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Sechstes Kapitel.
Die Idee der Liebe und Treue

Entwicklung innerer Triebkräfte durch Frauen – Wechselnde Neigung – Grundlagen der Treue – Die einmalige Liebe – Die Idee der Liebe bei Humboldt – Liebe ohne Treue – Untreue als »Selbstüberwindung« – Erotischer Monismus – Verfeinerte Wollust – Der gescheiterte Verführer – Das Recht auf Untreue – Männliche Untreue als Naturwille – Doppelte Moral – Verfeinerung des Seelenlebens – Die Last des Gebundenseins – Die neue Sexualethik – Die uneheliche Mutter – Vom Genießer zum Sitteneiferer – Anziehungskraft des Treulosen.

 

In allen Äußerungen des Schmerzes ist es bei Schleiermacher überaus bemerkenswert, daß ihn bei seiner Liebe zu Eleonore nicht so sehr der Verlust ihrer individuellen Persönlichkeit zu treffen scheint, als vor allem der ihm aufgezwungene Verzicht auf die Ehe und liebeerfüllte Häuslichkeit. Er liebte nach seinem eigenen Bekenntnis »die Ehe gleichsam wie ein eigenes Wesen« … »Leidenschaftlich möchte ich sagen, aber zart und heilig … denn sie ist ja etwas Wahres, Schönes und Heiliges, ganz eigen für sich.« (17. 10. 1804, Brief an Willichs.)

Es ist die Idee der Ehe und Familie, die von seinem Wollen und Wünschen mit zunehmenden Jahren immer stärker Besitz ergreift. »Ihr wißt es, daß Ihr mir ein Glück gebt durch das Eure, wie es mir bisher noch nicht geworden ist und auch außer Euch nie mehr werden kann. Die ersten Mitteilungen Eures neuen vollen Lebens waren mir selbst ein Hochzeitsfest, eine bräutliche Umarmung meiner schönsten geliebtesten Idee«, heißt es in demselben Briefe an Willichs nach deren Vermählung.

Auch Goethes Verhältnis zu den Frauen hat offenbar auf einer ähnlichen psychologischen Grundlage beruht. Das hat Karl August richtig erfaßt, da er sagte, Goethe hätte immer alles in die Frauen gelegt und nur seine Ideen in ihnen geliebt. Simmel meinte in diesem Sinne, daß sie doch eigentlich nur die Gelegenheitsursachen wären, an denen sich ein jeweilig notwendiges Stadium von Goethes innerer Entwicklung verwirklicht hätte. Das erotische Verhältnis sei immer nur die Blüte aus seinen eigenen Triebkräften, für die die Frau nur Frühlingsluft und Frühlingsregen war.

Geht man der Sache tiefer auf den Grund, so wird man finden, daß die meisten Liebes- und Eheverhältnisse aus verwandten psychologischen Einstellungen sich ergeben. Denn es pflegen nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer solche »Gelegenheitsursachen« für die Entwicklung der inneren Triebkräfte des anderen Teils zu bilden. Es schließt das keineswegs aus, daß der also Liebende dem geliebten Wesen mit hingebender Leidenschaft und selbstloser Zartheit begegnet. Es erklärt aber auch die Tatsache, daß trotzdem die Gegenstände der Neigung häufig wechseln, und daß sogar die Liebesfähigkeit sich auf mehrere Personen gleichzeitig zu erstrecken vermag. Das soll keinerlei Rechtfertigung bilden für bezeigte Untreue, sondern nur Aufschluß geben über die Wandlungsfähigkeit und »Vielseitigkeit« des menschlichen Herzens. Es ist zweifellos der Reiz des Neuen, des auf den ersten Anblick Fremdartigen, der hierbei eine große Rolle spielt. Manche neueren Forscher, wie Oscar Ewald in Wien, führen sogar die instinktive Abneigung höherer Kulturen gegen Verwandten-Ehen wesentlich mit auf den Umstand zurück, daß zwei Menschen, die körperlich aus denselben Elementen gebildet sind, einander nichts Neues zu bieten vermögen.

Treue ist teils persönliche Veranlagung, teils hängt sie von zahlreichen Zufälligkeiten ab. Sie wird um so leichter gehalten werden, je erfolgreicher beide Teile bestrebt sind, dem anderen das Leben erfreulich zu gestalten, je tiefer und fester zugleich ihre seelische und geistige Gemeinschaft gegründet ist. Wo das nicht der Fall ist, bedarf es entweder eines ausgeprägten Pflichtbewußtseins oder eines gewissen Phlegmas und Ruhebedürfnisses, oder eines Mangels an Gelegenheit zur Untreue, um sie nicht zu begehen. »Tugend ist, wenn keiner kommt«, sagt der Volksmund und dürfte damit in vielen Fällen das Richtige getroffen haben. »Hab' ich nur deine Liebe, die Treue brauch ich nicht, die Liebe ist die Knospe nur, aus der die Treue bricht«, heißt es im Lied; ein Vers, der für den charakterfesten und von tiefer Liebe erfüllten Menschen meistens zutreffen wird, dem aber sicherlich keine Allgemeingültigkeit beizumessen ist.

Wilhelm von Humboldt geht allerdings noch weiter, wie der Dichter dieses schönen Operettenverses. Nach ihm erscheint die Liebe, wie er sie auffaßt, überhaupt nur einmal im Leben, täuscht sich nie und wird nie getäuscht, beruht aber ganz, und viel mehr noch als die Freundschaft, auf Ideen.

Als Beispiele für das, was er unter Ideen versteht, führt er die Idee des Wohlwollens und der Pflicht, der Liebe und der Freundschaft an. Die Idee der Liebe ergibt sich ihm, wie er in jüngeren Jahren einmal bekannt hat, aus dem Endzweck aller Welt- und Selbstbildung: Einheit des Wesens in höchster, harmonisch reinster Entfaltung.

