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Seiner Majestät
Napoleon dem Großen,
Kaiser der Franzosen,
zurückgehalten auf der Insel Sankt-Helena.
Sire,
Ich kann die Geschichte der Malerei, die in französischer Sprache geschrieben ist, schicklicher niemandem widmen, als dem großen Manne, der dem Vaterlande jene schöne Galerie geschenkt hat, die nur hat bestehen können, solange sie seine mächtige Hand zusammen hielt.Napoleon hatte die Meisterwerke der italienischen Malerei in Paris vereint, die später von den Verbündeten größtenteils an die Orte ihrer Herkunft zurückgegeben wurden. Alles zu vereinen, war vielleicht nicht nötig, es aber so wieder zu verlieren, war der Gipfel der Erniedrigung. Und da man – nach meiner Theorie – mit erniedrigten Herzen wohl Gelehrte, niemals aber Künstler großziehen kann, so muß man glauben, daß Frankreich mit dem größten Manne, den es je hervorgebracht, seine sich entwickelnde Schule verloren hat.
In der größten Glückszeit für das Vaterland und für Sie, Sire, würde ich Ihnen diese Widmung niemals dargebracht haben: Ihr Ruhm verbesserte alles, aber Ihr Erziehungssystem fand ich abscheulich. Auch haben Sie am Tage der Gefahr nur schwächliche Seelen unter Ihren Günstlingen gefunden und Männer wie Carnot, Thibaudeau, Flaugergue gehörten zu denen, die Sie nicht liebten.
Trotz dieses Fehlers, der Ihnen schädlicher als dem Vaterlande gewesen ist, wird die gerechte Nachwelt die Schlacht bei Waterloo beweinen, weil damit ein Zeitalter liberaler Ideen zu Ende ging. Sie wird einsehen, daß Schöpfungen Kraft erfordern, daß es ohne Romulus keinen Numa geben kann. Vierzehn Jahre lang haben Sie die Parteien ausgelöscht, Sie haben den Royalisten wie den Jakobiner gezwungen, Franzosen zu sein, und diesen Namen, Sire, haben Sie so emporgehoben, daß sich die Parteien angesichts Ihrer Siegeszeichen früher oder später in die Anne fallen mußten. Diese Wohltat, die höchste, die eine Nation empfangen kann, sichert Frankreich eine unfehlbare Freiheit.
Sire, möge Ihnen der Himmel recht lange Tage gewähren, damit Sie Frankreich durch die Verfassung glücklich sehen, die Ihr letztes Vermächtnis ist. Dann, Sire, wird Frankreich Ihnen die einzige schwache Tat, die es an Ihnen tadeln könnte, verzeihen: nach Waterloo nicht die Diktatur an sich gerissen und am Heil des Vaterlandes verzweifelt zu haben.
Einst wird die unparteiische Nachwelt nur im Zweifel sein, ob sie Ihren Namen neben oder über den Alexanders stellen soll, und Ihre armseligen Feinde werden nur darum nicht vergessen sein, weil sie das Glück hatten, Ihre Feinde gewesen zu sein.
Um das Jahr 900 hatten die italienischen Städte versucht, wieder Handelsbeziehungen mit Alexandrien und Konstantinopel anzuknüpfen, wobei ihnen die meeresnachbarliche Lage ihres Landes zu statten kam. Kaum hatte sich aber bei den Italienern der Begriff persönlichen Eigentums einigermaßen entwickelt, so zeigte sich an ihnen die gleiche begeisterte Freiheitsliebe wie einst an den alten Römern. Diese Leidenschaft wuchs mit dem Wohlstand und bekanntlich lag während des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts der ganze europäische Handel in den Händen der lombardischen Kaufherrn. Während sie sich im Auslande Reichtümer erwarben, bildete sich in ihrer Heimat eine Unzahl von Republiken.
Das Papsttum hat die italienische Intelligenz zur Entfaltung gebracht und zugleich den Samen des republikanischen Geistes ausgestreut. Die Handelsherren der italienischen Städte begriffen frühzeitig, daß es zwecklos ist, Schätze anzuhäufen solange man einen Herrn hat, der sie einem jederzeit wieder entreißen kann.
