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Zweites Kapitel.
Auf den Klippen

Unten, tief unten lag das Meer und erstreckte sich gleich einer saphirfarbigen Wiese bis ans Ende der Welt.

Man hörte die in den Felsenhöhlen und auf dem Kies singende Brandung, das von den Klippen und Steinen herdringende Möwengeschrei und den im Grase raschelnden Wind, aber diese Töne gestalteten die Stille der großen blauen sonnenbestrahlten See nur um so eindrucksvoller.

Das Meer ist sehr schweigsam. Dreitausend Meilen Pampasgras machen unter der Peitsche des Windes mehr Lärm, als der ganze Atlantische Ozean; und eine Schwalbe im Fluge verursacht mehr Geräusch, als eine vierzig Fuß hohe Woge, die auf ihrem Wege zum Ufer hin einen Kai zu zertrümmern und ein Schiff zu vernichten vermag.

Hier oben, hoch über dem Strande, diente das leise klangvolle Lied der sich auf dem Sande brechenden Wellen nur dazu, die der See eigene Stille zu betonen.

In diesen Ton hinein klang – endlos, schwach, traumhaft – ein andrer: das Atmen der meilenlangen Küste. Ein Ton, der aus dem Dröhnen der Brandung in den Höhlen und dem Brechen der Wellen auf Felsen und Strand hervorging, aber so unbestimmbar und undeutlich war, daß man, wenn man lauschte, zeitweise glauben konnte, es sei der im geknickten Grase säuselnde Wind oder ein Flüstern der verkrüppelten Tannen an der Landseite der Klippen.

Draußen auf dem strahlenden Blau blähten sich die braunen Segel der Bellturbet zusteuernden Fischerboote in der leichten Brise, und gen Nordwesten, eine Meile vom Ufer entfernt, reckten sich die Felsen der Sieben Schwestern aus der See empor.

Das war alles. Aber es war unermeßlich schön.

Nirgends findet man vielleicht solche Einsamkeit wie hier an der Westküste von Irland. Einsamkeit ohne völlige Öde. Die weite Küste liegt gerade so, wie die Götter sie bei der Schöpfung der Welt aufgetürmt haben, im Angesicht der unendlichen See da. Beide erzählen einander Geschichten. Man kann hören, wie die Welle zur Höhle und die Höhle zur Welle, wie der Wind zu den Klippen und die Brandung zum Felsen spricht und wie die Möwen klagen. Und man weiß, es war alles ebenso vor tausend und mehr Jahren, als Maeldune seine Segel nach dem Wind richtete und der Insel Shouting zusteuerte.

Moriarty ließ den Esel an dem spärlichen Gras auf der Klippenhöhe knabbern, setzte sich auf die Erde und begann, eine Kerbe in seinen Dornstock zu schneiden, während Miß French, die Zügel in den Händen, ringsumher und auf das Meer hinaus blickte.

Rund um den Fuß der Sieben Schwestern konnte sie einen weißen Kranz sehen; es war ein Kranz aus Schaum, denn so ruhig die See von diesen Höhen aus auch ausschaute, so wogte dennoch eine gefährliche Dünung. Gleich einem hervorgeblasenen Rauchwölkchen erhob sich von Zeit zu Zeit von den Felsen ein Ring von Möwen, zog sich zusammen, löste sich auf und verschwand. Dann wieder segelte ein Kormoran, ohne die Flügel zu bewegen, dicht am Klippenrand dahin und versank mit einem Schrei außer Gesichtsweite.

Der Seewind wehte und brachte den Geruch des Meeres, das höchste Entzücken der Klippenhöhe, mit sich. Diesen Geruch von ungezählten Wellenmeilen und vom Seetang am Ufer, den Geruch, den die Menschen schon vor zehntausend Jahren kannten und liebten, der zu Duft destillierte Freiheit bedeutet, und dessen gedenkend wir jedes Jahr dem Lande den Rücken kehren und das Meer aufsuchen.

»Moriarty,« sagte das Kind, »wohin fahren diese Schiffe?«

»Was für Schiffe?« fragte Moriarty.

»Die Schiffe mit den braunen Segeln.«

»Limerick,« antwortete Moriarty, ohne den Blick von seiner Beschäftigung zu heben oder nur im geringsten zu wissen, wohin die Schiffe fuhren und ob Limerick an der See oder im Binnenlande läge. Moriarty huldigte der Theorie, daß für Kinder jede Antwort die rechte sei, wenn sie nur zufrieden stellte, und die bequemste war die beste, weil sie am wenigsten Mühe machte. Er war nicht erzieherisch veranlagt; seine eigene Erziehung war in der Tat auch ein höchst dunkler Punkt.

