Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Mein Übergang über den Sankt Bernhard im Mai 1800.

(1836.)

Vorbemerkung des Übersetzers: Das hier wiedergegebene 32. Kapitel aus Stendhals »Leben des Henri Brulard« ist kein Essay im strengen Sinne des Wortes, – wie ja auch für den Gesamttitel dieses Bandes die Bezeichnung Essays nur in Ermangelung eines treffenderen gewählt worden ist, – es ist nichts als eine zwanglose Plauderei über ein paar bedeutungsvolle Tage in Beyles Leben. Ohne den Leser mit einer eingehenden Schilderung der strategischen Ereignisse jener Tage aufzuhalten, erscheint hier doch eine kurze Erläuterung angebracht.

Man steht im Beginn des Feldzugs in Italien von 1800. Napoleon wirft seine Armee über die Alpen, sieht sie aber unerwartet durch die kleine, hartnäckig verteidigte Bergfeste Bard in ihrem flotten Vordringen aufgehalten. Der General Lannes hat zwar durch eine Umgehung die Hauptmassen seiner Infanterie am 22. Mai bis Ivrea in die Lombardei vorgeschoben, mit der Artillerie und den Trains bleibt er jedoch in der Talenge vor Bard stecken. Bonaparte hatte den Großen Sankt Bernhard am 20. Mai überschritten und traf hierauf vor Bard persönlich seine Anordnungen. Die durch dieses unbedeutende Fort verursachte Hemmung seines rasch nötigen Vorgehens war ihm höchst unangenehm und nicht ohne Gefahr. Wer sich einigermaßen mit der Geschichte des interessanten Feldzuges von Marengo beschäftigt hat, weiß, daß Bonaparte die offiziellen Berichte über die Ereignisse bis zum 14. Juni eigenhändig korrigiert und absichtlich verschleiert hat. Vor Bard hat er sich persönlich nicht lange aufgehalten, er traf bereits am 26. Mai in Ivrea ein. Auch Stendhal hat der Beschießung Bards wahrscheinlich nur einen Tag beigewohnt, selbstverständlich als tatenloser Zuschauer. In der Skizze, die er dem Manuskript seiner Schilderung beigefügt hat, ist der Standort genau bezeichnet, von wo aus er dem Artilleriekampfe zusah. Es ist der nämliche Punkt, an dem auch Bonaparte beobachtet hatte. Erst am 1. Juni gelang es dann der Division Chabran, die Kapitulation der Feste zu erzwingen.

Stendhal, dem ein sehr schlechtes Gedächtnis eigentümlich war, hat späterhin geglaubt, Bonaparte vor Bard gesehen zu haben, es ist indessen nicht wahrscheinlich.


Ich habe nicht die geringste Erinnerung mehr an meine Reise nach Dijon oder an die Reserve-Armee; das Übermaß der Freude hat alles verschlungen. Pierre Daru,Der nachmalige Graf und Generalintendant Napoleons, vgl. Einleitung damals Inspekteur der Revuen und Martini Daru, Unterinspekteur, waren vor mir abgereist.

Cardon kam nicht so schnell; seine schlaue Mutter hatte andere Pläne mit ihm. Schließlich langte er in Mailand als Adjutant des Kriegsministers Carnot an. Diesen großen Bürger hat Napoleon unschädlich, das heißt unbeliebt und lächerlich zu machen versucht, wo er nur konnte. Carnot fiel einer edlen Armut anheim, deren sich Napoleon erst um 1810 schämte, als er keine Furcht mehr vor ihm hatte.

Ich habe keine Idee mehr von meiner Ankunft in Dijon, ebensowenig von der in Genf. Der damalige Eindruck jener zwei Städte auf mich hat sich durch die reichlicheren Eindrücke meiner späteren Reisen verwischt. Ohne Zweifel war ich närrisch vor Freude.

Bei meiner Ankunft in Genf war mein erster Gang nach dem alten Hause, wo Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1712 geboren wurde. 1833 habe ich es zu einem prächtigen Hause, einem Musterbau für Handel und Gewerbe, umgebaut wiedergefunden.