Aber ein Individuum für sich allein vermag keineswegs alle Gefühle zu erschöpfen. Es bedarf hierzu der Ergänzung, der Vereinigung mit dem anderen Geschlecht. Um die Schönheit des ganzen Menschen zu fühlen, muß es ein Mittel geben, das beide Vorzüge, wenn auch nur auf Momente und in verschiedenen Graden vereint, fühlen läßt. Dieses Mittel besteht in der innigen Aussöhnung beider Geschlechter im Augenblick des Zeugungsaktes.

Die Idee geht auf ein Unendliches, auf ein letztes Zusammenknüpfen hinaus, auf etwas, das die Seele bereichern würde, wenn sie sich auch von allem Irdischen losmachte. Sie ist allen vergänglichen, äußeren Dingen, allen Begierden und eigennützigen Absichten entgegengesetzt. Alle großen und wesentlichen Wahrheiten sind von dieser Art. Um Ideen zu fassen, müssen sich Gedanke und Gefühl innig vereinigen, was meistens nur mit Hilfe der künstlerischen Einbildungskraft möglich ist. Sinn für Kunst, einschließlich Musik und Poesie, ist daher notwendig, um einer Idee teilhaftig zu werden, um das wahrhaft zu empfinden, was in den Darstellungen der Kunst als Idee lebendig ist. Ideen sind mit anderen Worten das einzig Bleibende, sie sind das, »was allein seine Vortrefflichkeit in sich selbst trägt, was auch in vergänglichen Menschen nicht untergehen kann, weil es nicht aus den Menschen stammt, und was, nach richtigem Maßstabe erwogen, allein verdient, daß der Mensch sich ihm ganz und bedingungslos hingebe«.

Auf solcher unvergänglichen Idee also beruht nach Humboldt dasjenige, was er allein für würdig erachtet, als Liebe bezeichnet zu werden. Sprachgebrauch und tatsächliches Geschehen befinden sich damit allerdings nicht immer im Einklang. Es hat tiefe, heiße und selbst nachhaltige Liebe gegeben, der schließlich doch die »Treue« mangelte, in welcher Humboldt ein unablösliches Element der Liebe erblickt.

Treu sein, heißt nach J. M. Verweyen, Johannes M. Verweyen: Der Edelmensch und seine Werte, München 1919. in irgendeiner Form den Willen zum Leide bejahen. Aber es kann geringere Anstrengung und sittliche Kraft erfordern, die Bande der Ehe aufrechtzuerhalten, als sie zu lösen. Untreu sein, kann unter Umständen heißen, die Folgerungen aus der Erkenntnis eines begangenen Irrtums zu ziehen, Fesseln abzustreifen, die unsere besten Kräfte lahmlegen und unsere Entwicklung zur Vervollkommnung hemmen. Wotan achtet »unheilig den Eid, der Unliebende eint«.

In diesem Sinne ist Treue nicht ohne weiteres mit Tugend gleichzusetzen, wenn auch der Bruch eines feierlich gegebenen Versprechens, den man als Untreue zu bezeichnen pflegt, dem Grundsatze nach verwerflich bleibt. Aber dort, wo die Prinzipien sich kreuzen, und das ist nur allzu häufig der Fall, sollte ernsthaft erwogen werden, welches Prinzip in dem gegebenen Fall als das höherwertige zu gelten habe.

Offenbar aus dieser Erwägung heraus kommt Simmel zu dem Schluß, daß Goethe den Frauen untreu gewesen sei, weil er sich selber treu war. Goethe selbst hat die »sogenannte größere Treue der Frauen« daraus hergeleitet, daß sie »sich selbst nicht überwinden können, und sie können es nicht, weil sie abhängiger sind, als die Männer«. Vielleicht will er damit derjenigen Treue den Wert absprechen, die nur unter dem Zwange der Abhängigkeit gehalten wird. Dann vergißt er allerdings, daß für die Dämpfung der Instinkte zur Aufrechterhaltung der Moral ein gewisser äußerer Zwang sich häufig als nützlich und notwendig erweist. Vielleicht erblickt er aber auch die »Selbstüberwindung«, die in diesem Falle mit Untreue gleichbedeutend wäre, in dem Gehorsam gegen das Gesetz eines sich immer höher entwickelnden Lebens, das unter Umständen durch die Bindung an eine bestimmte Person leicht eine Hemmung erfahren kann. Das betont auch Nietzsche in einem seiner Aphorismen: »Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel … Man muß wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.«

Nur bergen, wie schon früher hervorgehoben, derartige Lehren insofern stets eine große Gefahr, als auch Unberufene sich für berechtigt halten, sie für ihren persönlichen Gebrauch in Anspruch zu nehmen, während sie in Wahrheit nur für starke und erlesene Schöpfernaturen Gültigkeit haben.

»Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet«, sagte Goethe einmal zu Kanzler Müller, und Nietzsche hat das der Treue entgegengesetzte Prinzip noch unzweideutiger gekennzeichnet mit den Worten: »Die Liebe zu einem ist Barbarei, denn sie wird auf Unkosten aller übrigen ausgeübt.«

Auf die Beziehungen der verschiedenen Geschlechter übertragen, führt dies Prinzip zum »erotischen Monismus«, den Ellen Key in etwas abgeänderter Auffassung als »Lebensglauben« bezeichnet. »Der Lebensgläubige bekennt sich zum kategorischen Imperativ der Lebenssteigerung, der uns die Pflicht zum Glück auferlegt, das allein in der höchsten Lebensfülle gefunden werden kann. Wer durch eine Liebe versiegte Quellen singen, den Saft in kahle Zweige steigen, die schaffenden Kräfte des Lebens sich erneuern fühlt, … der hat das Recht zu diesem Erlebnis«, auch wenn es sich häufig wiederholt. In ähnlicher Weise, wenn auch in etwas anderem Sinne, hat Schiller einst an seine Lotte geschrieben: »Ein Mensch, der liebt, tritt sozusagen aus allen Gerichtsbarkeiten heraus und steht bloß unter den Gesetzen der Liebe. Es ist ein erhöhtes Sein, in welchem viele andere Pflichten, viele andere moralische Maßstäbe nicht mehr auf ihn anzuwenden sind.«

Eine erwachende neue Neigung, meint Ellen Key, hat immer das Vorrecht vor der erloschenen alten, für welche die Pflicht des Rücktritts und Verzichtens besteht. Daraus ergibt sich von selbst die Ablehnung der Monogamie auf Lebenszeit als ausschließliches Moralgesetz. Auch die Forderung der vorehelichen Keuschheit als unbedingte Sittlichkeitsnorm für die Frau wird verworfen. Man darf mithin den Gegenstand seiner Liebe wechseln, »wenn nur der Charakter darüber keinen Schaden nimmt«. (!)

Diese Bedingung wird also doch gestellt: wer aber wird ihre Erfüllung überwachen, und wer ist kritisch genug gegen sich selbst, um ihre Innehaltung stets im voraus zu gewährleisten? Wer will das zulässige Maß der »Lebenssteigerung« begutachten, die nach Ellen Keys Willen niemals zur Ausschweifung führen darf? Da auf diese Fragen eine befriedigende Antwort unmöglich gefunden werden kann, ist der erotische Monismus als allgemeingültiges Prinzip unhaltbar und undurchführbar.

Da ist der Däne Sören Kierkegaard, »der Nietzsche des Nordens«, mit seinem Buche »Entweder – Oder« weit folgerichtiger gewesen. Im »Entweder« ist der »Verführer« dargestellt, der im Erotischen das Ästhetische realisieren will. Das erreicht er durch eine verfeinerte Wollust, die vorwiegend geistig-seelisch orientiert ist. Grundbedingung ist ihm die vollkommen ästhetische Behandlung jedes Mädchens oder jeder Frau, die sich ihm anvertraut. Er genießt sie, wie der Weinkenner die Blume des edelsten Rebensaftes, und hat für jede von ihnen die ihrer Individualität angepaßte Verführungsmethode. Am Schlusse aber wird das Opfer immer betrogen, da jedes Verhältnis von selbst aufhört, sobald man das Letzte genossen hat. Lebenslängliche Treue bedeutet Langeweile, die der Tod aller wahren Ästhetik ist. Hier wird die Verführung vom »Ästhetiker« zur Lebenskunst erhoben.

Kierkegaard weist selbst das Absurde und Unhaltbare dieses Standpunktes nach und läßt den Verführer an seiner unfruchtbaren Ruhelosigkeit, die schließlich zur Verzweiflung führt, scheitern. Dem Entweder des Ästhetikers stellt er das Oder des Ethikers gegenüber, der sich dem Willen des Höchsten beugt und dem Sittengesetz unterwirft. Dem Verführer beweist er unwiderleglich, daß sein »ästhetisches Leben« zur Verzweiflung führen müsse. Aus ihr gibt es nur eine Rettung: die Verzweiflung mit vollem Bewußtsein erleben, ihr den Ernst und die Kraft zugesellen, um das Ethische zu finden, das Nietzsche einmal mit dem Wort definiert: »Der letzte Edelsinn ist, Anwalt der Regel zu werden.«

Goethe konnte »das Recht auf Untreue« für sich in Anspruch nehmen, insoweit sie »ein neues besseres Ich in ihm erzeugen half«; aber nicht allein um dieses Prinzips willen, sondern vor allem, weil er Goethe war.

Auch die Romantiker haben zum Teil ausgiebigen Gebrauch von diesem Rechte gemacht, ohne danach zu fragen, inwieweit sie durch ihre Persönlichkeit hierzu legitimiert waren. Unter ihnen ist namentlich Clemens Brentano besonders zu erwähnen, weil er eine höchst eigenartige Auslegung der Treue erfand. Mit seiner Geliebten Sofie Mereau harmonierte er vor allem darin, daß beide vom Honig der Liebe zu kosten pflegten, wo immer sich ihnen eine süß duftende Blüte erschloß. Auf gelegentliche Vorhaltungen ihrerseits erwiderte er, untreu dürfe sie ihn nicht schelten. Sei er wirklich einer anderen Frau gefolgt, so hätte deren unwiderstehliche Anziehungskraft in irgendeinem unbestimmbaren Etwas gelegen, das ihn unwillkürlich an sie, seine geliebte Sofie, gemahnt hätte. Die »Treue« erblickt er also darin, daß schon eine entfernte Ähnlichkeit mit der Geliebten ihm jedes andere weibliche Wesen liebenswert macht und er aus diesem Empfinden heraus Besitz von ihr ergreift.

