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Fünftes Kapitel.
Vom Sabbat des Herzens

Eleonore Grunow – Pflicht zur Ehescheidung – Das Recht der Individualität – Höchste Kraftentfaltung – Goethes Liebesleben – Das Recht auf Liebe – Gefahren des Herzenssabbats – Eifersucht – Diotima – Reines Herzens zu sein – Individuum und Gemeinschaft – Rettung der höheren Kräfte – Selbstbezichtigung – Sinneswandlung – Verzweiflung – Trost im Unglück – Liebe als Lebenszweck.

 

Schleiermachers Kindheit ist, trotzdem er sich über den Mangel an Liebe beklagt, zwar in sehr bescheidenen Verhältnissen, aber doch in einem geordneten Familienleben unter den Augen einer klugen und tief religiösen Mutter – sein Vater war als Feldprediger meistens abwesend – verlaufen. Es ist indessen nichts Ungewöhnliches, daß sich die Tiefe des Gemüts erst in späteren Jahren offenbart und oftmals gerade unter dem Eindruck schwerer Erschütterungen erst zu vollem Reichtum erschließt. Auch Schleiermacher ist eine überaus schwere und tiefe Enttäuschung nicht erspart geblieben, und bei psychologischer Wertung der tiefsten Äußerungen seines Gefühlslebens, die uns aus seiner Brautzeit überliefert sind, ist der Umstand zu berücksichtigen, daß jene Gemütserschütterung nur anderthalb Jahre zurücklag. Sie wurde hervorgerufen durch die endgültige Absage der von ihm innig geliebten Eleonore Grunow, der unglücklich verheirateten Frau eines sittlich und geistig unter ihr stehenden Mannes. Das Mitleid mit ihrem Los hatte Schleiermacher zu vertrauter und inniger Freundschaft mit dieser edlen und geistvollen, aber durch keine äußeren Reize ausgezeichneten Frau geführt. Die Freundschaft wandelte sich in Liebe, und in Schleiermacher erwachte schließlich der heiße Wunsch, Eleonore zu seiner Frau zu machen. Nach seiner damaligen Überzeugung war die Auflösung einer Ehe, in der die Entfaltung des persönlichen, göttlich bestimmten Wesens durch die moralische Minderwertigkeit des Gatten aufs schwerste gefährdet war, sittliche Pflicht. »Merke auf den Sabbat deines Herzens, daß du ihn feierst, und wenn sie dich halten, so mache dich frei oder gehe zugrunde«, lautet das vierte Gebot seines »Katechismus der Vernunft für edle Frauen«. Das kann sich ebensowohl auf Frauen beziehen, die dem Zuge ihres Herzens infolge elterlichen Einspruchs nicht folgen dürfen, wie auf solche, die bereits gebunden sind, aber einem anderen Manne anzugehören wünschen.

Zu solchem Sabbat des Herzens bekennt sich unter anderen Sieglinde in Richard Wagners Walküre. Sie will vor Scham vergehen, nicht weil sie die Ehe gebrochen hat, sondern weil ihr jetzt, nachdem sie die wahre Liebe kennengelernt hat, der Ehebund mit dem ungeliebten Gatten schmachvoll und schimpflich erscheint.

Aus Schleiermachers viertem Gebot spricht deutlich seine grundsätzliche Anschauung über die Bedeutung der Individualität, für deren sittliches Recht er stets aufs lebhafteste eingetreten ist. Die Entfaltung der persönlichen Eigenart des Menschen erachtet er als eine sittliche Aufgabe, denn das Ziel der Entwicklung ist ihm ein reichlicher Kosmos individuellen Lebens. Dem entspricht auch das fünfte Gebot des erwähnten Katechismus, welches lautet: »Ehre die Eigentümlichkeit und Willkür deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlergehe und sie kräftig leben auf Erden.« Schleiermacher bringt in diesem Gebote zum Ausdruck, daß er das Heil weniger in einem glücklichen als in einem kräftigen Leben erblickt. Damit will er unzweifelhaft sagen, daß in der höchsten Kraftentfaltung – Kraft im edelsten, umfassendsten Sinne verstanden – das beste und sicherste Mittel zur Annäherung an das höchste Ziel zu erblicken sei.