In Genf gab es keinen Postverkehr mehr; ich sah die ersten Anzeichen der Unordnung, die vermutlich in der Armee herrschte. Ich war an einen französischen Armeeintendanten empfohlen, der dort zur Regelung des Nachschubs zurückgelassen worden war. Pierre Daru hatte mir ein krankes Pferd zurückgelassen; ich wartete, bis es wieder hergestellt war.

Hier beginnen endlich meine Erinnerungen. Nach mannigfachen Verzögerungen schnallte man mir eines Morgens gegen acht Uhr meinen riesigen Mantelsack auf den jungen Fuchs, ein Pferd schweizer Rasse. In der Nähe des Lausanner Tores kletterte ich auf. Es war zum zweiten oder dritten Male in meinem Leben; Seraphie und mein Vater waren beharrlich dagegen gewesen, mich reiten, fechten und dergleichen lernen zu lassen.

Das Tier, das seit einem Monat nicht aus dem Stall gekommen war, ging nach zwanzig Schritten durch, von der Landstraße weg und rannte auf den See zu, auf ein mit Weiden bepflanztes Feld; vermutlich drückte der Mantelsack.

Ich verging vor Angst; aber was half's? es gab kein Parieren! Die drei Fuß, die mich von der Erde trennten, kamen mir wie eine bodenlose Tiefe vor. Um die Lächerlichkeit voll zu machen, trug ich, glaube ich, auch noch Sporen. Mein junges stallmutiges Roß galoppierte also aufs Geratewohl mitten durch die Weiden, als ich mich rufen hörte; es war der kluge und bedachtsame Bursche des Kapitäns Burelvillers, der mir schließlich zu Hilfe kam, indem er mir zurief, mit den Zügeln eine Parade zu geben, so daß ich nach einem Galopp von mindestens einer viertel Stunde mein Pferd zum stehen brachte. Am meisten Angst hatte ich gehabt, in den See zu geraten.

»Was wollen Sie von mir?« fragte ich den Burschen, als er endlich mein Pferd hatte beruhigen können.

»Mein Herr wünscht Sie zu sprechen.« Sofort dachte ich an meine Pistolen; das ist zweifellos jemand, der mich arretieren will. Die Straße war mit Passanten bedeckt, aber mein ganzes Leben lang habe ich meine Gedanken und nie die Wirklichkeit gesehen; wie ein kopfscheues Pferd sagte mir siebzehn Jahre später Graf Tracy.

Ich ging mit zum Kapitän und traf ihn, der höflich auf der Landstraße hielt.

»Was wünschen Sie von mir, mein Herr?« sagte ich zu ihm, gewärtig einen Pistolenschuß abgeben zu müssen.

Der Kapitän war ein großer blonder Mann von mittlerem Alter, mager, mit einem durchtriebenen, listigen Ausdruck, gar nicht einnehmend, im Gegenteil.

Er erklärte mir, daß ihm am Tor Cornavin im Vorbeigehen Herr *** gesagt habe:

»Das da ist ein junger Mann, der auf diesem Pferde zur Armee reist, ohne sie je gesehen zu haben. Erbarmen Sie sich seiner während der ersten Tage und nehmen Sie ihn mit sich.«

Indem ich immer darauf wartete, zornig zu werden, und an meine Pistolen dachte, betrachtete ich mir den geraden und ungeheuer langen Pallasch des Kapitäns Burelvillers, der anscheinend zu den schweren Reitern gehörte: blauer Rock, Knöpfe und Epauletten silbern.

Ich glaube, höchst lächerlicherweise hatte ich auch einen Säbel; ja, wenn ich es mir überlege, bin ich dessen sicher. So weit ich darüber urteilen kann, gefiel ich diesem Herrn Burelvillers.

Burelvillers beantwortete meine Fragen und instruierte mich, wie man aufsitzen muß; wir machten unseren Marsch gemeinsam und hatten die gleichen Quartiere bis zur Porta Nuova in Mailand, zur Casa d'Adda.

Ich war ganz und gar trunken, toll vor Glück und Freude. Es begann für mich ein Zeitraum voller Begeisterung und vollkommenen Glückes. Meine Freude, mein Entzücken verminderte sich erst ein wenig, als ich Dragoner im sechsten Regiment wurde, aber nur wenig.

Ich glaubte damals nicht etwa, auf dem Gipfel des Glückes, das ein Mensch hienieden finden kann, zu sein. Aber es war doch so. Und das, nachdem ich in Paris so unglücklich gewesen war!