Im Mittelalter ging wie in unseren Tagen Gewalt immer vor Recht; nur suchen die Gewalthaber von heute alle ihre Handlungen mit dem Scheine der Gerechtigkeit zu umkleiden. Vor tausend Jahren bestand der Begriff Gerechtigkeit bestenfalls im Schädel irgend eines mächtigen Feudalherrn, der, während der langen Winterabende an seine Burg gefesselt, bisweilen aufs Philosophieren verfiel. Der gemeine Haufe, im Zustande der Barbarei festgehalten, sorgte sich tagaus tagein um nichts weiter, als um die zum Hinfristen des Lebens nötigsten Mittel.
Die Päpste, deren Macht lediglich in der Kraft gewisser Ideen beruhte, hatten also mitten unter diesen unterdrückten Wilden die schwierigste Rolle von der Welt zu spielen. Es galt, entweder geschickt aufzutreten oder unterzugehen; aber hier wie anderwärts wurde aus dem Drange der Not auch ihr Überwinder geboren. Und gerade darum wurden mehrere Päpste des Mittelalters außerordentliche Menschen.
Man wird nicht mißverstehen, daß ich hier nicht die Religion, noch viel weniger die Moral im Auge habe, Jene Männer haben es einfach verstanden, ohne Gewaltmittel wilde Tiere zu beherrschen, die nur der rohen Gewalt sich zu beugen gewohnt waren. Das ist ihre Größe.
Um zu Macht und Reichtum zu gelangen, brauchten sie nur der Lehre festen Glauben zu verschaffen, daß es eine Hölle gäbe, daß gewisse Sünden die Menschen dahin überlieferten und daß die Kirche Mittel besäße, diese Sünden abzulösen. Alle übrigen Lehren der Religion mußten diesen wenigen Grundsätzen als Stütze dienen.
Heutzutage lächeln wir über jene Mönche, die in den Schenken umherliefen, um mit ihren Ablässen zu handeln; aber da denken wir minder folgerichtig, als jene, die sie kauften. Der Ablaß für einen Mord kostete zwanzig Taler. Wollte nun der Herr einer Stadt sich zwanzig widerspenstiger Bürger entledigen, so mußte er vierhundert Taler ausgeben. Seinen Ablaß in der Tasche, ließ er sie dann ohne die geringste Furcht vor Höllenstrafen ruhig köpfen. Warum sollte er sie auch haben? Besaß nicht jener Mann, der ihm den Ablaß verkauft hatte, das Recht, auf Erden zu binden und zu lösen?»... und wie wohl ich mehrere Menschen getötet, ward es mir durch den Priester Gottes in gesetzlicher Autorität verziehen« sagt Benvenuto Cellini in seiner Vita, I, 417. (Stendhal.) Der Priester, der die Absolution erteilte, mochte dabei immerhin Unrecht tun; für den Empfänger mußte sie jedenfalls giltig sein oder der ganze Katholizismus brach in sich selbst zusammen.
Gerade der feste Glaube an das Sakrament der Buße und den Ablaß hat jene blutigen und energischen Sitten der italienischen Republiken groß gezogen. Doch konnte man auch für liebenswürdigere Sünden Ablaß erhalten, und das gewährt uns den ersten Fernblick auf die Renaissance der schönen Künste.
In jedem Jahre sah Italien eine seiner Städte unter das Joch eines Tyrannen geraten oder einen solchen aus ihren Mauern verjagt werden. Diesen Zustand werdender Republik oder auf unsicheren Füßen stehender Gewaltherrschaft, der mit den Reichen buhlte, haben alle italienischen Städte in den zwei bis dreihundert Jahren vor dem Aufblühen der Künste durchgemacht. Er bietet ein eigenartiges kulturelles Gesamtbild. Die Leidenschaften der Reichen, hier durch Nichtstun, Üppigkeit und südliches Klima noch angestachelt, können immer nur durch die öffentliche Meinung oder durch die Religion gebändigt werden. Von diesen beiden Schranken bestand nun die erste überhaupt noch nicht und die zweite wird durch käufliche Ablässe und bestechliche Beichtväter hinfällig gemacht. Vergeblich würde man in unserer kalten berechnenden Zeit nach einem Ebenbild der Stürme suchen, die in den Herzen der damaligen Italiener tobten. Heute ist der brüllende Löwe aus seinen Wäldern entführt und zum gemeinen Haustier erniedrigt. Um ihn noch in seiner wilden Größe zu sehen, muß man sich in Calabriens Einöden wagen.