Das war auch offenbar Goethes oberster Leitgedanke bei allen seinen Liebeserlebnissen, so sehr er auch vorübergehend von der Leidenschaft seines Herzens verdunkelt zu werden schien. Was uns bei Goethe unter bürgerlichem Gesichtswinkel schlecht und grausam, ja, unverantwortlich erscheint, wie sein Verhalten zu Friederike Brion, ist allein aus dieser obersten Zielrichtung heraus zu erklären. Wohl bekannte er später in heftiger Reue: »… ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet … Ich fühle nun erst den Verlust, den sie erlitt, und fand keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur, ihn zu lindern.« Aber er war sich seiner hohen Menschlichkeitsmission, seiner Pflicht als Genie in einem solchen Maße bewußt, daß er ihr das Glück der von ihm geliebten Frauen und Mädchen mit voller Absichtlichkeit unterordnete.

An Salzmann schrieb er im Sommer 1771: »Meine Seele dreht sich wie ein Wetterhahn und ich bin um kein Haar glücklicher, nachdem ich erlangt, was ich gewünscht.«

Das ging so weit, daß er gerade dann an sich und seiner Liebe irre zu werden pflegte, wenn er sich in der Aufwallung seines Herzens durch ein Geständnis und Treuegelöbnis gebunden fühlte. Er erschrak vor der Verpflichtung, die er sich auferlegt hatte. In Wahrheit und Dichtung schildert er uns, wie sein leidenschaftliches Verhältnis zu Friederike, die er mit ganzer Seele liebte, ihn zu beängstigen begann. Es gelang ihm nicht, in seinen leidenschaftlichen Gedichten die Stimme des nüchternen Verstandes zu übertönen, die ihm zuflüsterte, er habe an seinem Genie und seiner Zukunft schwer gesündigt, da er sich so früh gebunden habe.

Die Liebe war ihm bei aller Leidenschaftlichkeit und Gemütstiefe eben doch nur etwas Sekundäres im Vergleich zu seinem Schaffensdrang, zur Auswirkung seiner künstlerischen Kraftnatur. Bekennt er doch von sich selbst: »Wie ich noch nie in einer Liebe volles Genüge gefunden, so werde ich es auch schwerlich jemals finden.« Er war in erster Linie schöpferischer Künstler, so daß seine Erotik seinem Künstlertum untergeordnet war. Das Sinnen und Trachten des wahren Erotikers ist ausschließlich auf ein einziges Wesen gerichtet, während die Seele des schaffenden Künstlers auf viele Geschöpfe ausstrahlt, die er in seinen Werken gestaltet. Das überträgt sich leicht auf sein Liebesleben, wie wir es bei Goethe gewahren. Ihm ist, im Gegensatz zum Verliebten, die Welt immer unendlich viel mehr gewesen als ein einzelne Individualität.

Überdies pflegt der männliche Geist vom weiblichen sich dadurch grundlegend zu unterscheiden, daß in der Frauenseele die Liebe fast immer den weitaus obersten Rang einnimmt, während im liebenden Manne, selbst wenn er nicht Künstler ist, andersartige Regungen und Interessen meistens den Vorrang beanspruchen. Die höchste Frauenkraft wird deshalb in der Regel auch nur dort sich entfalten, wo der »Sabbat des Herzens« gefeiert wird, wo das Weib alle hemmenden, unwürdigen Fesseln abstreift. Erst hier vermag ihre Eigenart zur höchsten Stufe sich zu entwickeln und damit die Möglichkeit zur fruchtbringendsten Verwertung ihrer Kräfte zu schaffen. Deshalb fordern die Vorkämpferinnen der »Neuen Ethik« für die Frau »das Recht auf Freiheit und das Recht auf Liebe«.

