Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Leben des Lionardo da Vinci.

Odi profanum ...

1. Lionardos Jugend

In der Morgenröte eines schönen Frühlingstages ritt ich von Florenz, den Arno hinab, nach dem köstlichen See von Fucechio. Ganz in der Nähe finden sich die Reste der kleinen Burg Vinci. In meinen Satteltaschen hatte ich die Stiche von Lionardo da Vincis Werken mit. Ich hatte sie gekauft, ohne sie mir anzusehen, und wollte den ersten Eindruck von ihnen im Schatten jener reizenden Hügel empfangen, inmitten deren dieser älteste der großen Maler im Jahre 1452 geboren wurde.

Lionardo war ein natürlicher Sohn Ser Pieros, eines Notars der florentinischen Republik, liebenswürdig wie eben ein Kind der freien Liebe. Seit seiner zartesten Jugend galt ihm die Bewunderung seiner Zeitgenossen. Sein erhabener und scharfer Geist, gierig nach neuen Dingen, voll Leidenschaft, sie zu versuchen, betätigte sich nicht nur in den drei darstellenden Künsten, sondern auch in der Mathematik, Mechanik, Dichtkunst und Ideologie, ganz abgesehen von den geselligen Künsten, in denen er hervorragend war, in der Fechtkunst, im Tanzen und Reiten; und diese verschiedenen Fähigkeiten besaß er in so hohem Grade, daß er einzig für die geboren zu sein schien, die er, um zu gefallen, gerade ausübte. Ser Piero, über dieses einzigartige Wesen verwundert, nahm ein paar seiner Zeichnungen und legte sie Andrea del Verrocchio, einem damals hochberühmten Maler und Bildhauer, vor. Andrea wollte nicht glauben, daß es die Zeichnungen eines Kindes seien; man brachte ihm Lionardo;Um 1468 seine Anmut berückte ihn vollends und Lionardo wurde bald sein Lieblingsschüler. Kurz darauf, als Verrocchio für die Mönche von San Salvi die Taufe Christi malte, schuf Lionardo jenen reizvollen Engel auf diesem Gemälde.Jetzt in der Akademie zu Florenz

Zu keiner Zeit hat die Malerei allein Lionardo in Anspruch genommen. Man ersieht aus den glaubhaften Berichten seiner Biographen, daß er sich ebensoviel mit Chemie und Mechanik beschäftigte. Mit einer gewissen Scheu erzählen sie, daß Lionardo außergewöhnlichen Ideen nachging. Eines Tages versuchte er, durch eine Mischung übelriechender Stoffe abscheuliche Gerüche zu erfinden. Diese Gase, die sich plötzlich in der Wohnung, als viele Menschen versammelt waren, entwickelten, trieben alle Anwesenden in die Flucht. Ein anderes Mal hatte er verborgene Blasen angebracht, die durch unsichtbare Blasebälge aufgeblasen wurden und nach und nach den ganzen Raum des Zimmers erfüllten, so daß alle Besucher zu flüchten gezwungen wurden. Unter anderen erfand er einen Mechanismus, durch den sich mitten in der Nacht eine Bettstelle zum großen Schrecken des darin Schlafenden in die Höhe hob. Mit einer anderen Maschine konnte er Felsen durchbohren, mit wieder einer anderen große Lasten heben. Er hatte den Plan, das riesige Gebäude der Kirche von San Lorenzo in Florenz zu heben, um ihr eine großartigere Grundlage zu geben.

Man konnte sehen, wie Lionardo auf der Straße zuweilen plötzlich stehen blieb, um in ein kleines Skizzenbuch lächerliche Gestalten, denen er begegnete, abzuzeichnen. Wir haben noch solche reizende Karikaturen; es sind die besten, die es gibt. Er suchte nicht nur Modelle für das Schöne und das Häßliche, er strebte vielmehr danach, den flüchtigen Ausdruck der Seele und der Gedanken festzuhalten. Bizarre und verzerrte Dinge hatten ein besonderes Anrecht auf seine Beachtung. Vielleicht hatte er als erster das Gefühl für jenes etwas in der Kunst, dessen Wirkung nicht in der Sympathie, sondern mit in der Eigenliebe beruht. Lacht man nicht aus Genuß der Eigenliebe beim plötzlichen Anblick von etwas Vollkommenem, das man durch die Schwäche anderer an sich selbst erkennt? Er lud auch gern Landleute zu sich zum Essen ein, um sie bei vollem Halse durch die seltsamsten Vorträge und die lustigsten Erzählungen zum Lachen zu bringen. Manchmal sah man ihn wiederum Unglücklichen zur Richtstätte folgen.

Eine seltsame Schönheit und ein reizvolles Wesen haben seine eigenartigen Ideen bewunderungswert gemacht, und es scheint, daß diesem glücklichen Genie – ebenso wie Raffael – eine Ausnahme von jener so wahren Regel zuteil ward, die Lafontaine in die Verse gefaßt hat:

Blumige Pfade, sie führen nimmer zum Ruhme.

2. Abschnitte in Lionardos Leben.

Lionardo muß die Kunst gefunden haben, seine Arbeiten nützlich zu verwerten, denn sein Vater war nicht reich, während er sich als junger Maler, als er seine Laufbahn erst begann, in Florenz, dem London des Mittelalters, Diener und Pferde hielt und obendrein die feurigsten und schönsten der Stadt. Auf ihnen wagte er die kühnsten Sprünge, vor denen die beherztesten Sportsleute schauderten. Seine Körperkraft war so groß, daß er mühelos ein Hufeisen zerbrechen konnte.

Das Leben dieses großen Mannes läßt sich leicht in vier Abschnitte einteilen:

1. Seine Jugend, die er in Florenz im Hause seines Vaters verlebte, 2. sein Mailänder Aufenthalt am Hofe Ludovicos des Mohren, 3. die zwölf oder dreizehn Jahre, die er nach dem Sturze Ludovicos teils in Toskana, teils auf Reisen zubrachte, und endlich 4. sein Alter und sein Tod am Hofe Franz des Ersten.

Sein frühestes Werk soll ein für den König von Portugal entworfener, verloren gegangener Karton Adam und Eva, wie sie den verhängnisvollen Apfel pflücken, gewesen sein.

Sein Vater bat ihn einmal, einen Schild für einen Landmann in Vinci zu malen. Es sollte entweder das Haupt der Meduse oder irgend ein Ungeheuer darauf zu sehen sein. Ser Piero dachte gar nicht mehr an den Schild, als er eines Tages an die Türe Lionardos klopfte. Der bat ihn zu warten, rückte das Bild in das volle Licht und ließ ihn eintreten. Der Vater wich vor Angst zurück, glaubte eine leibhaftige Schlange zu erblicken und floh entsetzt davon.

Alles was Nattern, Vampyre, große Sumpfinsekten, Eidechsen und ähnliches Getier gräßlichstes und widerlichstes an sich haben, das war an diesem Untier vereint. Man sah es aus einer Felsenspalte kriechen und sein Gift gegen den Beschauer richten.

Das beste dabei war, daß dieses Schreckensbild durch lange Naturstudien entstanden war. Ser Piero fiel seinem Sohne um den Hals.

Der Schild wurde für 300 Dukaten an den Herzog Galeas von Mailand verkauft.Dieser Schild der Meduse ist verloren gegangen. Vgl. Anmerkung 2 auf S. 52.

3. Lionardos Jugendwerke.

Die Mailänder haben allen Grund, den Göttern dankbar zu sein, daß Lionardo früh zu ihnen kam. Wahrscheinlich hat er das liebenswerte Florenz vor seinem dreißigsten Lebensjahre nicht verlassen.Lionardo kam 1482, spätestens 1483 nach Mailand

Man muß sich nach dem Medusenhaupt in den Uffizien eine Vorstellung von den Fähigkeiten des jugendlichen Lionardo machen...Man weiß heute, daß das Medusenhaupt in Florenz mit der verloren gegangenen Meduse Lionardos gar nicht im Zusammenhang steht. Aus diesem Grunde ist die weitere Betrachtung Stendhals darüber hier fortgelassen

Ganz andersartig, aber ebenso aus seiner frühen Zeit, ist das fürstliche Kind in der Wiege in der Bologner Pinacoteca).Nummer 212 daselbst. Auch dieses Bild ist dem Lionardo längst mit Recht abgesprochen worden. Es scheint der Schule des Fed. Baroccio anzugehören Es steckt viel Sorgfalt in diesem Bilde, aber von dem bekannten Stile Lionardos liegt nichts darin. Es ist überreich an Licht; der Maler denkt noch nicht an jene weise Sparsamkeit, die nachmals einer der Grundzüge seiner Malweise wurde. Diese Betrachtung drängt sich einem recht auf, wenn man die Magdalenen des Palazzo Pitti in Florenz und der Villa Aldobrandini in Rom oder die heiligen Familien der Galerien Giustiniani und Borghese betrachtet. Man zeigt neugierigen Bewunderern häufig Köpfe von Johannes dem Täufer oder von Christus, die jenem frühen Stil Lionardos entsprechen. Wenige rühren von ihm her.

Im Ganzen finde ich mehr Zartheit als Schönheit in den ersten Bildern Lionardos, insbesondere fehlt ihnen jene gewisse Härte, die einen an der Schönheit der Antike bisweilen überrascht und gegen die Lionardo zu allen Zeiten seines Lebens eine Abneigung gehabt zu haben scheint. Sein Genie ließ ihn die Schönheit der Moderne empfinden; dadurch ist er allen Florentinern überlegen.

Die Köpfe aus früherer Zeit ähneln, und das ist begründet, den Köpfen des Verrocchio. Der Faltenwurf der Gewänder ist etwas dürftig, die Schatten matt, das Ganze trocken und kleinlich, wenn auch nicht ohne Anmut. So war sein frühester Stil.

4.

Die drei Stilarten Lionardos.

Ich habe von drei Arten des Stils bei Lionardo gesprochen und gebe hierzu folgende Beispiele:

zur ersten Art: das fürstliche Kind in der Wiege zu Bologna;Als Jugendwerke erkennt man heute im allgemeinen nur noch an: 1. den Engel in Nerrocchios Taufe Christi (vgl. Seite 48), 2. eine Verkündung Maria in den Uffizien, bezw. eine ebensolche im Louvre, 3. das Bildnis einer jungen Frau (der Ginevra dei Benci) in der Galerie Lichtenstein zu Wien

seine zweite Art weist eine Veränderung durch den außerordentlich starken Schatten auf. Ich möchte hier die Madonna unter den Felsen aufführen. An diesem Bilde muß man die Kopfformen Lionardos studieren.Im Louvre und in der Londoner Nationalgalerie

Sein Sfumato, verschwimmende Farben und Konturen, kennzeichnen hauptsächlich Lionardos dritte Art; sie ist ruhiger und von einer weicheren Harmonie. Wenn Lionardo eine große Plastik erreicht, so geschieht es eher dadurch, daß er mit dem Lichte geizt, als dadurch, daß er dem Schatten besondere Kraft verleiht.

5.

Lionardo in Mailand.

Der (1476) ermordete Herzog von Mailand, Galeazzo Maria Sforza, hinterließ einen unmündigen Sohn, Gian Galeazzo, zu dessen Vormund sich (1481) der berühmte Ludovico il Moro machte. Dieser Fürst trachtete offenbar nach der Herrschaft seines Mündels und Neffen, was ihm in der Tat 1494 nach dessen Vergiftung schließlich gelang.

Ludovico sah, welchen Ruf sich die Medici in Florenz dadurch erwarben, daß sie die Künste förderten. Nichts verdeckt die Gewaltherrschaft mehr als der Ruhm. Er berief nun alle berühmten Männer, deren er habhaft werden konnte, an seinen Hof, angeblich zur Erziehung seines Neffen. In fortwährenden Festlichkeiten suchte Ludovico Erholung von der düsteren Politik, in die er dauernd verwickelt war.

De Brosses schreibt:Briefe aus Italien, I, 106 »Ich sah in der durch ihre Marmorwerke so berühmten Certosa von Pavia das schöne Grabmal des Giangaleazzo Visconti, des Gründers dieses Klosters; ihm zu Füßen ist eine Bildsäule des Ludovico Sforza il Moro, der in Frankreich in der Burg Loches gestorben ist. Dieser Mann ist in der Geschichte durch seine Arglist so berüchtigt, daß ich seine Physiognomie mit großer Sorgfalt studiert habe. Sie ist durchaus sympathisch und die des besten Menschen der Welt....«

Ludovico liebte über die Maßen die Musik und die Laute, ein bei den Alten berühmtes Instrument, das nichts anderes ist, als die sentimentale Guitarre. Man berichtet, daß Lionardo gelegentlich einer Art von Wettstreit der besten Lautenspieler Italiens zum ersten Male an den Mailänder Hof kam. Er soll sich mit einer Laute von eigentümlicher Form, nach den neuesten akustischen Grundsätzen aus Silber hergestellt, vorgestellt haben. Dieser Laute hatte er die Gestalt eines Pferdeschädels gegeben. Er trug aus dem Stegreif vor, wobei er sich selbst begleitete, trat in öffentlicher Disputation auf und hielt geistvolle Reden über alle möglichen Themata. So bezauberte er die ganze Stadt und Ludovico nahm ihn in seine Dienste.

