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Siebentes Kapitel.
Elastizität der Seele

Enttäuschung und Einsamkeit – Die Familie als ethisches Urphänomen – Der Drang zur Familie – Wandlungen des Herzens – Das Recht der Lebenden – Doppelliebe – Regenerationsfähigkeit – Herzenserneuerung.

 

Mit der Absage Eleonorens wurden Schleiermachers Träume und Hoffnungen auf das ersehnte, in leuchtendsten Farben ausgemalte Glück am eigenen häuslichen Herde mit einem Schlage zerstört, wurde die Verwirklichung seiner »schönsten geliebtesten Idee« für ihn selbst in unabsehbare Ferne gerückt.

»Dann graut mir vor dem liebeleeren, beruflosen, Gott und Menschen höhnenden Leben eines Hagestolzen. Ich muß mich anschließen an ein Hauswesen, muß helfen eine Familie bilden und Kinder erziehen«, hatte er an Henriette Herz (10. 6. 1803) unter dem zerschmetternden Eindruck des ersten Abfalls Eleonorens geschrieben.

Auch aus seinen Monologen klingt eine hohe Begeisterung für Ehe und liebereiches Familienleben heraus: »In Freundschaft jeder Art hab' ich gelebt … Noch aber muß die heiligste Verbindung auf eine neue Stufe des Lebens mich erheben, verschmelzen muß ich mich zu einem Wesen mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke … In Vaterrechte und -Pflichten muß ich mich einweihen, daß auch die höchste Kraft, die gegen freie Wesen Freiheit übt, nicht in mir schlummere … Wie ich jetzt trauernd in öder Einsamkeit mir manches einrichten und beginnen, verschweigen, versagen und mich verschließen muß, im kleinen und großen: es schwebt mir doch immer lebendig dabei vor, wie das in jenem Leben anders und besser würde sein.«

Die außerordentlich hohe Bewertung des Familienlebens, die uns in Schleiermachers Briefen rein gefühlsmäßig gegenübertritt, hat auch auf sein System der Ethik entscheidenden Einfluß gewonnen. Die vollkommenen ethischen Formen, in denen sich die Beziehungen zwischen Individuellem und Allgemeinem einerseits, Organischem und Symbolischem andererseits auswirken, sind nach Schleiermacher: Familie, Staat, Wissenschaft, Geselligkeit und Kirche. Die Familie aber ist sozusagen das ethische Urphänomen, ohne dessen Voraussetzung die anderen Gestaltungen nicht begriffen werden können. Die Ehe bildet deshalb bei Schleiermacher den Grundpfeiler und Eckstein des ganzen Gebäudes der Ethik. Sie ist gleichsam die Keimzelle der vier übrigen ethischen Grundformen Staat, Wissenschaft, Geselligkeit und Kirche. Denn in der elterlichen Autorität und dem Gehorsam der Kinder kündigt das Staatswesen sich an. Der väterliche Unterricht und das Lernen der Kinder ist werdende Wissenschaft. Die Gewährung der Gastfreundschaft in der familiären Häuslichkeit bildet den Urtypus der Geselligkeit, und die Familiengemeinschaft ist in jedem wohlgeordneten Hause zugleich Kultgemeinschaft und als solche ein Symbol der Kirche.

Man muß diese philosophische Einstellung Schleiermachers kennen, um sein heißes Sehnen nach Begründung einer eigenen Familie in vollem Umfange würdigen zu können und gleichzeitig zu verstehen, daß das durch Eleonorens Absage scheinbar tödlich verwundete Herz Schleiermachers den vernichtenden Schlag mit ungeahnter Regenerationsfähigkeit überwand.