So berechtigt diese ideale Forderung in der Theorie erscheint, so große Gefahren birgt sie in der Praxis für den Bestand der Familien und damit für Staat und Kultur. Denn die Vorbehalte und Einschränkungen, die die Vertreter der neuen Lehre ihr mit auf den Weg geben, werden erfahrungsgemäß fast immer unbeachtet gelassen. Jede Frau, die ihres Mannes überdrüssig ist, sich unverstanden glaubt, oder aus sonstigen Gründen einem anderen Manne zustrebt, wird aus dieser Theorie das Recht für sich herleiten, die alten Bande zu zerreißen und neue zu knüpfen. Jedes Mädchen, das sich von den Schmeicheleien eines unwürdigen Bewerbers hat einfangen lassen, wird sich für berechtigt halten, die von Welt- und Menschenkenntnis eingegebenen Ratschläge erfahrener Eltern in den Wind zu schlagen, um den »Sabbat seines Herzens« zu feiern und sich frei zu machen; ganz zu schweigen von denjenigen Fällen, in denen ein Mädchen in überschäumender Leidenschaft sich an einen unwürdigen Mann wegwirft.

Man denke nur, um einen typischen Fall aus der Zeit der Romantik herauszugreifen, an Rahel Varnhagens Liebesepisode mit dem spanischen Legationssekretär Don Raffael D'Urquijo. Nach ihren eigenen Worten hatte »die Natur einen Zauber in diesen Mann gelegt, wogegen das hellste Bewußtsein des Denkens nicht schnell genug arbeiten konnte. Der Eindruck war stärker. Dies ist Liebe.« So hat sie, von heftiger Leidenschaft entflammt, sich dem Spanier mit der ihr eigenen Glut der Sinne hingegeben. Seine von südlichem Temperament geschürte Gegenliebe war mit einer fanatischen Eifersucht gepaart. Er hegte das größte Mißtrauen gegen sie und beschuldigte sie ohne jeden Grund in den heftigsten Ausdrücken der gemeinsten Treulosigkeit. In ihrer grenzenlosen Liebe nahm sie es voller Ergebung hin und verdoppelte nur ihre Zärtlichkeit. Als er es aber schließlich gar zu toll trieb, besann sie sich endlich auf ihre weibliche Würde und verließ ihn mit dem Entschluß: Ich wähle die Verzweiflung, die ich nicht kenne. Da sie für den beständigen Zweifel an ihrer Treue keine Erklärung fand, faßte sie sich nach Jahren endlich ein Herz und befragte ihn. Erregt antwortete er ihr, daß er sie niemals einer Schlechtigkeit für fähig gehalten habe. Auf ihre empörte Frage, warum er sie und sich selber denn so furchtbar gequält habe, stammelte er verlegen: In Verbindungen der Art habe man nun einmal stets solchen Argwohn. Sie empfand das als schwerste Kränkung, zumal sie geglaubt hatte, gerade in diesem Manne das »Bild für ihre Sinne« gefunden zu haben.

Das Drastische und Groteske des Vorgangs tritt um so schärfer zutage, als derselbe Spanier später eine ehemalige Geliebte heiratete, die einen lockeren Lebenswandel geführt hatte und in der Ehe fortsetzte, ohne daß er jemals an ihrer Treue zweifelte.

