Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Napoleon Bonaparte.

Aus dem Fragment Leben Napoleons.

Die öffentliche Meinung in Frankreich um 1794.

Ich empfinde eine gewisse weihevolle Stimmung, indem ich den ersten Satz zur Geschichte Napoleons niederschreibe; handelt es sich doch um den größten Menschen, der seit Julius Cäsar auf der Welt erschienen ist. Sogar auf die Gefahr hin, daß sich der Leser die Mühe gegeben hat, das Leben Cäsars bei Sueton, Cicero, Plutarch und in seinen Kommentaren zu studieren, wage ich zu behaupten, daß wir zusammen dem Leben des wunderbarsten Mannes, der seit Alexander erschienen, nachgehen werden. Und über diesen sind wir durchaus nicht hinreichend genug unterrichtet, um die Bedeutung seiner Feldzüge richtig würdigen zu können.

Ich hegte immer die Hoffnung, daß jemand von denen, die Napoleon persönlich gekannt haben, es unternehmen würde, sein Leben darzustellen. Zwanzig Jahre lang habe ich darauf gewartet. Aber schließlich, wo ich sehe, daß dieser große Mann mehr und mehr fremd wird, möchte ich nicht sterben, ohne das Urteil einiger seiner Waffengefährten über ihn überliefert zu haben, denn inmitten der allbekannten Oberflächlichkeit gab es in den Tuilerien, dem damaligen Mittelpunkte der Welt, doch Männer unabhängigen Geistes. Die uns von den Kinderjahren her noch anhaftende Begeisterung für die republikanischen Tugenden, die übertriebene und bis zum Haß gesteigerte Verachtung für die Handlungsweise der Fürsten, die man bekämpfte, und sogar für die einfachsten militärischen Traditionen ihrer Armeen, hatten in vielen unserer Soldaten von 1794 die Anschauung erzeugt, daß allein die Franzosen vernünftige Wesen seien. In unseren Augen waren die übrigen Europäer, die zur Erhaltung ihrer eigenen Ketten kämpften, nichts als mitleidswerte Toren oder Schurken, die sich an die uns angreifenden Despoten verkauft hatten. Pitt und CoburgDer österreichische Feldmarschall Friedrich Josias von Coburg eroberte 1793 durch den Sieg bei Neermunden Belgien zurück deren Namen im verklingenden Widerhalle der Revolution bisweilen jetzt noch genannt werden, erschienen uns als solche Hauptschurken und als Verkörperung alles Verrats und aller Beschränktheit auf der Welt. Damals wurde alles durch eine tiefe Empfindung, von der ich heute keine Spuren mehr erkenne, beherrscht. Der Leser, der jene Tage nicht mehr aus eigener Anschauung kennt, mag sich aus den einschlägigen Büchern vergegenwärtigen, daß wir im Jahre 1794 keinerlei Religion hatten; unser ganzes inneres ernstes Empfinden gipfelte in einem einzigen Gedanken: dem Vaterlande nützlich zu sein.

Alles übrige, Kleidung, Nahrung, Vorwärtskommen waren in unseren Augen nur vergängliche und jämmerliche Nebendinge. Wie dabei eine Gesellschaft nicht bestand, gab es auch keine gesellschaftlichen Erfolge, etwas im Wesen unseres Volkes sonst sehr Bedeutsames.

Als Napoleon erschien und den fortgesetzten Niederlagen, einer Schuld der törichten Regierung des Direktoriums, ein Ende machte, sahen wir in seiner Diktatur nur den militärischen Vorteil. Er verschaffte uns Siege und wir beurteilten alle seine Taten nach den Grundsätzen der Religion, die seit unserer frühesten Kindheit unsere Herzen höher schlagen ließ; sie hatte für uns nur einen Inhalt: das Wohl des Vaterlandes.

Später sind wir diesem Glauben zuweilen untreu geworden, aber in allen wichtigen Angelegenheiten hat er doch, gleich wie es der Katholizismus mit seinen Gläubigen macht, immer wieder unsere Herzen erobert.

