Stendhal
Eine Geldheirat
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mina von Wangel

Übertragen von Franz Blei

Mina von Wangel war im Lande der Phantasie und der Philosophie, zu Königsberg, geboren. Gegen Ende des Feldzuges von 1814 verließ der preußische General Graf von Wangel plötzlich Hof und Heer. Eines Abends, es war vor Craonne in der Champagne nach einem mörderischen Kampf, in welchem die Truppen unter seinem Befehl Verrunyen besetzt hatten, befiel ihn ein Gewissenszweifel: Hat irgendein Volk das Recht, die tiefsteigne und vernünftige Norm, nach der ein andres Volk sein leibliches und geistiges Dasein regelt, zu ändern?

Mit diesem Problem beschäftigt, beschloß der General, fürder nicht mehr den Degen zu ziehen, solange er dieser Frage keine Antwort gefunden. Er begab sich auf seine Güter bei Königsberg.

Scharf überwacht von der Berliner Polizei, befaßte sich Graf Wangel nur noch mit seinen philosophischen Studien und seiner einzigen Tochter Mina die wenigen Jahre, die er noch zu leben hatte. Er starb noch jung und hinterließ seiner Tochter ein sehr bedeutendes Vermögen, eine schwache Mutter und die Ungnade des Hofes – was letzteres nicht wenig besagen will im dynastisch geregelten Germanien. Immerhin trug Mina gegen dies Mißgeschick den Blitzableiter eines der vornehmsten Namen Preußens. Sechzehn Jahre war sie erst alt und flößte doch schon den jungen Offizieren in der Umgebung ihres Vaters Gefühle ein, die bis zur Ehrfurcht, ja Begeisterung gingen. Die jungen Männer liebten das romantische etwas dunkle Feuer, das oft in Minas Blicken aufbrannte.

Ein Jahr der Trauer war zu Ende, aber der Schmerz über den Tod des Vaters wollte nicht abnehmen. Besorgte Freunde der Frau von Wangel sprachen das Wort Schwindsucht aus. Da mußte Mina an den Hof eines regierenden Fürsten, dessen entfernte Verwandte zu sein sie die Ehre hatte. Bei der Abreise nach C., der Residenz jenes Großherzogs, hoffte Frau von Wangel, erschreckt von der seltsamen Romantik und dem tiefen Schmerz der Tochter, daß eine standesgemäße Heirat und ein wenig Liebe sie den natürlichen Anschauungen ihres Alters zurückgeben würden. – »Wie sehr wünschte ich«, sagte sie zu ihr, »dich bald hier verheiratet zu sehen!« – »Hier? In diesem undankbaren Lande, das meinen Vater für seine Wunden und zwanzig Jahre hingebenden Dienstes mit Überwachung durch die gemeinste Polizei belohnte? Nein, Mutter, lieber wechsle ich die Religion und sterbe in der Stille eines katholischen Klosters.«

Mina kannte die Höfe nur aus den Romanen ihres Landsmannes August Lafontaine, die häufig die Liebesschicksale einer reichen Erbin darstellen, die der Zufall der Verführung durch einen jungen Obersten und Adjutanten des Monarchen aussetzt. Voll Abscheu war Mina gegen solche Liebe um des Geldes willen. »Was kann es«, sagte sie zu ihrer Mutter, sprach sie davon, »Gemeineres und Platteres geben, als das Leben eines solchen Paares ein Jahr nach der Hochzeit, wenn der Gatte, dank seiner Frau und ihres Geldes, Generalmajor geworden ist und die Frau Ehrendame bei der Erbprinzessin? Und was wird aus ihrem Glück, wenn sie mit ihren Ambitionen Mißerfolg haben?«

Aber der Großherzog von C. dachte nicht an die Hindernisse, die ihm die Romane von August Lafontaine bereiteten; er wollte das sehr bedeutende Vermögen des Fräuleins von Wangel an seinen Hof fesseln. Noch schlimmer aber war, daß einer seiner Abjutanten anfing, Mina den Hof zu machen, vielleicht auf höheres Geheiß. Mehr bedurfte es nicht, um sie zur Flucht aus Deutschland zu bestimmen. Das Unternehmen war durchaus nicht leicht.

– »Ich will dies Land verlassen,« sagte sie eines Tages zu ihrer Mutter, »ich will mein Vaterland verlassen.«

»Du machst mich zittern, wenn du so redest; deine Augen erinnern mich an deinen armen Vater. Ich werde ja nichts dagegen tun, ich werde keinen Gebrauch von meiner Autorität machen, aber erwarte nicht, daß ich bei den Ministern des Großherzogs um die Erlaubnis nachsuche, die wir notwendig brauchen, um ins Ausland zu reisen.«

Mina war sehr unglücklich. Die Erfolge ihrer großen blauen sanften Augen und ihrer vornehmen Gestalt nahmen rasch ab, als man am Hofe erfuhr, daß sie Gedanken hatte, die denen von Serenissimus widersprachen. So verging mehr als ein Jahr, Mina hoffte nicht mehr, die unerläßliche Erlaubnis zu erwirken; sie entwarf daher den Plan, als Mann verkleidet nach England zu gelangen, wo sie vom Verkauf ihrer Diamanten zu leben gedachte. Frau von Wangel nahm mit einigem Schrecken wahr, daß Mina seltsame Versuche anstellte, ihre Hautfarbe zu ändern. Bald danach erfuhr sie, daß ihre Tochter sich Männerkleider hatte machen lassen. Mina bemerkte, daß sie auf ihren Spazierritten immer irgendeinem Gendarmen des Großherzogs begegnete; aber bei der Phantasie, die sie von ihrem Vater hatte, machten die Schwierigkeiten, statt sie von einem Wagnis abzuhalten, ihr dies nur noch anziehender.

Ohne danach zu trachten, hatte Mina der Gräfin von D... gefallen. Diese Frau, die Geliebte des Großherzogs, war so seltsam und romantisch wie nur irgend jemand. Eines Tages, als Mina mit ihr ausritt, begegneten sie einem Gendarmen, der ihnen alsbald von weitem folgte. Das belästigte sie, und sie vertraute der Gräfin ihre Fluchtpläne an. Wenige Stunden später empfing Frau von Wangel ein eigenhändiges Schreiben des Großherzogs, der ihr eine Abwesenheit von sechs Monaten gewährte, um die Bäder von Baynières aufzusuchen. Es war neun Uhr abends; um zehn Uhr waren die Damen unterwegs und hatten am nächsten Tag, ehe die Minister des Großherzogs erwachten, glücklich die Grenze überschritten.

Es war zu Beginn des Winters 18.., daß Frau von Wangel und ihre Tochter in Paris eintrafen. Mina hatte große Erfolge auf den Bällen der Diplomatie. Man behauptete, die Herren der Botschaft hätten Auftrag, mit Vorsicht und Geschick zu verhindern, daß das Wangelsche Vermögen, Millionen, die Beute irgendeines französischen Abenteurers würde. In Deutschland glaubte man noch, daß die jungen Pariser von 1820 sich um Frauen kümmern.

Durch alle ihre deutschen Phantastereien hindurch hatte die achtzehnjährige Mina die ersten Lichtblicke der Erkenntnis; sie merkte, daß es ihr nie gelingen würde, sich mit einer Französin zu befreunden. Sie traf bei allen auf größte Höflichkeit, aber nach sechswöchentlicher Bekanntschaft standen sie ihr ferner als am ersten Tage. Zu ihrem Kummer bemerkte Mina, daß in ihrem Wesen etwas Unhöfliches und Fremdartiges lag, das die französische Urbanität lähmte. Ungewöhnlich mischte sich in ihr tatsächliche Überlegenheit und außerordentliche Bescheidenheit. Es war ein pikanter Gegensatz, wie die Tatkraft und Schnelligkeit ihrer Entschlüsse sich hinter Zügen verbargen, denen noch die ganze Harmlosigkeit und der ganze Reiz der Kindheit eigneten, und nie wurde dieser Ausdruck durch die bedächtigeren Züge zerstört, die der Vernunft eigentümlich, und diese verständige Vernünftigkeit war ja auch nie ein bezeichnender Zug von Minas Wesen.

Trotz der gesitteten Wildheit seiner Einwohner gefiel Paris Mina sehr. In der Heimat war es ihr schrecklich gewesen, daß man sie auf der Straße grüßte und ihre Kutsche kannte; in C. hatte sie in allen schlecht gekleideten Menschen, die den Hut vor ihr zogen, Spione gesehen; das Inkognito der Republik, die Paris heißt, war für dieses seltsame Geschöpf sehr verlockend. An Stelle der Annehmlichkeiten einer herzlichen Geselligkeit, die Minas ein wenig zu deutsches Herz noch vermißte, konnte man in Paris allabendlich einen Ball haben oder ein unterhaltendes Theater. Sie suchte nach dem Hause, das ihr Vater im Jahre 1814 bewohnt und von dem er ihr so oft erzählt hatte. Nachdem sie mit vieler Mühe den derzeitigen Mieter daraus entfernt hatte, richtete sie sich in dem Hause ein, und nun war Paris keine fremde Stadt mehr für sie. Fräulein von Wangel hatte ein Zuhause, dessen kleinste Räume sie, oft vom Vater beschrieben, wiedererkannte.

Obwohl seine Brust Kreuze und Orden bedeckt hatten, war Graf Wangel im Tiefsten ein Philosoph gewesen, träumend wie Spinoza, sinnend wie Descartes. Mina liebte die Spekulationen der deutschen Metaphysik und den edlen Stoizismus Fichtes, etwa so wie ein empfindendes Herz die Erinnerung an eine schöne Landschaft liebt. Kants ihre unverständlichen Worte erinnerten Mina an den Tonfall, mit dem ihr Vater sie aussprach. Mußte mit solcher Empfehlung nicht jede Philosophie rührend, ja sogar verständlich sein? Mina brachte einige vortreffliche Gelehrte dazu, ihr und ihrer Mutter regelrechte Vorlesungen zu halten.

Inmitten solchen Lebens, das morgens mit Studien und abends mit Gesandtschaftsbällen hinging, berührte die Liebe nie das Herz der reichen Erbin. Die Franzosen unterhielten sie, aber ließen sie kalt. – »Die Pariser sind ohne Zweifel«, sagte sie zu ihrer Mutter, die sie ihr oft rühmte, »die angenehmsten Menschen, die man treffen kann. Ich bewundere ihren glänzenden Geist, täglich überrascht und unterhält mich ihre feine Ironie aufs neue; aber finden Sie sie nicht etwas wie nachgemacht und lächerlich, sobald sie versuchen, Gefühle zu zeigen? Ist jemals ihre Erregung unbewußt?« – »Was nützt solche Kritik?« antwortete die verständige Frau von Wangel. »Wenn Frankreich dir mißfällt, so laß uns nach Königsberg zurückkehren; aber vergiß nicht, daß du neunzehn Jahre alt bist und daß ich nicht immer bei dir sein werde; denk daran, einen Beschützer zu wählen. Wenn ich sterben sollte,« fügte sie mit schwermütigem Lächeln hinzu, »würde dich der Großherzog von C. an seinen Adjutanten verheiraten.«

An einem hellen Sommertag waren Frau von Wangel und ihre Tochter nach Compiègne gefahren, um sich eine Hofjagd anzusehen. Mitten im Walde erblickte Mina plötzlich die Ruinen von Pierrfonds und war erschüttert davon. Noch ganz in deutschen Anschauungen befangen, kamen ihr alle Denkmäler des »neuen Babels« trocken, ironisch, ja böse vor. Aber die Ruinen von Pierrfonds waren für sie ergreifend wie die Burgentrümmer ihrer Heimat, und Mina beschwor ihre Mutter, einige Tage in der kleinen Herberge zu Pierrfonds Aufenthalt zu nehmen.