Was soll ich mein Entzücken über Rolle schildern? Vielleicht muß ich diese Stelle nochmals lesen und verbessern, gegen meine Absicht, aus Furcht, mit Kunst wie Jean-Jacques Rousseau zu lügen.

Nachdem ich meinem Glücke gleichsam ein Opfer dargebracht hatte, war ich nunmehr außerordentlich kühn zu Pferde, aber kühn, indem ich immer den Kapitän Burelvillers befragte: »Dabei werde ich doch nicht etwa den Hals brechen?«

Glücklicherweise war mein Gaul von Schweizerblut und friedlich und vernünftig wie ein Schweizer; wenn er ein tückischer Romane gewesen wäre, hätte er mich hundert Mal umgebracht.

Augenscheinlich gefiel ich also Herrn Burelvillers und er gab sich Mühe, mich über allerlei Dinge zu instruieren; er war für mich von Genf bis Mailand während eines Marsches von vier oder fünf Milien täglich eine Art ausgezeichneter militärischer Erzieher, wie für einen jungen Fürsten. Unser Leben war eine angenehme Unterhaltung, unterbrochen von seltsamen Ereignissen und nicht ohne einige kleine Gefahren; folglich war das entfernteste Erscheinen von Langerweile unmöglich.

Ich wagte nicht, diesem achtundzwanzigjährigen oder dreißigjährigen Weltmanne meine Träumereien zu offenbaren oder von Literatur zu sprechen; er schien mir das Gegenteil von Gemütsbewegung zu besitzen.

Sobald wir im Etappenquartier ankamen, verließ ich ihn; ich gab seinem Diener ein gutes Trinkgeld, damit er mein Pferd mit versorgte; ich konnte also in Frieden träumen gehen.

In Rolle, wo wir frühzeitig ankamen, war ich, – in Erinnerung an die neue Heloise – trunken von dem Gedanken durch Bevey zu kommen, der Meinung in Bevey zu sein; ich hörte plötzlich das volle majestätische Glockengeläute einer Kapelle, die auf dem Berge, eine Viertelstunde oberhalb Rolle oder Nyon lag; ich stieg hinauf.

Ich sah, wie sich der schöne See unter meinen Blicken ausbreitete; der Klang der Glocken war entzückende Musik, die meine Gedanken begleitete und ihnen ein erhabenes Gepräge verlieh.

Um eines solchen Augenblickes willen lohnt es der Mühe, gelebt zu haben. Dort war ich dem vollkommenen Glücke am nächsten.

In Rolle oder Nyon, – ich weiß nicht, welcher Ort es war, – begann die glücklichste Zeit meines Lebens; es mochte der 8. oder 10. Mai des Jahres 1800 sein.

Das Herz pocht mir noch, indem ich dieses niederschreibe, nach sechsunddreißig Jahren. Ich lasse mein Papier liegen, laufe in meinem Zimmer hin und her und setze mich wieder zum Schreiben hin. Lieber soll irgend ein wahrer Zug fehlen, als daß ich in den abscheulichen Fehler verfalle, eine Kunstrede, wie es Brauch ist, zu halten.

In Lausanne war ein noch junger, pensionierter Schweizer Kapitän Stadtrat; er war wohl ein freisinniger Flüchtling Spaniens. Als er sich der unangenehmen Notwendigkeit entledigte, uns Windhunden von Franzosen Quartierzettel zu verabreichen, hatte er gegen uns den großen Schnabel und ging, indem er von der Ehre sprach, die wir hätten, dem Vaterlande zu dienen, soweit zu sagen: »Wenn das eine Ehre ist!«

Meine Erinnerung übertreibt zweifellos seine Bemerkung. Ich legte meine Hand an den Säbel und wollte ihn ziehen; übrigens beweist mir das, daß ich wirklich einen Säbel hatte. Burelvillers hielt mich zurück.

»Es ist spät, die Stadt ist geschlossen, es handelt sich jetzt darum, ein Quartier zu erhalten,« sagte er ungefähr zu mir. Und wir verließen den Stadtrat, nachdem wir ihm seine Tat ordentlich vorgehalten hatten.