Anders erging es denen, die um 1790 geboren wurden und mit fünfzehn Jahren – 1805 –, als ihnen die Augen aufgingen, als erstes Schauspiel die federgeschmückten Samtbaretts der von Napoleon neugeschaffenen Herzöge und Grafen erblickten. Wir dagegen, wir alten Diener des Vaterlandes, empfanden nur Verachtung gegen den kindischen Ehrgeiz und die lächerliche Begeisterung dieser jungen Generation.

Und unter diesen Leuten, die sozusagen in den Tuilerien zu Hause waren, die nunmehr Wagen und auf ihrem Wagenschlag schöne Wappen besaßen, waren viele, die diese Dinge nur für eine Laune Napoleons und zwar für eine verwerfliche Laune hielten; die ruhigsten sahen darin eine für sie selbst gefährliche Phantasterei. Nicht einer von fünfzig glaubte an ihre Dauer.

Jene Männer, so ganz anders als das Geschlecht, das 1805 die Epauletten erhielt, fanden die Frische und das Glück der ersten Feldzüge in Italien von 1796 allemal erst wieder, wenn der Kaiser selber zur Armee kam.

Ich werde bei Gelegenheit berichten, mit welchem Widerwillen die 1804 bei Boulogne versammelte Armee die erste Verteilung von Kreuzen der Ehrenlegion aufnahm, dann werde ich vom Republikanertum und der Ungnade Delmas, Lecourbes und anderer zu erzählen haben. So fanden sich mitten in den Tuilerien unter den Männern, die Napoleon aufrichtig liebten, wenn man ganz unter sich zu sein glaubte, wohlgeborgen vor den Spionierereien Savarys, Leute, die keinen andern Maßstab für die Beurteilung der Handlungen des Kaisers anerkannten, als das Wohl des Vaterlandes. Solche Männer waren Duroc, Lavalette, Lannes und andere mehr, in erster Reihe hätten auch dazu gehört Desaix und Caffaielli=Dufalga, und es klingt seltsam, so einer war auch er selbst, denn er liebte Frankreich mit der ganzen Schwäche eines Liebenden.

Schilderung des Generals Bonaparte in Paris um 1795.

Eine geistreiche Dame, die mit Napoleon im April und Mai 1795 mehrfach zusammengekommen ist, war so gütig, ihre Erinnerungen aufzuzeichnen und mir nachstehende Schilderung zu übersenden:

Er war der magerste und eigenartigste Mensch, der mir je in meinem Leben begegnet ist. Nach der damaligen Mode trug er sein Haar an beiden Seiten des Kopfes übertrieben lang, so daß es ihm bis über die Schultern herabreichte. Man nannte diese Haartracht »Hundsohren«. Seine seltsamen, zuweilen etwas düsteren Italieneraugen vertrugen sich gar nicht recht mit diesem überlangen Haar. Anstatt den Eindruck eines Mannes voll Geist und Feuer zu haben, geriet man leicht auf den Gedanken, daß es ratsam sei, diesem Menschen bei Nacht im Walde nicht zu begegnen. Der Anzug des Generals Bonaparte war nicht dazu angetan, einen sicher zu machen. Sein Überrock war derartig abgetragen und sah so schäbig aus, daß ich anfangs kaum glauben wollte, dieser Mann sei ein General. Eins aber glaubte ich auf den ersten Blick, daß er ein bedeutender oder mindestens ein eigenartiger Mensch sei. Ich kann mich besinnen, daß ich die Empfindung hatte, im Blick ähnele er Jean-Jacques Rousseau, der mir nach dem vorzüglichen Porträt Latours bekannt war.