Welch ein Gegensatz zwischen dieser und der grandiosen Humboldtschen Auffassung von der einmaligen großen Liebe, die in der Idee verankert ist. Ihr ist auch jenes andere Motiv völlig entgegengesetzt, das Tieck in seinem »Sternbald« anschlägt, wo Roderigo und Siegesmunde das Erkalten ihrer heißen und tiefgehenden Liebe in dem Moment empfinden, da sie sich ihre Neigung einander zum erstenmal eingestehen. »Ich sah ein bestimmtes Glück vor mir liegen«, so erläutert es Roderigo, »aber ich war an dieses Glück festgeschmiedet … Bei keinem fremden Gesicht darf mir nunmehr einfallen: wir werden bekannter miteinander werden, dieser Busen wird vielleicht am meinigen ruhen, diese Lippen werden vielleicht mit meinen Küssen vertraut sein.«

Schopenhauer findet für diese Regungen in der Seele des Mannes eine Art biologischer Erklärung in dem Willen der Natur, der auf die möglichst starke Vermehrung der Gattung gerichtet sei. Der Mann kann bequem hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm ebensoviele Weiber zur Verfügung stehen: das Weib hingegen kann mit noch so vielen Männern doch nur ein Kind im Jahre (von Zwillingsgeburten abgesehen) zur Welt bringen. Daher neigt der Mann von Natur zur Unbeständigkeit in der Liebe; daher sinkt seine Liebe von dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten hat; daher sehnt er sich nach Abwechslung. Das Weib ist daher mehr zur Beständigkeit geneigt, denn die Natur treibt sie instinktmäßig und ohne Reflexion, sich den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu erhalten. Daher ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, wegen der Folgen, so auch auch subjektiv, wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher, als der des Mannes.

Schopenhauer tritt also hier unverhohlen unter biologischer Begründung für die doppelte Moral ein, die zwar in der Gegenwart zahlreiche Gegner hat, der aber doch unser tieferer Instinkt – zum Teil vielleicht aus den von Schopenhauer angeführten Gründen – unwillkürlich zuneigt. Gegen die Ansicht Schopenhauers ist jedoch geltend zu machen, daß sein Standpunkt nur für die primitiven Naturverhältnisse und vorwiegend für die kleineren und niedrigen Lebewesen zutrifft. Denn nur hier zielt die Natur auf größtmögliche Vermehrung ab. Je höherstehend und differenzierter die Lebewesen sind, um so mehr hat es die Natur in der Regel auf Qualität, statt auf Quantität abgesehen, und erstere würde unzweifelhaft leiden, wenn der Mann schrankenlos seinem angeblichen Triebe zur Abwechslung folgen würde. Denn dann wäre die Aufzucht, für welche der Mann in der Hauptsache die Unterhaltsmittel bereitstellt, und die beim Menschen eine weit größere und längere Sorgfalt erfordert, als bei jedem anderen Lebewesen, entschieden gefährdet.

Der Trieb des Weibes ist vielleicht im allgemeinen nicht so unmittelbar auf Abwechslung gerichtet, wie der des Mannes. Aber es ist vermöge der Passivität seiner Natur in hohem Grade dazu veranlagt, sich durch Verführungskünste einfangen zu lassen. Sein Streben ist auf Begehrtwerden und Besessensein gerichtet. Seine Untreue ist denn auch weit seltener auf eigene Wahl zurückzuführen, wie darauf, daß es sich von einem anderen Manne stärker und leidenschaftlicher begehrt fühlt, als von dem eigenen.

Th. G. Hippel, Kants Freund und täglicher Tischgast, beginnt sein Kapitel über die Treue der Weiber in seinem Buche »Über die Ehe« mit folgenden Sätzen: »Wenn ein Mensch untreu ist, so ist es unrecht; wenn es aber eine Frau ist, unnatürlich und gottlos … Welch ein Frevel, einem Manne fremde Kinder aufzubürden! … Bedenke, Ungetreue, daß dein Mann, da er um dich warb, dich aus der Sklaverei befreite, in der du dich im Hause deiner Eltern befandest. Die Weiber werden durch die Heirat manumittiert und sind ihrem Befreier zeitlebens opera officiales (Liebesdienste) schuldig.«

Darin dürfte der grundlegende Unterschied zwischen der sittlichen Bewertung der Untreue von Mann und Frau zu erblicken sein, daß durch Untreue der Frau dem Manne in der Tat fremde Kinder nicht selten »aufgebürdet« werden, eine Gefahr, der die Frau im Falle der Untreue des Mannes jedenfalls nicht ausgesetzt ist. Auch das ist eine unbestreitbare Tatsache, daß das Mädchen in der Regel es als einen weit größeren Dienst für sein Wohlergehen empfindet, wenn es begehrt und geheiratet wird, als der Mann, der als Wählender auftritt und nicht zu warten braucht. Und es erscheint keineswegs unberechtigt, namentlich aus dem ersteren Umstande, eine größere Verpflichtung zur Treue seitens der Frau gegenüber dem Manne herzuleiten, als umgekehrt.

Müller-Lyer kommt in seinem Buche über »die Phasen der Liebe« zu dem Ergebnis, daß der Mensch von Natur aus nicht monogam, sondern polygam veranlagt sei und die Neigung zur Monogamie im allgemeinen eine Errungenschaft der Kultur darstelle. Nach ihm haben die primitiven Menschen weder die sexuelle Eifersucht, noch die eigentliche (individual auswählende) Liebesleidenschaft gekannt und keinerlei Hochschätzung empfunden für die geschlechtliche Keuschheit, das geschlechtliche Schamgefühl und für die Wirklichkeit der Elternschaft.

Auch die gesamte Geschichte des Geschlechtslebens, so namentlich die Weibergemeinschaft der Unverheirateten, die bei vielen Kulturvölkern vorkommenden Festorgien, sowie die Geschichte der Prostitution legen die Annahme nahe, daß dem Menschen von Natur aus die Monogamie in der Tat fremd ist.