Es war der Drang zur Familie an sich, die heiße Liebe zur Idee der Ehe, die es bewirkte, daß er wieder in höchsten Glücksgefühlen zu schwelgen vermochte, sobald durch die Verlobung mit Henriette von Willich sich ihm von neuem die Aussicht auf das ersehnte Eheglück an der Seite einer liebenswerten Frau eröffnete. Der gleiche Gefühlswandel ist auch bei Henriette von Willich nach dem Tode ihres innig geliebten Gatten zu beobachten, dessen Verlust sie mit tiefstem, scheinbar unvergänglichem Schmerz erfüllt hatte. Denn ihr Herz will nach der nur ein Jahr später erfolgten Verlobung mit Schleiermacher von Glück schier überfließen. In ihr selbst steigen zwar gewisse Bedenken in dieser Hinsicht auf, die sie in feinsinniger Weise in einem Briefe an Schleiermacher hervorhebt (5. 8. 1808): »Ob es wohl auch recht und schön ist, daß ich so jugendlich frisch wieder ins Leben trete und mein Herz der Freude wieder ganz geöffnet ist, da ich doch noch vor kurzem um unvergänglichen Schmerz betete, der die Witwe durchs Leben geleiten möchte? – Oh, ich darf es Dir nicht erst sagen, wie Ehrenfried im Grunde meiner Seele wohnt, wie mir jede Erinnerung von ihm so heilig ist – Du weißt es. – Doch bin ich jetzt so ganz glücklich durch Dich – Gott, wie ich es nur immer sein kann.«

Die Natur hat eben doch für eine unbegrenzte Elastizität der menschlichen Seele Sorge getragen, um das Recht der Lebenden gegenüber den Toten sicherzustellen. Das verkennt der sonst so weise und klarblickende Wilhelm von Humboldt in auffallender Weise, wenn er an seine Freundin Charlotte Diede schreibt: »Ich habe nie begriffen, wie die Zeit einen Schmerz und einen Verlust soll verringern können. Das Entbehren dauert durch alle Zeit fort, und die Linderung könnte nur darin liegen, daß sich die Erinnerung an den Verlust rächte, oder man sich gar im Gefühl des Alleinstehens enger an ein anderes Wesen anschlösse, was, hoffe ich, mir ewig fern bleiben wird, wie es jeder edlen Seele fern bleibt.«

Damit verurteilt er indirekt Schleiermacher und Henriette von Willich, wie zahlreiche andere Menschen, an deren Edelsinn kaum jemand zweifeln wird. Er beurteilt die Dinge von seiner eigentümlichen Art aus, mit der er den Schmerz und die Erinnerung an teure Verstorbene in sich pflegt. »In diesem Andenken bin ich reich und insofern zufrieden, als ich fühle, daß dies gerade das Glück ist, das dieser Periode meines Lebens entspricht«, schreibt er im Hinblick auf den Tod seiner Frau. »Außer diesem Andenken suche ich nichts, sehe mich nicht im Leben nach Ersatz, Trost, Beruhigung um.« Er hat keinerlei Bedürfnis nach anderen Menschen, da er sein volles Genüge in sich selber findet. Deshalb läßt ihn hier offenbar seine gewohnte Objektivität im Stich, und er versteht es nicht, wie eine edle Seele sich nach erlittenem Verlust »im Gefühl des Alleinstehens enger an ein anderes Wesen anschließen kann.«

Auch in einem späteren Briefe (6. 11. 1830) äußert sich Humboldt in ähnlicher, wenn auch ein wenig einschränkender Weise: »Ich hasse alle zweiten Ehen, wenn die erste nicht sichtbar unglücklich war. Indes heiraten so viele Leute zweimal, daß es kindisch und ungerecht wäre, das an allen zu tadeln. (Hier sieht er es also doch ein.) Aber an Stolberg finde ich es gerade unrecht, weil er mit der ersten, der Agnes, nicht nur sehr glücklich lebte, sondern sie beinahe vergötterte. Da begreife ich es nicht und mißbillige es. Die Gefühle für eine Frau, die nicht mehr ist, wo alles abgeschlossen ist, nichts geändert werden kann, nehmen in einem gefühlvollen Gemüt etwas so Einsames und Ausschließliches an, daß sich kaum damit der Gedanke an irgendeine andere, nur auf die entfernteste Weise ähnliche Verbindung vertragen und vereinigen kann. Noch weniger begreife ich, wie die zweite Frau ihm hat die Hand geben können. Jede irgend zartfühlende Frau wird einen solchen Gemütszustand ehren, schonen und sich zu nahen scheuen.«

Diese Denkweise beweist lediglich, daß sich über Gefühle nicht streiten läßt, und daß es immer mißlich ist, die gefühlsmäßige Handlungsweise anderer Menschen ausschließlich unter dem eigenen Gesichtswinkel zu beurteilen. Dazu fehlt dem Urteilenden die intime Kenntnis aller in Betracht kommenden Einzelheiten, so daß er gar nicht in der Lage ist, ein wirklich gerechtes Urteil abzugeben.