Die Damen waren da recht schlecht aufgehoben. An einem Regentage setzte sich Mina, naiv wie eine Zwölfjährige, in den Torweg des Wirtshauses und schaute in den Regen. Da fiel ihr Blick auf den Anschlag eines in der Nachbarschaft verkäuflichen Grundstückes. Und schon eine Viertelstunde später erschien sie, geführt von einer Herbergsmagd, die einen Schirm über sie hielt, beim Notar. Der war sehr erstaunt, wie dieses junge einfach gekleidete Mädchen mit ihm den Ankauf eines Grundbesitzes im Preise von mehreren hunderttausend Franken besprach und ihn bat, einen Kaufvertrag aufzusetzen und als Anzahlung einige Tausendfrankscheine der Bank von Frankreich zu quittieren.

Durch einen Zufall, den seltsam zu nennen ich mich hüte, wurde Mina nur wenig betrogen. Das gekaufte Grundstück hieß Petit-Verberie und sein Verkäufer, ein Graf von Ruppert, berühmt auf allen Schlössern der Picardie, war ein großer schöner junger Mann, den man im ersten Augenblick bewunderte, aber von dem bald darauf etwas Hartes und Gewöhnliches abstieß. Der Graf tat rasch mit Frau von Wangel befreundet, die er vortrefflich unterhielt. Graf Ruppert war vielleicht unter seinen jungen Zeitgenossen der einzige, der an jene liebenswürdigen Roués erinnerte, deren verlogene Romane die Memoiren der Lauzun und Tilly erzählen. Der Graf war gerade dabei, den Rest eines großen Vermögens zu verschwenden, wobei er die Wunderlichkeiten der großen Herren unter dem fünfzehnten Ludwig nachahmte und nicht begriff, wie Paris es fertigbrachte, sich nicht ausschließlich mit seiner Person zu beschäftigen. In seinen Träumen von Berühmtheit enttäuscht, hatte er sich toll in das Geld verliebt. Antwort, die auf seine Anfrage aus Berlin eintraf, brachte seine Leidenschaft für Fräulein von Wangel auf den Höhepunkt. Und sechs Monate später sagte Mina zu ihrer Mutter: »Man muß hier erst ein Stück Land kaufen, um Freunde zu haben. Vielleicht verlieren wir einige tausend Franken, wenn wir Petit-Verberie wieder losschlagen, aber wir zählen dafür jetzt eine Menge liebenswürdiger Damen zu unsern nächsten Bekannten.«

Aber so sehr Mina auch der neuen Bekannten bezaubernde Anmut bewunderte, nahm sie doch durchaus nicht das Wesen einer Französin an, sondern behielt ihre freie und natürliche deutsche Art. Frau von Cély, die vertrauteste ihrer neuen Freundinnen, sagte von Mina, sie sei wohl anders, aber nicht befremdlich, und eine reizende Grazie bewirke, daß man ihr alles verzeihe. Aus Minas Augen las man nicht ihre Millionen; sie hatte zwar nicht die soignierte Einfachheit der sehr guten Gesellschaft, aber war doch bezaubernd.

In das ruhige Leben fiel ein Donnerschlag und zerstörte es: Mina verlor ihre Mutter. Sobald der Schmerz ihr Zeit ließ, dem nachzudenken, fand Mina ihre Stellung schwierig. Frau von Cély hatte sie auf ihr Schloß genommen. »Sie müssen«, sagte ihr diese Freundin, eine Frau von dreißig Jahren. »Sie müssen zurück nach Preußen, das ist der beste Ausweg. Oder Sie müssen sich hier verheiraten, sobald die Trauerzeit um ist. Inzwischen lassen Sie sich so rasch wie möglich aus Königsberg eine Gesellschaftsdame kommen, wenn möglich eine Verwandte.«

Es gab einen starken Einwand. Die deutschen Mädchen, selbst die reichen, sind ja des Glaubens, man könne nur einen Mann heiraten, den man anbete. Frau von Cély nannte Mina zehn angemessene Partien, aber alle diese jungen Leute kamen Mina gewöhnlich, skeptisch, fast bösartig vor.

Mina verbrachte das unglücklichste Jahr ihres Lebens; ihre Gesundheit litt, ihre Schönheit verblich.

Eines Tages teilte Frau von Cély Mina mit, daß sie zum Diner eine Frau von Larçay erwarte, die reichste und liebenswürdigste Dame der Gegend. Die Eleganz ihrer Feste sei berühmt und sie verstünde es, mit liebenswürdiger von jeder Lächerlichkeit freien Art ihr beträchtliches Vermögen auszugeben. Mina aber war erstaunt, so viel Gewöhnliches und Prosaisches im Wesen der Frau von Larçay zu finden. So muß man also sein, um hier für liebenswert zu gelten und geliebt zu werden? In ihrem Schmerz – und deutschen Herzen ist Enttäuschung am Schönen ein Schmerz – achtet Mina gar nicht mehr auf Frau von Larçay und unterhielt sich aus Höflichkeit mit deren Gatten, einem einfachen Manne, dessen ganze Empfehlung darin bestand, daß er Page Napoleons zurzeit des russischen Rückzuges gewesen war und sich in diesem und den folgenden Kriegen durch eine für sein Alter ungewöhnliche Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Er unterhielt Mina anregend und ohne Überlegung von Griechenland, wo er vor kurzem sich gegen die Türken geschlagen hatte. Seine Unterhaltung gefiel Mina. Sie hatte den Eindruck, einen guten Freund nach langer Trennung wiederzusehn.

Nach dem Diner, auf einer Spazierfahrt durch den Wald von Compiègne fühlte Mina wiederholt Lust, Herrn von Larçay über die Schwierigkeiten ihrer Situation um Rat zu fragen. Das elegante Gehaben des Grafen von Ruppert, der den Wagen zu Pferd folgte, brachte die Natürlichkeit, ja Naivität Larçays noch stärker zur Geltung. Die bedeutenden Ereignisse, auf deren Höhe sein Leben in der Welt begonnen, hatten ihn das menschliche Herz wie es ist erfahren lassen und zur Bildung eines unbeugsamen, kalten, positiven, wohl kurzweiligen, aber gänzlich phantasielosen Charakters das ihre beigetragen. Aber gerade solche Menschen machen starken Eindruck auf Wesen, deren Stärke die Phantasie ist. Mina war erstaunt, einen Franzosen von solcher Einfachheit zu finden. Und abends, als die Gäste das Haus verlassen hatten, fühlte sich Mina wie von einem Freunde getrennt, seit Jahren vertraut mit allen ihren Geheimnissen. Alles erschien ihr dürftig und lästig, selbst die zärtliche Zuneigung der Frau von Cély. Hatte sie doch vor ihrem neuen Freund keinen ihrer Gedanken zu verbergen brauchen! Die ständige Angst vor der leichten Pariser Ironie hatte sie bei ihm nicht genötigt, einen Schleier über ihr unbekümmertes deutsches Empfinden zu werfen. Herr von Larçay hatte sie mit all diesen kleinen Worten und Gesten verschont, welche die elegante Welt im Verkehr mit Damen vorschreibt. Er war natürlich geblieben wie sie selber, und das machte ihn um acht oder zehn Jahre älter. Ihm gehörten eine Stunde lang Minas Gedanken, als er gegangen war.

Am nächsten Tage kostete es Mina bereits Mühe, Frau von Cély zuzuhören; was sie sagte kam ihr kalt und unangenehm vor. Nicht mehr zu vergessen nötige Phantasterei war nun für Mina die Hoffnung, ein freies und aufrichtiges Herz zu finden, dem nicht jede einfachste Bemerkung Thema für den Witz wurde. Sie verträumte den Tag. Am Abend nannte Frau von Cély Herrn von Larçay und Mina erhob sich zitternd, als ob man sie gerufen hätte; tief errötend hätte sie Mühe, sich über ihre seltsame Erregung klar zu werden. In ihrer Verwirrung konnte sie vor sich selber nicht länger geheimhalten, was sie den andern verbergen mußte. Sie flüchtete auf ihr Zimmer.

»Ich bin toll«, sagte sie sich. Und in diesem Augenblick begann ihr Unglück seinen Weg, setzte es seinen ersten Schritt. »Ich liebe – und liebe einen verheirateten Mann!« Dieser Vorwurf des Gewissens quälte sie die ganze lange Nacht.

Herr von Larçay wollte mit seiner Frau nach den Bädern von Aix in Savoyen reisen; er hatte bei Frau von Cély eine Karte liegen lassen, auf der er den Damen einen kleinen Umweg gezeigt hatte, den er auf der Reise nach Aix nehmen wollte. Eines der Kinder der Frau von Cély fand das Kärtchen, das Mina rasch an sich nahm und damit in den Park ging. Hier studierte sie aufmerksam den Reiseweg des Freundes. Die Namen der Städtchen, durch die er kommen würde, klangen ihr schön und ungewöhnlich und sie dachte sich malerische Bilder von deren Lage aus, beneidete die glücklichen Bewohner. So stark war sie in diesen süßen Wahnsinn eingefangen, daß ihr Gewissen schwieg.

Es war einige Tage darauf, daß Frau von Cély sagte, die Larçays wären nach Savoyen abgereist. Die Nachricht gab Minas Denken Richtung wie mit einem Ruck. Heftiges Verlangen zu reisen empfand sie von der Minute an.

Zwei Wochen später brachte ein Genfer Mietswagen eine deutsche Dame mittleren Alters nach Aix. Diese Dame benahm sich gegen ihre Zofe so aufgebracht, daß es Frau Teineds, der Wirtin, bei der man abgestiegen war, großen Unwillen erregte. Frau Cramer, so nannte sich die deutsche Dame, ließ Frau Teined rufen.