Heutzutage wäre eine Disputation im Salon sehr lächerlich, aber im Quattrocento war man noch jung. Selbst die Hofgesellschaft hatte für einen höheren Menschen einen Reiz, den sie verloren hat. Sie war die Krone der Geselligkeit, heute ist sie nichts als Zwang. Die Vorliebe des eleganten Lionardo für die Gesellschaft von Fürsten ist somit verständlich.

In Mailand wurde er bald der tonangebende Mann, der Leiter der Feste Ludovicos wie derjenigen, die die Edelleute der Stadt ihrem Fürsten zu Ehren veranstalteten. Er wurde der Oberingeneur für die Wasserregulierungen, der Erschaffer eines Reiterstandbildes, das der Herzog seinem Vater Francesco errichten wollte, und schließlich der Maler zweier seiner Geliebten.

Cecilia Gallerani und Lucrezia Crivelli waren die beiden schönsten Damen aus den ersten Familien Mailands. Lionardos Bildnis der Cecilia, der Dichterin hübscher Verse, hängt in der Ambrosiana,Bildnis einer mailändischen Prinzessin, vgl. Burckhardt, Cicerone, S. 756, der es aber für ein Porträt von Ludovicos natürlicher Tochter, der »Madama Bianca« hält. das der Lucrezia ist vielleicht identisch mit der »Belle Féronnière«, jener Dame im roten mit Gold verbrämten Kleide, mit einem Edelsteine mitten auf der Stirn, im Louvre zu Paris.Dieses Bild stammt sicher aus der ersten Zeit von Lionardos Mailänder Aufenthalt; wen es aber darstellt, ist unbestimmbar

Man findet in den Manuskripten Lionardos den Entwurf eines BriefesCodex atlanticus fol. 391. – Man findet eine Übersetzung dieses Entwurfs in »Lionardo da Vinci« von Herzfeld, Leipzig, E. Diederichs, 1904, Seite 174–176 an Ludovico den Mohren, in dem er ihm alle seine Verdienste darlegt. Dieser Brief ist von rechts nach links geschrieben, also in einer einfachen Art von Geheimschrift, die Lionardo vielleicht aus keinem anderen Grunde anzuwenden Pflegte als aus seiner eigentümlichen Vorliebe für alles Seltsame.Wahrscheinlicher ist es, daß sich Lionardo zum Schreiben häufig der linken Hand bediente

Die dreißig Bände Manuskripte und Zeichnungen, die in der Hauptsache heute in Mailand und Paris zu finden sind, weisen viel Licht über das Leben ihres Verfassers. Sie sind nicht im gewöhnlichen Sinne interessant. Lionardo hatte nicht wie Benvenuto Cellini den glücklichen Einfall, sich der Allgemeinheit zu offenbaren. Sonst würden diese Manuskripte eine ganz andere Berühmtheit haben.

Ich habe darin eine kleine Erzählung gelesen, nichts Besonderes, aber ich erinnere mich ihrer gerade, weil dazu am Rande bemerkt steht: »Dieb, Lügner, Dickkopf, Freßsack.« Es ist ersichtlich, wer dieses schöne Subjekt war: »Jacomo kam zu mir am Magdalentage 1490, im Alter von zehn Jahren. Am zweiten Tage ließ ich ihm zwei Hemden schneiden, ein paar Hosen und einen Wams, und als ich mir das Geld beiseite legte (4 Lire), um genannte Sachen zu bezahlen, stahl er mir dieses Geld aus der Geldtasche, und nie war es mir möglich, ihn das eingestehen zu machen, obwohl ich davon wahre Gewißheit hatte. Am folgenden Tage ging ich mit Jacobo Andrea zum Nachtmahl, und vorbezeichneter Jacomo aß für zwei und tat Böses für vier, indem er zwei Flaschen zerbrach, den Wein vergoß und dann zu mir kam. Item, am 7. Tage des Septembers stahl er dem Marco, der mit mir war, einen Griffel, der aus Silber war, im Werte von zweiundzwanzig Soldi und nahm ihn aus dessen Studio. Nachdem genannter Marco lang genug gesucht hatte, fand er selbigen in der Truhe des genannten Jacomo versteckt. Item, am 26. Tage des Januars darauf, als ich im Hause des Messer Galeazzo da Sanseverino war, um das Fest des Lanzenstechens anzuordnen, und etliche Knappen sich auszogen, um Wämser von wilden Männern anzuprobieren, die bei selbigem Feste vorkamen, näherte sich Jacomo der Geldkatze des einen unter ihnen, die mit anderen Gewändern auf dem Bette lag, und nahm daraus, was sich an Münzen darin befand. Item, als in genanntem Hause Meister Agostino von Pavia mir ein türkisches Leder geschenkt hatte, um mir daraus ein paar Stiefel machen zu lassen, entwendete es mir Jacomo innerhalb des Monats und verkaufte es einem Flickschuster um zwanzig Soldi, von welchem Gelde, nach dem, was er mir selber gestand, er sich Aniskonfekt kaufte. Item noch, am 2. Tage des April, da Gianantonio einen Silberstift auf einer Zeichnung hatte liegen lassen, stahl ihn selbiger Jacomo, welcher Stift 24 Soldi im Werte war. Im ersten Jahre: 1 Mantel, 6 Hemden, 3 Wämser, 4 Paar Strümpfe, 1 gefütterter Anzug, 24 Paar Schuhe, 1 Barett, Gürtel, Nestel ....«Der deutsche Text nach der Herzfeld'schen Übersetzung

Ein Liebling Ludovicos des Mohren, eines Menschenkenners, gepriesen im Lande als ein Genius des berühmten Florenz, der Leuchte der Lombardei, betätigte Lionardo die erstaunliche Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit seines Geistes und schuf gleichzeitig zwanzig verschiedene Arbeiten. Er war dreißig Jahre alt, als er an jenen glänzenden Hof kam und er verlieh Mailand erst mit dem Sturze Ludovicos, siebzehn Jahre später.

6

Lionardo als Künstler.

Während dieses langen Zeitraumes malte Lionardo wenig. Der Einfluß seiner ersten Erziehung bei Verrocchio blieb im ganzen Laufe seines Lebens leicht erkennbar. Wie sein Lehrer zeichnete er lieber, als daß er malte. In der Zeichnung und in der Wahl der Gestalten bevorzugte er nicht volle runde Umrisse wie Rubens, vielmehr das Graziöse und Geistvolle wie Francia. Pferde und kämpfende Soldatengruppen entstanden immer wieder unter seinen Händen. Die Anatomie war sein Lebensstudium. Alles in allem arbeitete er mehr zur Förderung der Künste als zur Vermehrung ihrer Werke.

Sein Lehrer Verrocchio war ein geschickter Bildhauer, wie uns sein Heiliger Thomas an Orsanmichele zu Florenz und sein Reiterdenkmal von San Giovanni e Paolo in Venedig dartun. Kaum war Lionardo in Mailand angekommen, so sah man ihn bereits bei der Arbeit, ein Reiterdenkmal von kolossaler Größe zu modellieren. Er pflegte ferner eifrig die Geometrie und vollbrachte ungeheure Arbeiten auf den Gebieten der militärischen Technik und der Hydraulik. Der brennenden Sonne jenes Landes zum Trotz leitete er das Wasser in alle Winkel der Mailänder Ebene. Ihm danken wir, wir anderen Wanderer, somit jene bewunderungswerten Landschaften, in denen die Fruchtbarkeit und das endlose Grün im Vordergründe mit den bizarren Gebilden der fernen Alpen, die meilenweit den Horizont zu einer herrlichen Augenweide machen, wetteifern.

Er brach mit der Gotik in der Baukunst, er gründete eine Malerakademie; aber mitten in so mannigfaltiger Tätigkeit malte er nichts Geringeres als das Abendmahl im Refektorium von Santa Maria delle Grazie.

7.

Lionardo im Kloster delle Grazie.

Es gibt unmöglich jemanden, der das Abendmahl Lionardos nicht kennt; es ist das Original zu dem schönen Stich von Raffael Morghen.

Es handelte sich darum, jenen so zarten Augenblick darzustellen, wo Christus, wie ein junger Philosoph von seinen Schülern umgeben, in der Vorahnung seines Todes die rührenden Worte zu ihnen spricht: »Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!« Eine Seele voll ähnlicher Liebe muß tief ergriffen sein, wenn sie bedenkt, daß unter den zwölf Freunden, die er auserwählt hatte, mit denen er sich verbarg, um einer ungerechten Verfolgung zu entgehen, die er an jenem Tage um sich vereint sehen wollte zu einem Brudermahl, dem Symbol des Bundes der Herzen und der weltumfassenden Liebe, wie er sie auf der Erde heimisch machen wollte, – trotz alledem ein Verräter weilt, der im Begriff ist, ihn um eine Summe Geldes seinen Feinden zu überliefern. Ein ebenso erhabener wie zarter Schmerz erforderte, um malerisch zum Ausdruck zu kommen, die einfachste Anordnung, so daß man sich bei der Betrachtung an nichts hängen kann als an die Worte, die Christus in diesem Augenblick verkündet. Es war eine große Schönheit in den Köpfen der Jünger nötig und eine besondere Vornehmheit in ihren Bewegungen, um das Gefühl zu erzeugen, daß es keine niedrige Furcht vor dem Tode ist, die Christus betrübt. Wäre er ein gewöhnlicher Mensch gewesen, so hätte er die Zeit nicht über einer gefahrvollen Rührung verloren, er hätte Judas erdolcht oder zum mindesten in Begleitung seiner treugebliebenen Jünger die Flucht ergriffen.

Lionardo da Vinci hatte das Gefühl für die himmlische Reinheit und den tiefen Sinn, die dem Wesen dieser Handlung Christi anhaften; tief verletzt durch die verruchte Unwürdigkeit des schwarzen Verrats und die Erkenntnis der menschlichen Arglist, war Christo das Leben verleidet und er fand es süßer, sich der himmlischen Melancholie, von der seine Seele voll war, hinzugeben, als ein unglückliches Leben zu retten, das täglich ähnlicher Undankbarkeit ausgesetzt war. Christus sah seine Lehre von der erdumfassenden Menschenliebe scheitern. Er sagte sich, ich habe mich getäuscht und die Menschen nach meinem Herzen beurteilt. Seine weiche Rührung ist so groß, daß er zu seinen Jüngern jene traurigen Worte spricht: »Einer unter euch wird mich verraten!« Er blickt keinen dabei an.

Christus sitzt in der Mitte einer langen Tafel, deren eine Seite, die nach dem Betrachter hin, frei geblieben ist. Johannes, der Lieblingsjünger Christi, sitzt ihm zur Rechten; an Johannnes lehnt sich Petrus, daneben sitzt der falsche Judas. Dadurch, daß eine ganze Seite der Tafel unbesetzt ist, sieht man die Gestalten voller. Dargestellt ist der Augenblick, wo Christus seine grausamen Worte eben ausgesprochen hat; der erste Eindruck der Empörung spiegelt sich an allen Personen wieder. Johannes, niedergeschlagen durch das eben Vernommene, hört gleichwohl mit gewisser Aufmerksamkeit auf Petrus, der ihm lebhaft seinen gegen einen der auf der anderen Seite sitzenden Jünger gefaßten Verdacht begründet. Judas sitzt halb rückwärts gewendet da und sucht nach Petrus hinzusehen, um zu hören, was dieser mit so viel Feuer spricht. Währenddem wird sein Gesicht dreist und er bereitet sich vor, allen Verdächtigungen gegenüber standhaft zu leugnen. Aber er ist bereits entdeckt. Jakobus der Jüngere macht Petrus, indem er seine linke Hand hinter Andreas weg auf ihn legt, aufmerksam, daß der Verräter auf seiner Seite sitze. Andreas schaut entsetzt auf Judas. Bartholomäus, der am Ende der Tafel (links vom Beschauer) sitzt, richtet sich halb auf, um den Verräter besser zu sehen.