Ein originelles Beispiel für die Elastizität der Seele eines bedeutenden Menschen bietet der bekannte englische Staatsmann Disraeli, der im Jahre 1881 verstorben ist. Nach dem Tode seiner sehr von ihm geliebten Gattin, an deren Seite er auch bestattet wurde, trat der Siebzigjährige in ein ebenso romantisches wie merkwürdiges Verhältnis zu zwei Schwestern, Lady Chesterfield und Lady Bradford, die beide bereits damals Großmütter waren. Lady Chesterfield war eine Witwe von mehr als siebzig Jahren, aber nicht ihr, sondern der jüngeren Schwester, der fünfundfünfzigjährigen verheirateten Lady Bradford galt in Wahrheit Disraelis Liebe. In einer bedenklichen Anwandlung, die ganz dazu angetan ist, den Vorwurf des »geschickten Komödianten«, mit dem die politischen Gegner den wandlungsfähigen »Staatsmann mit der Poetenseele« bedachten, zu rechtfertigen, hielt er um die Hand der älteren Schwester an, und zwar in der ausgesprochenen Absicht, durch seine Heirat mit dieser in ein brüderliches Verhältnis zu deren jüngeren Schwester zu treten. An diese hat er auch doppelt so viel Briefe gerichtet, wie an die ältere. Es verging kein Tag, in dem er in seinem Amtszimmer im Auswärtigen Amt oder im Schatzamt zu London an Lady Bradford nicht zwei oder drei Briefe schrieb, die er durch einen besonderen Boten bestellen ließ.

Es ist dem Biographen ohne weiteres zu glauben, daß Disraeli keinen Augenblick der Gedanke gekommen ist, durch solche Liebesbeteuerungen das Andenken seiner verstorbenen Frau zu verunglimpfen. Nach außen wahrte er stets die Haltung des trauernden Gatten. Die sämtlichen an die Schwestern wie an andere gerichteten Briefe waren ausnahmslos auf Papier mit breitem Trauerrand geschrieben. Der Briefschreiber hatte ersichtlich gar kein Gefühl dafür, daß er sich zumindest einer Ungeschicklichkeit schuldig machte, wenn er mit Liebesschwüren Briefbogen füllte, deren Äußeres dem Gedanken an den Tod der Gattin Rechnung trug.

Verwandter Natur sind die Bekenntnisse von Varnhagen von Ense, dessen Gefühl ebenfalls nach zwei Richtungen in höchst eigenartiger Weise geteilt war. Einige Jahre vor seiner Bekanntschaft mit Rahel Lewin, seiner nachmaligen Gattin, war er Erzieher im Hause einer Frau Fanny Herz in Hamburg gewesen. Die Dame war erheblich älter als Varnhagen, was ihn jedoch nicht hinderte, sich sterblich in sie zu verlieben. Nachdem er nun zu Rahel in Beziehungen getreten war, schwärmte er einerseits in tiefer Rührung und Begeisterung für Fanny und pries sie als ein liebevolles, edles Geschöpf, während er zugleich Rahel als sein geweihtes Altarlicht feierte, das die Nacht seiner Seele strahlend erhellte. Er möchte keine um der anderen willen aufgeben, und sie am liebsten beide heiraten. »Wie dem Manne der alten Welt nur ein Freund möglich war, so sind mir, dem Übermodernen, neben vielen Freunden auch mehrere Geliebte möglich«, bekannte er von sich, fand aber damit bei Rahel kein Verständnis und würde es bei Humboldt vermutlich noch weniger gefunden haben.

Es ist offenbar mit der Liebe nicht viel anders, wie mit der Religion: »Jeder muß nach seiner Fasson selig werden.« Der unaufhaltsame Drang nach Lebensbetätigung und Lebenssteigerung überwindet in starken, gesunden Naturen alle Schicksalsschläge und spottet aller Trauer um vergangenes Leid, aller unvergänglichen »Treue« gegen die liebsten Verstorbenen.