Das Phänomen der sexuellen Eifersucht sei bei dieser Gelegenheit einer kurzen Erörterung unterzogen. Nur die Ausschließlichkeit des Besitzes, beziehungsweise der Liebe des anderen vermag jene völlige Vereinigung herbeizuführen, die der Liebe erst ihren wahren Wert und Zauber verleiht. Schon der Verdacht aber genügt, um diese völlige Vereinigung zu verhindern, weil sie in erster Linie auf der Vorstellung des Liebenden beruht. Spinoza meint, daß die Eifersucht hauptsächlich durch das Ekelgefühl hervorgerufen werde, das mit der Vorstellung verbunden ist, daß der geliebte Mensch durch die Liebe eines anderen physisch beschmutzt wird. Ein wesentliches Moment bildet zweifellos auch die verletzte Eitelkeit, deren Kränkung darin besteht, daß ein anderer vorgezogen oder doch gleich hoch gewertet wird. Es ist der Drang nach vorzugsweiser Anerkennung und Bewunderung, der hier die schwerste Hemmung erfährt. Dazu kommt der Wille zur Macht und zum uneingeschränkten Besitz, der sich plötzlich aufs stärkste beeinträchtigt sieht. So wenig ein Eigentumsrecht auf einen Menschen an und für sich nach unseren heutigen Anschauungen zulässig erscheint, so sehr wird es tatsächlich in der Praxis des ehelichen Lebens gefühlsmäßig immer noch vielfach geltend gemacht. Der Frau gegenüber spielt daneben zuweilen die Befürchtung eine Rolle, das Kind eines anderen Mannes als das eigene untergeschoben zu erhalten. Wenn auch diese Umstände nicht in allen Fällen dem Eifersüchtigen zu klarem Bewußtsein kommen mögen, so sind sie doch in ihrer Gesamtheit schwerwiegend genug, um die furchtbare Qual, die mit dem Gefühl der Eifersucht verbunden zu sein pflegt, und die hieraus entspringenden ekstatischen Leidenschaftsausbrüche begreiflich zu machen.

Gerade das Phänomen der Eifersucht beweist, daß der Schwerpunkt des Liebesglückes nicht so sehr in der eigenen Liebe zu suchen ist, wie in dem Bewußtsein der ausschließlichen Liebe des anderen.

Daß Schleiermacher mit seiner Sabbatfeier des Herzens die oben besprochenen Verhaltungsweisen weder gemeint noch gewollt hat, ist sicher. Daß es häufig so ausgelegt und dementsprechend gehandelt wird, dürfte mit derselben Gewißheit feststehen.

Diese Dinge lassen sich schwerlich unter eine allgemeingültige Formulierung bringen, und die furchtbare Gefahr, die stets mit der Aufstellung derartiger Regeln und Forderungen verbunden ist, liegt, wie gesagt, in deren massenhaften Mißdeutung und falschen Anwendung durch Unberufene.

Fassen wir Hölderlins Schicksal und dichterisches Schaffen unter diesem Gesichtswinkel ins Auge. Möglicherweise wäre er, wie neuere Forscher annehmen, vor der unheilbaren Gemütszerrüttung bewahrt geblieben und hätte vielleicht die Welt in seinem langen Leben noch mit vielen unvergänglichen Schöpfungen bereichert, wenn seine angebetete »Diotima« (Susette Gontard) den Entschluß gefaßt hätte, sich von ihrem ungeliebten Gatten loszureißen. Hier hätte man vielleicht ein begründetes individuelles Frauenrecht auf Freiheit und Liebe konstruieren können. Susette fand die erforderliche Kraft zu diesem Entschluß jedoch nicht. In Erfüllung des normgebenden Sittengesetzes stellt sie die Pflicht der Gattin und Mutter höher und verfiel drei Jahre nach der Trennung von Hölderlin nach kurzem Krankenlager einem frühzeitigen Tode – zur selben Zeit, da diesen der Irrsinn packte.

Wäre sie auf Grund der beiderseitigen Liebe nun in Wirklichkeit berechtigt gewesen, Mann und Kinder zu verlassen? Darf das Prinzip der ehelichen und mütterlichen Treue um solcher Ausnahmefälle willen durchbrochen und geopfert werden? Oder gebietet nicht ausnahmslos die moralische Idee dem Individuum, sich dem Prinzip um der Allgemeinheit willen unterzuordnen und zu opfern? Wie müßte ein derartiger Fall beschaffen sein, um eine solche Durchbrechung zu rechtfertigen? Wer maßt sich an, hierauf die »richtige« Antwort zu erteilen? Hölderlin selbst hat seinen in einem Briefe an Frau Gontard ausgestoßenen Klageschrei eingeschränkt durch die auf der Rückseite des Briefbogens befindlichen Verse: »Reines Herzens zu sein – Das ist das Höchste, Was Weise ersannen, Weisere taten.«

Zu dem gleichen Ergebnis gelangte der unglückliche, liebeirrende Lenau. In einer lichten Stunde, schon nach dem Ausbruch seines Irrsinns, bekannte er von sich selbst, daß er das Sittengesetz nicht heilig gehalten habe, weil das Talent ihm viel höher stand. Da aber das Sittengesetz das Höchste sei, leide er nur gerecht.