Aber darin besteht ja gerade der Kulturfortschritt, daß wir von niederen Zuständen zu immer höheren Formen aufsteigen, daß unser Seelenleben (besonders auch nach der Seite der individualen Liebeswahl) sich mehr und mehr verfeinert, und daß wir unter zunehmender Bewältigung unserer primitiven Naturtriebe uns den höheren Anforderungen des Gemeinschaftslebens, wie es im wohlgeordneten Staate und seiner Urzelle, der Familie, gegeben ist, immer enger anpassen und einfügen.

Wenn selbst unter höchststehenden Kulturmenschen, wie Goethe und Humboldt, noch immer entgegengesetzte Veranlagungen auf diesem Gebiete zutage treten, so ist hieraus nur die ungeheure Variabilität der Erscheinungen ersichtlich, die uns vor verallgemeinernden Schlüssen bewahren sollte: es beweist aber nichts gegen die Gültigkeit des Satzes, daß die Monogamie im allgemeinen als Errungenschaft und Kriterium einer höheren Kultur zu betrachten sei.

Die echten Romantiker waren als ausgesprochene Gefühlsmenschen allerdings stark geneigt, sich von ihrem natürlichen Instinkt in hohem Grade leiten zu lassen. Und deshalb ist ihnen das Bewußtsein der durch die Monogamie bedingten Gebundenheit fürs Leben meistens sehr unbequem gewesen. Sie haben das freie Spiel der ethischen Individualität proklamiert und waren die Vorläufer und Geistesverwandten derjenigen Kreise, die heute als Verkünder einer neuen – in Wirklichkeit sehr alten – »Sexualethik« auftreten, indem sie die zweifellos vorhandenen Mängel der bestehenden Zustände in das grelle Licht einer scharfen kritischen Betrachtung rücken. Sie stellen der asketischen Tendenz der geltenden Geschlechtsmoral die Lebensbejahung gegenüber und verfechten die sogenannte Heiligkeit des Natürlichen im Gegensatz zur herrschenden Prüderie und konventionellen Verschleierung. Ihre Kritik ist keineswegs unberechtigt, zumal sie von dem ernsten Streben geleitet ist, vorhandene Schäden zu beseitigen. Aber sie beachten nicht in ausreichendem Maße, daß die Sexualsphäre, wie Helene Lange mit Recht hervorhebt, nur einen Teil bildet, dem das Ganze unseres körperlichen und seelischen Lebens mit all seinen sozialen Verantwortungen übergeordnet werden muß.

Es ist sicherlich beklagenswert, daß eine große Anzahl von Menschen und besonders Frauen nicht zur erotischen Befriedigung gelangt. Sie erinnern an die zahllosen Blüten, die verkümmern und verdorren, ohne das Ziel der Befruchtung zu erreichen. Aber es ist ein unerbittliches Gesetz, daß jeder Einzelne einen großen Teil seiner individuellen Glücksansprüche opfern muß, um die Harmonie des Ganzen nicht zu zerstören; und gerade die Harmonie zwischen Sexualsphäre und der Gesamtheit der übrigen Lebenswerte erfordert eine starke Bescheidung und Selbstzucht des Individuums, weil ohne eine solche die in der Familie verankerten Grundlagen des Staates und der Sittlichkeit den schwersten Erschütterungen ausgesetzt sein würden.

Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung die Ausführungen, die Hermann Lotze in seinem »Mikrokosmus« der sogenannten Naturbegründung entgegenstellt, die dazu herhalten muß, um die von Kultur und Sitte eingeführten Normen und Gesetze zugunsten einer größeren »individuellen Freiheit« über den Haufen zu werfen. »Alle Schranken«, heißt es da, »die in dieser Beziehung (Geschwisterehe, Polygamie, freie Liebe usw.) das menschliche Verlangen seinem Geschlecht gezogen hat, sind Erzeugnisse seines allmählich erwachenden sittlichen Geistes; sie werden weder heiliger noch verständnisvoller dadurch, daß man für sie eine Naturbegründung suchte, die es nicht gibt. Denn nichts würde uns an und für sich berechtigen oder verpflichten, Fingerzeigen der Natur zu folgen, nur weil sie solche sind; frevelhaft und nutzlos würde nur das Beginnen sein, gegen die Gebote der Natur zu handeln, auf deren Befolgung alles Gelingen unseres Tuns beruht; aber von dem, was sie erlaubt und möglich läßt, hat der sittliche Geist eine engere Auswahl zu treffen, deren ausschließliche Berechtigung nur in seiner idealen Bestimmung liegt.«

Alle unsere gesellschaftlichen Formen und Institutionen, mögen sie wirtschaftlicher oder rechtlicher, familiärer oder öffentlicher Natur sein, sind mit mehr oder minder erheblichen Mängeln behaftet. Sie stellen jedoch durchweg Produkte einer langen historischen Entwicklung dar, und sind unzweifelhaft deshalb zu dem geworden, was sie heute sind, weil sie bis jetzt die Probe für ihre Brauchbarkeit von allen vorhandenen Möglichkeiten am besten bestanden haben. Die Gesellschaft mit ihren heterogenen Bedürfnissen und Neigungen hat in ihnen offenbar die geradlinigste Diagonale zur Herstellung des Parallelogramms der Kräfte erkannt. Soweit überhaupt eine Harmonie der ungeheuer vielseitigen und verschiedenartigen Interessen der Menschen denkbar erscheint, ist sie in den jeweilig geltenden sozialen Formen für ihre Zeit offensichtlich am besten erreicht, denn sonst würde das Leben aus sich heraus andere Formen hervorgebracht haben. Damit ist keineswegs gesagt, daß alle diese Formen nicht verbesserungsfähig seien und sich nicht immer wieder den in dauernder Umbildung begriffenen sozialen Verhältnissen neu anpassen müßten. Im Gegenteil, darin besteht gerade die fortschreitende Kulturentwicklung, daß alles in ständigem Flusse sich befindet, und daß auf Grund erkannter Mängel die Reformbestrebungen andauernd am Werke sind. Aber der voranstürmende Reformer oder Revolutionär vergißt nur allzu leicht, daß es ein eitles Unterfangen ist, vollkommene Zustände herbeiführen zu wollen. Er erkennt in den seltensten Fällen, daß wir uns darauf beschränken müssen, diejenige Form ausfindig zu machen, die das geringste Übel birgt. Wir müssen deshalb die Werte gegeneinander abwägen, während der Revolutionär in der Regel nur das Fehlerhafte der alten Institutionen und die vermeintlichen Vorzüge seines umstürzlerischen Reformplanes ins Auge faßt. Er ist viel zu verbohrt und fanatisch, um die gebührende Rücksicht zu nehmen auf das Aufbauende und Bewährte, das dem bisherigen Zustande und seinen Einrichtungen neben den von ihm mit Recht beanstandeten Mängeln innewohnte.