Die Phantasie der südlichen Völker läßt sie sich die Höllenqualen besonders lebhaft vorstellen; gegenüber Dingen und Persönlichkeiten, die sie als geheiligt ansehen, kennt ihre Freigebigkeit keine Grenzen. Darin liegt ein dritter Grund für das überraschende Emporblühen der Künste. Ein solcher Aufschwung war nur in Italien, bei einem Volke voller Leidenschaft und von höchster Frömmigkeit möglich. Eine Verkettung einzig dastehender Umstände ließ dieses Volk erwachsen und ihm die Fähigkeit zuteil werden, vor einem Stück mit ein paar Farben bedeckter Leinwand den höchsten Genuß zu empfinden.
»Vaterland,« – sagt Plato, – »ist für die Kreter ein Wort, über alles teuer.« Dasselbe gilt jenseits der Alpen von dem Wort Schönheit. Nach drei Jahrhunderten voll von schrecklichstem Unheil der Art, die den Menschen erniedrigt, kann man doch nirgends so begeistert wie in Italien ausrufen hören: O Dio, com' è bello!
Die Leuchten antiker Geistesbildung waren in Europa völlig erloschen. Erst die Mönche, die durch die Kreuzzüge nach dem Orient kamen, schöpften wieder einige Anregungen bei den Griechen von Konstantinopel und den Arabern, hochgebildeten Völkern, deren Wissenschaft vielmehr nach geschmackvoller seiner Darstellung als nach der Wahrheit ihrer Beobachtungen strebte.
Auf diesem Untergrunde hat sich die Scholastik entwickelt, auf die man heute gern herabsieht. Und doch ist diese Theologie durchaus nicht törichter als irgend eine andere. Sie erfordert vielmehr, um sie so zu begreifen, wie sie die Mönche des dreizehnten Jahrhunderts aufgefaßt haben, eine geistige Kraft und einen Grad von Aufmerksamkeit, von Scharfsinn und Gedächtnis, wie man ihn nicht häufig gerade unter den Philosophen findet, die sie bespötteln, weil es eben Mode ist, darüber zu spotten. Sie täten wahrlich besser, uns verständlich zu machen, wodurch diese Bildung des ausgehenden Mittelalters bei ihrem ärmlich inneren Gehalt ihre Schüler zu so kraftvoller, geistiger Sammlung gezwungen und die staunenswerteste Tatsache der Weltgeschichte hervorgebracht hat: jenes plötzliche Auftauchen einer Schar bedeutender Menschen, die die Welt des Cinquecento beherrscht haben.
Gerade in Italien tritt uns diese wunderbare Erscheinung besonders glänzend vor Augen. Wer einmal den Mut finden wird, die Geschichte der zahlreichen Republiken zu durchforschen, die in diesem Lande der Freiheit zustrebten, beim Morgengrauen der neuerstehenden Kultur, wird die genialen Menschen tief bewundern, die ja ohne Zweifel irrten, aber irrten in dem edelsten Streben, dem sich der menschliche Geist hingeben kann. Später ist ja jene von ihnen angestrebte glückliche Staatsform wirklich gefunden worden; aber ich wage kühn zu behaupten, daß die Männer Englands, die der königlichen Vollgewalt die Verfassung entrissen haben, an Geist, Willen und wahrer ursprünglicher Kraft weit hinter den dreißig oder vierzig Gewaltherrschern zurückstehen, die Dante in seine Hölle versetzt hat und die um 1300 seine Zeitgenossen waren.