Niemand vermag überdies zu sagen, ob nicht gerade der unerfüllten Sehnsucht, der seelischen Qual die hohe Schönheit und Reife so vieler dichterischer Schöpfungen zu verdanken ist: ob unsere unglücklichen Dichter Gleichwertiges hätten schaffen können, wenn ihr Sehnen in Erfüllung gegangen wäre, wenn die Verbindung mit der geliebten Frau sich ohne größere Widerstände vollzogen hätte. Vielleicht ward, wenn man eine zweckbewußte Ordnung der Dinge annehmen will, der Schmerz nicht nur zur Läuterung und inneren Stählung, sondern auch um der unvergänglichen Kunst willen den Menschen mit auf den Weg gegeben.

Zu einer ähnlichen Überzeugung war auch Lenau angesichts seiner hoffnungslosen Liebe zu Sofie Löwenthal gekommen. Gerade durch das Unglück dieser seiner Liebe lernte er deren Ewigkeitswert erkennen. Die Liebe sei dem Menschen ja nicht bloß zum Fortpflanzen der Gattung in die Herzen gegeben, sondern auch, und gewiß hauptsächlich, fürs ewige Leben der Individuen … »Küssest du mich nicht für die Ewigkeit, so gilt mir dein Kuß nicht mehr als der Knall einer Peitsche.«

Wie schwierig es ist, unter strenger Abwägung aller in Frage kommenden Werte die »richtige« Entscheidung zu treffen, hat Schleiermacher in seiner späteren Periode selbst erkannt und die Folgerungen daraus gezogen. Die vorwärts stürmende Jugend ist immer geneigt, für die Rechte des Individuums einzutreten, während nur die gereifte Erfahrung die Zusammenhänge überschaut und damit erst die höheren Rechte der auf den Zwang der Sitte gegründeten Gemeinschaft erkennt und wahrnimmt. So ging auch Schleiermacher mit zunehmenden Jahren mehr und mehr zur Auffassung des strengeren Kirchentums über und hat demgemäß die Heiligkeit des Sakraments der Ehe den individualistischen Theorien aus seiner romantischen Zeit übergeordnet. Damit erklärt sich auch der klaffende Widerspruch zwischen seinem Verhalten gegenüber Eleonore Grunow und dem Inhalt seiner Zweiten Predigt, die einer viel späteren Epoche angehört.

An seine Schwester Charlotte berichtet er (1. 7. 1801), daß er nach einem tieferen Einblick in das Verhältnis Eleonores zu ihrem Gatten »bei einer Gelegenheit, wo sich Grunow sehr unanständig gegen sie betragen hatte, ihr den Rat gab, und zwar mit sehr viel Wärme, sich ja, je eher, je lieber, von ihm zu trennen, nicht länger für nichts und wieder nichts ihr ganzes Gemüt aufzuopfern und ihre schönsten Kräfte ungenutzt zu lassen«. Das erinnert wiederum lebhaft an eine Briefstelle Hölderlins an seine »Diotima«: »Es ist himmelschreiend, wenn wir denken müssen, daß wir beide mit unseren besten Kräften vielleicht vergehen müssen, weil wir uns fehlen.«