Als ich diesen General mit dem sonderbaren Namen zum dritten oder vierten Male sah, verzieh ich ihm seine überlangen Hundsohren; ich sah in ihm einen Provinzler, der die Mode übertreibt, aber trotz dieser Lächerlichkeit seine Verdienste haben kann. Übrigens hatte der junge Bonaparte sehr schöne Augen, die beim Sprechen lebhaft wurden. Wenn er nicht abgemagert gewesen wäre, so daß er leidend und besorgniserregend aussah, hätte man die Feinheit seiner Züge wohl mehr beachtet. Besonders sein Mund hatte eine überaus graziöse Linie. Ein Maler aus der Schule Davids, der bei Herrn N... verkehrte, wo auch ich mit dem General zusammentraf, erklärte, daß seine Züge klassischen Schnitt hätten, was mir besondere Hochachtung für ihn einflößte.

Einige Monate später, nach dem Bendémiaire-Aufstande, erfuhren wir, daß der General der Madame Tallien, der damaligen Königin der Mode, vorgestellt worden war und daß er einen tiefen Eindruck auf sie gemacht habe. Wir waren davon keineswegs überrascht. Es war Tatsache, daß ihm nichts weiter fehlte, einen günstigen Eindruck zu machen, als etwas weniger jämmerlich angezogen zu sein. Dabei stellte man wahrhaftig in jenen Tagen gegen das Ende der Schreckenszeit keine besonders hohen Ansprüche an die Kleidung.

Ich kann mich noch entsinnen, daß der General sehr anregend von der Belagerung von Toulon erzählte, und daß uns überhaupt seine Unterhaltung in hohem Grade fesselte. Er sprach viel und redete sich in die Wärme hinein, aber an manchen Tagen war er auch wieder nicht aus einem dumpfen Stillschweigen zu erwecken.

Er galt für sehr arm und dabei war er stolz wie ein Grande. Er weigerte sich, als General in die Vendée zu gehen und aus der Artillerie auszuscheiden. »Sie ist meine Waffe,« wiederholte er uns oft. Es ist begreiflich, daß der General Bonaparte, der nichts als seinen Sold in Assignaten hatte, so arm war. Er war auch durchaus nicht militärisch, nicht im geringsten ein Haudegen oder ein grober Kommißsoldat. Ich glaube aber, man konnte aus den seinen vornehmen und doch so entschlossenen Linien seines Mundes herauslesen, daß er die Gefahr verachtete und sie ihn nicht aufzuregen vermochte.

Von der Kriegskunst.

Ich weiß wohl, das vorliegende Buch enthält nur allzuoft Schilderungen von Schlachten; aber wie könnte ich das vermeiden, wo unser Held doch seine Laufbahn in ihnen begonnen, wo die Freude am Feldherrnruhm und an kriegerischen Erfolgen seinen Charakter gebildet hat?

Diese Schlachtenschilderungen werden die Teilnahme des Lesers in höherem Maße erregen, wenn er sich die Mühe nimmt, den nachstehenden Gedankengängen zu folgen. Übrigens spricht man heutzutage in der Gesellschaft fortwährend vom Kriege. Und wenn auch in künftigen Zeiten um den Besitz einer Provinz keine Kriege mehr entstehen, weil es für das Gesamtwohl zu bedeutungslos ist, so wird man sich um die Einführung einer Verfassung oder einer bestimmten Regierungsform doch schlagen. Schließlich sind in unserem Jahrhundert der allgemeinen Heuchelei die soldatischen Tugenden noch die einzigen, die nur, wenn sie echt sind, Erfolge bringen können.

Das Wesen der Kriegskunst ist, wenn ich offen sein und keine großen Worte machen soll, sehr einfach zu erläutern: sie gipfelt für den obersten Heerführer darin, so zu hantieren, daß er auf dem Schlachtfelde jedem feindlichen Soldaten zwei seiner eigenen entgegenstellt. Dieser Satz besagt alles, er ist die einzige Vorschrift. Aber oft hat man nur zwei Minuten lang Zeit, sie zu betätigen. Darin liegt eine Schwierigkeit, zu deren Überwindung weder vorherige kluge Erwägungen, noch schön abgefaßte Berichte über die Lage das geringste beitragen. Es gilt lediglich: in zwei Minuten den richtigen Entschluß zu finden, häufig mitten im Getöse und in der Aufregung der Schlacht. Dem Marschall Ney strömte gerade unter solchen Umständen eine Fülle vernünftiger und energischer Gedanken zu; sonst sprach er wenig und schlecht, er erschien sogar oft schüchtern und verwirrt.