Das gleiche Mißverhältnis besteht ja allerwegen zwischen dem inneren Werte des Schöpfers und seinem Werk; jeder wird mir zugeben, daß die bedeutendsten Maler des dreizehnten Jahrhunderts nichts geschaffen haben, das sich auch nur den bescheidenen Buntdrucken vergleichen ließe, die man auf unseren Dorfjahrmärkten ausgehängt findet und die der Bauer zu seiner häuslichen Erbauung kauft. Der Aufsatz des geringsten Primaners von heute überragt in vielen Beziehungen alles, was wir noch vom Abt SugerSuger von St. Denis, 1081–1151, berühmter Staatsmann und Minister Ludwigs VI. und VII. von Frankreich, auch als Geschichtsschreiber hervorragend. oder dem weisen Abälard besitzen. Dürfen wir aber daraus etwa schließen, daß der Schuljunge des neunzehnten Jahrhunderts die hervorragendsten Männer des zwölften geistig überrage? Und doch hat die Renaissancezeit, von der uns die Geschichte so seltsame Dinge berichtet, schließlich an bleibenden Denkmälern für aller Augen nichts hinterlassen, als die Gemälde Raffaels und die Verse Ariosts. In der Regierungskunst dagegen, die vor allem am meisten auf den Pöbel Eindruck macht, weil er nur bewundert was er fürchten muß, – in der Kunst eine Großmacht aufzurichten und zu leiten, hat das Cinquecento nichts geschaffen, nur darum, weil jeder der außerordentlichen Menschen dieser ruhmvollen Zeit sich durch andere nicht minder gewaltige in Schranken gehalten sah.
Man betrachte einmal die von Napoleon Bonaparte bewirkten Umwälzungen in Europa. Bei aller Gerechtigkeit, die man der Größe seines Genies widerfahren läßt, darf man doch nicht übersehen, was für Nullen die Herrscher gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren. Wir haben selbst mit angesehen, wie das verblüffte Staunen der Massen und die Bewunderung feuriger Herzen den Kaiser der Franzosen auf seine stolze Höhe gehoben haben. Setzen wir aber einmal in Gedanken auf die Throne Deutschlands, Italiens und Spaniens einen Karl den Fünften, Julius den Zweiten, Cesare Borgia, Sforza, Alexander den Sechsten, Lorenzo oder Cosimo von Medici; geben wir ihnen als Minister einen Moron, Ximenes, Gonsalvo von Cordova, Prospero Colonna, Acciajuoli, Piccinino oder Capponi. Wäre es dann den Adlern Napoleons wohl ebenso leicht gewesen, um die Türme von Moskau, Madrid, Neapel, Wien und Berlin zu flattern? Die Fürsten von heutzutage rühmen sich gern ihrer Tugenden und sehen mit stolzer Verachtung auf die kleinen Tyrannen des Mittelalters herab. Ich möchte ihnen am liebsten zurufen: »Die Tugenden, auf die ihr euch so viel einbildet, sind doch nur die des Bürgers; als Fürsten taugt ihr nichts. Die italienischen Tyrannen hingegen führten zwar persönlich ein lasterhaftes Leben, aber als Staatslenker waren sie gewaltig. Männer solchen Schlages liefern zwar der Geschichtsschreibung allerlei anstößiges Beiwerk, aber sie ersparen es ihr dafür, das Hinschlachten von Millionen zu berichten. Warum konnte denn nicht schon der unglückliche Ludwig der Sechszehnte sein Volk mit der Verfassung von 1814 erfreuen? Ja, ich behaupte sogar, daß auch ihr zu euren vielgerühmten und doch so ärmlichen Tugenden einfach genötigt seid. Die Laster, denen ein Alexander der Sechste frönte, würden euch binnen vierundzwanzig Stunden von euren Thronen wegfegen. Verschließt euch doch nicht der Erkenntnis, daß jeder Sterbliche gegenüber den Versuchungen unbeschränkter Herrschergewalt schwach ist; befreundet euch aufrichtig mit euren Verfassungen und laßt ab, Unglückliche auch noch zu beschimpfen.«