Zur Linken Christi beteuert Philippus seine Schuldlosigkeit durch die allen Völkern eigentümliche Gebärde: er öffnet die Arme und bietet die Brust unbeschützt dar. Thomas verläßt seinen Platz und tritt lebhaft an Christus heran; den Zeigefinger der rechten Hand emporhebend scheint er den Heiland zu fragen: »Einer unter uns?« Gerade diese Geste läßt merken, daß die Malerei eine weltliche Kunst ist. Diese Geste war nötig, um die Situation für profane Augen zu charakterisieren. Sie macht die eben ausgesprochenen Worte vernehmbar. Es fehlt ihr aber jene vornehme Seelengröße, die Christi Jünger haben müßten. Daß ein Verräter unter ihnen ist, ist nicht das Wichtigste. Daß sich eine schändliche Seele gefunden hat, einen so liebenswerten Meister zu verraten, dieser Gedanke sollte jeden von ihnen niederdrücken und dann sollte ihnen noch ein anderer Gedanke erstehen, der: »Wir Werden ihn nicht mehr sehen!« und ein dritter: »Gibt es kein Mittel, ihn zu retten?«

Philipp, der jüngste Apostel, erhebt sich mit einer Bewegung voll Treuherzigkeit und Freimut, um seine Treue zu beteuern. Matthäus wiederholt die schrecklichen Worte dem Simon, der sie ungläubig abwehrt. Thaddäus, der sie ihm vordem überbracht hat, weist auf Matthäus, der sie gleichzeitig mit ihm vernommen hat.

Simon, der letzte Jünger zur Rechten des Beschauers, scheint auszurufen: »Wie könnt ihr so etwas Schreckliches zu sagen wagen!«

Aber man merkt, daß alle, die um Christus sind, nur Jünger sind, und das Auge wendet sich nach der Betrachtung dieser Gestalten sehr rasch wieder ihrem erhabenen Meister zu. Der edle Schmerz, der ihn bedrückt, beklemmt das Herz. Die Seele versinkt in Nachdenken über das vielleicht größte menschliche Unglück, den Freundesverrat. Man hat die Empfindung, daß man freie Luft zum Aufatmen bedürfe; darum hat auch der Maler die Türe und die beiden Fenster im Hintergrunde offen gemalt. Das Auge sieht in eine ferne stille tröstende Landschaft. Unser Herz bedarf dieser schweigsamen Ruhe, wie sie um den Berg Zion waltete. Die Abendsonne, deren sterbende Lichter über die Landschaft gleiten, verleiht ihr einen Schimmer von Traurigkeit, der mit der Stimmung des Betrachters harmoniert. Er weiß wohl, es ist der letzte Abend, wo der Freund der Menschen auf Erden weilt. Morgen, wenn die Sonne niedersinken wird, hat er aufgehört zu sein.

Mancher wird über dieses erhabene Werk Lionardos denken wie ich, aber der Mehrheit werden meine Gedanken gesucht erscheinen; ich fühle es wohl. Diese Mehrheit ersuche ich, das Buch zu schließen. Was sollen wir lange einander mißfallen? Man findet leicht in anderen geschichtlichen Werken über die Malerei genauere Beschreibungen, in denen die Farben der Gewänder jedes einzelnen Jüngers und anderes mehr gewissenhaft verzeichnet steht, zum Beispiel in Bossis »Del Cenacolo«. Man kann übrigens die köstliche Arbeit der Tischtuchfalten wohl bewundern.

8.

Die Ausführung.

Wenn je ein Mensch von Natur dazu auserlesen war, einen solchen Gegenstand zu malen, so war es Lionardo da Vinci. Er hatte eine seltene Vornehmheit der Zeichnung, wie sie bei ihm stärker zutage tritt als selbst bei Raffael, weil sie bei ihm durch den Ausdruck der Kraft nicht im geringsten beeinträchtigt wird. Lionardo besaß jenes melancholische, weiche, in Schatten zerfliessende Kolorit, das, ohne in seinen leuchtenden Farben grell zu sein, im Helldunkel triumphiert, und das, wenn es noch nicht existiert hätte, eigens zu einem solchen Stoff hätte erfunden werden müssen. Wenn man dazu noch die kolossale Größe der Figuren und die Größe des Gemäldes in Betracht zieht – es ist neun Meter lang und viereinhalb Meter hoch – so wird man zugeben, daß es in der Geschichte der Kunst von einschneidender Bedeutung sein mußte, und mir verzeihen, wenn ich bei ihm noch länger verweile.

Die mehr vornehme als leidenschaftliche Seele Lionardos versäumte es nie, seine Gestalten durch eine ausgesuchte Feinheit und Vollkommenheit des Architektonischen und Ornamentalen der Umgebung zu heben. Der feinfühlige Mensch, der über die Malerei Betrachtungen anstellt, wird mit Erstaunen die kleinen blauen Streifen wahrnehmen, die das Weiße des Tischtuchs unterbrechen, die köstlichen regelmäßigen und einfachen Ornamente des Saales, in dem sich die rührende Szene abspielt, die zur Steigerung des Vornehmen hinzugefügt sind. Das sind die Mittel der Malerei.

9

Unter einer alten Kopie des Abendmahls in der Kirche von Ponte Capriasco habe ich eine lateinische Inschrift gefunden, die die Namen der Apostel aufführt. Ich beginne mit der Person am äußersten links vom Beschauer:

Bartholomäus, Jakobus der Jüngere, Andreas, Judas, Petrus, Johannes, Christus, Thomas, Jakobus der Ältere, Philippus, Matthäus, Thaddäus, Simon.

Diese Reihenfolge ist ziemlich einleuchtend. Ich möchte behaupten, daß dieselbe Inschrift höchst wahrscheinlich auch unter der Originalfreske gestanden hat.

Die Kopie in Ponte Capriasco hat einen gefälligen Charakter. Eine alte Chronik des Dorfes berichtet, daß sie von einem prächtigen jungen Manne aus Mailand herrühre, der sich aus der Flucht aus jener Stadt daselbst gegen das Jahr 1520 verborgen hielt. Er durfte einige Zeit nach der Vollendung nach Mailand zurückkehren. Man wollte ihn bezahlen, lange weigerte er sich dagegen, schließlich nahm er siebzig Taler an, ging auf den Markt und verteilte das Geld unter die ärmsten Einwohner. Dazu schenkte er der Kirche, die seine Zuflucht gewesen war einen Gürtel aus roter Seide, den er zu tragen gewohnt war und den man noch heute bei großen Festen verwendet.

Trotz der Überlieferung und des Gürtels sind die Kenner der Ansicht, jene Kopie sei von Piero Luini, dem Sohne des berühmten Bernardino, und unmöglich älter als vom Jahre 1565.

10.

Die Entstehungszeit des Abendmahls.

Im Jahre 1495 hatte Giovanni Donato Montorfano, ein unbedeutender Maler, auf der Südwand des Refektoriums delle Grazie Christus am Kreuze zwischen den beiden Sündern gemalt. Als Ludovico der Mohr durch den Tod seines Neffen Herzog von Mailand wurde, wollte er, wie man berichtet, daß Lionardo jenem Gemälde auf der einen Seite sein Bildnis, auf der anderen das seiner Gattin und seiner Kinder hinzufüge. Aber was von diesen Bildnissen übrig geblieben ist, ist zu mittelmäßig, als daß man glauben könne, es sei von Lionardo.

Man hat die Kostenberechnung des Baumeisters, dem Ludovico die Arbeiten im Kloster delle Grazie übertragen Hat, aufgefunden. Man liest da, Folio 17, folgende Bemerkung: »1497. Für Arbeiten, ausgeführt im Refektorium, wo Lionardo die Apostel malt, und für ein Fenster: 37 Lire, 16 Soldi.«

Fraiei Luca Paciolo, ein Geometer und vertrauter Freund Lionardos, hat uns das Zeugnis hinterlassen, wonach er erst 1498 sein Abendmahl vollendet hat. Lionardo stand damals in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre.

11

Spuren der Vorstudien Lionardos zu seinem Abendmahle.

Die italienische Prosa vor Alfieri ist einer immerwährenden Verfluchung anheim gefallen. Es ist eine Qual wenn man diese Sprache liest und nach einem klaren Sinn inmitten eines Ozeans von klangreichen Worten sucht.

Die Sucht, geistreich zu sein, der Niedergang, der alles Interesse, über schwierige Dinge klar zu schreiben, tötete, die Vorliebe der Fürsten für den verschwommenen Stil – den Stil der Jesuiten – haben jenen qualvollen Mangel heraufbeschworen. Ich müßte jeder unklaren Einzelheit, die ich der Unzahl von alten Scharteken über die ältere Malerei entnehme, ein vielleicht oder ein wie man sagt voraussetzen. Zur Erläuterung will ich folgende Worte des Fra Paciolo anführen: »Lionardo hat mit seiner erhabenen Hand das köstliche Gleichnis unserer heißen Sehnsucht nach dem Heil an der weihevollen und verehrungswürdigen Stätte des geistigen und leiblichen Mahles im heiligen Tempel delle Grazie zum Ausdruck gebracht, vor dem fortan alle Werke von Apelles, Myron und Polyklet verbleichen müssen ...«

Giovambattista Giraldi hat im Jahre 1554 Dialoge über die Technik des Romans und der Komödie veröffentlicht. Ich finde darin folgende Stelle: »Der dramatische Dichter muß dem Vorbilde des berühmten Lionardo da Vinci folgen. Wenn dieser große Maler irgend eine Person auf einem seiner Bilder anbringen wollte, so ging er zunächst mit sich über ihre Eigenschaften zu Rate, ob sie von edler oder gewöhnlicher Art dargestellt werden müsse, in fröhlicher oder ernster Stimmung, in einem Zustande der Aufregung oder der Heiterkeit, alt oder jung, gut oder böse. Wenn er sich nach längeren Erwägungen diese Fragen beantwortet hatte, suchte er Stätten auf, wo gewöhnlich Menschen von entsprechendem Schlage zusammenkamen. Aufmerksam beobachtete er ihre individuellen Bewegungen, ihre Gesichter, den Gesamteindruck ihrer Manieren, und jedesmal wenn er den geringsten Zug fand, der ihm für seine Arbeit dienlich sein konnte, skizzierte er ihn in ein kleines Buch, das er immer mit sich führte. Wenn er nach etlichen Studiengängen genügendes Material gesammelt zu haben glaubte, ging er schließlich an das Malen.

Mein Vater, der in bezug auf derartige Einzelheiten sehr wißbegierig war, hat mir tausendmal erzählt, daß Lionardo besonders bei dem berühmten Gemälde in Mailand diese Methode angewendet hat.

Lionardo da Vinci hatte den Christus und elf Apostel vollendet, aber von Judas war nur der Körper fertig, immer noch fehlte ihm der Kopf und Lionardo kam gar nicht mehr an sein Werk. Der Prior des Klosters, ungeduldig darauf, fein Refektorium frei vom Malergerüst zu sehen, beschwerte sich beim Herzog Ludovico über die Arbeit. Der Herzog ließ Lionardo zu sich rufen und sprach ihm seine Verwunderung über den so langen Verzug aus. Lionardo antwortete, daß es an ihm sei, über die Worte seiner Hoheit verwundert zu sein, zumal es die Wahrheit sei, daß kein Tag vorübergehe, an dem er nicht zwei volle Stunden für dieses Bild male.

Dem nochmals befohlenen Mönche teilte der Herzog Lionardos Antwort mit. »Hoheit,« entgegnete der Abt, »es ist nur noch ein Kopf zu malen übrig, der von Judas; aber seit einem Jahre hat Lionardo nicht nur das Bild nicht berührt, sondern ist überhaupt nur ein einziges Mal gekommen, das Bild zu sehen.«

Der erzürnte Herzog ließ Lionardo abermals kommen.

»Verstehen die Mönche etwas von der Malerei?« – sagte Lionardo. – »Sie haben recht, seit langer Zeit habe ich den Fuß nicht in ihr Kloster gesetzt, aber sie haben unrecht, wenn sie behaupten, ich widmete täglich nicht wenigstens zwei Stunden jenem Bilde.«

»Wie ist das zu verstehen, da du nicht hinkommst?«

»Eure Hoheit wissen, daß nur noch der Kopf des Judas zu malen übrig ist, der des ausgezeichnetsten Schurken, den die Welt kennt. Es geziemt sich also, ihm ein Aussehen zu geben, das seiner Ruchlosigkeit entspricht. Nun seit einem Jahre und noch länger gehe ich täglich früh und abends nach dem Borghetto, wo, wie Eure Hoheit wissen, die ganze Kanaille der Hauptstadt wohnt. Aber ich habe noch kein so ruchloses Gesicht finden können, daß es meiner Idee davon genüge. Sobald ich einmal dieses Gesicht gefunden habe, ist das Bild in einem Tage vollendet. Wenn indessen mein Suchen vergeblich sein sollte, so will ich die Züge des Priors, der sich bei Eurer Hoheit über mich beklagt hat, nehmen. Sie erfüllen übrigens ganz meine Ansprüche. Nur hegte ich immer Bedenken, ihn in seinem eigenen Kloster lächerlich zu machen.« Der Herzog mußte lachen und da er sah, mit welcher Gründlichkeit und welcher Überlegung Lionardo seine Werke komponierte, verstand er, daß sein Gemälde bereits die allgemeine Bewunderung erregte.

