsten daran dachte, seine Unterschrift Philipp Astézan hatten die Ehre, gelesen zu werden. Trotz der schönsten Vernunftgründe war unser vernünftiger Freund an seinem gewohnten Platz versteckt in dem Augenblick, als sein Name so starke Wirkung hervorbrachte; er sah Ernestines Ohnmacht nach Eröffnung des Briefes; sein Erstaunen war maßlos.

Den Tag darauf mußte er sich eingestehn, daß er verliebt war; sein Tun bewies es. Alle Tage kam er nun in das Wäldchen, wo er so lebhafte Erregungen erfahren hatte. Madame Dayssin mußte demnächst nach Paris zurückkehren. Philipp ließ sich einen Brief schreiben, worin stand, daß er die Dauphiné verlassen würde, um zwei Wochen bei einem kranken Oheim in der Bourgogne zu verbringen. Er nahm die Post und kam so geschickt auf einem andern Weg zurück, daß er nur einen Tag den Besuch des Wäldchens versäumte. Er ließ sich zwei Meilen vom Schloß des Grafen von S... in der Einöde von Crossey nieder, an der dem Schloß von Madame Dayssin entgegengesetzten Seite, und kam von da jeden Tag ans Ufer des kleinen Sees. Er kam dreiunddreißig Tage hintereinander hin, ohne Ernestine zu sehn; sie erschien nicht mehr in der Kirche; man las die Messe im Schloß; er näherte sich verkleidet und hatte zweimal das Glück, Ernestine zu sehn. Nichts schien ihm dem edlen und zugleich naiven Ausdruck ihrer Züge gleichzukommen. Er sagte sich: »Niemals werde ich bei einer solchen Frau den Überdruß erfahren.« Am meisten ergriff Astézan die tiefe Blässe und leidende Miene Ernestines. Ich müßte zehn Bände schreiben wie Richardson, wenn ich aufzuzeichnen unternähme, auf wieviel Arten dieser Mann, dem es übrigens nicht an Einsicht und Erfahrung fehlte, sich die Ohnmacht und die Traurigkeit Ernestines erklärte. Schließlich beschloß er, sich Klarheit über sie zu verschaffen und zu diesem Zweck ins Schloß einzudringen. Die Schüchternheit, – schüchtern zu sein mit fünfunddreißig Jahren! – die Schüchternheit hatte ihn so lange daran gehindert. Er traf seine Maßnahmen so klug wie möglich, und doch, ohne den Zufall, der in den Mund eines Gleichgültigen die Mitteilung von Madame Dayssins Abreise legte, wäre Philipps ganze Geschicklichkeit verloren gewesen; oder er hätte wenigstens Ernestines Liebe nur in ihrem Zorn kennengelernt. Wahrscheinlich hätte er sich diesen Zorn erklärt durch ihr Erstaunen, sich von einem Manne seines Alters geliebt zu sehn. Philipp hätte sich verachtet geglaubt und hätte, um dies peinliche Gefühl zu vergessen, zum Spiel und zu den Kulissen der Oper seine Zuflucht genommen; und er wäre selbstsüchtiger und härter geworden in dem Gedanken, daß die Jugend für ihn gänzlich vorüber wäre.

Ein Demi-monsieur, wie man dortzulande sagt, Bürgermeister einer Berggemeinde und Gefährte Philipps auf der Gemsenjagd, war bereit, ihn, als seinen Bedienten verkleidet, mitzunehmen auf das große Diner im Schloß von S..., wo Ernestine ihn erkannte.

Ernestine fühlte, daß sie heftig errötete und ihr kam die abscheuliche Vorstellung: »Er wird glauben, daß ich ihn unbesonnen liebe, ohne ihn zu kennen; er wird mich verachten wie ein Kind, wird nach Paris reisen, seine Madame Dayssin treffen; ich werde ihn nicht mehr sehn.« Diese quälende Vorstellung gab ihr den Mut, sich zu erheben und in ihr Zimmer hinaufzugehen. Dort war sie zwei Minuten allein, dann hörte sie die Tür des Vorzimmers öffnen. Sie dachte, es wäre ihre Gouvernante und erhob sich, um sie unter irgendeinem Vorwand fortzuschicken. Wie sie sich der Tür ihres Zimmers nähert, geht diese Tür auf: Philipp ist zu ihren Füßen.

»Um Gottes willen, verzeihen Sie mir mein Benehmen,« sagte er, »ich bin seit zwei Monaten in Verzweiflung; wollen Sie mich heiraten?«

Dieser Augenblick war köstlich für Ernestine. »Er hält um mich an,« sagte sie sich; »ich brauche Madame Dayssin nicht mehr zu fürchten?« Sie suchte nach einer strengen Antwort und trotz unglaublicher Mühe hätte sie vielleicht nichts gefunden. Zwei Monate Verzweiflung waren vergessen; sie war auf dem Gipfel der Wonne. Glücklicherweise hörte man in diesem Augenblick die Tür des Vorzimmers öffnen. Ernestine sagte: »Sie entehren mich.« – »Verraten Sie nichts!« flüsterte Philipp hastig, und mit viel Geschicklichkeit glitt er zwischen die Mauer und Ernestines hübsches weiß und rosa Bett. Es war die Gouvernante, sehr in Sorge um die Gesundheit ihres Zöglings; und der Zustand, in dem sie Ernestine antraf, konnte diese Sorge nur vermehren. Es dauerte lange, bis diese Frau sich fortschicken ließ. Aber während ihres Aufenthalts im Zimmer hatte Ernestine Zeit, sich an ihr Glück zu gewöhnen; sie konnte ihre Kaltblütigkeit wiedergewinnen. Sie gab Philipp eine stolze Antwort, als dieser, nach dem Abgang der Gouvernante, wiederzuerscheinen wagte.