Begeisterung taugt sozusagen für die Leute, die ihr Leben nicht schonen dürfen; Begeisterung hat ein Kompagniechef nötig, der durch dick und dünn vorgehen soll. Für den obersten Feldherrn dagegen ist der Krieg ein Schachspiel.

Man stelle sich einmal den hohen Eckturm eines großen Schlosses vor; auf dem glatten Schieferdach, das ihn krönt, arbeitet ein Dachdecker, der ganz klein erscheint, weil er so hoch oben ist. Ein Sturz würde ihn zerschmettern. Da oben aber hat er ganz andere Dinge zu tun, als sich die nahe Gefahr zu vergegenwärtigen. Sein Geschäft ist es, die Schieferplatten gut aufzunageln, sie beim Einschlagen der Nägel nicht zu zersprengen, mit einem Worte, sie dauerhaft zu befestigen. Wenn er, anstatt seine Schiefertafeln sorgfältig festzunageln, dem Gedanken an die drohenden Fährlichkeiten Raum gibt, wird seine Arbeit nichts taugen.

So wird auch ein Feldherr, den nur im geringsten die Schwäche anwandelt daran zu denken, wie gefährdet sein Leben ist, seinem Schachspiel nur die halbe Aufmerksamkeit zuwenden können. Aber gerade er muß ganz bei der einen Sache sein, handelt es sich doch zugleich mit dem Anordnen großer strategischer Bewegungen darum, alle jene kleinen Zwischenfälle im voraus zu berücksichtigen, die, so geringfügig sie erscheinen, doch den Gang des Ganzen hemmen können.

Hierin liegt der Grund zu dem strengen Stillschweigen, das immer in der Nähe Napoleons waltete; es wird berichtet, daß man in den größten Schlachten, abgesehen von dem nahen oder fernen Kanonendonner, an dem Punkte, wo er sich befand, das Summen einer Wespe hätte hören können; man scheute sich zu husten.

Der Feldherr muß seinem Schachspiel die äußerste Aufmerksamkeit zuwenden und währenddem seine Natur bezwingen; er muß ein Schauspieler sein und die Wirkung seiner Komödie nach der Eindrucksfähigkeit derer bemessen, vor denen er sie aufführt.

Des großen Suwaroff bewundernswerte Eulenspiegeleien sind bekannt. Catinat, der einzige verständige General aus der letzten Zeit Ludwigs des Vierzehnten, bewahrte mitten im Feuer die Haltung des kühlen Philosophen. Freilich entspricht das der französischen Eigenart wenig. Die Soldaten dieses Volkes wollen durch einen sinnlichen, greifbaren Eindruck hingerissen werden. Ihr Führer muß ein glänzender Schauspieler sein wie der König Murat, – den Gros auf seinem Gemälde der Schlacht bei Eylau äußerst treffend dargestellt hat, – oder ein außerordentlicher Mensch, einzig in seiner Art, der mitten unter den goldstrotzenden Generalen im einfachen grauen Mantel ohne Rangabzeichen dasteht. Aber an diesem grauen Mantel haftet ebenso die Komödie, wie an den riesigen Federbüschen des Königs Murat, wie an der selbstbewußten Haltung jedes Husarenleutnants. In der Armee in Italien wurde einst sogar das kränkliche Aussehen des Obergenerals vergöttert.

Die Liebe ist den Äußerlichkeiten gegenüber, an die sie sich heftet, nicht anspruchsvoll; wenn sie einmal entflammt ist, genügt ihr das Eigenartige.