»Verschaffen Sie mir ein Mädchen aus dem Orte, das sich in Aix und der Umgebung auskennt. Mit dem schönen Fräulein da, das ich dummerweise mitgenommen habe, und die hier nichts kennt, kann ich nichts anfangen.«

Kaum war sie mit der Zofe allein, sagte Mutter Teined zu ihr: »Na, Ihre Herrin scheint ja recht wütend auf Sie zu sein.«

»Ach, lassen Sie sie,« sagte Aniken und hatte Tränen in den Augen, »das hat sich gerade gelohnt, mich aus Frankfurt fortzunehmen, wo meine Eltern einen schönen Laden haben. Meine Mutter läßt beim besten Schneider der Stadt arbeiten und ganz auf Pariser Art.«

»Ihre Gnädige will Ihnen, wie sie mir sagte, dreihundert Franken geben, wenn Sie nach Frankfurt zurück wollen.«

»Da würde ich schön empfangen werden. Nie wird meine Mutter glauben, daß Frau von Cramer mich ohne triftigen Anlaß fortgeschickt hat.«

»So bleiben Sie in Aix. Ich kann gut eine Stellung für Sie finden. Ich habe nämlich ein Dienstvermittlungsbureau, und die Badegäste beziehen von mir ihre Bedienung. Es kostet Sie sechzig Franken Spesen und dann bleiben Ihnen von den dreihundert der Frau von Cramer immer noch zehn schöne Louisdor.«

»Hundert Franken statt sechzig gebe ich Ihnen,« sagte Aniken, »wenn Sie mich bei einer französischen Familie unterbringen. Ich will nämlich perfekt französisch lernen und dann nach Paris in Dienst gehen. Ich kann sehr gut nähen, und als Treupfand werde ich bei meiner neuen Herrschaft zwanzig Louisdor hinterlegen, die ich aus Frankfurt mitgebracht habe.«

Der Zufall begünstigte den Roman, der Fräulein von Wangel schon zwei oder dreihundert Louisdor gekostet hatte: Herr und Frau von Larçay stiegen im ›Kreuz von Savoyen‹, dem Modehotel, ab. Aber Frau von Larçay fand, daß es in dem Hotel nur Spießbürger gäbe und nahm Wohnung in einem reizenden Haus am See von Bourget.

Das Badeleben war dieses Jahr recht lebhaft; eine Menge reicher Leute war da und es gab häufige Bälle, für die man sich putzte wie in Paris; und jeden Abend gab es in der Redoute große Gesellschaft.

Nicht zufrieden mit den eingebornen Aixer Mädchen, die ihr nicht geschickt und sorgfältig genug waren, wies man Frau von Larçay um ein anderes Mädchen an das Bureau der Frau Teined, die zuerst ihre braven Landmädchen vorführte, bevor Aniken vorgestellt wurde, deren ernstes Aussehen Frau von Larçay gefiel; sie nahm sie in Dienst und ließ ihren Koffer holen.

Sobald am selben Abend die Herrschaft zur Redoute gegangen war, hatte sich Aniken in den Park begeben, der sich zum Seeufer hinunterzog. Träumerischer Gedanken war sie voll.

»Nun ist die große Tollheit gelungen. Aber was wird aus mir, wenn mich jemand erkennt? Was würde Frau von Cély sagen, die mich in Königsberg glaubt?« Der Mut, der sie aufrechterhalten hatte, solange es zu handeln galt, fing an Mina zu verlassen. Das Herz war ihr schwer, und schwer ging ihr der Atem. Reue, Furcht, Scham bedrängten sie und machten sie unglücklich. Da ging hinter den Bergen von Haute-Combe der Mond auf, und seine Scheibe spiegelte sich im See, dessen Wasser Wind aus Norden leicht bewegte. Große helle Wolken von wunderlichen Formen strichen eilend über den Himmel und kamen Mina wie gigantische Riesen vor. »Sie kommen aus meiner Heimat, wollen mich sehen, mir Mut machen für die Rolle, die ich spielen muß.« Ihr leidenschaftliches Auge folgte dem eilenden Zuge. »Schatten meiner Ahnen, erkennt mich, euer Blut! Mut habe ich wie ihr! Erschreckt nicht über mein wunderliches Magdkleid. Ich werde der Ehre Treue halten. Euer Erbe des heimlichen Feuers von Ehre und Heldentum findet nichts seiner würdig in diesem öden Zeitalter, in das das Geschick mich geworfen hat. Werdet ihr mich verachten, weil ich mir ein Schicksal schaffe aus meinem innern Glühen?«

Mina war nicht mehr unglücklich.

Wohlklingend schwammen Töne aus der Ferne herüber; wohl vom andern Ufer des Sees kam die Stimme, deren verhallende Melodie kaum bis zu Minas aufmerksamem Lauschen drang. Und ihre Gedanken nahmen andere Richtung. Ihr seltsames Geschick machte ihr das Herz weich.

»Wozu all meine Mühe? Würde mir je Gewißheit werden, daß die himmlische und reine Seele, von der ich träumte, wirklich in der Welt lebt? Und wenn sie lebt, wird sie für mich unsichtbar bleiben. Habe ich je mit andern vor meinem Kammermädchen gesprochen? Meine Verkleidung wird nur den Erfolg haben, mich der Gesellschaft von Alfreds Bedienten auszusetzen. Er wird sich nicht herablassen, mit mir zu sprechen.«

Tränen stürzten ihr aus den Augen.

»Aber sehen werde ich ihn wenigstens und jeden Tag! Wenigstens sehen!« Das sagte Mina ganz laut und bekam wieder Mut. »Mehr Glück war nicht für mich bereitet ... Die arme Mutter hatte Recht, als sie mir sagte: ›was wirst du für Tollheiten anstellen, wenn du dich einmal verliebst!‹«

Die singende Stimme über dem Wasser klang stärker auf, und Mina merkte, daß sie von einem Boote kam, dessen leise Bewegung sich den Wellen mitteilte, die im Monde silberten. Die Stimme sang eine süße Melodie; von Mozart könnte sie sein, dachte Mina.

Und es wichen von ihr alle Vorwürfe, die sie sich machte und sie dachte nur mehr an dieses eine: das Glück, Alfred jeden Tag zu sehen.

»Muß nicht jedes Geschöpf seine Bestimmung erfüllen? Trotz aller Glücksfälle von Geburt und Vermögen setzt es sich durch, dieses mein Los, das nicht ist, als Stern an einem Hofe oder auf einem Balle zu glänzen. Ich zog aller Blicke auf mich; man bewunderte mich, und mein Überdruß an all dem wurde Schwermut. Man drängte sich, mit mir zu sprechen, und ich langweilte mich. Glückliche Augenblicke gab es nur, wenn ich ungestört von Lästigen Mozartsche Musik hörte. Der Mensch will glücklich sein, das trieb mich zu dem Seltsamen, das ich tue, und das mich entehren wird. Sei es immer! Das Kloster ist letzte Zuflucht.«

Vom andern Ufer herüber klang der Schlag einer Kirchenuhr. Es war Mitternacht. Mina schauerte es. Der Mond stand hinter Wolken. Sie ging ins Haus zurück. Auf der Galerie, die gegen See und Garten ging, erwartete Mina als Aniken ihre Herrschaft.

»Meine Vorväter verließen ihre Burgen, um ins Heilige Land zu ziehen; verkleidet wie ich, im Kampf mit tausend Gefahren, kamen sie Jahre darauf zurück. Der Mut, der sie belebte, wirft mich in die einzigen Gefahren, die in diesem platten und gewöhnlichen Jahrhundert meinem Geschlechte zugeteilt sind. Geh ich mit Ehren daraus hervor, so mögen die großen Geister meiner Ahnen über meine Schwäche sich verwundern, aber im geheimen werden sie mir verzeihen.«

Rasch vergingen die Tage und söhnten Mina mit ihrem Schicksal aus; heitern Mutes nahm sie die Pflichten ihres neuen Standes auf sich. Als ob sie eine Komödie spielte, schien es ihr oft, und lachte über sich selber, entschlüpfte ihr eine Bemerkung, die zu ihrer Rolle nicht paßte. Nach dem Frühstück pflegte die Herrschaft auszufahren. Als eines Tages der Lakai den Wagentritt herunterließ, kam Mina raschen Schrittes und wollte einsteigen; sie hatte ganz vergessen, daß sie Aniken war.

»Das Mädchen ist verrückt«, sagte Frau von Larçay, und Alfred sah zum ersten Male Mina aufmerksamer an; er fand das Mädchen von vollendeter Anmut.

Gedanken der Pflicht und Furcht vor Lächerlichkeit kannte Mina so wenig wie praktische Menschenklugheit. Ihre einzige Sorge war, den Verdacht der Frau von Larçay nicht zu erregen, mit der sie, kaum sechs Wochen war es her, einen ganzen Tag in einer ganz andern Rolle als ihrer jetzigen verbracht hatte.

Jeden Tag stand Mina frühmorgens auf und machte die Toilette ihrer selbstgewählten Rolle mit Sorgfalt. Wie oft hatte man ihr gesagt, daß es schwer sei, ihr volles blondes Haar zu vergessen – nun hatte die Schere darin gehaust. Eine Tinktur gab ihrem hellen Teint einen dunklen Ton. Ein Abguß von Stechapfelblättern war das Wasser, in dem sie jeden Morgen ihre zarten Hände wusch, um die Haut rauh zu machen. Um ganz in ihrer Rolle zu sein, bemühte sich Mina auch um ihre Gedanken, nahm ihnen Flug und Höhe. Ganz in ihr Glück eingesponnen, hatte sie zu reden kein Verlangen. So saß sie im Zimmer der Frau von Larçay am Fenster, damit beschäftigt, die Robe für den Abend zurechtzumachen und auf Alfreds Stimme zu lauschen in wachsender Bewunderung seines Wesens. Ich erzähle von einem deutschen Mädchen und kann es deshalb sagen: Es gab Augenblicke, wo sie ganz hingerissen von Glück des Glaubens war, Alfred sei ein höheres Wesen.

Der aufrichtige Eifer, mit dem Mina ihrem Dienste oblag, hatte seine natürliche Wirkung auf Frau von Larçay, die eine recht gewöhnliche Natur war; sie behandelte Mina von oben herunter wie ein armes Ding, das überglücklich sein müßte, Beschäftigung zu bekommen. »Bei dieser Frau wird alles Lebendige und Echte immer falsch am Platze sein«, sagte sich Mina und ließ ihre Absicht erraten, wieder bei Frau von Cramer in Dienst zu treten, zu deren Besuch sie fast jeden Tag um Urlaub bat.

Mina hatte gefürchtet, ihre Manieren könnten Frau von Larçay auf ihr gefährliche Gedanken bringen; aber sie merkte bald mit Vergnügen, daß die neue Herrin in ihr nur ein Mädchen sah, das im Schneidern weniger geschickt war als die in Paris zurückgelassene Zofe. Herr Dubois, Alfreds Kammerdiener, war schwieriger. Der vierzigjährige, sorgfältig gekleidete Pariser hielt es für seine Pflicht, der neuen Kollegin den Hof zu machen. Aniken brachte ihn zum Erzählen und war froh, als seine einzige Leidenschaft ein Café in Paris zu entdecken, das er einmal mit seinen Ersparnissen aufmachen wollte. Mina machte daraufhin Herrn Dubois ungeniert Geldgeschenke, und alsbald bediente er sie mit ebensoviel Hochachtung wie Frau von Larçay selber.