Keiner der Tyrannen, für die ich spreche, gab zwar seinem Volke eine sogenannte Verfassung, aber wenn man von diesem MangelTemporum culpa, non hominum. (Stendhal.) absieht, wird man unwillkürlich geblendet von dem Glanz der von den starken, vielseitig begabten Persönlichkeiten der Sforza von Mailand, Bentivoglio von Bologna, Pico della Mirandola, Cane von Verona, Polentini von Ravenna, Manfredi von Faenza und Riario von Imola ausstrahlt. Sie verdienen vielleicht in noch höherem Maße unsere Bewunderung, als ein Alexander oder ein Tschingis-Chan, denn diese verfügten zur Eroberung ihrer weiten Reiche auch über ungeheure Hilfsmittel. Nur ein Zug findet sich nie bei diesen Italienern, das ist jene Hochherzigkeit, die Alexander den Großen den von seinem Arzte Philipp dargereichten Becher leeren ließ. Ein anderer Alexander, zwar nicht eben gleich hochherzig, aber sonst kaum minderbedeutend, mußte sogar herzlich lachen, als sein Sohn Cesare bei ihm für Pagolo Vitelli bat. Das war ein mit dem jungen Borgia verfeindeter Edelmann; Cesare hatte ihn zusammen mit dem Herzog von Gravina unter den heiligsten Zusicherungen zu einer Besprechung in der Nähe von Sinigaglia gelockt und ließ hier beide auf ein verabredetes Zeichen zu seinen Füßen durch Dolchstiche niedermachen. Da flehte Vitello noch in den letzten Zügen Cesare an, ihm vom Papste, seinem Vater und Mitverschworenen, einen Ablaß in articulo mortis zu erwirken.
Cesare Borgia, der ausgesprochenste Vertreter seiner Zeit, hat einen seines Geistes würdigen Biographen gefunden. Lionardo da Vinci, der eine Zeitlang oberster Ingenieur seines Heeres war, hat, der Torheit des großen Haufens zum Hohn, sein Charakterbild getreu entworfen.
Geist, Aberglauben, Gottlosigkeit, Mummenschanz, Gift, Meuchelmord, ein paar bedeutende Männer, eine Unzahl geschickter und dabei unglücklicher Bösewichte, überall lodernde Leidenschaften und stolze Wildheit: so sah das Quattrocento aus.
Derart waren die Männer, deren Andenken die Geschichte wach erhält; derart unzweifelhaft auch alle einfachen Bürger, die sich von den Fürsten eben nur dadurch unterschieden, daß ihnen das Glück weniger günstige Gelegenheiten darbot .... Gerade in diesem Zeitalter der Leidenschaften, wo die Menschen ihr Herz dem Rausch höchster Erregung frei überlassen durften, erwuchsen nun plötzlich so zahlreiche große Maler. Man darf nicht übersehen, daß ein einziger Mensch ihrer aller Bekanntschaft machen konnte, wenn er im selben Jahre wie Tizian geboren war, also 1477. Vierzig Jahre seines Lebens hätte er im Verkehr mit Lionardo da Vinci und Raffael stehen können, die bis 1519 und 1520 lebten, lange Jahre mit dem göttlichen Correggio leben, der erst 1534 starb, und mit Michelangelo, der seine Laufbahn bis 1564 ausdehnte.
Ein solcher, bei einiger Neigung zur Kunst vom Glück so begnadeter Mensch hätte beim Tode Giorgiones im Alter von vierunddreißig Jahren gestanden. Er hätte Tintoretto, Jacobo Bassano, Paolo Veronese, Garofalo, Giulio Romano gekannt, ebenso Fra Bartolommeo, der 1517 starb und den liebenswürdigen Andrea del Salto, der bis 1531 gelebt hat: kurz alle großen Maler, ausgenommen die der Schule von Bologna, die erst ein Jahrhundert später kamen.