Unbedingt ist ein Feldherr von zweiundzwanzig Jahren mehr als ein anderer Mann fähig, in zwei Minuten die schwerstwiegenden Fragen zu entscheiden. Lebenserfahrung kann diese Fähigkeit nur vermindern, und es ist mir klar ersichtlich, daß Napoleon an der Moskwa und vierzehn Tage vor der Schlacht bei Dresden als Feldherr minder groß war als bei Arcole und Rivoli.Napoleon war zur Zeit des ersten Feldzuges in Italien siebenundzwanzig Jahre alt

Für den Kommandeur einer Division hingegen gipfelt die Kriegskunst darin, dem Feinde Abbruch zu tun, so viel er vermag, und dabei selber möglichst wenig Einbuße zu erleiden. Die Fähigkeit eines Divisionsführers wächst mit seiner Erfahrung und, wenn sein Körper nicht durch beschwerliche Leiden bereits zusammengebrochen ist, steht die Fähigkeit dazu vielleicht im fünfzigsten Lebensjahre auf ihrer Höhe.

Man begreift, wie ungereimt es ist, alte Divisionskommandeure zu Armeeführern zu machen. Diesen Hauptfehler hat Preußen bei Jena begangen. Kalkreuth, Möllendorf, der Herzog von Braunschweig, sie alle waren nichts weiter, als alte Divisionskommandeure. Um das Unglück voll zu machen, waren mehrere dieser alten Generale im Hofdienst ergraut, das heißt, sie hatten seit dreißig Jahren an jedem Tage ihres Lebens vor Augen gehabt, wie leicht der kleinste Umstand einem den Hals brechen kann.

Der erwähnte Grundsatz, dem Feinde möglichst viel Abbruch zuzufügen und selbst dabei möglichst wenig Schaden zu erleiden, ist allgemein giltig für jeden Führer, vom Divisionskommandeur bis hinunter zum jüngsten Leutnant, der einen Zug von fünfundzwanzig Mann führt.

Gesetzt den Fall, ein französischer General greift mit einem Korps von zwanzigtausend Mann zehntausend Österreicher an, so hat es wenig zu bedeuten, wenn die Österreicher ein paar Meilen vom Schlachtfelde entfernt ein zweites Korps von zwanzigtausend Mann stehen haben, falls diese Truppen bei dem angegriffenen Heeresteile erst zu einer Zeit eintreffen können, wo er bereits vernichtet ist.

Die Erfahrung lehrt zwar, daß tausend Mann, die sich des Erfolges sicher fühlen, zwei- und sogar viertausend Feinde überwinden, wenn diesen bei aller Tapferkeit des einzelnen die Siegeszuversicht fehlt. Ein Husarenregiment kann gut gelegentlich sechstausend flüchtige Infanteristen niedersäbeln. Sammelt aber ein kaltblütiger Führer diese Fliehenden hinter einer Hecke, läßt er acht bis zehn Bäume fällen und die Äste der attackierenden Reitermasse zukehren, so wird sie ihrerseits die Flucht ergreifen.

Aber diese Ausnahme ändert durchaus nichts an der Regel, daß die hauptsächlichste und man könnte sagen einzige Sorge jedes Feldherrn dahin zielen muß, dem Feinde auf dem Schlachtfelde in doppelter Stärke gegenüber zu treten.

In allen Fällen, wo Napoleon einen Flügel der feindlichen Armee über den Haufen gerannt hat, erreichte er es nur dadurch, daß er an dieser Stelle die doppelte Übermacht herzustellen verstand. Ebenso besteht die Schwäche jeder Flankenbewegung, – immer vorausgesetzt, daß die Truppen beider Gegner gleichgut ausgebildet und tapfer sind, – zunächst darin, daß die Armee, die einen Flankenmarsch ausführt, Gefahr läuft, eines ihrer Korps von beispielsweise achttausend Mann von sechzehntausend Feinden umringt zu sehen.