Das trifft auch auf diejenigen Umstürzler zu, welche die sogenannte »Zwangsehe« durch die »freie Ehe« zu ersetzen wünschen, oder doch beide als gleichberechtigt hinstellen. Sie übersehen, daß der Regel nach nur in der Dauer der ehelichen Gemeinschaft diejenige Garantie für die Festigkeit und Ersprießlichkeit des häuslichen Lebens, sowie für eine ersprießliche Aufzucht der nachfolgenden Generation gegeben ist, die für eine gedeihliche Entwicklung der menschlichen Kulturgemeinschaft unerläßlich erscheint. In diesem Sinne hat sich auch der Schöpfer der Eugenik, Francis Galton, geäußert: »Das Institut der Ehe … mag weder ideal vollkommen sein, noch mag es in Zukunft allgemein angenommen werden, aber es ist doch das Beste, was bisher erdacht wurde für die hauptsächlich Beteiligten, für die Kinder, für das häusliche Leben und für die Gesellschaft.«

Noch schärfer und bestimmter hat Friedrich Paulsen diesen Standpunkt in seinem System der Ethik formuliert und begründet: »Ein Volk, das sich zu geistig geschichtlichem Leben erhoben hat und bei solchem erhalten will, kann für das Verhältnis der Geschlechter nur die eine Rechtsform, Ehe auf Lebenszeit, anerkennen. Freie Liebesverhältnisse auf Zeit wird es, da sie nicht Grundlage eines dauernden Familienlebens sein werden, nur als abnorme und rechtlose betrachten können. Hieran wird keine Veränderung der Gesellschaft etwas ändern. Aufgeben der Ehe zugunsten vollkommenster Befriedigung der sinnlichen Triebe wäre für ein Volk dem Selbstmord gleichzuachten.«

Damit braucht über das freie Geschlechtsverhältnis so mancher mehr oder minder bedeutenden Frau ebensowenig ohne weiteres der Stab gebrochen zu werden, wie über die aus seelischer Not hervorgegangene oder gar »verschuldete« Scheidung einer Ehe.

Wenn Heloise erklärt, lieber die Geliebte Abälards sein zu wollen als die Ehefrau des Kaisers, so wird für den vorliegenden Fall kein Verständiger etwas dagegen einzuwenden haben. »Das Urteil, ob sittlich oder nicht, hängt davon ab, ob durch solches Verhalten (außerehelicher Verkehr) nicht bloße Lust, sondern ein Wert gewonnen wurde, der natürlich nicht ein objektives Werk zu sein braucht, sondern auch ein volleres und ganzeres Menschentum sein kann. Und zwar muß der Wert sehr groß sein, da er außer dem bestimmten Verhältnis ja auch die allgemeine wertvolle Ordnung verletzt, so daß er nur in seltenen Fällen im Rechte ist«, schreibt in höchst einsichtsvoller Weise der allzufrüh verstorbene (im Kriege gefallene) Philosoph Emil Hammacher in seinen »Hauptfragen der modernen Kultur«. Die sittliche, beziehungsweise verunsittlichende Wirkung des Beispiels, die durch das Verhalten der höheren Gesellschaftskreise auf die Gesamtmoral des Volksganzen ausgeübt wird, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Man kann trotzdem sogar der Prostitution, die ebenso beklagenswert wie unabwendbar ist, mit einer gewissen Toleranz gegenübertreten. Vielleicht sollte man, gerade weil man sie als notwendiges Übel hinnehmen muß, darauf ausgehen, sie nach dem Vorbilde Japans in Formen zu kleiden, die sie immer weniger als verwerfliches Laster und Krankheitssymptom am sozialen Körper erscheinen lassen, so daß sie wenigstens auf die Stufe eines »Wertersatzes« hinaufgehoben würde.

Nur dagegen ist Einspruch zu erheben, daß eine größere sexuelle Freiheit grundsätzlich proklamiert, daß die freie Ehe der legitimen Ehe als prinzipiell gleichwertig zur Seite gestellt wird. Denn das würde die vielfachen Versuchungen zur sexuellen Ungebundenheit in einer Weise beschönigen und begünstigen, daß dadurch die Gefahr chaotischer Zustände auf dem Gebiete des Geschlechts- und Familienlebens heraufgeführt würde.