Am anderen Morgen, als wir die Straße nach Villeneuve ritten, examinierte mich Burelvillers über meine Weise, die Waffen zu führen. Er war völlig überrascht, als ich ihm meine gänzliche Unkenntnis in diesem Fache gestand. Beim ersten Halt ließ er mich zum Fechten antreten.

»Und was hätten Sie getan, wenn dieser Hund von einem Beamten uns herausgefordert hätte?«

»Ich hätte mich ihm gestellt.« Vermutlich sagte ich das, wie ich es dachte.

Der Kapitän Burelvillers bekam Respekt vor mir und sagte mir das auch. Daß nichts von Lüge an mir war, mußte sehr sichtbar sein, um das glaubhaft zu machen, was in jeder anderen Lage eine sehr grobe Aufschneiderei gewesen wäre.

Er brachte mir ein paar Grundregeln des Stoßfechtens bei, an den Haltepunkten und abends in den Quartieren.

»Sonst würden Sie sich anspießen lassen wie ein ...«

Ich habe den Ausdruck des Vergleiches vergessen.

Martigny, glaube ich, am Fuße des Großen Sankt Bernhard ist für mich mit einer Erinnerung an den schönen General Marmont verknüpft. Ich war heiter und beweglich wie ein junges Füllen; ich kam mir vor wie Calderon, als er an den Feldzügen in Italien teilnahm, wie ein Amateur, der von der Armee unabhängig, beobachtet, auserlesen, Komödien wie Molière zu schreiben. Wenn mir ein Amt bevorstand, dann war es, um zu leben, da ich nicht reich genug war, um auf eigene Kosten die Welt zu durchwandern. Ich wollte nichts als große Dinge sehen. Darum betrachtete ich mit außergewöhnlicher Freude Marmont, jenen jungen schönen Günstling des ersten Konsuls.

Wie die Schweizer, in deren Häusern wir in Lausanne, Villeneuve und Sion im Quartier lagen, hatten wir uns ein niederträchtiges Bild vom Großen Sankt Bernhard gemacht; ich war heiterer als sonst, – heiterer, das ist nicht das richtige Wort, glücklicher. Mein Vergnügen war so lebhaft, so intim, daß ich davon nachdenklich wurde.

Ich war, ohne mir Rechenschaft darüber abzulegen, außerordentlich empfänglich für die Schönheit der Landschaft. Da aber mein Vater und meine Tante Seraphie als echte Heuchler, die sie waren, die Schönheiten der Natur beständig lobten, so glaubte ich, diese zu verabscheuen. Wenn mir jemand von den Schönheiten der Schweiz gesprochen hätte, so hatte er mich angewidert. Ich übersprang ähnliche Phrasen in den »Bekenntnissen« und in der »Neuen Heloise« Rousseaus, oder vielmehr, um genau zu sein, ich las rasch darüber hinweg. Aber jene schönen Sätze rührten mich gegen meinen Willen.

Ich muß einen hohen Genuß beim Hinaufreiten über den Sankt Bernhard gehabt haben, aber meiner Treu, ohne die Vorsicht des Kapitäns Burelvillers, die mir oft übertrieben und lächerlich erschien, hätte ich vielleicht nach dem ersten Schritt das Genick gebrochen.

Die Natur hat mir köstliche Nerven und die sensible Haut einer Frau verliehen. Ich konnte – ein paar Monate später – meinen Säbel nicht zwei Stunden lang in der Faust halten, ohne die Hand voller Blasen zu haben. Auf dem Sankt Bernhard war ich physisch wie ein junges Mädchen von vierzehn Jahren; ich war siebzehn Jahr und drei Monate alt, aber der verwöhnte Sohn eines Grandseigneurs konnte nicht weichlicher erzogen worden sein.

Militärischer Schneid war in den Augen meiner Eltern eine Eigenschaft für Jakobiner; Wert hatte für sie nur der Mut vor der Revolution, der dem Haupt des reichen Zweiges meiner Familie, dem Kapitän Beyle aus Sassenage, einst das Sankt-Ludwigs-Kreuz eingetragen hatte. So kam ich also als kompletter Weichling am Sankt Bernhard an. Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht den Kapitän Burelvillers getroffen hätte und allein gereist wäre? Ich hatte Geld, hatte aber nicht einmal daran gedacht, einen Diener anzunehmen. Dumm vor köstlichen Träumereien waren alle vernünftigen Ratschläge an mir abgeglitten, ich fand sie spießbürgerlich, fad, häßlich.