Die gleiche Lage kann beim Übergang aus der Verteidigung zum Angriff eintreten. Ein Armeeteil, der auf dem linken Seineufer von Paris bis Honfleur in der Verteidigung steht, wird achtzig bis hundert Posten von je hundert Köpfen oder fünf bis sechs Abteilungen zu je zwei- bis dreitausend Mann bilden. Um nun gegen ein beispielsweise von Chartres anrückendes Detachement die Offensive zu ergreifen, muß er sich erst zu einem Ganzen zusammenschließen. Wenn zu dieser Vereinigung jede der kleinen Abteilungen den kürzesten Weg einschlägt, nämlich den der Grundlinie, so führt offenbar die Armee, falls sie ihre Bewegung nur ein wenig zu spät antritt, geradezu einen Flankenmarsch unter den Augen des Feindes aus. Das gibt diesem aber die Gelegenheit, mit viertausend Mann über zweitausend herzufallen. Dabei ist es ohne Belang, daß fünf Meilen vom Schlachtfelde sechstausend Kameraden der zweitausend Überfallenen stehen; sie werden erst eintreffen können, wenn die zweitausend Angegriffenen bereits vernichtet sind, das heißt wenn zweihundert tot, sechshundert verwundet, vierhundert gefangen und die übrigen entmutigt, – militärisch ausgedrückt: demoralisiert sind.

Von diesem Gesichtspunkte aus war der General Mack in seinem Feldzuge gegen Championnet (1799) durchaus in seinem Recht. Als er von Neapel anrückte, um die Franzosen anzugreifen, bestand sein einziger Irrtum darin, daß er sich einbildete, Soldaten zu befehligen. Von diesem Irrtume abgesehen, griffen tatsächlich sechstausend Neapolitaner dreitausend Franzosen an. Mehr konnte kein Führer tun.

Nun bringt aber ein Umstand große Unklarheiten in alle militärischen Erörterungen; die modernen Sprachen besitzen nämlich nur ein und dasselbe Wort Armee und bezeichnen damit ebensowohl eine aus engem Räume, daß sie binnen einer Stunde kampfbereit ist, versammelte Armee, wie eine, die aus Verpflegungsrücksichten über einen Raum von zwanzig französische Meilen zerstreut liegt. Zum Beispiel würde man als eine Armee bezeichnen: hunderttausend Mann in so dichter Versammlung, daß davon ständen: zwanzigtausend Mann am Triumphbogen in Paris, vierzigtausend am Boulogner Wäldchen, zwanzigtausend in Boulogne selbst und zwanzigtausend in Auteuil. Ebenso richtig spricht man aber auch von einer Armee, wenn dieselbe Zahl von Soldaten in allen Ortschaften von Boulogne bis Rouen verstreut liegt.

Es leuchtet ein, daß letztere Armee erst dann eine Schlacht wird liefern können, wenn sie zusammengezogen ist. Um sie aber auf eine Fläche von zwei Wegstunden im Geviert – wie das Boulogner Wäldchen und seine Umgebung – zusammenziehen zu können, ist zweierlei nötig: 1. vierundzwanzig Stunden Zeit, 2. rechtzeitige Befehle des Oberbefehlshabers dazu, daß die Truppen entweder ihre Lebensmittel vorher fassen, oder daß alle vierundzwanzig Stunden einhunderttausend Portionen jenem engen Raum zugeführt werden.

Aus diesem Grunde hat man, beiläufig gesagt, jederzeit ein sicheres Mittel, den Gegner zur Aufgabe irgend einer Stellung zu veranlassen, wenn man seine Magazinplätze angreift; ein solcher Platz der feindlichen Armee ist, was Mantua gegen Ende des Jahres 1796 für die Armee des Generals Bonaparte war: der Mittelpunkt aller Erwägungen.

Alle dreißig Jahre je nach dem Rezept, den Feind zu schlagen, dem die Mode gerade huldigt, wechseln die militärischen Fachausdrücke und es ist töricht zu meinen, einen großen Fortschritt gemacht zu haben, wo man nur neue Bezeichnungen eingeführt hat.

Wir sind heute in der Lage, Napoleons bewundernswerte Betrachtungen über die Feldzüge Hannibals, Cäsars, Turennes, Friedrichs des Großen und anderer zu studieren. Napoleon war seiner eigenen Anschauungen sicher genug, um sich frei und klar aussprechen zu können. Und gerade diese Betrachtungen zeigen, wie lächerlich alle Phrasen über die Kriegskunst größtenteils sind.


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