Dilthey hat diese Gefahr mit klaren, festen Strichen in seiner Kritik über Schleiermachers »Vertraute Briefe« umrissen: »Es heißt, ganz die Macht menschlicher Leidenschaften verkennen, wenn man die Strenge der Sitten und die heilige Unantastbarkeit der Institutionen, den festen Damm gegen sie abbrechen möchte, um den ethischen Individualitäten freies Spiel zu gewähren. Der Raum, den der ideale Ethiker diesen hat schaffen wollen, würde vor seinen Augen bald von den entfesselten Leidenschaften überflutet worden sein, deren reale Macht unvergleichlich größer ist, als die individuellen geistigen Unterschiede.«

Diese Wahrheit aber war Friedrich Schlegel entgangen, da er für die Frau das Recht proklamierte, zu leben und zu lieben bis zur Vernichtung, und die Ehe angesehen wissen wollte als eine freie Vereinigung ohne Zwang, in der Mann und Weib ihre Leidenschaft, ihre sinnlichen und geistigen Kräfte frei und rückhaltlos entfalten sollten, weil erst hierdurch das Ideal des in »Bildung und Enthusiasmus selbständigen Menschen« (wie Dilthey Schlegels Anschauungen zusammenfaßt) realisiert werden kann. Würde diese Forderung erfüllt werden, so würden neben der staatlichen und bürgerlichen Gemeinschaft unzweifelhaft die Frauen die Leidtragenden sein; denn ihre sogenannte Freiheit würde sie in der großen Mehrzahl der Fälle von der Gnade und Willkür des Mannes vollständig abhängig machen. Sie würden meistens in eine schwere wirtschaftliche Notlage und damit nur allzuhäufig zur Prostitution getrieben werden.

Tiecks Lovell ahnt zwar die »Ruinen« voraus, in welche die Gebäude der Gesellschaft sich verwandeln könnten, wenn die höchsten Möglichkeiten, das eigene Wesen zu genießen, verwirklicht werden; die Höhepunkte nämlich, die im »Rausch« und in der »Hingerissenheit« liegen. Aber »mag's hinter mir stürmen und vor mir wanken, was sind mir die Ruinen, die mich in meinem Lauf aufhalten wollen«, verkündet er als die individualistische Moral des Genies gegenüber der »hemmenden und platten Mittelmäßigkeit des unbegeisterten und darum lebensfeindlichen Philisters«.

Der hier proklamierte schrankenlose Subjektivismus setzt sich bewußt über jegliche Ethik hinweg. Er ist damit immerhin konsequenter, wie gewisse extreme Vertreter der »neuen Ethik«, welche übersehen, daß »jede ethische Norm auf einem Ausgleich zwischen den Interessen des Individuums und den Interessen der Gemeinschaft beruht«, wie W. Rein in seinem Grundriß der Ethik zutreffend hervorhebt.

Der Engländer William Godwin, der ein Zeitgenosse Rousseaus und Schleiermachers war und als »Ahne der anarchistischen Theorie« bezeichnet wird, ist nicht nur mit Leidenschaft für das vermeintliche Recht der Frau auf freie Hingabe eingetreten, sondern war ursprünglich auch ein abgesagter Feind jeder ehelichen Bindung. Um so bemerkenswerter ist seine theoretische und praktische Wandlung auf diesem Gebiete. Nachdem er mit Mary Wollstonecraft, der britischen Altmeisterin der Frauenbewegung, die Godwins Standpunkt vollkommen teilte, sieben Monate lang ein heimliches Liebesverhältnis unterhalten hatte, schlossen sie, da Mary sich hoffend fand, die Ehe.

In seinen »Erinnerungen« bemerkt er über diesen Punkt: »Ideen, die ich heute Vorurteile nennen möchte, ließen mich zögern, als Privatmensch einer Form zu genügen, die ich nebst den daran geknüpften gesetzlichen Bedingungen als Bürger beseitigt wünsche. Eingehende Prüfung hat mich jedoch seither belehrt, die Eheschließung unter die Fälle zu rechnen, wo eine gewissenhafte Moral sich Einrichtungen fügen muß, zu deren Einführung wir unsere Zustimmung nie gegeben hätten.«

Die Einsicht der Menschen ist mit anderen Worten nicht vorausschauend genug, um die zu treffenden Einrichtungen ohne Rücksicht auf die Entwicklung der Verhältnisse festsetzen zu können. Unsere Ideen müssen vielmehr den Notwendigkeiten dieser Entwicklung angepaßt werden. Die erforderliche Sachkenntnis aber erlangen wir erst durch vollen Einblick auf Grund eigener praktischer Erfahrung.

Mit Schlegel und Tieck, denen jedes Verantwortungsgefühl fremd ist gegenüber dem Martyrium der unehelichen Mutter und des unehelichen Kindes, sowie gegenüber dem Bestande und den Interessen der Gesellschaft, ist in diesem Punkte ernsthaft nicht zu streiten. Es ist kaum anzunehmen, daß Tieck, ebenso wie seine romantischen Freunde, sich jemals ernstlich mit sozialer Fürsorge, geschweige denn mit Statistik oder Kriminalistik beschäftigt haben. Die aus solcher Beschäftigung sich ergebenden Gedankenkreise sind so himmelweit verschieden von der Einstellung der Romantiker, denen die sozialen Probleme völlig gleichgültig waren, daß es beinahe grotesk wirkt, die beiderseitigen Standpunkte miteinander in Parallele zu bringen. Dennoch kann man nicht völlig daran vorbeigehen, wenn man ernsthaft bemüht ist, das Problem der Liebe und Ehe von den verschiedensten Seiten zu beleuchten.