Hätte während der beiden ersten Monate, die Fräulein von Wangel in Aix verbrachte, einer sie um ihr Ziel gefragt, die Kindlichkeit ihrer Antwort würde ihn erstaunt haben und er hätte auf eine kleine Heuchelei geraten. Den angeschwärmten Mann immer sehen und hören können, war, was sie vom Leben wollte; nichts anderes begehrte sie, viel zu glücklich darin, als daß sie an die Zukunft gedacht hätte. Hätte ein nachdenklicher Freund ihr gesagt, diese Liebe könnte einmal aufhören, so rein und unschuldig zu sein, so hätte sie das eher erzürnt als erstaunt. Mina gab sich ganz der Lust hin, den Charakter ihres Angebeteten zu studieren und zu bewundern, dessen stille einfache Art im starken und beglückend empfundenen Gegensatz zu der hohen Gesellschaft stand, in welche Rang und Vermögen ihres Vaters, der Mitglied des Herrenhauses gewesen war, Mina gestellt hatten. Unter Bürgern lebend, hätte Larçays Einfachheit und Abneigung gegen alles Vornehmtun ihn diesen Bürgern als einen mittelmäßigen Menschen erscheinen lassen. Niemals suchte er etwas Witziges um des Witzes willen zu sagen, welche Eigentümlichkeit vom ersten Tage an das meiste dazu getan hatte, Minas Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sah ja die Franzosen durch das Vorurteil ihrer Heimat, und so kam ihr französische Unterhaltung immer vor wie Suchen nach einer Pointe, nach dem Kehrreim des gerade populären Gassenhauers. Larçay war in seinem Leben mit so vielen vortrefflichen Menschen zusammengekommen, daß er aus der bloßen Erinnerung geistvoll sein konnte; aber er mied es wie eine Niedrigkeit, Dinge auch in der gewöhnlichsten Konversation zu sagen, die er nicht selber in diesem Augenblick gewissermaßen erfunden hätte; einen Scherz, ein Wort, das ebensogut auch ein anderer in der Gesellschaft sagen konnte, das sagte er nicht. Er verbilligte, was er zu sagen hatte, nicht in die kurrente Münze witziger Konversation.

Jeden Abend begleitete Herr von Larçay seine Frau bis zu den Türen des Redoutensaales und kehrte dann wieder nach Hause zurück, um sich, ein leidenschaftlicher Botaniker, mit seinen Pflanzen zu beschäftigen, die er in Mappen in dem Salon untergebracht hatte, in dem Aniken arbeitete. Jeden Abend waren sie ganze Stunden allein beisammen, ohne daß von der einen oder der andern Seite ein Wort gesprochen wurde. Beide waren sie wie befangen und dennoch im Gefühle eines unbestimmten Glückes. Eine einzige kleine Aufmerksamkeit erlaubte sich Aniken, und auch diese nur, weil sie in den Pflichtenkreis ihrer Stelle gerechnet werden konnte: sie richtete die Gummilösung her, dazu dienend, die getrockneten Pflanzen ins Herbarium zu kleben. Kam Alfred einmal nicht, so beschäftigte sich Mina mit den Pflanzen, die er von seinen Ausflügen mitgebracht hatte; sie begann die Botanik zu lieben und ließ es Alfred merken, der diese botanischen Neigungen des Mädchens erst für ihn ganz bequem, dann aber bald seltsam fand. »Er liebt mich,« sagte sich Mina, »aber mein dienender Eifer hatte schlimme Wirkung auf Frau von Larçay, ich muß vorsichtig damit sein.«

Eine angebliche Erkrankung der Frau von Cramer benutzte Mina, um die Erlaubnis zu bitten, ihre Abende bei der alten Herrin zu verbringen. Herr von Larçay merkte mit Erstaunen, daß sein Interesse an der Botanik abnehme; er blieb die Abende in der Redoute, wo ihn seine Frau mit der Langweile seiner Einsamkeit neckte. Larçay mußte sich gestehen, daß er an dem jungen Mädchen Gefallen gefunden hatte; seine Schüchternheit in ihrer Gegenwart verdroß ihn; und für einen Augenblick kam ihm ein Lebemannsgedanke: »Warum soll ich es nicht machen wie es jeder meiner Freunde täte? Es ist doch schließlich nur eine Kammerzofe!«

An einem regnerischen Abend blieb Mina zu Hause. Larçay ließ sich nur für einen Augenblick in der Redoute sehen. Er tat überrascht über Minas Anwesenheit im Salon. Mina merkte dieses kleine falsche Spiel und es nahm ihr alles Glück, das sie sich von diesem Abend versprochen hatte. Und dies gab ihr wohl auch die echte Entrüstung, mit der sie Larçays kecken Angriff zurückwies. Sie begab sich in ihr Magdzimmer.

»Ich habe mich getäuscht«, sagte sie sich. »Diese Franzosen sind alle gleich.«

In dieser Nacht war sie darauf und daran, nach Paris zurückzukehren. Der verachtende Blick, mit dem sie am nächsten Tage Larçay ansah, war nicht gespielt. Larçay war geärgert. Er beachtete Mina überhaupt nicht mehr und verbrachte seine Abende in der Redoute. Ahnungslos gebrauchte er das beste Mittel. Seine Kühle ließ Mina die Rückkehr nach Paris vergessen. »Der Mensch ist mir nicht gefährlich«, sagte sie sich; und acht Tage später verzieh sie ihm in ihrem Gefühle den kleinen Rückfall in den französischen Nationalcharakter.

An der Langweile unter den Damen in der Redoute merkte Larçay, daß er verliebter war als er gedacht hatte. Aber er gab nicht nach. Er ließ gern seine Augen auf Mina, sprach auch mit ihr, vermied es aber, abends mit ihr allein zu sein. Mina wurde unglücklich. Und vergaß darüber die morgendliche Sorgfalt bei ihrem Schminken und Färben. »Seltsam,« sagte sich Larçay, »Aniken wird jeden Tag schöner.«

Eines Abends kam er zufällig nach Hause. Er konnte sich nicht länger beherrschen und bat Aniken um Verzeihung wegen der Leichtfertigkeit von unlängst.

»Ich fühlte, daß Sie mir ein Interesse einflößten, das ich noch nie für jemanden empfunden habe, und ich bekam Angst davor. Ich wollte mich kurieren oder mich mit Ihnen überwerfen. Seitdem bin ich der unglücklichste Mensch.«

»Wie Sie mich glücklich machen, Alfred!« rief Mina strahlend vor Glück. Diesen und die nächsten Abende gehörten dem Geständnis ihrer Liebe bis zur Tollheit und dem gegenseitigen Versprechen, nie die erlaubten Grenzen zu überschreiten.

Larçays bedächtiges Wesen war Illusionen ganz unzugänglich. Er wußte, daß Verliebte immer besondere Vorzüge an dem geliebten Geschöpf entdecken. Die Schätze von Geist und Zartgefühl, die er bei Mina fand, überzeugten ihn, daß er wirklich und wahrhaftig verliebt war. »Kann dies nur eine Täuschung sein?« fragte er sich und verglich Minas Worte vom Abend vorher mit dem, was die Damen in der Redoute redeten. Mina wieder fühlte, daß sie nah daran gewesen war, den Geliebten zu verlieren. Was wäre aus ihr geworden, wenn er weiter seine Abende in der Redoute verbracht hätte! Sie spielte nun nicht länger mehr das Mädchen aus dem Volke; nie im Leben war sie gefallsüchtig gewesen. »Muß ich ihm sagen, wer ich bin? Er muß, so wie er ist, meine Tollheit tadeln, auch wenn sie für ihn begangen wurde. Dann muß mein Schicksal sich auch hier in Aix entscheiden. Nenne ich ihm Fräulein von Wangel, deren Landgut nur wenige Meilen weit von dem seinen, so weiß er ja, daß er mich in Paris wiedersieht. Und er muß doch durch die Gewißheit, mich nie mehr wiederzusehen, zu dem Ungewöhnlichen bestimmt werden, das zu unserm Glück notwendig ist. Wird dieser besonnene ruhige Mann sich entschließen, die Religion zu wechseln, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und als mein Mann auf meinen ostpreußischen Gütern zu leben?«

Das Wort »illegitim« stellte sich nicht als unüberwindliches Hindernis vor Minas Pläne. Und da sie ohne Zögern tausendmal ihr Leben für diesen Mann geopfert hätte, glaubte sie sich mit keinem Schritt von der Sittsamkeit und Tugend zu entfernen.

Frau von Larçay begann eifersüchtig auf Aniken zu werden. Die seltsame Veränderung im Gesichte des jungen Mädchens war ihr nicht entgangen, und sie schrieb sie der Koketterie zu. Erst wollte sie Aniken ohne weiteres aus dem Hause werfen, aber die Damen ihrer Bekanntschaft stellten ihr vor, daß sie einer kleinen Laune des Gatten keine solche Wichtigkeit geben dürfe; zu vermeiden wäre nur, daß Herr von Larçay das Mädchen nach Paris kommen lasse. »Seien Sie klug, und die Geschichte ist mit der Saison zu Ende.«

Frau von Larçay sprach mit Frau Cramer. Und ihrem Gatten gab sie in halben Sätzen und Anspielungen zu verstehen, daß diese Aniken nichts als eine Abenteuerin sei, die wegen irgendeines straffälligen Streiches von der Wiener oder Berliner Polizei verfolgt sich in Aix verborgen halte und hier wahrscheinlich die Ankunft ihres Helfershelfers erwarte. Die Sache weiter zu untersuchen sei ja nicht ihre, der Frau von Larçay, Aufgabe, aber man müsse nach allem die Wahrscheinlichkeit eines Gerüchtes zugeben, das doch mehr als ein Gerücht sein könnte. In Alfreds Seele warfen diese Worte Verwirrung. Es stand für ihn längst außer Zweifel, daß Aniken keine Kammerzofe war, aber welchen schwerwiegenden Grund hatte sie, diese mühsame Rolle zu spielen? Es konnte nur Furcht sein.

Mina erriet leicht die Ursache der Unruhe in Larçays Blick. Eines Abends war sie so unvorsichtig, ihn zu fragen; und er gestand. Mina war bestürzt. Larçay war ja der Wahrheit so nahe, daß sie zunächst große Mühe hatte, sich zu verteidigen. Jene Frau Cramer war ihrer Rolle untreu geworden und hatte erraten lassen, daß Aniken an Geld kein großes Interesse nehme. Verzweifelt über den Eindruck, den die Äußerungen jener Frau auf Larçay machten, war Mina nahe daran, zu sagen, wer sie war. Der Mann, der Aniken bis zum Wahnsinn liebte, würde auch Mina von Wangel lieben. Aber er würde ja dann sicher sein, sie in Paris zu treffen, und so könnte sie nicht das Opfer von ihm erreichen, das ihre Liebe notwendig brauchte!