Die Grunowsche Ehe war kinderlos und gegen Schleiermachers Stellungnahme wäre vielleicht nichts Ernstliches einzuwenden, wenn er nicht in demselben Gespräch auf Eleonorens Bedenken und Fragen erwidert hätte: »Sie könnten meine Frau werden, und wir würden sehr glücklich sein.« Damit erhält die Angelegenheit eine nicht ganz einwandfreie Färbung, die nur wenig dadurch abgeschwächt wird, daß Schleiermacher selbst diese Äußerung sofort als eine entsetzliche Übereilung bezeichnet »die uns beide in die peinlichste Lage setzen kann«. In seiner »Zweiten Predigt über die Ehe« führt er aus: »Und sage niemand, es gebe Fälle, wo es nicht die Lieblosigkeit, sondern die Liebe sei, welche den Wunsch, eine unheilbar gewordene Ehe aufzulösen, herbeiführt; denn das sind unverzeihliche Täuschungen oder heuchlerische Vorwände. Soll es die Liebe sein zu dem anderen Teil, der etwa glücklicher werden könnte in einer anderen Verbindung? Liegt in dem anderen der Grund des Übels, würde ich fragen, wer könnte ihn besser pflegen und heilen als du, wenn nur statt dieser falschen, auf unsere Glückseligkeit gerichteten Liebe die höhere christliche, auf seine Heilung gerichtete in dir wäre. Und fehlt dir diese, so fehlt sie dir nur aus Herzenshärtigkeit.«

Gerade der hier erörterte Fall trifft genau auf das Verhältnis zwischen Eleonore und Schleiermacher zu, und keine Beschönigung kann die Tatsache hinwegräumen, daß die in seiner Zweiten Predigt ausgesprochene Bekämpfung jeglicher Ehescheidung sich im Gegensatz zu seiner eigenen Handlungsweise während seiner »romantischen Periode« befindet. Daran ändert auch die kleine Konzession nichts, die in Schleiermachers »Christlicher Sittenlehre« (aus dem literarischen Nachlaß herausgegeben von L. Jonas) enthalten ist. Hier gibt er zu, daß man keinen Erfolg erwarten kann von dem Fortbestehen aller Ehen, »die von Anfang an nichts anderes waren als Scheinehen, und deren Auflösung beide Teile fortwährend wünschen.«

Sein damaliges Verhalten gegen Eleonore ging allerdings aus edelsten Motiven hervor. Er gedachte eine hochwertige, in unwürdige Fesseln geschlagene Frau zur Freiheit der Selbstbestimmung und zur Entfaltung ihrer besten Kräfte zu erretten; er wollte sie zu einem menschenwürdigen Dasein emporführen und betrachtete sich selbst als ihren berufenen Erlöser.

Gelegentlich (29. 10. 1808) äußert er, daß in ihm »alles Verderben steckt ohne Ausnahme«. Es ist das vielleicht eine Anwandlung der Selbstbezichtigung im Hinblick auf sein damaliges Verhalten gegenüber Eleonore. Immerhin ist mehr als fraglich, ob er die erwähnte Predigt auch hätte halten können, wenn er Eleonore seinem heißen Wunsche und Drängen gemäß geheiratet haben würde. Der Fall Schleiermachers liegt um so eigenartiger, als er zwar selbst damals bemüht war, die in der fraglichen Lage befindliche Frau zu einem seiner späteren Lehre entgegengesetzten Verhalten, nämlich zur Auflösung ihrer Ehe zu bestimmen, während diese zu Schleiermachers größter Verzweiflung sich endgültig dahin entschied, der viel später von ihm aufgestellten prinzipiellen Forderung zu entsprechen und bei ihrem minderwertigen Gatten zu verbleiben.

Als er nach vierzehn Jahren (1819) mit Eleonore auf einer Gesellschaft zusammentraf, reichte er ihr herzlich die Hand mit den Worten: »Gott hat es doch sehr gut mit uns gemeint.«

Aus der Sinneswandlung an sich ist Schleiermacher selbstverständlich keinerlei Vorwurf zu machen. Sie findet ihre Erklärung nicht nur in der mit zunehmendem Alter fortschreitenden Entwicklung und Reife, sondern ebenso sehr in der Tatsache, daß auf den anfänglichen Freiheitsrausch der französischen Revolution, von dem auch der junge Schleiermacher nicht unbeeinflußt geblieben war, eine natürliche Reaktion folgte, die aus dem Bedürfnis nach Konservierung und Wiederherstellung altbewährter Traditionen in Glauben und Sitte hervorging und in fast allen hervorragenden Geistern der damaligen Zeit einen starken Gesinnungswandel erzeugte.

