Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Effies Geheimnis

In dem Leben einer Frau ist das größte, dringendste Bedürfnis – was? Liebe? Nein, ein Heim. Ein Heim bedeutet Liebe und alles Wünschenswerte auf Erden.

Ein Mädchen ohne Heim und Verwandte ist das einsamste Geschöpf auf der Welt, einfach weil es ein Mädchen ist und weil weibliche Wesen mehr unter Einsamkeit leiden als Männer. Findet eine Frau irgendetwas, an das sie ihr Herz hängen kann, so wird sie sich daran anschließen, gerade so wie Gerstenzucker an dem Faden haftet, den man hineintaucht.

Und deshalb hatte auch Violet Grimshaw schon nach dreiwöchigem Aufenthalt in Drumgool sich nicht nur in ihrer neuen Umgebung akklimatisiert, sondern war buchstäblich ein Mitglied der Familie geworden. Die Frenchs gefielen ihr und sie gefiel ihnen. Der Hausherr behandelte sie von Anfang an wie eine alte Bekannte, mit jener ihm eigenen reizenden Liebenswürdigkeit, die man heutzutage selten findet, außer bei dem richtigen alten irischen Gentleman – einer rasch aussterbenden Spezies. Da Mr. French mit dem sichern Instinkt der Leichtlebigen erkannte, daß Miß Grimshaw neben ihrem hübschen Äußern auch klaren Verstand und einen guten Charakter besaß, besprach er seine intimsten Familien- und Vermögensangelegenheiten mit ihr.

An Mr. French und den übrigen Bewohnern von Drumgool konnte sie die Fähigkeit der keltischen Natur, sich Dinge einzubilden und für Wahrheit zu halten, beobachten.

»Na, wo is denn mein Durchschlag?« hörte sie zum Beispiel eines Nachmittags Mrs. Driscoll sagen, deren Stimme mit einem Strom von Küchendunst verbunden durch die offene Pendeltür zu dem jungen Mädchen drang. »Wo is mein Durchschlag? Das hat der Kerl, der Doolan wieder getan. Ich glaube, er hat ihn für das Kückenfutter genommen. Doolan! Doolan! kommen Sie her und bringen Sie mir meinen Durchschlag wieder. Wenn Sie mir immer meine Sachen wegnehmen, werd' ich Sie beim Herrn verklagen. Sie haben ihn nich? Gott sei Ihre Seele gnädig, aber ich hab' Sie doch mit meine zwei Augen gesehen, wie Sie ihn in der Hand hatten. Er is vor meine Nase? Oh, Gott sei gelobt! Da is er ja! Nun 'raus mit Ihnen aus meine Küche und machen Sie mir den Fußboden nich schmutzig mit Ihre schmierigen Stiefel.«

Die Annahme, daß Doolan mit dem fehlenden Durchschlag zu tun gehabt hatte, war völlig aus der Luft gegriffen. Gerade wie French Miß Grimshaws Porträt, das seine Phantasie entworfen hatte, mit einer Brille ausschmückte. Und diese Brille vor Gericht mit einem Eid beschworen haben würde.

Und ebenso, nur in größerem Maßstabe, sah er Garryowen, trotz aller Hindernisse, die dem entgegenstanden, als Sieger das Ziel passieren.

Effie aber führte Miß Grimshaw diese irische Eigenschaft am deutlichsten vor Augen.

»Mr. French,« sagte sie eines Morgens, als sie das Wohnzimmer betrat, in dem er Briefe schrieb, »wissen Sie, daß Effie gehen kann?«

»Ich bitte um Verzeihung – was sagten Sie?« fragte Mr. French, während er seine Feder niederlegte und sich auf dem Stuhl umdrehte.

»Das Kind ist gar kein Krüppel. Es kann ebenso gut gehen wie ich.«

»Gehen! Aber sie ist seit Jahren ein Krüppel! Gehen! Mrs. Driscoll erlaubt ihr doch niemals, sich auf die Füße zu stellen.«

»Ja, aber wenn sie allein ist, läuft sie umher und ihre Beine sind gerade so gesund wie meine.«

»Aber Doktor O'Malley sagte doch mit eigenem Munde, sie sei lebenslänglich gelähmt –«

»Wie lange ist das her?«

»Vier Jahre.«

»Hat er sie kürzlich gesehen?«

»Sie kürzlich gesehen! Aber wie könnte er das, da er seit drei Jahren im Grabe liegt.«

»Haben Sie keinen andern Arzt konsultiert?«

»Es gibt hier keinen andern als Rafferty in Cloyne, und der ist ein Dummkopf – sie will auch gar keine Ärzte sehen, sie sagt, sie nutzten ihr nichts.«

»Nun, ich kann nur sagen, daß ich gesehen habe, wie sie ging. Sie ist imstande zu laufen und erzählte mir, daß sie das seit Jahren gekonnt hätte; nur habe niemand ihr glauben wollen. Sobald die Leute sehen, daß sie aufsteht, legen sie sie wieder aufs Sofa. Das arme Kind scheint die Hoffnung, daß jemand ihr Glauben schenken könnte, aufgegeben und sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Ich vermute, halb glaubt sie selber, daß sie nicht gehen dürfe – daß es eine Art Sünde sei – sie tut es mehr aus Widerspruch, als aus irgendeinem andern Grunde. Man hat sie in die Kränklichkeit hineingepflegt und ich werde sie wieder herauspflegen,« fuhr Miß Grimshaw fort. »Wenn Sie jetzt mit mir hinaufgehen wollen, werde ich Ihnen zeigen, daß sie so fest auf den Beinen steht, wie Sie selbst.«

Sie begaben sich nach oben. Als Miß Grimshaw, vor Effies Zimmer angelangt, auf den Türgriff drückte, wurde ein schurrendes Geräusch hörbar, und als sie eintraten, saß das Kind errötend und mit glänzenden Augen auf dem Sofa.