In solcher Qual verbrachte Mina den Tag, der ihr einen noch schwereren Abend brachte. Würde sie, mit Alfred allein, den Mut finden, der Traurigkeit in seinen Augen zu widerstehen? Würde sie es ertragen können, daß ein nur zu natürlicher Argwohn seine Liebe schwäche oder gar zerstöre?

Larçai führte des Abends seine Frau in die Redoute und er kam nicht zurück. Es war Maskenball und die Straßen voll mit Neugierigen, die zu Wagen aus Chambéry, ja aus Genf gekommen waren. Der lustige Lärm in den Gassen steigerte Minas trübe Schwermut. Sie hielt es im Salon nicht mehr aus, wo sie seit Stunden vergeblich auf die Rückkehr des Geliebten gewartet hatte. Sie ging zu Frau Cramer, ihrer Gesellschaftsdame. Diese Frau bat sie sehr kühl um ihre Entlassung; sie wäre zwar arm, vermöchte aber die wenig saubere Rolle nicht weiter zu spielen, die ihr das Fräulein gegeben habe. Zu verstandesmäßigen Erwägungen war Mina unfähig; aber in außergewöhnlichen Situationen bedurfte es nur eines Wortes, daß sie klar erkannte. Sie war ganz betroffen von der Bemerkung der Frau. »Meine Verkleidung täuscht niemanden mehr«, sagte sie sich. »Ich habe meine Ehre verloren und man nimmt mich für eine Abenteurerin. Aber da ich alles für ihn verloren habe, wäre ich toll, gönnte ich mir nicht das Glück, ihn zu sehn. Ich will auf den Ball gehen.«

Sie ließ sich ihren Domino kommen und legte kostbaren Schmuck an, den sie aus Paris mitgenommen hatte. Der Schmuck sollte sie unter der Menge der Masken auffallend machen; vielleicht würde Larçay sie ansprechen.

Am Arm ihrer Gesellschafterin betrat Mina den Ballsaal: ihr beharrliches Schweigen auf jede Anrede der Masken erregte Neugierde. Endlich entdeckte sie Herrn von Larçay. Er kam ihr sehr niedergeschlagen vor. Mina durchschauerte ein Gefühl des Glückes. Da sagte sehr leise eine Stimme hinter ihr: »Die Liebe erkennt Fräulein Mina von Wangel in jeder Verkleidung.« Bestürzt drehte sich Mina um und erkannte den Grafen von Ruppert. Eine schlimmere Begegnung konnte es für sie nicht geben. Er redete weiter. »Ich habe Ihre in Berlin gefaßten Brillanten wiedererkannt. Ich komme aus Teplitz, Spa, Baden-Baden. Ich suchte Sie in allen Bädern Europas« – »Noch ein Wort« sagte Mina, »und Sie sehen mich nie mehr wieder. Seien Sie morgen abend um sieben gegenüber dem Hause Nummer siebenzehn rue de Chambéry.«

»Wie kann ich ihn hindern, mein Geheimnis den Larçays zu verraten?« – dieser Gedanke hielt Mina die Nacht in qualvoller Unruhe. Immer wieder kam ihr der Gedanke, Pferde zu bestellen und sofort abzureisen. »Aber dann wird Alfred sein Leben lang glauben, daß diese geliebte Aniken eine dunkle Abenteurerin war auf der Flucht vor den Folgen einer schlechten Tat. Und fliehe ich, ohne diesen Herrn von Ruppert zu sprechen, so wird ihn auch die Ehre nicht hindern, zu reden. Aber was nur, was sage ich ihm, wenn ich bleibe?«

Auf dem Balle scharte Frau von Larçay wie immer die ganze vornehme und geistlose Männerwelt, die ihre Langweile durch die Bäder spazieren führt, um sich. Der Domino erlaubte freiere Unterhaltung als im Salon, und so sprach man von der schönen deutschen Kammerzofe, der eine und andere sogar mit wenig delikaten Anspielungen auf eine Eifersucht der Herrin, und eine Maske riet ihr ganz ungeniert, sich doch an ihrem Gatten mit einem Liebhaber zu rächen. Das Wort wirkte Unheil in der besonnenen Frau, die solchen Ton nicht kannte.

Andern Tages gab eine Spazierfahrt auf dem See Mina frei, die sich zu Frau Cramer begab, wo sie den Grafen Ruppert empfing. Er hatte sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt.

»Ein großes Mißgeschick hat meine Lage völlig verändert und bringt mich dazu, Ihre Liebe zu würdigen. Paßt es Ihnen, eine Witwe zu heiraten?«

»Wie? Sie wären heimlich vermählt gewesen?«

»Haben Sie das nicht daraus erkennen können, daß ich Ihre Hand ausschlug?«

»Sie sind ein seltsames Geschöpf«, sagte Ruppert.

Aber Mina unterbrach ihn: »Ich bin mit einem meiner unwürdigen Mann verheiratet. Aber meine protestantische Religion, die Sie annehmen zu sehen ich glücklich wäre, gestattet mir die Scheidung. Glauben Sie indessen nicht, daß ich in diesem Augenblick für irgend jemand Liebe empfinden kann und wäre es auch ein Mann, der mir die höchste Achtung und das größte Vertrauen einflößte – ich kann Ihnen nur Freundschaft anbieten. Ich liebe Frankreich und möchte in Frankreich bleiben. Ich brauche einen Beschützer. Sie haben einen Namen, besitzen Geist und alles, was Stellung in der Welt gibt. Ein großes Vermögen kann aus Ihrem Hause das erste in Paris machen. Wollen Sie mir folgen wie ein Kind? Dann, aber nur um diesen Preis, bin ich in einem Jahre die Ihre.«

Während Minas langer Rede überlegte der Graf die Wirkungen eines unangenehmen Romanes auf die Welt, den Minas Vorschlag zu spielen verlangte, der aber immerhin ein bedeutendes Vermögen einbrachte und ihn mit einer im Grunde vortrefflichen Frau versorgte. Er suchte auf alle Arten tiefer in Minas Geheimnis einzudringen, die ihn lächelnd abwehrte.

»Nichts kann nutzloser sein als die Mühe, die Sie sich geben, lieber Graf. Was ich Ihnen sagte, muß Ihnen genügen. Würden Sie den Mut eines Löwen und die Folgsamkeit eines Kindes aufbringen?«

»Ich bin Ihr Sklave«, sagte Ruppert und küßte ihre Hand.

»Ich lebe verborgen in der Nähe von Aix, aber ich höre von allem, was sich hier zuträgt. Seien Sie von heute ab in einer Woche am Seeufer gegen Mitternacht; Sie werden eine Feuerpfanne auf dem Wasser schwimmen sehen, Zeichen, daß ich am Tag darauf um neun Uhr abends hier sein werde; ich erlaube Ihnen, zu kommen. Aber nennen Sie jemandem meinen Namen, so sehen Sie mich in Ihrem Leben nicht wieder.«

Während der Spazierfahrt auf dem See war des öftern von Anikens Schönheit die Rede gewesen. Frau von Larçay kam daher in einem Zustande von Gereiztheit nach Hause, der ihrem sonst so gemessenen Wesen ganz fremd war. Sie sagte Mina harte Worte, die das deutsche Mädchen um so mehr schmerzten, als sie in Alfreds Gegenwart gesprochen wurden und er sie mit keinem Wort verteidigte. Mina antwortete Frau von Larçay zum ersten Male mit einiger Schärfe, und diese glaubte den Ton sich nicht anders erklären zu können, als mit der Sicherheit eines Mädchens, das auf seine Liebe pocht und darüber ihre Stellung vergißt. Ihr Zorn kannte nun keine Grenzen mehr. Sie beschuldigte Mina, daß sie sich mit Liebhabern Rendezvous bei Frau Cramer gebe. »Hat mich dieser Schuft von Ruppert schon verraten?« fragte sich Mina. Herr von Larçay sah sie scharf an, wie um sie zu inquirieren, und die Unzartheit dieses Blickes gab Mina den Mut der Verzweiflung. »Es ist eine Lüge«, sagte sie und schwieg. Frau von Larçay jagte sie darauf aus dem Hause. Es war zwei Uhr morgens.

Mina ließ sich von Dubois zu Frau Cramer begleiten. Hier schloß sie sich in ihr Zimmer ein und vergoß Tränen des Zornes in dem Gedanken, wie wenige Mittel zur Rache ihr die freiwillig gewählte Stellung ließ.

»Wäre es nicht das beste, hier alles im Stich zu lassen und nach Paris zurückzukehren! Ich komme hier nicht zu Ende. Es geht über meine Kraft. Aber Larçay, er wird mich sein Leben lang verachten als Aniken, die Abenteurerin!« Mina fühlte, daß diese grausame Vorstellung sie nicht mehr verlassen würde, daß sie in Paris noch unglücklicher wäre als hier in Aix. »Frau von Larçay verbreitet Lügen über mich, Gott weiß, was in der Redoute von mir alles erzählt wird! Das Gerede wird mir Alfred rauben. Wie sollte es denn ein Franzose anfangen, nicht zu denken wie alle Welt denkt? Er konnte anhören, was mir seine Frau sagte, und hatte kein Wort des Widerspruches, kein Wort des Trostes für mich. Liebe ich ihn denn noch? Sind diese Qualen, die ich erleide, nicht die letzten Regungen dieser unseligen Liebe, die zu sterben kommt? Es ist gemein, sich nicht zu rächen.« Die Rache war Minas letzter Gedanke.

Bei Tagesanbruch ließ sie Herrn von Ruppert rufen. Ihn erwartend, durchschritt sie unruhig den Garten. Eine schöne Sommersonne stieg langsam auf über freundlich-morgendlicher Natur. Der Anblick steigerte Minas Zorn. Endlich kam der Erwartete. »Er ist ein Geck,« sagte sich Mina, »man muß ihn erst eine Stunde lang schwätzen lassen.«

Mina empfing Herrn von Ruppert im Salon. Ihr Blick lag auf dem Zifferblatt der Wanduhr, deren Minuten sie zählte. Der Graf war entzückt. Zum erstenmal hörte diese kleine Deutsche ihm mit der Aufmerksamkeit zu, die seine Liebenswürdigkeit verdiente.

»Glauben Sie nun wenigstens an meine echten Gefühle für Sie?« fragte er nun Mina, welche gerade fünfzig Minuten gezählt hatte.

»Ich glaube alles. Rächen Sie mich.«

»Was habe ich zu tun?«

»Sie haben Frau von Larçay zu gefallen. Sie haben ihrem Gatten die Gewißheit zu geben, daß sie ihn betrüge. Die Gewißheit ohne jeden Zweifel. Dann wird er an ihr das vergelten, was mir diese Frau angetan hat.«

»Ihr kleiner Plan ist schlimm«, sagte der Graf.

»Sie wollen sagen, zu schwer für Sie«, sagte Mina und lächelte ein wenig ironisch.