Einige Zeit darauf fand Lionardo das gesuchte Modell; er skizzierte es auf der Stelle in den Hauptzügen und vollendete seine Freske eiligst ....«

Derartig praktisch arbeiteten immer die großen italienischen Maler. Ich erinnere mich, daß in unseren Tagen Appiani, der jüngste Freskenmaler, als er den Auftrag hatte im Schloß zu Mailand das Erwachen der Weltteile durch die Heldentaten Bonapartes zu malen, ohne es zu wollen mehr als acht Tage lang an einem Löwenfell arbeitete. »Soll ich ein Schablonenmaler werden?« antwortete er mir. »Wie viel Löwenfelle habe ich denn in meinem Leben gesehen? Wie flüchtig habe ich auf sie geachtet? Nein, ich kann es nur nach der Natur malen.«

Lionardo soll für sein Bild einen Karton von der gleichen Größe gezeichnet haben. Die Skizzen zu den einzelnen Köpfen entwarf er verkleinert. Die Köpfe von Petrus und Judas, die sich in den Pariser Handschriften finden, sind von Gerli veröffentlicht worden.In Folio, bei Galeazzi, Mailand 1784 Man behauptet ferner, Lionardo habe die Gestalten aller Apostel und auch die des Christus einzeln gemalt. Lomazzo berichtet, Lionardo habe die Köpfe des Abendmahls in Pastell gemalt. Die berühmte Malerin Angelika Kauffmann erzählt, die Apostelköpfe – ohne den Chistuskopf – seien von Rom nach England gekommen, sie habe sie in Rom gesehen und zwei englische Maler hätten sie gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts erworben.Sie sind jetzt in Weimar. So wertvoll diese acht Pastellbilder sind, so sind sie doch nur als Kopien, nicht von Lionardos eigener Hand herrührend, anzusehen. Sechs ihnen verwandte Kartons finden sich in Straßburg

Der verstorbene Bibliothekar der Ambrosiana, Mussi, glaubte den von Lionardo in Pastell gemalten Christuskopf zu besitzen.Diese vielumstrittene Pastellzeichnung hängt heute in der Mailänder Brera. Übrigens ist auch der Straßburger Christuskopf unbärtig Angelika Kauffmann, der er ihn gezeigt hat, hält ihn für echt und gleichen Stils wie die Apostel. Dieser Christuskopf ist ohne Bart und ist von Matteini, dem Zeichner zu dem Stich von Raffael Morghen, stark benutzt worden. Am Original sieht man vom Kopfe des Christus nicht genug, um ihn zeichnen zu können. Lediglich aus Respekt vor den alten Kopien ist auf dem Stiche Morghens ein Anflug von Bart hinzugefügt.

Nach endlosen Vorbereitungen führte Lionardo das Abendmahl in Öl aus, indem er dabei eine unlängst von Johann von Brügge erfundene Technik anwendete, eine Technik, die Änderungen möglich machte, weicher wirkte und eine hohe Vollkommenheit erreichen ließ, alles Dinge, die Lionardos Charakter so recht ansprachen. Die Freskomalerei, bei der man in Fluß bleiben und sich mit dem Ungefähr begnügen muß, paßt mehr für Naturen wie Michelangelo, Lanfranco, – zielbewußten Geistern. Lionardo scheint gezittert zu haben, wenn er die Pinsel zur Hand nahm.

Die Wahl der Technik zu diesem Bilde muß ewiges Bedauern hinterlassen; die wertlose Freske des Montorfano auf der einen Wand des Refektoriums trägt eine muntre Frische zur Schau, wahrend uns der Schließer auf der anderen Mauer nichts als ein paar verwischte Umrisse zeigt. Das ist das Abendmahl des Lionardo da Vinci.

Leider hat Lionardo allzu entfettete Ölfarben verwendet. Diese Zubereitung, die dem Öl die Haltbarkeit nimmt, bewahrt die Farben höchstens vor dem Gelbwerden. Das kann man an dem einzigen unübermalten Stück des Bildes erkennen, an einem Teile des Himmels, der im Hintergrunde hinter dem Christuskopfe noch leuchtet.

Alle Ursachen zur Vernichtung scheint ein grausamer Zufall gegen dieses erste aller Meisterwerke vereint zu haben. Lionardo brachte nämlich fernerhin bei der Vorbereitung der Mauerfläche ein besonderes Mittel in Anwendung, das eine frühzeitige Abbröckelung zur Folge hatte. Überdies war die Mauer aus schlechtem Material, und das Kloster, ganz besonders das Refektorium liegt so tief, daß bei allen Überschwemmungen das Wasser in den Saal eingedrungen.

12

Der berühmte Matteo Bandello, der vortreffliche Erzähler, ein Neffe des Priors von Santa Maria delle Grazie, legt die achtundfünfzigste Novelle seiner Sammlung Lionardo in den Mund. Er hat sie der Genoveva Gonzaga gewidmet und sagt in der Einleitung:

»Es waren in Mailand zur Zeit des Ludovico Sforza Visconti, Herzogs von Mailand, mehrere Edelleute im Kloster delle Grazie der Brüder des heiligen Domenikus und standen schweigsam im Refektorium da, um das wunderbare und höchst berühmte Abendmahl des Christus mit seinen Jüngern zu betrachten, das damals der ausgezeichnete Maler Lionardo da Vinci, der Florentiner, malte. Er hatte es sehr gern, wenn jeder, der seine Gemälde sah, darüber ganz frei sein Bedünken sagte. Er pflegte auch oft, und ich habe es mehr als einmal gesehen und bemerkt, des Morgens frühzeitig herzugehen und auf die fliegende Brücke zu steigen, weil das Abendmahl ein wenig über dem Boden erhöht ist; er pflegte, sage ich, von der aufgehenden Sonne bis zum verdämmernden Abend nicht den Pinsel aus der Hand zu nehmen, sondern, des Essens und des Trinkens vergessend, unaufhörlich zu malen. Dann sind wohl auch wieder zwei, drei oder vier Tage gewesen, wo er nicht Hand angelegt und dennoch manchmal ein oder zwei Stunden am Tage dablieb und nur schaute, überlegte und in sich selber seine Figuren beurteilte. Ich sah ihn auch (wenn ihm so die Laune oder Grille kam) um Mittag, wenn die Sonne im Löwen steht, von der Corte Vecchia fortgehen, wo er jenes stupende Pferd aus Lehm komponierte, und stracks nach Santa Maria delle Grazie kommen und, auf das Gerüst gestiegen, den Pinsel ergreifen, einer jener Figuren ein, zwei Pinselstriche geben und sofort wieder weg und anderswohin gehen. Es hatte damals gerade der Kardinal von Gurk (Gurcense il vecchio) in delle Grazie Wohnung genommen und ließ sichs einfallen, ins Refektorium zu treten, um genanntes Abendmahl zu sehen, während die oben erwähnten Edelleute versammelt waren. Als Lionardo den Kardinal erblickte, stieg er herab, ihm seine Reverenz zu bezeigen, und wurde von jenem gnädig empfangen und höchlich gefeiert ...

Es frug der Kardinal, wieviel Gehalt er vom Herzog Ludovico empfange. Lionardo antwortete, daß er für gewöhnlich einen Jahresgehalt von zweitausend Dukaten habe, ohne die Gaben und Geschenke, so der Herzog den ganzen Tag ihm aufs freigebigste mache. Schien dieses dem Kardinal eine große Sache und, vom Abendmahl sich trennend, zog er sich in seine Gemächer zurück. Lionardo hierauf, um darzutun, daß die ausgezeichneten Maler stets geehrt worden seien, erzählte den versammelten Edelleuten darüber eine hübsche kleine Geschichte. Ich, der bei seinem Gespräch anwesend war, zeichnete sie in meinem Geiste auf ....«

Die eigentliche Novelle, die nun beginnt, bezieht sich auf Fra Filippo. Lionardo leitet sie mit Scherzen über die Unwissenheit des Kardinals von Gurk ein. Bugati berichtet in seiner im Jahre 1570 herausgegebenen Geschichte zwar, Ludovico der Mohr habe seinem Maler ein Jahresgehalt von fünfhundert Talern ausgesetzt, aber möglicherweise ist das Gehalt Lionardos später erhöht worden oder er hatte mehrere Ämter zugleich inne.

Giovanni Paolo Lomazzo, ein Maler, der mit dreißig Jahren erblindete und dann der Verfasser ebenso heiterer wie mittelmäßiger Verse wurde, hat auch eine Abhandlung über die Malerei geschrieben, wie wir eine bessere nicht haben. Allerdings muß man die verständigen Vorschriften aus einer Flut von Worten heraussuchen. Man findet im neunten Kapitel des ersten Buches, geschrieben um 1560, folgende Stelle:

»Einer der Modernen, Lionardo da Vinci, ein erstaunlicher Maler, hat auf seinem Abendmahlsbilde soviel Schönheit und Erhabenheit in die Figuren von Jakobus dem Älteren und seinem Bruder gelegt, daß er dann bei der Ausführung der Christusgestalt eine Steigerung der erhabenen Schönheit, wie sie ihm für den Heiland geziemend erschien, nicht zu finden vermochte. Nachdem er lange gesucht hatte, ging er zu seinem Freunde Bernardo Zenale und erbat sich seinen Rat. Der antwortete ihm:

O Lionardo. Der Fehler, den du begangen hast, ist von solch einer Folgerichtigkeit, daß nur Gott allein ein Mittel dagegen geben könnte. Denn es steht ebensowenig in deiner Macht als in der eines anderen Sterblichen, einer Gestalt mehr Schönheit und himmlischeres Aussehen zu verleihen, als du den Köpfen von Jakobus dem Älteren und seinem Bruder gegeben hast. Also lasse den Christus unvollendet, denn niemals wirst du einen Christus zu diesen beiden Aposteln schaffen.

Und Lionardo befolgte diesen Rat, wie man heute noch ersehen kann, wennschon das Gemälde in Ruinen zerfällt.«

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Das unglückliche Schicksal des Abendmahls.

Als der König Franz der Erste, der wie ein Italiener die Künste liebte, als Sieger in Mailand einzog, hatte er den Einfall, das Abendmahl nach Frankreich überführen zu lassen. Er befragte seine Baumeister, ob sie sich mit Hilfe von riesigen Balken und Eisenstangen zutrauten, die Mauer, ohne daß sie unterwegs in Stücke bräche, fortzubringen; keiner wagte darauf zu antworten. Heutzutage ist dergleichen ein Leichtes, man würde das Bild von der Mauer loslösen und auf Leinwand übertragen.

Das Abendmahl bestand damals noch in seiner ganzen Herrlichkeit, aber bereits um 1540 bezeichnet es Armenini als halbverdorben. Im Jahre 1560 versichert Lomazzo, daß die Farben sehr rasch verschwunden wären und, da nur die Konturen übrig seien, man nur die Zeichnung noch bewundern könne.

Im Jahre 1624 war, wie der Kartäuser Sanese berichtet, von der Freske fast gar nichts mehr zu sehen; 1652 fanden die Dominikaner den Eingang in ihr Refektorium zu unbequem und scheuten sich nicht, die Beine des Heilands und der ihn umgebenden Apostel zu beseitigen, indem sie an dieser so bedeutungsvollen Stelle eine Türe durchbrechen ließen. Man erkennt die Spuren der Hammerschläge auf der Tünche, die schon damals an allen Stellen von der Mauer abbröckelte. Nachdem die Mönche den unteren Teil des Gemäldes vernichtet hatten, ließen sie auf den oberen Teil ein kaiserliches Wappenschild aufnageln, das bis über das Haupt des Christus herabhing.

Es ist ein merkwürdiges Geschick, daß die nunmehrige Fürsorge dieser Mönche für uns ebenso unheilvoll war wie ihre vorherige Gleichgiltikeit. Im Jahre 1726 faßten sie den unseligen Entschluß, das Gemälde durch einen gewissen Bellotti, einen Farbenkleckser, der ein geheimes Verfahren zu haben behauptete, restaurieren zu lassen. Er legte zunächst vor einer Kommission von Mönchen eine Probe ab, verstand es dabei leicht, sie zu täuschen und baute sich dann vor dem Abendmahlsbilde einen Verschlag. Dahinter verborgen wagte er es, das Gemälde Lionardos von Grund aus neu zu malen. Schließlich enthüllte er es den törichten Mönchen, die seine geheimnisvolle Macht, die Farben wieder zu erwecken, anstaunten. Bellotti wurde gut bezahlt und dieser echte Scharlatan schenkte aus Erkenntlichkeit den Mönchen das Rezept seines Verfahrens.