Auch Novalis' Verbindung mit Julie von Charpentier nach dem Tode seiner angebeteten Sofie von Kühn bildet hierfür ein klassisches Beispiel. Nach dem Eintritt des ihn bis ins innerste Mark aufwühlenden Todes von Sofie beschloß er, selbst zu sterben, aber nicht etwa, indem er Hand an sich legte, sondern dadurch, daß er den festen Willen zum Tode hatte, den er durch den mystischen Umgang mit der Verblichenen auszuführen gedachte. Er zweifelte nicht am Gelingen seines Vorhabens, was in den wundervollen Versen zum Ausdruck kommt:

»Nach wenig Zeiten
So bin ich los,
Und liege trunken
Der Lieb im Schoß.
Ich fühle des Todes
Verjüngende Flut,
Zu Balsam und Äther
Verwandelt mein Blut.«

Die Kraft seiner Jugend erwies sich jedoch stärker als sein Wille. Im Laufe der Zeit mußte er die ihn tief erschütternde Wahrnehmung an sich machen, daß der sieghafte Lauf des Lebens immer wieder zum Durchbruch gelangt.

Selbst das wahrste und tiefste Gefühl schwindet schließlich bis zum Erlöschen dahin, wenn die Flamme nicht durch den Anblick des geliebten Gegenstandes oder doch wenigstens durch das Bewußtsein seiner Existenz genährt wird. Der Mensch ist und bleibt trotz aller Innerlichkeit ein körperliches Wesen, das an seine Sinne gebunden und in fortgesetzter Veränderung und Entwicklung begriffen ist. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß er mit heißestem Bemühen danach trachtet, sich mehr und mehr zu vergeistigen und über die schale Wirklichkeit emporzuheben.

Daß dem so ist, daß die Natur gelegentlich auch gegen unser Wollen uns zur Erde zurückführt und unsere seelische Genesung automatisch bewirkt, ist zwar ein Zeichen unserer Unfreiheit, aber auch unserer großen Regenerationsfähigkeit.

Schleiermacher war im Laufe der Zeit Realist genug geworden, um diesen Zusammenhang der Dinge und des wirklichen Seins klar zu erkennen. Er hatte gelernt, daß auch das Gefühl dem Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen sei und schrieb die Mahnung nieder: »Mach' dir ja kein solches Hirngespinst von der Heiligkeit einer ersten Empfindung, als beruhte nun alles darauf, daß etwas Ordentliches daraus würde.«

Es ist deshalb unbegründet, gegen diejenigen Menschen, die solche Herzenserneuerung an sich erfahren, den leisesten Vorwurf zu erheben.

Diese innere Erneuerung und Genesung pflegt um so leichter sich zu vollziehen, wenn der neue Mensch, der dem Trauernden gegenübertritt, mit völlig anderen Zügen ausgestattet ist, wie der Betrauerte. Denn hierdurch werden neue Lebenssaiten in dem Trauernden angeschlagen, latent schlummernde Kräfte geweckt, die noch gänzlich frisch und unverbraucht sind und die Heilung der verwundeten Seele in ähnlicher Weise erleichtern, wie dies bei einem verletzten Körperteil durch Transplantation (Überpflanzung eines frischen Hautstücks) geschieht. Das bringt Schleiermacher in einem Briefe (11. 9. 1808) an seine Braut treffend zum Ausdruck: »… und weil ich so bin, weil ich Dein ganzes Wesen noch von einer anderen Seite in Anspruch nehme als bei Ehrenfrieds Charakter und Laufbahn möglich war, darum kannst Du mich auch noch lieben nach ihm, so wie Du mich wirklich liebst, Du Süße, Herrliche.«

Schleiermacher selbst war sich indessen zu der Zeit, als ihn das Unglück von Eleonorens Absage getroffen hatte, dieser seiner seelischen Elastizität offenbar noch nicht bewußt geworden. An Reimer schreibt er (21. 12. 1805): »Aber ich glaube auch ebenso gewiß an Eleonorens Gegenliebe als an meine Liebe; ja, meine Liebe ist eben diese Gegenliebe und so umgekehrt. Darum verspreche ich mir keinen Trost von einer anderen Liebe in irgendeiner anderen Zeit, die mir diese Liebe ersetzen sollte.«

Und wie bald hatte er doch in Wahrheit diesen Trost gefunden.


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