Ich habe auch heute noch, im Jahre 1836, eine Abneigung gegen Komödien, in denen notwendigerweise und ganz nötigerweise eine gewöhnliche Person vorkommt. Ein drolliger Zug an einem Nachfolger Molières!

Alle weisen Vorschläge der Schweizer Gasthofswirte waren also an mir abgeprallt. In gewisser Höhe wurde die Kälte beißend, ein penetranter Nebel umgab uns, Schnee bedeckte seit langem die Marschstraße. Diese, ein schmaler Weg zwischen zwei Mauern aus rohen Steinen, war acht bis zehn Zoll tief von Schnee überweht mit steinigem Geröll darunter. Von Zeit zu Zeit scheute mein Gaul vor einem Pferdekadaver, bald aber gewöhnte es sich daran, was viel schlimmer war. Eine richtige Rosinante. Mit jedem Augenblicke wurde es unbehaglicher. Zum ersten Male sah ich der Gefahr in die Augen. Es war keine große Gefahr, ich muß es zugeben, aber doch für ein junges Mädchen von vierzehn Jahren, das in seinem Leben keine zehn Mal vom Regen durchnäßt worden war. Groß war also die Gefahr nicht, aber sie lag in mir selber. Die Umstände machen den Menschen klein.

Ich würde mich nicht schämen, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; ich war beständig heiter. Wenn ich träumte, so war es in Sätzen, mit denen Rousseau jene steilen schneebedeckten Berge geschildert hätte, die mit ihren Spitzen bis in die Wolken ragen und unaufhörlich von dichten dahinrasenden Wolken verhüllt wurden.

Mein Pferd fing an zu stolpern, der Kapitän fluchte und war mürrisch, sein kluger Bursche, der mein Freund geworden, sehr blaß. Ich war von Feuchtigkeit durchdrungen, unausgesetzt wurden wir gestört und sogar aufgehalten von Trupps von je fünfzehn bis zwanzig Soldaten, die bergauf marschierten.

Anstatt heroischer Gefühle, wie ich sie an ihnen voraussetzte, nach zehnjähriger heroischer Träumerei, sah ich unter ihnen verbitterte und schlimme Egoisten; oft fluchten sie über uns, aus Zorn, uns zu Pferde und sich zu Fuß zu sehen. Dieser Anblick der menschlichen Natur war mir zuwider, aber ich vergaß ihn sehr schnell dank dem Bewußtsein, zu genießen: ich erlebe also eine schwierige Sache!

Endlich nach einer Menge von Zickzacks in einem Tale zwischen zwei spitzen, riesigen Felsen bemerkte ich zur Linken ein niedriges Haus, von einer vorüberziehenden Wolke beinahe verdeckt. Das ist das Hospiz!

Man reichte uns, wie der ganzen Armee, daselbst ein halbes Glas Wein, das mir wie rotes Gefrorenes vorkam. Vermutlich sind wir dort eingetreten, oder Beschreibungen des Innern des Hospizes, die ich gehört habe, haben in mir ein Bild hervorgerufen, daß im Laufe von sechsunddreißig Jahren an die Stelle des wirklich Gesehenen getreten ist. Das ist die Gefahr zu lügen, die ich seit den drei Monaten entdeckt habe, seitdem ich diese wahrheitsgetreuen Memoiren vorhabe.

Zum Beispiel steht mir der Abstieg klar vor Augen. Aber ich will nicht verhehlen, daß ich fünf oder sechs Jahre darnach einen Stich gesehen habe, der sehr ähnlich war; und meine Erinnerung ist nichts weiter als jener Stich.

Es ist auch gefährlich, Stiche von Gemälden, die man auf seinen Reisen sieht, zu kaufen. Bald bildet der Stich die alleinige Erinnerung und zerstört das wirkliche Andenken. So ist es mir mit der Sixtinischen Madonna in Dresden ergangen. Der schöne Stich von Müller hat sie mir zerstört, während ich noch genau die schlechten Pastelle von Raffael Mengs aus der gleichen Galerie vor mir sehe, von denen ich nirgends Stiche gesehen habe.