Ernestine war in den Augen ihres Liebhabers so schön, der Ausdruck ihrer Züge war so streng, daß Philipp bei dem ersten Wort ihrer Antwort das Gefühl hatte, alles, was er bisher gedacht hatte, wäre nur Einbildung gewesen und daß er nicht geliebt werde. Sein Gesichtsausdruck wechselte mit einem Mal und bot nur noch das Aussehn eines Verzweifelten. Diese Miene der Verzweiflung erschütterte Ernestine bis auf den Grund der Seele, aber sie hatte die Kraft, ihn fortzuschicken. Das einzige, was ihr von dieser seltsamen Unterredung im Gedächtnis blieb, war ihre Erwiderung auf sein Flehen, um ihre Hand anhalten zu dürfen. Sie hatte gesagt, seine Angelegenheiten, wie seine Neigungen, müßten ihn nach Paris zurückrufen. Da hatte er ausgerufen, seine einzige Angelegenheit auf der Welt wäre, Ernestines Herz zu verdienen; er schwüre zu ihren Füßen, daß er die Dauphiné nicht verlassen wollte, solange sie hier wäre, und daß er nie im Leben in das Schloß zurückkehren würde, das er bewohnt hatte, bevor er sie kannte.

Ernestine war fast auf dem Gipfel des Glückes. Am nächsten Tag kam sie wieder unter die große Eiche, aber im sicheren Geleit der Gouvernante und des alten Botanikers. Sie verfehlte nicht, einen Strauß und vor allem einen Brief zu finden. Nach Verlauf von acht Tagen hatte Astézan sie fast bestimmt, auf seine Briefe zu antworten. Da erfuhr sie eine Woche später, daß Madame Dayssin von Paris in die Dauphiné zurückgekehrt war. Eine lebhafte Unruhe verdrängte alle Gefühle in Ernestines Herz. Die Gevatterinnen des Nachbardorfes, die unter diesen Umständen über ihr Lebensschicksal entschieden, ohne es zu wissen, – und Ernestine versäumte keine Gelegenheit, sie schwatzen zu machen – sagten ihr endlich, daß Madame Dayssin, voll Zorn und Eifersucht, gekommen war, um ihren Liebhaber Philipp Astézan zu suchen, der, hieß es, im Land geblieben war mit der Absicht, Kartäusermönch zu werden. Um sich an die Härten des Ordens zu gewöhnen, hätte er sich in die Einöde von Crossey zurückgezogen. Man fügte hinzu, Madame Dayssin wäre verzweifelt. Ernestine erfuhr einige Tage später, daß es Madame Dayssin niemals gelungen war, Philipp zu sehn, und daß sie wütend nach Paris zurückgereist war. Während sich Ernestine diese süße Gewißheit bestätigen zu lassen suchte, war Philipp verzweifelt; er liebte sie leidenschaftlich und glaubte, nicht von ihr geliebt zu werden. Er erschien mehrere Male auf ihrem Wege und wurde in einer Weise empfangen, die ihn denken ließ, er hätte durch seine Kühnheiten den Stolz seiner jungen Geliebten verletzt. Zweimal reiste er in der Richtung nach Paris ab, zweimal kehrte er nach zwanzig Meilen Fahrt in seine Hütte in die Öde von Crossey zurück. Nachdem er sich mit Hoffnungen geschmeichelt hatte, die er jetzt leichtfertig geschöpft fand, versuchte er, der Liebe zu entsagen und fand, daß alle andern Freuden des Lebens für ihn nichtig geworden waren.

Ernestine war glücklicher; sie wurde geliebt und liebte. Die Liebe herrschte in dieser Seele, die wir nacheinander durch die sieben verschiedenen Perioden haben durchgehen sehn, welche die Gleichgültigkeit von der Leidenschaft trennen, und an deren Stelle die gewöhnlichen Menschen nur eine einzige Veränderung wahrnehmen, deren Natur sie sich nicht erklären können.

Philipp Astézan aber, um ihn zu strafen dafür, daß er eine alte Freundin beim Herannahen der Zeit, die man die Epoche des Alters für die Frauen nennen kann, verlassen hatte, geben wir einem der grausamsten Zustände preis, in welche die Menschenseele fallen kann. Er wurde geliebt von Ernestine, konnte aber ihre Hand nicht erhalten. Man verheiratete sie im folgenden Jahre an einen alten Generalstatthalter, der sehr reich und Ritter mehrerer Orden war.


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