Die von Schleiermacher befürchtete, für beide höchst peinliche Lage ist tatsächlich eingetreten. Es folgte eine mehr als vier Jahre lange Zeit, die für beide Teile von heftigsten Schmerzen und Kämpfen erfüllt war, und die schließlich, wie schon erwähnt, nach mehrfachem heftigen Hin- und Herschwanken mit Eleonorens Absage und ihrem endgültigen Verbleiben bei ihrem Gatten endete.

Welche letzten Motive für sie hierbei bestimmend waren, ist mit Sicherheit nicht festzustellen. Vielleicht war es jene perspektivische Rückwirkung der Gegenwart in die Vergangenheit, die gerade für das Seelenleben der Frauen so oft von entscheidender Bedeutung ist, ganz besonders dort, wo es sich um die Hingabe an einen ihrer unwürdigen Mann handelt. Diese Hingabe besitzt für die Frau den Charakter des Unwiderruflichen, und sie hat bei besonders feinfühliger Veranlagung rückschauend das instinktive Streben, über die etwaige Minderwertigkeit des Gatten sich hinwegzutäuschen, um nicht in ihren eigenen Augen ihre einstige Hingabe als Prostituierung erscheinen zu lassen.

Der Bruch Eleonores, der Schleiermacher gänzlich unerwartet traf, warf ihn eine Zeitlang völlig aus seiner Bahn und erfüllte ihn mit einer derartigen Verzweiflung, daß er sein Leben für verloren und zwecklos hielt. »Ich weiß nicht, ob sich irgend jemand meinen Zustand denken kann; es ist das tiefste, ungeheuerste Unglück – der Schmerz wird mich nicht verlassen, die Einheit meines Lebens ist zerrissen; was sich aus den Trümmern machen läßt, will ich daraus machen«, schrieb er (18. 10. 1805) an Willichs. Der Schlußsatz läßt immerhin das Aufkeimen eines neuen Lebensmutes als möglich erscheinen. Das tritt noch etwas stärker hervor in einer vier Wochen später (16. 11. 1805) erfolgenden Äußerung an seinen Freund Gaß: »Wie hoffnungslos mein Leben ist und wie zerstört mein ganzes Inneres, davon können Sie sich kaum eine Vorstellung machen. Nur die Arbeit, die Liebe zu meinem Beruf, die Freude an meinen Freunden kann mich aufrecht erhalten, – und daß ich meine Schwester bei mir habe, ist ein Glück, das ich gar nicht genug zu schätzen weiß.«

Arbeit und Freundschaft sind es, woran er sich immer wieder aufrichtet, bei allem Schweren, das ihn trifft. Das wird ihm erleichtert durch das Bewußtsein von seinem inneren Wert, das gelegentlich in seinen Äußerungen, wenn auch ohne jede Überheblichkeit, erkennbar wird. So schreibt er (26. 11. 1805) an E. v. Willich: »Ja, lieber Bruder, ich fühle es recht tief, wie ich selbst eigentlich nichts mehr bin: aber ich bin das Organ so manches Schönen und Heiligen, der Brennpunkt, aus dem alle Freuden und Leiden meiner geliebten Freunde zurückstrahlen, und das achte ich in mir, und deshalb lebe ich.«

Das klingt bei aller Verzweiflung immerhin um einen Grad hoffnungsvoller, als sein zweieinhalb Jahre zurückliegender Brief an seinen Freund Reimer (20. 4. 1803) gelegentlich des erstmaligen, von Eleonore herbeigeführten Abbruchs ihrer Beziehungen: »Was mich betrifft, so ist mir die Liebe so sehr das Höchste, daß ich meinem Leben nun gar keine Bedeutung abgewinnen kann und keinen Zweck … erkläre mir doch, was ich auf der Erde soll. Meine Freunde bedürfen meiner nicht …«


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