»Schwer? Nein«, sagte Ruppert empfindlich und fügte im leichtfertigsten Ton gleich hinzu: »Ich werde diese Frau zugrunde richten. Schade, sie ist eine gute Person.«

»Vergessen Sie nicht, Herr von Ruppert, daß ich Sie durchaus nicht verpflichte, Frau von Larçay wirklich zu gefallen. Was ich wünsche, ist nur der trügende Schein. Der Gatte soll nicht daran zweifeln, daß Sie gefallen.«

Der Graf verabschiedete sich. Mina fühlte Erleichterung. Sich rächen ist handeln, handeln ist hoffen. »Wenn Larçay stirbt,« sagte sie sich, »würde ich sterben.« Und sie lächelte. Das Glück, das sie in diesem Augenblick empfand, schied sie für immer von der ehrbaren Tugend. Die Prüfung dieser Nacht war zu schwer für sie gewesen. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen, in seiner Gegenwart verleumdet zu werden und ihn dieser Verleumdung Glauben schenken zu sehen. Ehrbare Tugend – das Wort wird sie künftig wohl noch aussprechen können, aber sie wird damit ein Trugbild bezeichnen. In ihrem Herzen war nichts mehr sonst als Leidenschaft der Liebe und der Rache.

Sie entwarf den Plan – war er ausführbar? Das war ihr einziger Zweifel, denn sie hatte nur diese beiden Hilfsmittel, die Ergebenheit eines Gecken und ihr Geld. Würde das genügen?

Da trat Herr von Lançay in ihr Zimmer.

»Was wollen Sie hier?« sagte Mina kühl.

»Ein Unglücklicher will mit seiner besten Freundin auf der Welt weinen.«

»Ihr erstes Wort hätte sein müssen, daß Sie die gegen mich gerichteten Verleumdungen nicht glauben. Gehen Sie!«

»Das muß ich erst sagen? Es gibt für mich kein Glück ohne Sie, Aniken!« Larçay hatte Tränen in der Stimme, als er das sprach. »Nennen Sie ein vernünftiges Mittel, das uns vereint, und ich bin bereit, alles zu tun. Verfügen Sie über mich wie Sie wollen. Reißen Sie mich aus dem Abgrund, in den der Zufall mich gestürzt hat. Ich sehe keinen Weg. Geben Sie mir ihn.«

»Ihre Gegenwart hier macht wahr, was Frau von Larçay gesagt hat. Ich bitte, verlassen Sie mich. Ich will Sie nie mehr sehen.«

Larçay ging; er sprach kein Wort mehr. »Er weiß mir nichts zu sagen!« jammerte Mina verzweifelt darüber, daß sie den Geliebten fast verachten mußte. »Er fand kein Mittel, ihr näher zu kommen! Kein Wort! Keine Geste! Er, ein Mann, ein Soldat! Und sie, ein junges Mädchen, hatte in ihrer Liebe zu ihm doch Mittel gefunden, zu ihm zu kommen, und welch schreckliches, das sie entbehren mußte, wenn man davon erführe! Und er sagt: nennen Sie ein vernünftiges Mittel. Ein vernünftiges Mittel!«

Aber Mina holte aus diesen Worten wieder einen kleinen Trost: er gab ihr mit diesen Worten doch eine Vollmacht, zu handeln, wie es ihr recht dünke! Aber alsbald hatte in ihr wieder der Anwalt des Schmerzes das Wort: »Alfred hat nicht gesagt, daß er die Verleumdungen nicht glaube! Ich sehe nicht aus wie ein Kammermädchen. Er muß sich ja fragen; weshalb ich mich verkleide ... So wie er ist, muß er sich das fragen! Und ich ... ich kann ohne ihn nicht leben! »Finden Sie ein Mittel, das uns vereint, ich bin bereit, alles zu tun« – das waren seine Worte. Er ist schwach. Er belastet mich mit der Sorge für unser Glück. Ich will die Last auf mich nehmen.«

Mina schritt lebhaft durch den Salon.

»Dies zu wissen, ist das nächste: ob seine Leidenschaft stark genug ist, meine Abwesenheit zu ertragen, oder – ob er ein ganz verächtlicher Mensch ist. Ist er das, dann wird Mina von Wangel ihn vergessen können.«

Eine Stunde später fuhr Mina in das zwei Meilen entfernte Chambéry. Herr von Larçay war nichts weniger als religiös, aber er hielt es für schlechten Ton, keine Religion zu haben. Als Frau von Cramer in Chambéry eintraf, ließ sie sich einen jungen Genfer Predigtamtskandidaten kommen, der ihr und Aniken jeden Abend die Bibel erklärte. Frau Cramer nannte Aniken von nun ab und um sie etwas für ihr früheres Aufbegehren zu entschädigen, ihre Nichte. Sie wohnte im besten Gasthof, und wie sie da ihren Tag verbrachte, konnte jedermann, den es interessierte, sehen. Da sie sich krank glaubte, ließ sie die ersten Ärzte von Chambéry kommen, die sie gut bezahlte. Auch Mina konsultierte sie gelegentlich wegen eines Hautleidens, das den schönen Farben ihres Teints gelegentlich eine leicht bräunliche Tönung gab. Die Gesellschaftsdame fand sich in ihre Situation wie in den angenommenen Namen Cramer und Minas Art; sie hielt einfach Fräulein von Wangel für nicht ganz richtig im Kopfe, welche Meinung sie enthob, sich weiter den ihren zu zerbrechen.

Mina hatte die Charmettes gemietet, jenes Landhaus eine halbe Meile von Chambéry, in dem Rousseau, wie er erzählt, die glücklichsten Augenblicke seines Lebens genoß. Mina las Rousseau als ihren einzigen Trost.

Seit jener letzten Unterredung vor zwei Wochen hatte sie Herrn von Larçay nicht gesehen, als sie ihm, eine Welle Glückes stieg in ihr auf, an einer Wegbiegung im Kastanienwäldchen oberhalb Charmettes plötzlich gegenüberstand. Mit einer Schüchternheit, die sie entzückte, schlug ihr vor, den Dienst bei Frau Cramer zu verlassen und eine kleine Rente von ihm anzunehmen. »Sie würden eine Kammerzofe haben, statt selber eine zu sein, und ich würde Sie immer nur in Gegenwart dieser Zofe sehen.«

Aniken wies dieses Anerbieten zurück, das sich nicht mit ihren frommen Grundsätzen vertrüge. Zudem wäre Frau Cramer jetzt so nett zu ihr und schiene ihr Benehmen bei der Ankunft in Aix zu bereuen. »Ich habe die Verleumdungen, denen ich von Frau von Larçay ausgesetzt war, nicht vergessen, und sie machen es mir zur Pflicht, Sie inständig zu bitten, nicht wieder nach den Charmettes zu kommen.«

Als Mina einige Tage darauf nach Aix fuhr, konnte sie mit Herrn von Ruppert zufrieden sein. Bei einer Lustpartie nach der Abtei Haute-Combe, die Frau von Larçay mit ihrer Gesellschaft unternahm, hatte der Graf es nach Minas Anweisungen vermieden, mit von der Partie zu sein. Aber er ließ sich in der Nähe der Abtei bemerken, was den Freundinnen der Frau von Larçay Gelegenheit zu allerlei Deutungen gab. So beschäftigte sie denn die ungewöhnliche Schüchternheit bei einem für seine Kühnheit bekannten Manne, und sie erklärten sich dies mit einer ungewöhnlich großen Leidenschaft für Frau von Larçay.

Von Dubois, dem Kammerdiener, erfuhr Mina, daß sein Herr melancholisch sei. »Er vermißt eben eine liebenswürdige Gesellschaft,« sagte Dubois, »und dann ist da noch etwas, das man von einem so besonnenen Manne gar nicht erwartete: er ist eifersüchtig auf Herrn von Ruppert.«

Die Eifersucht Larçays machte Herrn von Ruppert Spaß. »Wollen Sie mir erlauben,« sagte er zu Fräulein von Wangel, »daß ich den armen Larçay einen leidenschaftlichen Brief abfangen lasse, den ich seiner Frau schreibe? Ihr Leugnen muß sehr erheiternd sein, entschließt er sich, ihr von dem Brief zu sprechen.«

»Schreiben Sie. Aber eines müssen Sie unbedingt vermeiden: ein Duell mit Larçay. Fiele er in einem Zweikampf, werde ich Sie nie heiraten.«

Mina fürchtet, diese Worte zu hart gesprochen und sich damit in das Mißtrauen des Herrn von Ruppert gesetzt zu haben; aber sie überzeugte sich rasch, daß dieser Mann gar kein Gefühl dafür hatte, wie fremd er ihr war. Er entzückte sich in der Darstellung seiner Manöver bei Frau von Larçay, die ihm für seine Aufmerksamkeiten nicht ganz unempfänglich schiene und wie er sich, ihr öffentlich den Hof machend alle Mühe gebe, immer, wenn er mit ihr allein wäre, ihr die gleichgültigsten Dinge der Welt auf die langweiligste Art zu sagen.

Mina blieb bei der halben Verachtung dieses Menschen nicht stehen. Sie fragte ihn ganz geschäftsmäßig kühl über eine beabsichtigte Kapitalsanlage in französischer Rente um seinen Rat und zeigte ihm die Briefe des Königsberger und Pariser Bankiers. Und sie konstatierte die Wirkung dieser Briefe, die sie wollte: ihr Anblick ließen Herrn von Ruppert ein Wort nicht aussprechen, das sie nicht hören wollte: »Ihr Interesse für Herrn von Larçay, mein Fräulein...«

Graf Ruppert erging sich ausführlich über französische Renten. »Und da gibt es Leute,« sagte sich Mina, »die den Grafen für geistvoller und interessanter halten als Alfred! Es ist doch ein Volk von Chansondichtern. Mir wäre weiß Gott die Biedermannstüchtigkeit meiner guten Deutschen lieber, gäbe es da nicht die Notwendigkeit, bei Hofe zu erscheinen und den Flügeladjutanten des Großherzogs zu heiraten.«

Alsbald brachte Dubois die Nachricht von einem eigenartigen Briefe des Grafen an die gnädige Frau, den Herr von Larçay abgefangen habe. Larçay habe ihn seiner Frau gezeigt, die den Brief einen schlechten Scherz nannte.

Dieser Bericht machte Mina besorgt. Alle Rollen konnte dieser Herr von Ruppert spielen, nur nicht die eines sich beherrschenden Menschen. Mina lud ihn für acht Tage nach Chambéry ein; er zeigte wenig Lust zu kommen. »Ich kann mich nicht lächerlich machen. Ich schreibe einen Brief, der mich in Folgen stürzen kann; es darf also nicht so aussehen, als wollte ich mich verstecken, und das wäre der Fall, verschwände ich jetzt nach Chambéry.«

»Aber verstecken, das sollen Sie sich ja gerade!« erklärte ihm Mina. »Wollen Sie mich rächen, ja oder nein? Ich will nicht, daß Frau von Larçay mir das Glück verdankt, Witwe zu werden. Verstehen Sie mich doch!«

»Ich verstehe. Es wäre Ihnen lieber, daß Herr von Larçay Witwer würde, wie?«

Mina vergaß sich, als sie heftig sagte: »Was kümmert Sie das?« Herr von Ruppert ging. Er erwog die geringe Wahrscheinlichkeit, die der von ihm gefürchtete Vorwurf der Feigheit hinsichtlich der Glaubhaftigkeit haben würde. Seine Eitelkeit erinnerte ihn daran, wie in der Welt bekannt sein Mut war. Ein Schritt könnte die Tollheiten seiner Jugend gut machen und ihm in einem Augenblick die große Stellung in Paris verschaffen, das war mehr wert wie ein Duell.