Warum zeigt nun die Natur nach ihrer enormen Zeugungskraft in der kurzen Zeitspanne der zweiundvierzig Jahre von 1452 bis 1494, wo alle diese großen Männer geboren wurden, späterhin ein so erschreckendes Unvermögen? Das wird offenbar meinen Lesern ebenso wie mir ewig ein Geheimnis bleiben. Guichardin berichtet uns, daß seit jenen glückseligen Tagen, da Kaiser Augustus hundertundzwanzig Millionen Untertanen beglückte, Italien sich nie wieder gleichen Wohlbefindens, Reichtums und Ruhe erfreut habe wie um 1490. Tiefer Frieden herrschte allerorten in diesem schönen Lande. Weit weniger als in unseren Tagen griff die Tätigkeit der Behörden in das Leben des Bürgers ein. Ackerbau und Handel verbreiteten überall eine natürliche lebhafte Tätigkeit, wie sie bei weitem jener anderen vorzuziehen ist, die nur durch das Belieben einzelner Menschen hervorgerufen wird. Die gebirgigsten und an sich darum unfruchtbarsten Landesteile waren ebenso sorgsam bebaut, wie die grünen Ebenen der üppigen Lombardei. Wenn der Reisende von den Alpen Piemonts herabstieg, so konnte er, mochte sein Weg nach den Lagunen Venedigs oder nach dem stolzen Rom führen, keine dreißig Meilen zurückzulegen, ohne zwei bis drei Städte von 50000 Seelen anzutreffen. Und mitten in all diesem Wohlbehagen hatte das glückliche Italien lediglich seinen angestammten Fürsten zu gehorchen, die in seinem Schoß geboren waren und lebten. Sie teilten die Kunstbegeisterung aller anderen Kinder ihrer Heimat, waren voll Geistes und natürlicher Frische, und im Gegensatz zu unseren modernen Fürsten leuchtete bei ihnen stets der Mensch durch die Handlungen des Fürsten hindurch.
Plötzlich ruft da ein böser Geist, der Thronräuber Ludovico Sforza, Herzog von Mailand, Karl den Achten von Frankreich ins Land. Innerhalb weniger als elf Monate zieht dieser junge Fürst als Sieger in Neapel ein, bis er bei Fornuovo gezwungen ist, sich mit dem Schwert Luft zum rettenden Rückzug nach Frankreich zu machen.
Das gleiche Geschick ereilt seine Nachfolger, Ludwig den Zwölften und Franz den Ersten. Kurz, von 1494 bis 1544 war das unglückliche Italien der Kampfplatz, auf dem Frankreich, Spanien und die Deutschen sich um die Weltherrschaft schlugen. In den Geschichtswerken kann man die endlose Reihe von blutigen Schlachten, Siegen und Mißerfolgen nachlesen, die die Wagschalen des Glücks für Karl den Fünften und Franz den Ersten bald steigen bald fallen ließen. Die Namen Fornuovo, Pauia, Marignano, Agnadello sind der Vergessenheit noch nicht ganz anheim gefallen und bei ihnen erinnern wir uns gelegentlich auch wieder des Bayard, des Konnetabels von Bourbon, des Pesiara, des Gaston von Foix und aller jener alten Helden, die in diesem langen Kampfe ihr Blut vergossen und auf den Ebenen Italiens den Tod fanden. Unsere großen Maler waren ihre Zeitgenossen. Das Bildnis Karls des Achten hat Lionardo da Vinci, das Bayards Tizian gemalt. Der stolze Karl der Fünfte hob diesem Künstler den Pinsel auf, der ihm beim Malen entfallen war, und machte ihn zum Reichsgrafen. Michelangelo wurde durch eine Revolution aus seiner Heimat vertrieben und verteidigte sie wieder als Ingenieur in der denkwürdigen Belagerung, die der ersterbende Freistaat gegen die Medici aushielt. Lionardo da Vinci begab sich, als der Sturz Ludovicos auch ihn aus Mailand vertrieben hatte, an den Hof Franz des Ersten, um dort in Ruhe zu sterben. Giulio Romano entfloh aus Rom nach der Plünderung von 1527 und baute Mantua wieder auf. So wurde die Glanzzeit der Malerei durch ein Jahrhundert voller Frieden, Reichtum und Leidenschaften vorbereitet; aber sie blühte mitten unter Schlachten und Staatsumwälzungen.
Nach diesem großen, an Ruhm und Unglück reichen Jahrhundert hätte nun Italien, wenn auch geschwächt doch wohl seine stolze Laufbahn weiter verfolgen können. Aber, während die großen Mächte Europas ihre Kämpfe auf anderem Boden weiterfochten, lag es in den Banden der jämmerlichsten Monarchie, deren Eigentümlichkeit es war, alles zu erniedrigen.