Ich kann mir noch sehr genau meinen Ärger vergegenwärtigen, daß ich mein Pferd an den Zügeln führen mußte; der Pfad bestand aus unbeweglichen Felsstücken. Weiß der Teufel, wie die vier Hufe meines Gaules auf dem schmalen Streifen an den Felsen hin Raum gefunden, haben. Dazu machte der Schinder Anstalten zu fallen; nach rechts hin wäre das kein großes Unglück gewesen, aber nach links hin. Was hätte Daru gesagt, wenn ich sein Pferd verloren hätte! Und überdies stak mein ganzes Gepäck und wohl der größte Teil meiner Barschaft in dem riesigen Mantelsack.

Der Kapitän schimpfte auf seinen Burschen, der ihm sein zweites Pferd beschädigt hatte. Er selber schlug sein eigenes Pferd mit dem Stock auf den Kopf. Er war ein sehr heftiger Mensch und zu guter Letzt kümmerte er sich nicht im geringsten mehr um mich.

Um mein Unglück voll zu machen, kam ein Geschütz vorbeigefahren; wir mußten mit unsern Pferden zur Rechten des Weges hinaufklettern. Aber diese Situation möchte ich nicht beschwören. Auf dem Stiche ist sie so. Ich erinnere mich aber genau, daß dieser langwierige Abstieg um einen verteufelt glattgefrorenen See herum ging.

Endlich in der Gegend von Etroubles begann die Natur weniger rauh zu werden. Ein köstliches Gefühl für mich. Ich sagte zum Kapitän Burelvillers:

»Ist der Sankt Bernhard nichts als das?«

Es schien mir, als ob er sich ärgerte und bei sich dachte, ich wolle ihn anlügen oder (in unserer gewöhnlichen Umgangssprache ausgedrückt) ihm einen Bären aufbinden. Ich glaube aus meinen Erinnerungen zu ersehen, daß er mich wie einen Rekruten behandelte, was ich als Beleidigung empfand.

In Etroubles erreichte mein Glück den Höhepunkt, aber ich begann zu begreifen, daß ich nur in Augenblicken, wo der Kapitän guter Laune war, mit meinen Bemerkungen Glück hatte.

Ich sagte mir: Ich bin in Italien, also im Lande der Julietta, die Rousseau in Venedig fand, in Piemont, im Lande der Madame Bazile. Ich begriff wohl, daß solche Gedanken m höchstem Grade verbotene Ware in den Augen des Kapitäns waren, der einmal Rousseau einen Gassenjungen von Schriftsteller genannt hatte.

Ich wäre genötigt, einen Roman zu erfinden, um mir vorzustellen zu suchen, was ein siebenzehnjähriger, vor Glück toller, der Klosterzucht entronnener junger Mann fühlen muß, wenn ich von meinen Empfindungen von Etroubles bis zur Bergfeste Bard sprechen wollte.....

Wir glaubten die Armee uns ungefähr vierzig Milien voraus. Plötzlich sahen wir uns durch das Fort Bard aufgehalten. Ich sehe noch, wie wir eine halbe Milie von der Feste entfernt, links der Landstraße biwakierten. Hier vermengt sich meine Geschichtskenntnis mit der Erinnerung. Wahrscheinlich wurden wir zwei oder drei Tage vor Bard aufgehalten.

War der erste Konsul mit uns? Mir scheint es beinahe so. Habe ich nicht auch die Räder der Geschütze mit Stroh,Man berichtet, ein Teil der Artillerie sei nachts auf diese Weise durch den Ort Nard geführt worden umwickelt gesehen? Oder ist das alles die Erinnerung an Gelesenes, was ich da in meinem Kopfe finde? Der grausige Kanonendonner in jenen hohen Bergen, in dem so engen Tale machte mich toll vor Aufregung. Endlich sagte der Kapitän zu mir:

»Wir müssen links über das Gebirge, dahin geht der Weg.«

Später habe ich erfahren, daß jenes Gebirge Albaredo heißt. Nach einer halben Stunde hörte ich von Mund zu Mund die Unordnung geben:

»Die Zügel nur mit zwei Fingern halten! Wenn die Pferde den Abhang hinunterstürzen, reißen sie euch sonst mit hinab!«

Donnerwetter! Es ist also Gefahr vorhanden! sagte ich mir. Auf einer kleinen Ebene wurde Halt gemacht.