Der erste Mensch, den Mina am Tage nach ihrer Rückkehr aus Aix in den Charmettes sah, war Herr von Ruppert, und sie atmete auf, daß er da war. Sie zitterte, als man ihr am selben Abend Herrn von Larçay meldete.

»Ich will keine Entschuldigung und keinen Vorwand für mein Kommen suchen«, sagte er ganz einfach. »Ich kann eben nicht zwei Wochen leben, ohne Sie zu sehen, und gestern waren es zwei Wochen, daß ich Sie nicht gesehen habe.«

Auch Mina hatte die Tage gezählt. Noch nie war sie von Larçay so bezaubert gewesen; aber sie bebte in heimlicher Angst, er könnte etwas mit Herrn von Ruppert haben. Immer wieder versuchte sie es, daß er von dem abgefangenen Brief spreche; Larçay blieb nachdenklich, aber er sprach nicht, nichts als das: »Mich plagt ein schwerer Kummer, nicht Ehrgeiz, nicht Geld, nein, und der seltsamste Effekt meines Kummers ist, daß er meine leidenschaftliche Freundschaft für Sie verdoppelt. Die Pflicht hat über mein Herz keine Macht mehr. Ich kann ohne Sie nicht mehr leben, Mina.«

»Kann ich es denn ohne Sie?« sagte Mina und nahm seine Hände, die sie küßte, was ihn hinderte, ihr um den Hals zu fallen.

»Schonen Sie Ihr Leben, Alfred. Ich würde Sie keine Stunde überleben.«

»Sie wissen alles, Mina!« rief Larçay und tat sich Gewalt an, nicht mehr zu sagen.

Einen Tag nach seiner Rückkehr von den Charmettes empfing Herr von Larçay einen anonymen Brief, in dem stand, daß während seiner Abwesenheit in Chambéry seine Frau Herrn von Ruppert bei sich empfangen habe. Das Schreiben schloß: »Heute nacht um eins soll man Herrn von R. wiedersehen. Ich weiß ganz gut, daß ein Anonysmus Ihnen kein Vertrauen einflößen kann. Handeln Sie deshalb nicht leichtsinnig. Rasen Sie erst, wenn Sie rasen müssen. Sollte ich mich und so auch Sie täuschen, so werden Sie mit einer Nacht, die Sie versteckt nah dem Schlafzimmer von Frau von Larçay zubringen, davonkommen.«

Gleich darauf kam ein Wort von Aniken: »Wir sind in Aix. Frau Cramer hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Ich bin allein. Kommen Sie.«

»Zehn Minuten habe ich für Aniken Zeit, bevor ich mich im Garten in den Hinterhalt lege«, dachte Larçay.

Er war mächtig erregt, als er bei Mina eintrat. Die beginnende Nacht trug Entscheidung für sie und ihn, – sie wußte es und hatte gegen alle Einwände ihrer Vernunft nur die eine Antwort: Tod.

»Sie sind so schweigsam, Freund. Es ist Ihnen etwas Ungewöhnliches passiert. Aber da Sie es trotzdem über sich gebracht haben, zu kommen, will ich Sie die Nacht über nicht verlassen.«

Zu Minas Überraschung war Larçay damit einverstanden, daß Mina ihn nicht verlasse. Nach einer Weile sagte er: »Ich muß jetzt dem törichten Beruf des Ehemannes nachgehen. Ich muß mich in meinem Garten auf die Lauer legen; das scheint mir die am wenigsten peinliche Art, aus einem Mißgeschick herauszukommen, in das mich ein anonymer Brief gestürzt hat«, und er zeigte Mina den Brief.

»Welches Recht haben Sie,« fragte Mina, nachdem sie gelesen hatte, was sie wußte, »Frau von Larçay zu entehren? Sie gehen von ihr und verzichten auf das Recht, ihre Seele beschäftigt zu halten. Sie überlassen Ihre Gattin der sehr natürlichen Langeweile einer Frau von dreißig Jahren, – ist es nicht ihr Recht, jemanden zu haben, der sie zerstreut? Sie sagen mir, daß Sie mich lieben, – sind Sie nicht schuldiger als Ihre Frau? Sie waren doch der erste, der das Band zerrissen hat, und nun wollen Sie es Ihre Frau büßen lassen?«

Das war zu hoch für Herrn von Larçay; er verstand nicht; aber der Ton von Minas Stimme gab ihm Kraft; ganz bezaubert, bewunderte er die Macht, die sie über ihn hatte. »Solange Sie mich gnädig empfangen werden«, sagte er nach einer Weile, »werde ich die Langweile, von der sie sprachen, nicht zulassen.«

Es war ganz still im Garten und über dem See. Man hätte den Tritt einer Katze hören können. Mina stand in einer Buchenhecke hinter Larçay. Da sprang ein Mensch von einer Mauer in den Garten. Larçay wollte auf ihn zu. Aber Mina hielt ihn fest mit aller Gewalt.

»Was werden Sie erfahren, wenn Sie ihn töten?« sagte sie ganz leise. »Und wenn es nur ein Dieb ist oder der Liebhaber einer Magd, welcher Ärger, ihn getötet zu haben!«

Aber Larçay hatte den Grafen Ruppert erkannt und war außer sich. Mina hing sich mit aller Schwere an ihn.

Der Graf schlich sich vorsichtig an eine Leiter, die gegen eine Hausmauer lag und lehnte sie an die Holzgalerie, die in acht oder zehn Fuß Höhe um den ganzen ersten Stock lief. Das Fenster von Frau von Larçays Schlafzimmer ging auf diese Galerie. Herr von Ruppert stieg durch ein offenes Fenster des Salons ins Haus. Alfred riß sich los und eilte zu einer kleinen Gartenpforte, die ins Erdgeschoß des Hauses führte. Mina folgte dicht hinter ihm. Geschickt verzögerte sie um einige Augenblicke den Moment, wo er ein Feuerzeug ergreifen und eine Kerze anzünden konnte. Es gelang ihr, ihm die Pistole zu entreißen. »Wollen Sie mit einem Schuß die Bewohner des andern Stockwerkes wecken? Das gäbe schöne Geschichten morgen früh. In meinem Augen ist die Rache lächerlich. Aber immer ist es besser, ein bösartiges Publikum erfährt Beleidigung und Rache gleichzeitig.«

Alfred stieg die Treppe hinauf, Mina blieb hinter ihm. »Das wäre ein Spaß,« sagte sie flüsternd, »wenn Sie in meiner Gegenwart den Mut hätten, Ihre Frau zu mißhandeln!«

Larçay stieß die Türe in den Salon auf. Er sah Herrn von Ruppert quer durch das Zimmer zum Fenster laufen, das er rasch öffnete, sich auf die Galerie und von da in den Garten schwang; er hatte sechs Schritte Vorsprung. Larçay setzte ihm nach. Aber als er an die brusthohe Mauer kam, die den Garten vom See trennt, war das Boot, in das sich Ruppert geworfen hatte, schon fünf, sechs Klafter vom Ufer.

»Auf Morgen, Herr von Ruppert!« rief ihm Larçay nach. Es kam keine Antwort. Larçay stürzte zurück ins Haus. Im Salon, der an das Schlafzimmer stieß, ging Mina erregt auf und ab. Sie hielt ihn mit beiden Armen auf.

»Was wollen Sie tun? Frau von Larçay umbringen? Mit welchem Recht? Ich werde es nicht dulden. Wenn Sie mir nicht den Dolch da geben, rufe ich laut, daß sie sich retten solle vor einem Rasenden! Es ist mir gleich, daß mich meine Anwesenheit hier vor Ihren Leuten kompromittiert ...« Und als sie den Eindruck dieses Wortes merkte: »Sie lieben mich, wie Sie sagen, und wollen mich entehren!«

Larçay warf den Dolch hin und trat in das Zimmer seiner Frau. Man hörte lebhaftes Sprechen. Frau von Larçay hatte in ihrer völligen Unschuld geglaubt, daß es sich um einen Dieb handelte und hatte Herrn von Ruppert weder gesehen noch gehört.

»Du bist ein Narr, und Gott gebe, daß du nur ein Narr bist! Du willst augenscheinlich die Trennung und du sollst sie haben. Sei wenigstens so besonnen, nichts zu reden. Morgen fahre ich nach Paris zurück und werde dort sagen, du reisest nach Italien, wozu ich keine Lust hätte.«

»Um welche Zeit gedenken Sie sich morgen früh zu schlagen?« fragte Fräulein von Wangel, als Larçay in den Garten trat.

»Was sagen Sie da?« erwiderte Larçay.

»Es ist unnütz, sich vor mir zu verstellen, Alfred. Bevor Sie Herrn von Ruppert aufsuchen, bitte ich Sie, mir hier in das Boot zu helfen. Wenn Sie so töricht sind, sich töten zu lassen, wird der See meinem Unglück ein Ende machen.«

»Dann schenken Sie mir diese Nacht das Glück, Aniken. Morgen wird dieses Herz, das nur für Sie schlägt, seit ich Sie kenne, wird diese Hand, die ich an meine Brust presse, vielleicht Kadavern angehören, die, von einer Kerze beleuchtet, in einem Küchenwinkel liegen. Diese Nacht ist vielleicht unsere letzte, Aniken – sie soll die glücklichste sein.«

Mit Mühe wehrte sich Mina. »Ich werde Ihnen gehören, morgen, wenn Sie leben. Das Opfer wäre in diesem Augenblick zu groß, ich möchte Sie heute sehen wie ich Sie immer sah.«

Es waren die schönsten Stunden in Minas Leben. Vielleicht war es die Aussicht auf den Tod und die Größe ihres Opfers, das sie brachte, daß sie keine Reue fühlte, als sie Larçay küßte.

Es war vor Sonnenaufgang, als Alfred ihr die Hand reichte und ihr in das schlanke Boot half.

»Können Sie ein größeres Glück träumen, Alfred, als das unsere jetzt?«

»Du wirst meine Frau sein, Aniken. Ich verspreche Dir, zu leben. Ganz lebendig werde ich dort unten, wo das Kreuz steht, an den Strand kommen und dein Boot anrufen.«

Es schlug fünf in dem Augenblick, als Mina Larçay sagen wollte, wer sie war. Die Ruderknechte warfen Netze aus, um zu fischen; Mina war darüber glücklich, denn es befreite sie ihr Tun von ihren Blicken.