Das einzige, wovor er Achtung empfunden hat, war der Himmel, dessen himmlische Verklärung er nicht den Mut gehabt hat, mit seinen groben Farben zu überpinseln. Etwas Drolliges bei diesem Unglück ist dann der Umstand, daß die Lobpreisungen über die Anmut und Feinheit der Hand Lionardos im Munde der Kenner nicht verstummten. Ein gewisser Cochin, ein mit Recht angesehener Pariser Maler, fand das Bild stark im Geschmacke Raffaels.

Aber auch die Farben Bellottis waren nicht von langer Dauer und wahrscheinlich wurde das Gemälde nochmals mit Wasserfarben ausgebessert. Im Jahre 1770 kam eine nochmalige Renovation in Frage. Aber diesmal berieten sich die Kunstfreunde weidlich und mit einer des Gegenstandes würdigen Fürsorge überlieferte man das Bild auf Grund der Empfehlung des Grafen Firmian, des Statthalters von Mailand, übrigens eines geistreichen Menschen, einem gewissen Mazza, der den Ruin vollendete. Der Ruchlose hatte die Kühnheit, mit einem Feuerhaken die letzten Reste der ehrwürdigen Malerei Lionardos abzukratzen; er stellte auf den Teilen, die er neu malen wollte, eine Art Grundton her, um seine Farben bequemer auftragen zu können. Leute, die etwas verstanden, protestierten laut gegen diesen Kleckser und seinen Protektor. Man solle doch, hieß es, die Erhaltung großer Denkmäler einer Staatsbehörde anvertrauen, die immer so klug, so bedächtig im Entschlüsse und so liebevoll konservativ sei.

Mazza hatte sich bereits an den Köpfen der Apostel Matthäus, Thaddäus und Simon zu schaffen gemacht, als der Prior des Klosters, der auch den leisesten Wunsch seiner Exzellenz zu willfahrten eifrigst bestrebt war, freilich schon etwas zu spät nach Turin versetzt wurde. Sein Nachfolger, Pater Galloni, unterbrach die Arbeit Mazzas sofort, nachdem er sie besichtigt hatte.

Im Jahre 1796 besuchte der Obergeneral Bonaparte das Bild Lionardos; er ordnete an, daß der Ort wo seine Reste sind, von der militärischen Einquartierung verschont bleiben solle und unterzeichnete diese Order eigenhändig über den Knieen, ehe er wieder zu Pferde stieg. Aber kurz darauf spottete ein General, dessen Namen ich verschweigen will, über diesen Befehl, ließ die Türen aufreißen und machte aus dem Refektorium einen Pferdestall. Dragoner fanden Vergnügen daran, mit Ziegelsteinstücken nach den Apostelköpfen zu werfen. Darnach wurde das Refektorium der Dominikaner ein Fouragemagazin. Bald hinterher erhielt die Stadt die Genehmigung, die Türe zuzumauern.

Im Jahre 1800 setzte eine Überschwemmung den verlassenen Saal einen Fuß hoch unter Wasser. Dieses Wasser verlor sich nur durch allmähliche Verdampfung. 1807 wurde das Kloster zur Kaserne gemacht; der Vizekönig ließ den Saal in einer des großen Namens Lionardo würdigen Weise wiederherstellen. Unter der Gewaltherrschaft Napoleons war nichts Großes zu schwierig. Das Genie, das aus der Ferne um Italiens Kultur sorgte, wollte auch die Reste des Abendmahls der Unsterblichkeit erhalten und die nämliche Hand, die den Dichter des Ajax ins Exil schickte, unterzeichnete die Verfügung, kraft deren das Abendmahl in Originalgröße in Mosaik kopiert werden sollte. Es war das ein Unternehmen, das alles, was bisher in Mosaik versucht worden war, übertraf und das nahe seiner Vollendung war, als der Stern Napoleons über Italien zu strahlen aufhörte.

Zu dieser künstlerischen Mosaikarbeit war zunächst eine Kopie des Originals nötig. Der Fürst übertrug die Arbeit Bossi. Wenn man die Kopie in der Certosa von Pavia und die in Castellazo betrachtet, gewinnt man eine hohe Meinung von dem Vertrauen, das dieser Maler am Hofe des Fürsten Eugen genoß.

14

Auszug aus dem Tagebuch des Sir W.E.Es ist Stendhals Eigentümlichkeit, häufig derartige fingierte Zitate seinen Werken einzufügen

6. Januar 1817.

.... Ich komme eben von der Besichtigung der Abendmahlskopie des verstorbenen Guiseppe BossiG. Bossi (1777–1815), Maler und Gelehrter (Danteforscher), veröffentlichte unter anderem (1810) ein Prachtwerk »Del Cenaclo di Lionardo da Vinci« in der Werkstatt Rafaellis.Berühmter römischer Mosailkünstler, von Napoleon nach Mailand berufen. Das Abendmahl in Mosaik ist jetzt bei den Kapuzinern in Wien Es ist ein großes Bild ohne Geist.

Die Farbenstimmung ist der des Originals entgegen. Die dunkle, majestätische Art Lionardos paßte besonders zu dieser Szene, die Nachbildung des Mailänder Künstlers hat ein grelles Kolorit, ist zu reich an Licht, weichlich, viel zu verschwommen und charakterlos. Gewiß wäre sie in einer Kirche wirkungsvoller als das Original; sie würde in die Augen fallen, aber doch schließlich nur von Toren bewundert. In einer Galerie wird Bossis Abendmahl jederzeit mißfallen. Was insbesondere den Ausdruck anbelangt, so mache ich mich anheischig, an jeder Figur eine Menge Geschmacklosigkeiten nachzuweisen. Trotz der großen Linien finden sich allerlei kleinliche Schwächen. Judas ähnelt Heinrich dem Vierten, seine vorgeschobene Unterlippe verleiht ihm einen gewissen Ausdruck der Güte, die insofern zu groß ist, als sie von der Intelligenz nicht übertroffen wird. Dieser Judas ist ein gutmütiger bedächtiger Mensch, dessen Unglück es ist, rotes Haar zu haben. Ohne Hinzufügungen würden ein gewisser Polizeikommissar oder ein gewisser Gesandter in Rom bessere Judas–Modelle abgeben.

Die Landschaft hinter dem Kopf des Christus hat mir sehr gefallen, sogar ehe ich ihr natürliches Grün bemerkte. Aber ein Christuskopf des Guido Reni, den ich im Atelier Rafaellis fand, wirkte auf mich wie eine niederschmetternde Kritik des Bossischen Bildes.

Ehe ich nach dem Kloster delle Grazie gegangen bin, habe ich dem Rate Henri (Beyle)'s zufolge die Kopie zu Castellazo, zwei Milien von Mailand entfernt, die Kopie in der Certosa di Pavia, die von Bianchi in der Ambrosiana, den Karton von Bossi und die Mosaikkopie Rafaellis besichtigt. Ein geistreicher Gang von der sauberen Technik bis zum Erhabenen. Ich zweifle nicht, daß ich ohne diese Steigerung vom Originale Lionardos nichts verstanden hätte.

Am meisten hat mich die Kopie zu Castellazo ergriffen. Auch sie findet sich im verwahrlosten Refektorium eines aufgehobenen Klosters, aber ganz nahe an einem Fenster und im vollsten Tageslichte. Ich habe vor dieser Kopie des Marco d' Oggionno dreihundert Jahre nach ihrer Entstehung gestanden und, abgesehen von ein paar gewaltsam verdorbenen Stellen, kann man auf ihr die Pinselstriche nachzählen und die Züge darauf sind noch so frisch, als ob sie gestern gemalt seien. Zum Beispiel sind die Augen des Thomas brillant in der Farbe und von der schönsten Klarheit. Marco d' Oggionno hat nur die Köpfe sorgfältig gearbeitet. Der Bartholomäus ist ein überaus schöner Mann und der Ausdruck des Christus ist herzergreifend. Er ist voll Betrübnis, daß die Menschen so erbärmlich und über seine augenblickliche Gefahr so gar nicht aufgeregt sind. Vor der Freske von Castellazo ist die Zeichnung von Matteini entstanden, die dem Stiche Morghens zugrunde liegt.Von Marco d' Oggionno, einem Schüler Lionardos, existieren mehr als ein halbes Dutzend Kopien des Abendmahls, in der Ermitage zu Petersburg, im Louvre, in der Brera, im Ospedale Maggiore in Mailand u.s.w. Für den Wert dieser Kopien spricht am besten der Umstand, daß ein »Heiland der Welt« von Marco d' Oggionno (in der Galerie Borghese in Rom) drei Jahrhunderte hindurch für ein Meisterwerk Lionardos gehalten worden ist

15.

Von der historischen Treue.

Einen Vorwurf hat man Lionardo gemacht. Zweifellos haben Christus und seine Jünger ihr Mahl auf Triklinien lagernd eingenommen und nicht an einer Tafel gesessen, wie es heutzutage Brauch ist. Aber Lionardo ist ein großer Künstler, genug, er braucht kein Gelehrter zu sein.

Genau so ist es mit der historischen Treue auf der Bühne. Wenn die Trachten und Sitten, die wir durch die Geschichtsforschung kennen, auch dem gewöhnlichen Zuschauer vorgeführt würden, so würde er nur überrascht und gestört werden. Je stärker sich die Mittel der Kunst an den Geist wenden, um so langsamer sprechen sie zur Seele.

Ein Spiegel darf sich nicht durch seine Färbung bemerkbar machen, er soll nur das Abbild, das er erzeugt, klar sehen lassen. Gelehrte Pedanten können sich freilich niemals enthalten, die Einfalt unserer Vorfahren zu ironisieren, die sich von den Darstellern eines Achilles und eines Cinna haben rühren lassen, wenn diese auch unter ihren Riesenperücken halb verschwanden. Solche Fehler sind nur vorhanden, wenn man sie zu sehen sucht.

Man verzeiht Shakespeare seine böhmischen Seehäfen, dieweil er die Regungen der Seele mit einer Tiefe schildert, die das erstaunliche geographische Wissen eines Dussault, Nodier oder Martin aufwiegt.

Selbst wenn das Zeremoniell bei antiken Gastmählern so allgemein bekannt gewesen wäre, wie es unbekannt gewesen ist, so würde Lionardo es dennoch verworfen haben. Poussin, der bekannte große Maler, hat ein Abendmahl gemalt, auf dem die Apostel auf Triklinien lagern. Halbgebildete, die stolz auf ihr bißchen Wissen sind, loben es, aber wer weiß im allgemeinen etwas von dem Vorhandensein dieses Gemäldes?Im Louvre An den Gestalten darauf sieht man nichts, als die außerordentliche Schwierigkeit der Verkürzungen. Der überraschte Beschauer wirft ein paar Worte über die Tüchtigkeit des Malers hin und geht weiter.

Wenn wir eine Vision von Christi letztem Abendmahl mit aller Realität seiner jüdischen Begleitumstände hätten, so würden wir vor Überraschung nicht daran denken, gerührt zu sein. Die großen italienischen Maler haben als geistvolle Menschen das Lächerliche an alten Sitten uns vorenthalten.

16.

Lionardo zersplitterte sich in seinen Studien, für das Kolossalpferd, für das Abendmahl, für die Regulierung und Schiffbarmachung der Adda. Aus einer Aufzeichnung von damals erfährt man, daß der liebenswürdige Salai mit ihm war. Er war sein Lieblingsschüler, sein creato, wie man ihn damals nannte. Lionardo, selbst ein schöner Mann, der durch seine Urbanität und Eleganz hervorragte, war für die ihm verwandte Anmut Salais empfänglich. Er hat ihn bis zu seinem Tode um sich gehabt und der schöne Schüler diente ihm als Modell zu seinen Engelgestalten.

Inzwischen begann Ludovicos Stern zu bleichen. Die Unkosten eines hartnäckigen Krieges im Verein mit den Ausgaben eines üppigen Hofes erschöpften seine Kassen. Die großen Unternehmungen gerieten aus Geldmangel ins Stocken.