»Aha hier sind wir in Sicht!« meinte der Kapitän.

»Sind wir im Feuerbereich?« fragte ich ihn.

»Nur keine Angst, mein Bürschchen!« antwortete er guter Laune. Wir waren unserer sieben bis acht Personen.

Seine Worte wirkten auf mich wie auf Petrus der Hahnenschrei. Ich träumte........ich ging an den Rand des Plateaus, um gefährdeter zu sein, und als der Marsch weiter ging, zögerte ich noch ein paar Minuten, um meinen Mut zu betätigen. Das war meine Feuertaufe.

Am Abend, als ich darüber nachsann, kam ich von meinem Erstaunen nicht los: Was, weiter nichts? sagte ich zu mir. Dies etwas törichte Erstaunen und dieser Ausruf sind mir mein ganzes Leben hindurch gefolgt. Ich glaube, das hängt mit der Phantasie zusammen.

Oft habe ich mir gesagt, – und ohne Reue, – wieviel schöne Gelegenheiten habe ich vorübergehen lassen! Ich könnte reich sein, zum mindesten mein gutes Auskommen haben! Aber nun im Jahre 1836 erkenne ich, daß, mein größtes Vergnügen die Träumerei ist. Worüber? Oft über Dinge, die mich langweilten. Die Tätigkeit, die nötigen Schritte, um eine Rente von zehntausend Franken zusammenzubringen, sind mir unmöglich. Umsomehr als ich dabei schmeicheln, nirgends Anstoß erregen u.s.w. müßte. Allein letzteres wäre mir geradezu unmöglich.

Ich habe das seltene Glück gehabt, mein ganzes Leben lang beinahe nur das zu tun, was mir Vergnügen macht. Ich darf mich also über mein Geschick nicht beklagen. Vom siebenten bis zum siebzehnten Lebensjahre habe ich zwar ein erbärmliches Los gehabt, aber vom Übergang über den Sankt Bernhard ab habe ich mein Schicksal nicht mehr zu beklagen gehabt, im Gegenteil zu loben.

Mein Glück liegt darin, ich habe niemandem etwas zu befehlen und mir wird nichts befohlen. Ich glaube auch, ich habe wohl getan, nicht zu heiraten.

Ich erinnere mich, daß ich äußerst vergnügt war, als ich in Etroubles und in Aosta einzog. Was, der Übergang über den Sankt Gerhard ist weiter nichts? sagte ich mir wieder; ein paar Mal sagte ich es unützerweise laut, bis es am Ende der Kapitän Bureuillers falsch auffaßte – ungeachtet meiner Unschuld – und es für Prahlerei nahm. Sehr häufig haben naive Äußerungen von mir dieselbe Wirkung gehabt. Ein lächerliches oder auch nur übertriebenes Wort hat oft genügt, um mir die schönsten Dinge zu verderben. So war es zum Beispiel bei Wagram; als das Gras um die Geschütze herum in Brand geriet, rief ein aufschneiderischer Oberst: »Eine Gigantenschlacht!« Der großartige Eindruck war mir unwiderbringlich für den ganzen Tag dahin.

Ich machte übrigens, ehe ich meine Felsenklippe verließ, die Beobachtung, daß die Kanonade bei Bard ein schreckliches Getöse machte; es war erhaben, aber etwas allzunahe der Gefahr. Statt rein zu genießen, war die Seele noch etwas damit beschäftigt, sich zu fassen.

Ein für allemal bemerke ich dem braven Manne, dem einzigen vielleicht, der einst den Mut haben wird, dieses Manuskript zu lesen, daß alle diese schönen Betrachtungen aus dem Jahre 1836 stammen. Im Jahre 1800 wäre ich selber darüber erstaunt gewesen, trotz meiner Vertrautheit mit Helvetius und Shakespeare; ich hätte sie nicht begriffen.

Ich glaube, ich lag an jenem Abend bei einem Pfarrer im Quartier, dem die zwanzig bis dreißigtausend Mann, die vor dem Kapitän Burelvillers und seinem Schüler durchmarschiert waren, bereits übel mitgespielt hatten. Der egoistische und bösartige Kapitän fluchte. Es scheint mir, daß der Pfarrer mein Mitleid erregte; ich sprach lateinisch zu ihm, um seine Angst zu beschwichtigen.