»Na, was bedeutet dies alles?« rief ihr Vater. »Was höre ich, daß du im Zimmer umherläufst? Strecke deine Beine aus und laß mich sehen, wie du es machst.«

Effie grinste.

»Das will ich,« erwiderte sie, »wenn du versprichst, es nicht an Mrs. Driscoll zu sagen.«

Drei Jahre lang hatte das unglückliche Kind an keiner andern Krankheit gelitten, als an Mrs. Driscolls lebhafter Einbildungskraft und an deren fester Überzeugung, daß der Rücken des Kindes »entzwei brechen« werde, wenn es aufstand. Diese Überzeugung war so unerschütterlich, daß sie wie der Glaube mancher Leute weder der Kritik noch der Überredung zugänglich war.

»Ich werde ihr nichts sagen,« erklärte Effies Vater. »Steh auf und laß mich sehen, wie deine Ständer funktionieren.«

»Nun,« meinte Miß Grimshaw, als die Besichtigung beendet war und Miß French die Gesundheit ihrer Glieder zur vollen Befriedigung ihres Vaters demonstriert hatte, »was sagen Sie dazu?«

»Wie haben Sie es entdeckt?« fragte der erstaunte Mr. French.

»Sie vertraute es mir als Geheimnis an.«

»Aber weshalb hat sie es in den langen Jahren sonst niemand von all den Menschen hier im Hause mitgeteilt?«

»Sie hat es getan, aber niemand wollte ihr glauben – nicht wahr, Effie?«

»Ja,« erwiderte diese.

»Du sagtest Mrs. Driscoll einmal über das andre, daß du gehen könntest, und was antwortete sie dir?«

»Sie antwortete, ich sollte still sein und keinen Unsinn reden. Sie sagte, wenn ich die Füße auf den Boden setzte, würde sie mich zu dem schwarzen Mann bringen, der im Ofen wohnte; und ich hab' auch Papa gesagt, daß ich gesund wäre und gehen könnte, wenn es mir erlaubt würde, aber er lachte nur und meinte, ich solle mir nichts einbilden.«

»Bei Gott, das ist wahr,« erklärte der Vater. »Ich dachte, es wäre nur eine Idee von ihr.«

»Nun,« sagte Miß Grimshaw, »ich habe heute morgen ihren Rücken untersucht; er ist ganz in Ordnung. Ihre Beine sind gesund; sie ist recht wohl, also – wo ist Ihre Kranke?«

»Wahrhaftig, ich weiß es nicht,« erwiderte French. »Dies übertrifft alles, was ich bisher erlebt habe.« Er ging zur Glocke und zog daran.

»Schicke Mrs. Driscoll herauf,« sagte er. »Schicke Mrs. Driscoll her. Warum stehst du da mit offenem Munde?«

»Miß Effie, was tun Sie? Sie sind ja vom Sofa herunter!« rief Norah. Der Respekt vor ihrem Herrn geriet ins Wanken bei dem Anblick, den die aufrechtstehende Effie darbot.

»Vom Sofa herunter? Schnell, rufe Mrs. Driscoll. Ihr und euer Sofa! Ihr habt die letzten drei Jahre alle zusammen das Kind gemordet mit euern Sofas und euerm Verhätscheln. Schnell fort!«

»Seien Sie nicht hart mit ihnen,« bat Effies Retterin, als Norah sich entfernt hatte, um die Haushälterin zu suchen. »Sie taten es in guter Absicht.«

Eine halbe Stunde später kehrte Mrs. Driscoll, unbeirrt an ihrer Lieblingsillusion festhaltend, in die Küche zurück, um die Vorbereitungen für das Mittagessen zu treffen, während Effie, von ihren Fesseln für immer befreit, vor dem Kaminfeuer auf einem Stuhl saß und »Mrs. Browns Reise nach Paris« las.

Als Miß Grimshaw nach einiger Zeit hinunterging, fand sie drei Briefe, die soeben mit der Post eingetroffen waren. Einer war von Mr. Dashwood.

Es war eine kurze, etwas trübe gehaltene Epistel. Er hatte um Erlaubnis gebeten, ihr schreiben zu dürfen, und sie hatte sich auf einen Brief von ihm gefreut. Sie mochte ihn gut leiden und verweilte gern bei dem Bilde, das sie von ihm im Gedächtnis trug; aber dies knappe melancholische Schriftstück sah ihm so wenig gleich, daß sie sofort erriet, in seinen Angelegenheiten müsse etwas nicht in Ordnung sein.

Nach Frauenart war sie nicht sehr davon erbaut, daß er sich erlaubte, seine persönlichen Sorgen durchblicken zu lassen, wenn er ihr schrieb, und sie beschloß, den Brief nicht zu beantworten.


 << zurück weiter >>