Als es gerade acht Uhr schlug, sah sie Larçay zum Ufer laufen. Mina ließ sich an Land setzen. Er war sehr bleich. »Er ist verwundet,« sagte Larçay, »vielleicht gefährlich.« Und, auf ihn zueilend, drängte Mina: »Nehmen Sie das Boot, mein Freund. Sie müssen fliehen. Gehn Sie nach Lyon. Ich werde Ihnen Bericht schicken.«

Larçay zögerte.

»Denken Sie an das Gerede der Badegäste, Alfred!«

Das entschied. Larçay bestieg das Boot.

Schon am andern Tage war Herr von Ruppert außer Gefahr; aber er mußte vielleicht zwei Monate das Bett hüten. Mina besuchte ihn des Nachts und war voller Güte und Freundschaft zu ihm.

»Sie sind doch mein Zukünftiger«, sagte sie zu ihm mit einer Falschheit, die voller Natürlichkeit war, als sie ihn bestimmte, eine sehr bedeutende Anweisung auf ihren Frankfurter Bankier anzunehmen.

»Ich muß nämlich nach Lausanne reisen, und möchte, daß Sie noch vor unserer Hochzeit Ihren Stammsitz zurückkaufen, den zu veräußern Sie Ihre Tollheiten zwangen. Wir müssen dafür ein großes Gut, das ich bei Küstrin besitze, zu Geld machen. Sobald Sie wieder aufstehen können, ist der Verkauf Ihre Aufgabe; ich schicke Ihnen von Lausanne aus die nötigen Vollmachten. Lassen Sie, wenn nötig, im Preise nach oder diskontieren Sie die Wechsel, die Sie bekommen. Sie müssen unbedingt bares Geld haben. Es schickt sich, daß Sie in unserm Ehekontrakt so reich sind wie ich.«

Dem Grafen kam nicht der mindeste Verdacht, daß Mina ihn wie einen untergeordneten Agenten behandele, den man mit Geld ablohnt.

In Lausanne bekam Mina mit jeder Post einen Brief von Larçay und war glücklich. Larçay gab zu, daß das Duell die Sache vereinfacht habe. »Ihre Frau hat keine Schuld,« schrieb ihm Mina; »Sie haben sie doch zuerst verlassen! Vielleicht irrte sie sich, daß sie aus der Menge charmanter Männer gerade Herrn von Ruppert wählte. Jedenfalls darf Frau von Larçays künftige Situation in geldlicher Hinsicht keine Einbuße erfahren.«

Larçay setzte seiner Frau eine jährliche Rente von fünfzigtausend Franken aus, was mehr war als die Hälfte seines Einkommens. »Ich brauche ja so wenig,« schrieb er an Mina, »da ich nach Paris erst zurückkehren will, wenn diese lächerliche Geschichte vergessen ist, in ein paar Jahren.« Aber Mina war damit gar nicht einverstanden. »Bei Ihrer so späten Rückkehr nach Paris«, so schrieb sie ihm, »würden Sie nur Aufsehen erregen. Zeigen Sie sich zwei Wochen lang in aller Öffentlichkeit jetzt, wo man sich mit Ihnen beschäftigt, und nach diesen zwei Wochen ist alles vergessen. Und denken Sie daran, daß Ihre Frau ohne Schuld ist.«

Einen Monat später kamen Larçay und Mina in dem entzückenden Belgirate am Lago Maggiore zusammen. Sie reiste unter einem falschen Namen. Und so toll verliebt war sie, daß sie zu Larçay sagte: »Erzählen Sie, wenn Sie wollen, der Frau Cramer, Sie seien mit mir verlobt, seien mein Zukünftiger, wie wir in Deutschland sagen.«

Herr von Larçay hatte das Gefühl, als ob seinem Glücke etwas fehle, und doch war dieser September mit Mina am Lago Maggiore seligste Zeit seines Lebens.

Es war während einer Ruderfahrt auf dem See, daß Larçay lachend zu Mina sagte: »Wer sind Sie eigentlich, Zauberin? Kammerzofe oder selbst etwas Besseres bei Frau Cramer – das zu glauben, können Sie mir nicht mehr zumuten.»

»Ja, was könnte ich wohl sein?« scherzte Mina. »Eine Schauspielerin, die das große Los gewonnen hat und einige Jugendjahre in einer Märchenwelt verbringen will, oder ein ausgehaltenes Fräulein, das nach dem Tode ihres Liebhabers abenteuert, was meinen Sie?«

»Wären Sie das, Aniken und Schlimmeres noch – erführe ich morgen den Tod meiner Frau, ich würde übermorgen um Ihre Hand anhalten.«

Mina stürzte ihm an den Hals. »Erinnern Sie sich nicht bei Frau von Célj? Ich bin Mina Wangel. Wie kam es, daß Sie mich nicht erkannten?« Und lächelnd sagte sie noch: »Aber die Liebe ist ja blind!«

Minas Glück war vollkommen, denn nun hatte sie ihrem Freund nichts mehr zu verbergen. In der Liebe ist der, der täuschen muß, unglücklich.

Aber Fräulein von Wangel hätte besser getan, ihren Namen Herrn von Larçay nicht zu nennen. Eine leise Schwermut in seinem Wesen entging ihr nicht, und sie sah sie wachsen von Tag zu Tag und wurde unruhig.

Den Winter hier zu verbringen, waren sie nach Neapel gekommen, mit einem Paß, der sie Mann und Frau nannte. Ob er vielleicht Paris entbehre? Mina bat ihn für einen Monat nach Paris zu gehen. Er versicherte ihr mit einem Schwur, daß er gar kein Verlangen danach habe.

»Ich weiß, ich setze damit das Glück meines Lebens aufs Spiel,« sagte Mina eines Tages, »aber die zunehmende Schwermut, in der ich dich sehe, ist stärker als alle meine guten Vorsätze.« Larçay verstand nicht, was sie sagen wollte, aber sein Glück stand auf dem Gipfel, als Mina ihm am selben Nachmittage sagte:

»Fahren wir nach Torre del Greco.«

Sie glaubte den Grund von Alfreds Schwermut erkannt und beseitigt zu haben, als sie ihm ganz angehörte – war er nicht vollkommen glücklich in ihren Armen? Und selber toll vor Glück und Liebe, vergaß Mina alles. »Der Tod und tausend Tode mögen nun kommen,« dachte sie, »sie sind nicht zu teuer erkauft dafür, für das Glück, das ich erlebe seit jenem Tage des Duells.«

Alle Seligkeit fühlte sie in der Hingabe und Fügung in alle Wünsche des Geliebten. Und vergaß in diesem Übermaße des Empfindens, vorsichtig den Schleier über die eigenmächtig starken Gedanken zu werfen, die das Wesentliche ihres Charakters waren. Was sie als Glück suchte und darunter verstand, mußte für einen einfachen Menschen befremdlich, ja sogar abstoßend sein. So schonend hatte sie bisher bei Larçay das, was sie französische Vorurteile nannte, behandelt, und erklärte sich, was sie an ihm nicht bewundern konnte, aus nationalen Unterschieden, nicht aus persönlichen. Aber ihre Liebe mußte begeistert bewundern! Mina bekam ein Gefühl für das Nachteilige ihrer väterlichen Erziehung, die ihr Verlust, ja Entfremdung und Widerwillen des Geliebten einbringen konnte.

Selig und ganz hingegeben dachte sie oft, sehr unvorsichtig, laut vor Larçay ihre Gedanken – war er doch für sie Inbegriff und Typus alles Edlen, Schönen, Liebenswerten und Herrlichen so sehr, daß sie, auch wenn sie gewollt, es nicht vermocht hätte, Gedanken für sich allein zu haben und zu behalten. Auf der glücklichen Gipfelhöhe ihrer Liebe gab es nichts und konnte es nichts geben, das den Geliebten hätte verstimmen oder ihn ihr abwendig machen können. Es ging über ihre Kraft, ihm jene Intrige zu verbergen, welche die Ereignisse jener Nacht in Aix herbeiführte. Sie litt unsäglich darunter.

Die Trunkenheit der Sinne nahm ihr immer wieder die Kraft, Larçay alles zu sagen, aber damit kehrten sich ihre seltenen Vorzüge gegen sie selbst. In der Erschöpfung nach tollster Umarmung sagte sie sich: »Ich bin närrisch, daß ich mir über ihn Gedanken mache. Ich liebe ihn eben mehr als er mich liebt, das ist alles. Kein Glück auf Erden ist ganz ohne Schatten. Und nicht zu meinem Glücke ist mein Wesen unruhiger als das seine.« Und damit meldete sich, stärker jetzt in ihrer Seligkeit als früher, das Gewissen. »Gott ist gerecht. Ich habe mir große Schuld vorzuwerfen. Die Nacht von Aix lastet auf meinem Leben.«

An diesen Gedanken gewöhnte sich Mina: daß Larçay von Natur aus veranlagt wäre, »weniger leidenschaftlich« zu lieben als sie. »Und wäre er es noch weniger, so ist mein Los, ihn anzubeten. Daß er kein ehrloser Mensch ist, dies ist mein Glück: ich wäre jeden Verbrechens fähig, das er mich zu begehen hieße.«

Den möglichen Gründen von Larçays schwermütiger Versonnenheit nachdenkend, riet sie auf die von ihm vielleicht entbehrten Genüsse aus Reichtum und Besitz, und gab dem eines Tages Worte, indem sie ihn bat, mit ihr nach Königsberg zu reisen. Alfred antwortete nicht. Aber öffnete die halbgeschlossenen Augen zu einem Blick auf Mina, vor dem sie sich entsetzte; denn alle Liebe war daraus verschwunden, und nur der Verdacht stellte die gefürchtete Frage.

»In jener Nacht, Mina, in der ich Herrn von Ruppert bei meiner Frau überraschte – wußten Sie von den Plänen des Grafen? Waren Sie, um es in einem Wort zu sagen, im Einverständnis mit ihm?«

Minas Stimme war fest und die Worte zauderten nicht, als sie antwortete: »Frau von Larçay hat nie auch nur im geringsten an den Grafen gedacht. Ich glaubte, Sie gehörten mir, weil ich Sie liebte. Die beiden anonymen Briefe habe ich geschrieben.«

»Das war infam. Ich bedaure Sie.« In seiner eiskalten Stimme war nicht eine Spur von Zärtlichkeit. Larçay ging.

»Großen Herzen kann solches geschehen,« sagte sich Mina, »aber sie haben ihre sichere Zuflucht.« Sie trat ans Fenster und folgte mit den Augen ihrem Geliebten, bis er um eine Straßenecke verschwand. Dann ging sie in Larçays Zimmer und schoß sich eine Pistolenkugel mitten ins Herz.

War in Minas Leben eine falsche Rechnung? Acht Monate hatte ihr Glück gedauert. Diese glühende Seele konnte sich mit den Wirklichkeiten des Lebens nicht zurechtfinden.


 << zurück weiter >>