Eine wichtige Angelegenheit war für Lionardo der Bronzeguß des Reiterbildes, dessen Modell er vollendet hatte. Zu diesem Bildwerke, das eine Höhe von siebeneinhalb Metern hatte, wären ungefähr für zweihunderttausend Lire Bronze nötig gewesen. Und ich glaube, bei dieser Berechnung handelte es sich nur um das Pferd. Eine solche Ausgabe hätte die damaligen Mittel Ludovicos weit überstiegen, ist doch ein Brief Lionardos an Ludovico vorhanden, aus dem hervorgeht, daß dieser ihm das Gehalt von zwei Jahren schuldig blieb.Vgl. diesen Brief bei Herzfeld »Lionardo« Seite 183

Ludovico ging mutig zugrunde. Mitten in den letzten Zügen seiner Politik veranstaltete er täglich in seinem Schlosse literarische Zusammenkünfte wie in seinen glücklichsten Tagen. Ich ersehe aus einer Widmung des Fra Luca Paciolo, daß ein wissenschaftliches Duell, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, noch am 8. Februar 1499 im Schlosse stattgefunden hat, und daß Lionardo dabei zugegen war. Derselbe Fra Paciolo berichtet uns, daß Lionardo nach der Vollendung seines großen Abendmahlsbildes und seiner Abhandlungen über die Malerei sich ganz und gar der Physik und Mechanik zuwandte. Er habe überhaupt nur noch ein einziges Mal vor dem Sturze Ludovicos gemalt, und zwar die schöne Cecilia Gallerani. An diesem kostbaren BildnisDie »mailändische Prinzessin« in der Ambrosiana, vgl. Seite 57 kann man erkennen, daß die kolossalen Verhältnisse des Abendmahlsbildes Lionardo von dem trockenen Stil des Verrocchio geheilt hatten; man findet in ihm nicht mehr jenen kleinlichen und infolge davon etwas kalten Stil, der in seinen Jugendwerken vorwaltet.

Als Ludovico sah, wie seine Angelegenheiten entschieden eine schlimme Wendung nahmen, machte er Lionardo, auf dessen Wohl bedacht, durch einen seiner letzten Regierungsakte, da er kein bares Geld mehr hatte, am 26. April 1499 ein Geschenk in Gestalt eines Weingartens nahe an der Porta Vercelliana; bald darauf, im Juli, kam Ludwig der Zwölfte mit einer mächtigen Armee von den Alpen herab. Der Herzog von Mailand mußte ohne Mittel und ohne Soldaten nach Tirol fliehen. Das Tonmodell jenes Reiterstandbildes, an dem Lionardo sechzehn Jahre lang gearbeitet hatte, diente den Gascogner Bogenschützen als Zielscheibe und ging in Stücke. Alles, was Lionardo in der Zitadelle, dem damaligen herzoglichen Schlosse, gemalt hatte, verfiel dem nämlichen Schicksal.

Ludovico wandte sich, überall um Hilfe bettelnd, gegen Frankreich. Der deutsche Kaiser Maximilian und die Schweizer gewährten ihm endlich einige Truppen, die im Verein mit den Mailändern, die der französischen Willkür sehr überdrüssig, sich um seinen Thron scharten. Aber sein Glück war von kurzer Dauer; dieselben Schweizer, die ihm zu Hilfe gekommen waren, lieferten ihn im April 1500 an den Marschall de La Trémonille aus, und Ludwig der Zwölfte ließ ihn in der Burg von Loches sterben (1510).

Es wäre zu umständlich, Lionardos Leben während dieser Unruhen zu verfolgen. Wahrscheinlich verließ er Mailand bereits gegen Ende des Jahres 1499, hielt sich eine Zeitlang in Venedig auf und wandte sich dann, als er sah, daß die Franzosen nichts als Feste und Intriguen um hübsche Frauen pflegten, mit seinem geliebten Salai und seinem Freund, dem Geometer Fra Paciolo im April 1500 nach Florenz.

Der Gonfaloniere auf Lebenszeit Piero Soderini, derselbe, dessen Unfähigkeit Machiavelli in einem so gefälligen Epigramm

La notte che mori Pier Soderini
L' alma n' andò dell' inferno alla bocca:
E Pluto la gridò: anima sciocca.
Che inferno? Va nel limbo de' Bambini

ironisiert hat, machte ihn mit einem anständigen Gehalt zum Maler seines Hauses.

17.

Lionardo nach der Rückkehr nach Toscana

Bei seiner Rückkehr in seine Heimat fand Lionardo einen gefährlichen Nebenbuhler in dem jungen Michelangelo, der damals sechsundzwanzig Jahre alt war. Es erscheint seltsam, wenn man in der Tribuna zu Florenz eine Madonna von Michelangelo BuonarottiNummer 1139 »heilige Familie« neben Lionardos Enthauptung Johannes des TäufersNummer 1135, heute dem Bernardino Luini zugeschrieben sieht. Aber das geniale Feuer des Bildhauers überwand die Schwierigkeiten mit einer Art Raserei, die den Amateuren gefiel. Sie zogen Michelangelo, den schnellen Arbeiter, Lionardo, dem ewigen Versprecher, vor.

Lionardo fand bei seiner Ankunft, daß die Serviten die Malerei für den Hauptaltar ihrer Kirche Santa Annunziata dem Filippino Lippi übertragen hatten. Er gab zu verstehen, daß er diese Arbeit übernehmen möchte. Filippino trat zurück und die Mönche nahmen Lionardo mit seinem ganzen Gefolge in ihr Kloster auf, um seinen Eifer zu erhöhen. Lange Zeit wohnte er dort, gab ihnen aber nichts als Versprechungen. Endlich entstand der Karton zur Heiligen Anna Selbdritt. So durchaus göttlich er ist, so nützte er den Mönchen, die ein Altargemälde haben wollten, gar nichts; sie mußten schließlich wieder Filippino rufen.

Maria, die auf den Knieen ihrer Mutter sitzt, neigt sich lächelnd herab, um ihr Kind, einen Knaben, der mit einem Lamm spielt, in die Arme zu nehmen.Die Monarchie hat uns viel empfänglicher für das Anmutige gemacht, als man es zu Florenz, in der sterbenden Republik war. (Stendhal.) Die Heilige Anna Selbdritt, ein Gemälde voll Zartheit und sanfter Heiterkeit, ist in meinen Augen der treue Abglanz von Lionardos Charakter. Das Bild steht mit einer Anzahl von Kartons und Gemälden in Beziehung, die von Luini, Salai und anderen, zum Teil auch von Lionardos eigener Hand herrühren.

In Florenz hatte wie überall der Kampf zwischen Kraft und Anmut nur einen zweifelhaften Ausgang. Man braucht nur ehrlich zu sein, um Angst vor den Redensarten Bossuets zu haben, aber man muß Seele haben, um an Fénelon Geschmack zu finden. Überdies will ich zugeben, daß die Lebensweise, die Lionardo in Florenz führte, indem er sich frei beschäftigte, bald mit mathematischen Dingen, bald mit der Malerei, unendlich verschieden von der starren und hitzigen Ausnutzung war, mit der Michelangelo jedweden Augenblick dem Schwierigsten in der Kunst widmete.

Das Ungestüm Michelangelos kam nur in seiner Werkstätte zum Vorschein. Sein übriges Leben war in seinen eigenen Augen nur etwas Nebensächliches. Lionardo hingegen gestatteten seine Anmut und sein ruhigerer Charakter, jederzeit liebenswürdig zu sein und in alle seine Handlungen wie in alle seine Werke Anmut zu legen. Es beweist aber den guten Geschmack der Florentiner, diesen liebenswürdigen Menschen nicht vorgezogen zu haben.

Anstatt große Bilder auszuführen, beschäftigte sich Lionardo damit, die hübschen Damen der Gesellschaft zu malen, zunächst Ginevra dei Beni, die schönste Florentinerin, deren hübsches Gesicht auch eine der Fresken von Ghirlandajo ziert, dann Mona Lisa, die Gattin des Francesco del Giocondo. Während er in seinem Atelier diese hübschen Modelle empfing, vereinte Lionardo, der es gewohnt war an einem galanten Hofe zu glänzen und der seine eigene Liebenswürdigkeit zu genießen liebte, alles was en vogue war und die besten Musiker. Er persönlich war von einer prickelnden Heiterkeit und bot alles auf, Sitzungen bei ihm zu einem Vergnügen zu gestalten; er war sich bewußt, daß ein gelangweiltes Aussehen alles Sympathische fernhält, und er sucht doch die Seele viel mehr als die äußeren Züge seiner reizenden Modelle. Vier Jahre lang arbeitete er am Bildnis der Mona Lisa, das er niemals als vollendet ausgab und für das Franz der Erste trotz aller seiner pekuniären Verlegenheiten fünfundvierzigtausend Franken zahlte.

Aus dem Lächeln der Mona Lisa kann man den wahren Charakter Lionardos schöpfen. Es ist übrigens eigenartig, daß diese hübsche Frau keine Augenbrauen hat.

Nach dem Sturze von Ludovico fand Lionardo jenes Leben nicht wieder, das für einen Künstler so notwendig ist, sobald die Ereignisse der Jugend seinen Geist geformt haben.

Cesare Borgia ernannte ihn zum Oberingenieur seiner Armee. Die Ausübung dieser Stellung, die unter einem so regen Fürsten nichts weniger als beschäftigungslos war, führte Lionardo auf Reisen. Seine Manuskripte aus dieser Zeit zeigen zur Genüge seinen unersättlichen Wissensdrang und seine rastlose Arbeitslust, wie sie sich eigentlich mit einer leidenschaftlichen Seele nicht vertragen.

Wir finden ihn beispielsweise am 30. Juli 1502 in Urbino, wo er einen Taubenschlag, eine bemerkenswerte Treppe und die Burg zeichnete. Am 1. August entwirft er in Pesaro gewisse landwirtschaftliche Maschinen, am 8. verweilt er in Rimini, wo er von der Harmonie der Wasserstrahlen des öffentlichen Brunnens überrascht ist; am 11. zeichnete er in Cesena ein Haus und beschreibt einen zweirädrigen Wagen und die Art und Weise, wie die Einwohner die Weintrauben wegschaffen. Am 1. September zeichnet er den Hafen von Cesenatico. In Piombino beobachtet er aufmerksam die Hin- und Herbewegung der Wellen im Meere und der Brandung am Gestade. In Sienna beschreibt er eine seltsame Glocke.

Vielleicht war es bei der Rückkehr von dieser Reise, als ihn seine Mitbürger durch einen besonderen Beschluß beauftragten, den großen Ratssaal im Palazzo vecchio, der zum Teil nach seinen Plänen neuerbaut worden war, auszumalen. Soderini setzte ihm ein Gehalt aus, Lionardo fing die Zeichnungen an; er bereitete die Mauer auf eine besondere Art vor, die Tünche hielt aber beim Malen nicht und Lionardo verlor die Lust. Man warf ihm Mangel an Sorgfalt vor. Beleidigt nahm er mit Hilfe seiner Freunde die ganze Summe, die er erhalten hatte, und brachte sie Soderini wieder, der sie zurückwies.

Das Sujet, das Lionardo im Wettstreit mit Michelangelo behandeln sollte und das diese beiden großen Männer beide nicht weiter als bis zum Entwurf gebracht haben, war die Schlacht von Anghiari, jener entscheidende Sieg, der die Republik vor der Macht Philipp Viscontis rettete, ein verhängnisvoller Sieg insofern, als er vielleicht die Einheit Italiens vereitelt hat.

Der Stern Lionardos erblich hier vor dem Michelangelos. Das war natürlich. Der Stoff entsprach ganz und gar dem Geiste Michelangelos. Ein Schlachtgemälde bringt nichts weiter als körperliche Kraft und Mut zur Darstellung, es wirkt durch das Schreckliche. Feinheit wäre darin unangebracht und Vornehmheit beeinträchtigte nur die Kraft. Es ist eine zügellose düstere Phantasie dazu nötig, die eines Giulio Romano, eines Salvator Rosa. Höchstens kann irgend ein junger Kämpfer, hingestreckt in der Blüte seiner Jahre, auf unser Mitleid zart einwirken. Ich weiß nicht, ob Lionardo seine Zuflucht in derartigen Episoden gesucht hat; sein Karton ging während der Florentiner Unruhen unter.

Was für ein herrlicher Stoff für den Pinsel eines Lionardo wäre auch Angelika findet den Medor auf dem Schlachtfelde und läßt ihn zu dem Hirten tragen, gewesen. Das Edle und Zarte eines solchen Sujets hätte Lionardo viel mehr gelegen, als die Darstellung leidenschaftlichen Wesens. Welches Glück wäre es für die großen Maler gewesen, wenn sie weniger die Bibel und besser Ariost und Tasso gekannt hätten.

18.

Lionardos Mißgeschick.

Die Erinnerung an diesen liebenswerten Menschen erregt eine zärtliche Anteilnahme, wenn man sich überlegt, daß von seinen drei größten Werken, dem Abendmahl, dem kolossalen Reiterdenkmal und dem Karton der Schlacht bei Anghiari nichts geblieben ist, um der Nachwelt Zeugnis von ihm abzulegen.

Solange diese Werke existierten, wagte sich kein berühmter Kupferstecher daran; erst viel später stach Edelinck eine einzelne Gruppe aus der Schlacht von Anghiari, aber nur nach einer Zeichnung, die Rubens nach dem Original gezeichnet hat. Das ist Virgil in der Übertragung der Madame de Stäel.