Man muß die furchtbare Notlage der unehelichen Mutter ins Auge fassen, der weder Angehörige noch hilfreiche Freunde zur Seite stehen. Wohnung und Arbeit werden ihr meistens entzogen. Wartung und Pflege kann und will niemand für sie übernehmen. Ihr Verdienst fällt fort gerade in der Zeit, da sie nicht nur für sich, sondern auch für ihr Kind zu sorgen anfangen muß. Nicht selten steht sie schon am dritten Tage nach der Geburt am Herde und am achten Tage am Waschtrog. Ein vorzeitiges Schwinden von Kraft und Gesundheit, ein frühes Verblühen und Welken ist die unausbleibliche Folge. Aber selbst, wenn sie über die ersten schweren Wochen vor und nach der Entbindung einigermaßen hinwegkommt, beginnt nun erst die Sorge für Unterhalt und Pflege des Kindes. Häusliche Erwerbsarbeit wird meistens nicht genügend entlohnt, um beide zu erhalten. Und außerhäusliche Beschäftigung zwingt dazu, das Kind in fremde, lieblose Pflege zu geben, wo es nur allzuoft dahinsiecht. Wächst es indessen heran, so hat es fast immer unter dem Mangel einer ausreichenden Erziehung und eines geordneten Familienlebens zu leiden. Deshalb ist das Vorurteil der Gesellschaft, mit dem es oft zeit seines Lebens zu kämpfen hat, nicht unberechtigt, trotzdem es einen Schuldlosen trifft. Denn die Gesellschaft fällt ihr Urteil nicht nach Schuld oder Unschuld, sondern nach Wert oder Unwert. Der größere Prozentsatz aller Verbrecher setzt sich aus unehelich Geborenen zusammen, deren Zahl in Deutschland sich jährlich auf 180 000 beläuft.

Alle diese Dinge, die hier nur flüchtig angedeutet werden können, muß man ins Auge fassen, um die romantische Anschauungsweise zu den ehernen Tatsachen des wirklichen Lebens in das richtige Verhältnis zu bringen.

Trotzdem mag man sich seine Freude bewahren an den Dithyramben, die das Glück der freien, rückhaltlosen Liebe und des seligen Augenblicks verherrlichen. Nietzsche ist sachlich einfach nicht zu widerlegen, wenn er den Hymnus prägt: »Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst, noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eine Saite vor Glück erzittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies Eine Geschehen zu bedingen, und alle Ewigkeiten waren in diesem einzigen Augenblick des Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bezahlt.«

Wer einen solchen Standpunkt in die Praxis des Lebens überträgt, darf sich über die Konsequenzen weder täuschen, noch beklagen. Mit dem Ethiker und Soziologen wird er sich niemals verstehen, weil beide Teile getrennte Welten bewohnen. Als typischer Vertreter jenes extremen Individualismus ist vielleicht Clemens Brentano in seiner Frühperiode anzusehen. Zwischen ihm und Humboldt liegen zahlreiche Zwischenstufen in gradweiser allmählicher Abfolge. Humboldt ist der geborene Ehemann im idealen, nicht etwa philiströsen Sinne des Wortes. Die typischen Romantiker dagegen werden von nie gestillter Sehnsucht bewegt und getrieben und sind eben deshalb natürliche Gegner jeder monogamischen Bindung.

Aber vielleicht gerade weil Brentano in der ersten Hälfte seines Lebens die »individualistische Moral des Genies« allzu eifrig in Anwendung gebracht hat, ist bei ihm der Rückschlag nachher um so heftiger in Erscheinung getreten.

Mit achtunddreißig Jahren wurde unter dem Einfluß seiner Liebe zu Luise Hensel aus dem Sinnes- und Genußmenschen ein religiöser Fanatiker und Sitteneiferer. Seine katholische Religion verhinderte freilich die eheliche Verbindung mit Luise.

Eine eigenartige Erscheinung ist es, daß ein Mann, der schon viel geliebt, und es daher mit der Treue niemals sehr genau genommen hat, eine starke Anziehung auf Frauen auszuüben pflegt. Frauen müßten doch eigentlich befürchten, daß auch sie ein Opfer der von ihm schon so oft bewiesenen Untreue werden würden, und sich daher ängstlich von ihm fernhalten. Statt dessen fliegen ihre Herzen ihm zu. Vielleicht schätzen sie seine Erfahrung in den Künsten der Liebe und versprechen sich hiervon eine Steigerung des erhofften Liebesgenusses. Oder es ist gerade der Reiz der Gefahr, der sie anlockt, wie der Schneegipfel den Bergsteiger. Vielleicht ist es auch der Triumph, den sie über die Erinnerung an die Vorgängerinnen zu erzielen gedenken; oder es ist die Schwierigkeit der Aufgabe, ein schon halb zu Asche gebranntes Herz erneut in Flammen zu setzen.

Jedenfalls spricht auch diejenige Tatsache erheblich mit, daß ein Mann mit einer gewissen Dosis Lasterhaftigkeit den meisten Frauen reizvoller und darum liebenswerter erscheint, als ein ausgeprägter Tugendbold. Das Laster ist meistens individueller und interessanter wie die Tugend. Und die Erotik ist zweifellos vorwiegend auf das Individuelle gerichtet. Es ist das Ungewöhnliche, aus dem tiefsten seelischen Schacht Emporquellende, das sie im besonderen Maße anregt und begünstigt. Dazu kommt, daß der Sexualität in ihrer höchsten Steigerung von alters her ein gewisser Charakter des Sündigen anhaftet, und daß der Urinstinkt vielfach ganz im geheimen dieser höchsten Steigerung zustrebt. Daraus ergibt sich in vielen Fällen eine innere Verwandtschaft, eine gewisse Kongenialität zwischen Erotik und einer der Lasterhaftigkeit zugeneigten Veranlagung. Diese ist jedoch nicht mit Gemeinheit zu verwechseln, sondern besitzt eher den Anschein einer starken, gegen das Hergebrachte und Vorgeschriebene sich auflehnenden Individualität, die Frauen meistens zu imponieren pflegt.


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