Der dankbare Pfarrer belehrte mich über ›Donna‹ und ›cattiva‹ und das man ›Quanti sono miglia di qua a Ivera?‹ sagen müsse, wenn man wissen wolle, wieviel Milien es von hier bis Ivrea weit sei.

Das waren die Anfänge meines Italienisch.

Ich war über die Menge toter Pferde und anderer Überbleibsel der Armee derartig betroffen, daß sich mir von Bard bis Ivrea keine besondere Erinnerung eingeprägt hat. Es war das erste Mal, daß ich eine gewisse Empfindung hatte, die sich seitdem so oft wiederholt hat: die, mich zwischen den Marschkolonnen einer Armee Napoleons zu befinden. Der augenblickliche Eindruck verschlang alles ganz genau so ist mir die Erinnerung an den ersten Abend, wo mich Jules als Geliebten behandelte. Mein Gedächtnis ist nichts als ein bei dieser Gelegenheit gedichteter Roman.

Noch sehe ich den ersten Anblick von Ivrea, wie ich ihn dreiviertel Milie vor der Stadt wahrnahm: halbrechts vor mir, zur Linken in einiger Entfernung Berge.

Am Abend hatte ich ein inneres Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich ging, dem Kapitän zum Trotz, ins Theater. Man gab Cimarosas »Matrimonio Segreto«. Der Schauspielerin, die die Carolina sang, fehlte ein Vorderzahn. So wenig bleibt von einem göttlichen Glücke übrig!

Mit einem Schlage waren meine beiden großen Taten: der Übergang über den Sankt Bernhard und meine Feuertaufe dahin. Sie erschienen mir gewöhnlich und klein. Ich empfand etwas Ähnliches wie kürzlich in der Kapelle oberhalb Rolle, aber viel reiner und lebhafter. Die Pedanterie der Julie d'Etanges ärgerte mich an Rousseau. Dafür war an Cimarosa alles göttlich.

Mein Leben begann von neuem und meine ganze Pariser Hoffnungslosigkeit war auf immer begraben. In Italien leben und solche Musik hören wurde die Grundlage aller meiner Gedanken.

Am anderen Morgen, als wir neben unseren Pferden hinmarschierten, war ich so einfältig, mit dem sechs Fuß langen Kapitän von meinem Glück zu sprechen. Er antwortete mir mit gemeinen Scherzen über die leichten Sitten der Schauspielerinnen. Mir war das Wort »Schauspielerin« wert und heilig, Mademoiselle KablyAnspielung an eine Jugendschwärmerei Beyles zu einer Grenobler Schauspielerin wegen und erst recht an jenem Morgen, wo ich in die Carolina der »Heimlichen Ehe« verliebt war. Wahrscheinlich wurden wir ernstlich uneinig, ich hatte gar Duellgedanken.

Ich verstehe meine Tollheit nicht. Aus ähnlichem Anlaß habe ich einmal den trefflichen Joinville, den jetzigen Baron und Armeeintendanten in Paris, gefordert. Dabei konnte ich meinen Säbel nicht wagrecht halten.

Abgesehen von dem lebhaftesten und tollsten Glücksgefühl habe ich wirklich von Ivrea bis Mailand nichts zu berichten. Der Anblick der Landschaft entzückte mich. Ich fand in ihr nicht die Verwirklichung des Schönen; aber auf dem Marsche nach Mailand, wo die Menge der Bäume und die Fülle der Vegetation und selbst die Maisfelder verhinderten, rechts und links hundert Schritt weit zu sehen, fand ich, das sei das Schöne.

Das ist mir Mailand auch zwanzig Jahre lang geblieben, von 1800 bis 1820. Nur mit Mühe vermag ich dieses angebetete Bild vom Schönen los zu trennen. Mein Verstand sagt mir wohl: wahrhaft schön sind Neapel und der Posilip, die Umgebung von Dresden, der Genfer See und ähnliches, – mein Verstand sagt mir das, aber mein Herz versteht nur Mailand und die üppige Landschaft seiner Umgebung.


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