Ich will das Privatleben Lionardos nicht weiter verfolgen. Im Jahre 1504 verlor er seinen Vater. Im Jahre darauf verweilte er noch in Toskana, 1507 finden wir ihn in der Lombardei. Er schrieb da seinen Schwestern aus Canonica an der Adda, wo er ein Haus seines Freundes Francesco da Melzi, eines jungen Mailändischen Edelmannes, bewohnte.

Seine vornehme und zarte Seele floh in tiefer Abscheu vor dem Gewöhnlichen alles, was durch seine Häßlichkeit verletzen konnte. Er litt nur schöne und anmutige Dinge um sich. Francesco Melzi, schön wie Salai, schloß sich in gleicher Gesinnung an Lionardo an und folgte ihm etliche Jahre später an den französischen Hof.

Man berichtet, daß Lionardo oft mit seinen Lieblingsschülern zu wandern pflegte und Genuß darin fand, sich mit ihnen von den rührenden oder erhabenen Bildern entzücken zu lassen, die in seiner geliebten Lombardei die Natur auf Schritt und Tritt darbietet. Alles war Glück für ihn »bis zur düsteren Lust im schwermütigen Herzen ...« wie Lafontaine sagt.

So näherte er sich eines Tages mit der Neugierde eines Kindes jenen großen Käfigen, in denen die Händler schöne Vögel zum Verkauf ausstellen. Nachdem er sie lange betrachtet und mit seinen Freunden ihre Anmut und Farbenpracht bewundert hatte, konnte er sich von ihnen nicht entfernen, ohne die schönsten gekauft zu haben. Er nahm sie eigenhändig aus dem Käfig und schenkte ihnen die Freiheit. Was für eine weiche Seele und dabei was für eine Anbetung der Schönheit!

Wahrscheinlich beschäftigte er sich bis 1509 mit der Regulierung der Adda, die seine Arbeit auf eine Strecke von 200 Milien schiffbar gemacht hat. Auf keinem Gebiete fand er einen Reiz darin, bekannte Dinge zu vollbringen. Seine Kunst wuchs mit der Größe der Schwierigkeiten.

Am Rande des Entwurfs zu einer Schleuse, die noch heute in Gebrauch ist, finde ich das Datum 1509. Um diese Zeit war die Lombardei in den Händen von Ludwig dem Zwölften. Seine Truppen errangen (am 9. Juli 1509) unweit der Adda und des Zufluchtsortes Lionardos den berühmten Sieg bei Agnadello. Man berichtet, Lionardo habe ein Reiterdenkmal des siegreichen Feldherrn, des Giovanni Jacomo da Trivulzio geschaffen.Auch dieses Reiterdenkmal (als Grabmal gedacht) ist wahrscheinlich über die ersten Entwürfe nicht vorgeschritten. Eine Kostenberechnung findet sich im Codex antlanticus, folio 179

Der gute Ludwig der Zwölfte entschädigte Lionardo für seine Wasserbauten, indem er ihn am Ertrage seiner Arbeit selbst teil haben ließ; er schenkte ihm zwölf Zoll der Wasserkraft und zwar ausnutzbar im großen Kanal bei San Cristoforo. Übrigens hatte Lionardo den Titel, Maler des Königs und bezog ein Gehalt.

Im Jahre 1510, in jenem Jahre, wo sein früherer Herr Ludovico sein Leben traurig beschloß, verweilte Lionardo in Mailand, gerade zur rechten Zeit, um den jungen Maximilian, den Sohn Ludovicos, wieder einziehen zu sehen, denselben Fürsten, dem er in seiner Kindheit einst ein Gebetbuch gemalt hatte. Dieser Triumph brachte nicht die geringste Entscheidung. In der Lombardei gab es nichts als Wirrwar, Rachsucht und Elend. »Ich reiste am 24. September 1513 mit Giovanni Francesco da Melzi, Salai, Lorenzo und Fanfoja von Mailand nach Rom ab«, berichtet Lionardo in seinen Manuskripten.

19.

Lionardo in Rom.

Die Künste triumphierten, als Leo der Zehnte auf den päpstlichen Thron erhoben wurde. Giuliano de Medici, der sich zur Krönung seines Bruders nach Rom begab, nahm Lionardo mit dahin. Aber es ist ein Beispiel, wie Vorurteile, durch Intriguen erzeugt, oft selbst Fürsten von genialster Beanlagung beeinflussen, daß der liebenswürdige Leo der Zehnte an dem liebenswürdigen Lionardo da Vinci keinen Geschmack fand. Leo bestellte ein Bild bei Lionardo; der begann zunächst Kräuter zu destillieren, um einen Firnis daraus herzustellen, was den Papst zu der öffentlichen Bemerkung veranlaßte: »Ach, wir werden nie etwas von ihm haben, solange er damit beginnt, an das Ende eines Werkes zu denken, ehe er es noch angefangen hat!«

Lionardo erfuhr diesen Vorwurf und verließ Rom um so lieber, als er vernahm, daß Michelangelo ebendahin berufen wurde. In seinen Manuskripten findet sich übrigens der Entwurf zu einer Maschine, die er erfunden hat, um damit päpstliche Münzen zu schlagen und vollkommen rund herzustellen.

Sein philosophisches Leben und seine Art und Weise, seine Werke lange zu überlegen, paßten nicht an einen geräuschvollen Hof. Dazu war man durch den Feuergeist Julius des Zweiten gewohnt worden, auf künstlerischem Gebiete in Rom die größten Unternehmungen rasend schnell vollendet zu sehen. Dieser Fehler, der dem Throne eines alten Mannes meist anhaftet, wurde noch dadurch unterstützt, daß man zufällig eine Menge schnell entschlossener Männer wie Bramante, Michelangelo, Raffael hatte.

Lionardo schuf in Rom zunächst im Kloster von Sant' Onofrio, wo Tasso seine Zuflucht gefunden hat, eine Madonna,Die Madonna mit dem Stifter, neuerdings dem Schüler Lionaidos Boltraffio, von anderen dem Bramantino zugeschrieben die den Jesusknaben in ihren Armen hält, eine raffaelitische Freske, die jetzt an verschiedenen Stellen etwas verdorben und abgeblättert ist. Der Kassenverwalter Leos des Zehnten, Balthasar Turini, besaß zwei weitere Bilder von Lionardo aus dessen römischer Zeit.

Ein Werk aber von weit höherer Bedeutung ist die Madonna in der Ermitage zu Sankt Petersburg, eins der schönsten Gemälde, die in jenes kalte Klima gedrungen sind. Vielleicht ist es für Leo selbst gemalt worden.

Was einen an diesem Gemälde fesselt, das ist etwas von der Art Raffaels, durch einen unendlich verschiedenen Genius wiedergegeben. Gerade Lionardo war einer, der keinen anderen nachahmte. Seine Individualität widerstrebte dem. Aber auf der Suche nach den Höhen der Grazie und der Majestät mußte er auf die Wege des Meisters von Urbino geraten. Wenn in ihm Drang nach dem Ausdrucke tiefer Leidenschaften und dem Studium der Antike gewesen wäre, so wäre ohne Zweifel ein Raffael aus ihm geworden. Bei seiner Entwickelung jedoch ist die heilige Familie in Petersburg meinem Gefühl nach das schönste Werk Lionardos. In einem unterscheidet es sich ganz besonders von den Madonnenbildern Raffaels, abgesehen von der außerordentlichen Verschiedenheit im Ausdruck, nämlich darin, daß es in allen Teilen allzu vollendet ist. Es fehlt diesem Bilde ein wenig die Leichtigkeit und Grazie in der technischen Ausführung. Das ist ein Fehler der Zeit. Selbst Raffael wird darin von Correggio übertroffen.

Was die moralische Seite der Madonna der Ermitage anbetrifft, so überrascht vor allen ihre Erhabenheit und hehre Schönheit. Aber wenn sich Lionardo mit diesem Bilde auch dem Stile Raffaels nähert, so hat er ihm andrerseits im Ausdruck nie entfernter gestanden.

Maria ist en face gemalt; sie blickt stolz auf ihren Sohn herab. Sie ist eine Gestalt, wie man sie der Mutter des Heilands großartiger selten gegeben hat. Das Kind, heiter und kräftig, spielt mit der Mutter. Hinter ihr, links vom Beschauer, sieht man eine lesende junge Frau. Diese ernste Gestalt trägt den Namen der heiligen Katherina; wahrscheinlich ist es ein Porträt der schönen Schwester Leos des Zehnten. Seitwärts steht der heilige Josef, der originellste Kopf des Bildes. Josef lächelt dem Kinde zu, indem er ein wenig ein Gesicht schneidet, aber voll der vollendetsten Anmut. Der Gedanke dabei ist echt lionardisch. Mit der Idee, einer heiligen Person ein fröhliches Gesicht zu verleihen, stand er seinem Jahrhundert sehr fern. Darin ist er der Vorläufer Correggios.

Der prächtige Ausdruck des heiligen Josefs mildert die Erhabenheit des übrigen Bildes und bannt auch die geringste Schwerfälligkeit und Langeweile. Ähnliche eigenartige Köpfe finden sich häufig bei den Nachahmern Lionardos, zum Beispiel in einem Gemälde von Luini in der Brera.

Neben dem Bilde Lionardos hing 1794 in der Ermitage eine heilige Familie von Raffael, ein schlagendes Gegenstück. Wie des Florentiners heilige Familie Majestät, Glück und Heiterkeit verkörpert, so die des Urbinaten Grazie und rührende Melancholie. Seine Maria, eine sehr jugendliche Gestalt, ist das vollendetste Abbild der Reinheit dieses zarten Alters. Sie ist in ihre Gedanken versunken, ihre linke Hand gleitet unmerkbar von ihrem Sohne, den sie auf ihren Knieen hält, herab. Josef hat seinen Blick dem Kinde mit einem Ausdrucke tiefster Trauer zugekehrt. Jesus will sich seiner Mutter zuwenden und wirft dem heiligen Josef noch einen Blick mit jenen Augen zu, deren Ausdruck zu malen nur Raffael gegeben war. Es ist eine Szene schweigsamer Zärtlichkeit, wie sie zarte und reine Seelen bisweilen genießen.

Ich möchte glauben, daß diese und andere – in den Galerien Doria, Barberini und AlbaniEin kurzes Kapitel, das diesen unechten römischen Bildern und dem angeblichen Selbstbildnis Lionardos in den Uffizien gewidmet ist, wurde bei der Übertragung weggelassen in Rom befindliche – Bilder eher in Florenz, wo Lionardo mehrfach geweilt hat, als während seines kurzen Aufenthalts in Rom entstanden seien. Bei dem gegenwärtigen Stand unserer biographischen Kenntnisse hieße es allzu sehr in die Art Winckelmanns und anderer Historiker über die antike Kunst verfallen, wenn man die Entstehungszeit jedes einzelnen Bildes genau bestimmen wollte. Es handelt sich um einen Menschen, der frühzeitig groß war, unaufhörlich neue Bahnen versuchte, um die Vollkommenheit zu erreichen, und häufig seine Werke halbvollendet liegen ließ, wenn ihm Zweifel kamen, daß er ihnen nicht die höchste Vollendung geben könne.

20.

Lionardos anatomische Studien.

Ebenso exakte wie feinsinnige Ideen konnten in der Sprache des Quattrocento noch nicht zum Ausdruck gebracht werden. Aber wahrscheinlich war Lionardo in ein Gebiet der menschlichen Wissenschaft weit eingedrungen das selbst heutzutage noch in den Kinderschuhen steckt: der Kenntnis der menschlichen Seele und des engen Zusammenhanges der Leidenschaften, Ideen und Krankheiten.

Der gewöhnliche Maler sieht in den Tränen nichts weiter als ein äußeres Zeichen seelischer Schmerzen. Man muß in den Tränen eine Notwendigkeit, das heißt, die Notwendigkeit dieser Erscheinung erkennen, man muß die anatomische Folge des Schmerzes studieren von dem Augenblicke an, wo eine zarte Frau die Nachricht vom Tode ihres Geliebten erfährt bis zu dem Moment, wo sie in Tränen ausbricht. Man muß ganz genau beobachten, wie die einzelnen Teile der menschlichen Maschine arbeiten und die Augen zwingen, sich mit Tränen zu füllen. Darauf ging Lionardo aus. Der Wißbegierige, der die menschliche Natur von diesem Standpunkte aus studiert, sieht, wie häufig andere Maler einen Menschen im Laufe malen, ohne daß sie ihm Beine geben, mit denen er sich bewegen kann. Ich kenne nur zwei Schriftsteller, die dieser von Lionardo angeregten Wissenschaft kühn näher gerückt sind: Pinel und Cabanis. Ihre Schriften, voll hippokratischen Geistes, das heißt mit Tatsachen und mit aus ihnen richtig gezogenen Folgerungen, sind wissenschaftlich grundlegend. Die Phrasen der deutschen Gelehrten haben ihnen nur Beiwerk hinzugefügt.

Das ist das Gebiet, wie mir scheint, dem sich Lionardo sein ganzes Leben lang gewidmet hat, aber er hatte für dieses besondere Studium auch nur den Namen Anatomie, der Lehre von den Muskeln, in der Michelangelo ein Meister wurde. Die wenigen nackten Gestalten, die Lionardo hinterlassen hat, liefern hinlänglich den Beweis, daß ihn die eigentliche Anatomie nicht außergewöhnlich reizte. Im Gegenteil, man erkennt leicht seinen vorherrschenden Geschmack für das Studium, das alle Beobachtungen des Menschengeistes seit Urbeginn in seine Kreise zieht.

Eine köstliche Eigenliebe mußte rege Genüsse in diesem Gebiete der Entdeckungen finden. Ihre Klarheit erhob ihn himmelhoch über die angeblichen Philosophen seines Jahrhunderts, die um die Hirngespinste Platos und Aristoteles törichte Parteien bildeten und alte Albernheiten in neue Gewänder hüllten, ohne damit der Wahrheit nur einen Schritt näher zu kommen.

21.

Lionardos Ideologie.

Zwölf Jahrhunderte lang schmachtete der Menschengeist in der Barbarei. Da wagte mit einem Male ein junger Mann von achtzehn Jahren zu sagen: »Ich fange damit an, nichts von dem zu glauben, was man über alle Gegenstände der menschlichen Untersuchungen geschrieben hat. Ich will mit offenen Augen die Tatsachen genau beobachten und meinen Beobachtungen nicht das geringste zufügen.«

Darin lag die Bedeutung Bacons. Mag uns manches Ergebnis seiner Forschungen heute lächerlich erscheinen, die Geschichte der Ideen dieses, Mannes ist die Geschichte des menschlichen Geistes.

Nun, hundert Jahre vor Bacon, schrieb Lionardo da Vinci das nieder, was Bacons Größe begründet hat, nur hat er es leider nicht drucken lassen. Er hat unter anderem gesagt:

»Das Experiment ist der Dolmetsch zwischen der kunstreichen Natur und der menschlichen Spezies ...«

»Die Erfahrung irrt nie, es irren nur eure Urteile, die sich Dinge von ihr versprechen, die nicht in ihrer Macht sind. Mit Unrecht beklagen sich die Menschen über die Erfahrung, die sie mit den höchsten Vorwürfen beschuldigen, trügerisch zu sein. Aber lasset selbige Erfahrung nur stehen und kehret solche Lamentationen wider eure Unwissenheit, die euch voreilig veranlaßt, mit euren eitlen und törichten Wünschen euch von jener Dinge zu versprechen, die nicht in ihrer Macht sind, und zu sagen, jene sei trügerisch.«

»Beim Studium der Wissenschaften, die mit der Mathematik zusammenhängen, sind die, die nicht die Natur, sondern Autoren befragen, nicht Kinder der Natur, ich möchte sagen, nur Enkel der Natur. Sie allein ist die Führerin der großen Geister. Und doch, welche Torheit, man spottet über einen Menschen, der lieber von der Natur lernen will, als von Autoren, die doch auch nur ihre Schüler sind ...«

Solche Gedanken sind keineswegs zufällige Einfälle. Lionardo kommt häufig darauf zurück. So schreibt er anderswo:

»Aber erst werde ich einige Versuche machen, ehe ich weiter vorgehe, weil es meine Absicht ist, zuerst das Experiment vorzubringen, und dann mit der Ursache zu zeigen, weshalb jenes Experiment gezwungen ist, in solcher Weise zu wirken. Und dieses ist die wahre Art, wie der Erforscher der Wirkungen der Natur mit der Ursache beginnt und mit dem Experiment endet, wir müssen den entgegengesetzten Weg verfolgen, das heißt beginnen, wie ich oben sagte, mit dem Experiment und mit diesem die Ursache untersuchen ...«Diese Zitate aus Lionardos Manuskripten sind hier nicht nach der Stendhalschen, sehr freien französischen Übertragung, sondern nach der deutschen Übersetzung von Herzfeld, Seite 4 f., eingefügt

Wenn man Bacon liest, so findet man seine Sätze schwieriger; der Florentiner ist klarer. Auch geht Lionardo bei seinen Wahrheiten mehr in das einzelne, was bei dem englischen Philosophen so selten ist.

Die Schriften der Künstler des Quattrocento sind viel lesenswerter, als die der großen Schriftsteller. Letztere sind ungenießbar. Man wird einwenden, Lionardos Abhandlung über die Malerei verdiene dieses Lob nicht gerade. Ich sage: Man lese vergleichsweise die Abhandlungen Bacons. Lionardo ist mitunter gesucht geistreich, das heißt, er fällt in den Stil der schriftstellerischen Größen seiner Zeit. Im übrigen haben wir von der Schrift des großen Mannes über die Malerei nur einen Auszug, obendrein angefertigt von einem verständnislosen Handwerker. Im Jahre 1630 befand sich dieser Auszug in der Bibliothek Barbarini in Rom, 1640 ließ der Ritter del Pozzo eine Abschrift davon machen, wozu Poussin die Zeichnungen anfertigte. Dieses Manuskript Pozzos diente dann der von Raffael Dufresne im Jahre 1651 veranstalteten Ausgabe zur Grundlage. Es ist noch heutzutage mit den Zeichnungen Poussins in der Bibliothek Chardin zu Paris erhalten. Unter anderen hat der stümperhafte Bearbeiter den Abschnitt ausgelassen, der einen Vergleich der Malerei mit der Skulptur enthielt. Wie mag Lionardo dieses Sujet behandelt haben, wenn er die Wörter und Worte gefunden hat, seine Ideen auszudrücken.

22.

Im Jahre 1515 folgte Franz der Erste Ludwig dem Zwölften auf den Thron, gewann die Schlacht bei Marignano und zog in Mailand ein, wo wir alsbald auch Lionardo vorfinden. Die Bekanntschaft dieser beiden liebenswerten Menschen kam in Pavia zustande; Lionardo hatte einen Löwen modelliert; dieser Löwe, der von selbst laufen konnte, ging bis zum Sessel des Königs vor, wo sich seine Brust öffnete, die mit Liliensträußen gefüllt war.

Franz der Erste ging dann in Bologna den berühmten Vertrag mit Leo dem Zehnten ein. Beide Fürsten waren so sehr gegenseitig miteinander zufrieden, daß beide auf Dinge Verzicht leisteten, die ihnen gar nicht gehörten. Wahrscheinlich befand sich Lionardo im Gefolge des Königs, der dem Papst gern zeigte, daß er Leuten von Geschmack zu gefallen verstand.

Bald darauf dachte Franz der Erste an seine Rückkehr nach Frankreich. Lionardo sah das Alter an sich herankommen, wo man aufhört schöpferisch zu sein. Die Aufmerksamkeit Italiens galt mehr und mehr zwei ihres Ruhmes würdigen jungen Künstlern. Gewohnt, allezeit die ausschließliche Bewunderung eines liebenswürdigen Hofes zu besitzen, nahm er den Vorschlag des Königs freudig an und verließ Italien, um nie dahin wieder zurückzukehren, gegen Ende des Januars 1516. Er war 64 Jahre alt.

Franz der Erste glaubte den Genius der Künste über die Alpen zu geleiten, als er den großen Mann mit sich nahm. Er verlieh ihm den Titel: Maler des Königs und setzte ihm ein Jahresgeld von 700 Talern aus. Im übrigen blieben seine Bitten, den Karton der heiligen Anna Selbdritt, den er mitbrachte, in einem Gemälde auszuführen, erfolglos. Lionardo wollte, der Sonne Italiens fern, nicht an Dingen arbeiten, die Enthusiasmus erfordern. Er hat kaum mehr als ein paar Pläne zur Kanalisation der Umgebung von Romovantino ausgearbeitet.

Die zärtliche Bewunderung für Franz den Ersten veranlaßt zu einer Betrachtung. Die Energie der Liga säte große Menschen. Ludwig der Vierzehnte, zu derselben Zeit geboren, verstand kaum ihre Werke. Er war nicht genial, er hatte nichts in sich als Eitelkeit, aber man spricht vom Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten. Franz der Erste besaß die Eigenschaften, die jenem fehlten, und doch nennt man Ludwig den Vierzehnten den Beschützer der Künste.

Alles, was wir über den Aufenthalt Lionardos in Frankreich wissen, ist die Tatsache, daß er das königliche Schloß Cloux in der Touraine nahe bei Amboise bewohnte.

In seinem Testament (vom 18 April 1518) vermachte er alle seine Bücher, Instrumente und Zeichnungen Francesco da Melzi; Battista de Villanis, seinem servitore, das heißt seinem Diener, schenkte er zur Hälfte seinen Weingarten, den er vor den Mauern Mailands besaß, die andere Hälfte Andrea Salai, seinem anderen Diener, alles als Entgeld für treue und gute Dienste, die ihm beide geleistet hatten. Schließlich vermachte er Villanis auch die Wasserrechte, die ihm Ludwig der Zwölfte verliehen hatte.

Am 2. Mai 1519 starb Lionardo.

Folgenden Brief schrieb Melzi an die Brüder Lionardos:

»Ich glaube, Ihr seid schon unterrichtet vom Tode des Maestro Lionardo, Eures Bruders und mir soviel wie besten Vaters, wegen welchen Todes es mir unmöglich ist, daß ich den Schmerz ausdrücken könnte, der mich erfaßt hat, und solang als diese meine Glieder noch zusammenhalten, werde ich ein beständiges Unglück fühlen, und wohlverdientermaßen, weil ungeheuerste und wärmste Liebe er mir tagtäglich entgegenbrachte. Von jedermann wird der Tod eines solchen Mannes beklagt, dessen Gleichen nicht mehr in der Macht der Natur ist. Nun schenke ihm Gott die ewige Ruhe. Er ging aus diesem gegenwärtigen Leben hinüber am 2. Tage des Mai mit allen Tröstungen der heiligen Mutter Kirche und wohl vorbereitet...«

Der Brief schließt mit den lateinischen Worten: »Gegeben zu Amboise, am 1. Juni 1519. Antwortet mir gleich wie einem Bruder. Franciscus Meltius.«

Als Melzi sich nach Saint-Germain en Laye begab, um Franz dem Ersten den Tod Lionardos zu melden, weihte der König dem Andenken des großen Malers Tränen. Königliche Tränen!

23

Lionardo da Vinci war einer der fünf oder sechs großen Menschen, die ihre Seele der Menge durch die Farben geoffenbart haben; er wurde von Ausländern ebenso geliebt wie von seinen Landsmännern, von einfachen Privatleuten wie von Fürsten, in deren Umgebung er sein Leben verbrachte, und die ihm ihren vertrautesten Verkehr, ja ihre Freundschaft schenkten.

Niemals wird man vielleicht eine gleiche Vereinigung von Genie und Schönheit wiedersehen. Raffael nähert sich wohl seinem Charakter durch die unendliche Lieblichkeit seines Geistes und durch seine seltene Gefälligkeit. Aber der Maler von Urbino lebte viel mehr für sich. Er sah die Machthaber nur, wenn er dazu verpflichtet war. Lionardo fand Genuß darin, mit ihnen zu leben und das vergalten sie ihm, indem sie ihn Zeit seines ganzen Lebens mit großer Wohlhabenheit umgaben.

Um durch seine Werke so groß zu werden wie durch sein Genie, fehlte es Lionardo nur an einer einfachen Erkenntnis, die aber einer weiter vorgeschrittenen Gesellschaft als der des Quattrocento vorbehalten blieb; nämlich der, daß es einem Menschen nur gelingen kann, ein Großer zu werden, wenn er sein ganzes Leben einer einzigen Kunst weiht, oder vielmehr, – denn Erkenntnis ist nichts – es fehlte Lionardo eine tiefe Leidenschaft für irgend, eine bestimmte Kunst. Das Merkwürdigste dabei ist, daß er lange Zeit als die einzige Ausnahme zu der eben ausgesprochenen Wahrheit gegolten hat, die heutzutage jedermann anerkennt. Voltairè ist ein ähnliches Phänomen. Nachdem Lionardo Mailänder Kanäle angelegt, die Ursache von der Fahlheit des Mondlichtes und der blauen Färbung der Schatten entdeckt, das Kolossalpferd von Mailand modelliert, sein Abendmahlsbild und seine Abhandlungen über die Malerei und Plastik vollendet hatte, konnte er sich für den größten Ingenieur, den größten Astronomen, den größten Maler und Bildhauer seines Jahrhunderts halten. Jahrelang war er das alles tatsächlich. Aber Raffael, Galilei, Michelangelo erschienen nach und nach, kamen weiter als er, jeder in seinem Gebiete, und Lionardo da Vinci, eine der schönsten Blüten, deren sich die menschliche Gattung rühmen kann, blieb in keinem Fache der Größte.


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