»Warum wollen sie nach Limerick?« fragte Miß French.

»Warum wollen sie wohin?« entgegnete Moriarty, wie in Nachdenken versunken, während er mit seinem Messer an dem Stock herumschnitzelte.

»Limerick.«

»Was sollen sie wohl anders wollen, als Stockfischköpfe einkaufen.«

»Warum?« fragte Miß French, der diese Erwiderung absonderlich und unbefriedigend erschien.

»Weiß nich. Hab' sie nie gefragt.«

Damit war das Thema in einer Sackgasse vor einer Mauer angelangt.

Wenn man Moriartys Antworten prüft, so wird man erkennen, daß er eine uneinnehmbare Position geschaffen hatte, ein Glacis, über das hinüber kein Kind die Möglichkeit eines »Warum?« finden konnte.

Miß French sann einen Augenblick darüber nach, während Moriarty, der die Arbeit an seinem Stock beendet hatte, seine Pfeife ausklopfte, von neuem füllte und anzündete.

Dann lag er auf seinen Ellenbogen gestützt da, beobachtete die Schiffe, die nach Limerick fuhren, und dachte an Stallangelegenheiten, insbesondere an Garryowen, die letzte Errungenschaft des Drumgooler Stalles.

Moriarty hatte Garryowen entdeckt. Seinem Rat war Mr. French gefolgt, als er das Fohlen kaufte, und unter seinen Händen entwickelte es sich zu einem der schnellsten Tiere, die jemals mit dem Huf den Boden berührten.

Miß French betrachtete ihren Begleiter, und so saßen sie eine lange, lange Zeit; über ihren Köpfen strichen die Möwen, die honigfarben schimmerten, wo die Sonne ihr schneeiges Gefieder durchbrach, der Wind wehte und die See donnerte.

»Moriarty,« fing das Kind wieder an, »möchtest du eine Erzieherin haben?«

Diese Frage weckte Moriarty aus seiner nachdenklichen Stimmung, und er stand auf.

»Nun kommen Sie,« sagte er, und faßte den Esel beim Zügel; »Sie werden sich den Tod holen, so wie die Sonne Ihnen auf 'n Kopf brennt und Sie ohne Hut.«

»Ich kriege eine Erzieherin,« sagte das Kind, »sie ist vierzig Jahre alt und kommt heute über acht Tage – wie wird sie wohl sein, was meinst du, Moriarty?«

»Meiner Treu,« entgegnete Moriarty, der der Frage wieder auswich, »ich denke bei mich, daß sie woll nich wie 'ne Rosenknospe aussehen wird.«

Indessen Moriarty den Esel dem Weg zulenkte, zog Miß French aus ihrer Rocktasche einen Brief, der, absichtlich in großer runder Schrift geschrieben, jeder Buchstabe fast wie gedruckt, damit ein Kind ihn lesen könne, ganze Bände für das gute Herz des Absenders sprach, obgleich der Inhalt ganz einfach war.

Mr. French war in Dublin, aber während seiner Abwesenheit schrieb er seiner kleinen Tochter täglich einen solchen Brief. Ein liebenswürdiger Zug an einem Manne, der in einer Welt lebte, deren Grundton auf Vergessen der Abwesenden gestimmt ist. Das Kind las das Schreiben laut vor, während Moriarty den Esel den steilen Pfad hinabführte.

Es war ein komischer Brief; er begann, als ob Mr. French einem Kinde, fuhr fort, als ob er einem Erwachsenen schriebe, und endete, als ob ihm das Alter seiner Korrespondentin erst eben eingefallen sei. Er erzählte von seinem Tun in der Stadt, von einem Besuch bei Mr. Legge, dem Familienanwalt, und von Ärger in Geldangelegenheiten.

»Jedoch,« sagte Mr. French an einer Stelle, »das alles wird Garryowen in Ordnung bringen.«

Als Miß French dies vorlas, verlieh Moriarty seiner Meinung über die Sache dadurch Nachdruck, daß er den Rippen des Esels mit dem dicken Ende seines Stockes einen Trommelschlag versetzte.

»Ich habe endlich eine Erzieherin für dich,« schrieb Mr. French, »sie ist vierzig und trägt eine Brille. Gesehen habe ich sie nicht, aber ich entnehme das aus ihrem Brief; heute über acht Tage kommt sie aus England herüber. Ich werde morgen mit dem Zug um fünf Uhr dreißig zurückkehren.«

»Das ist heute,« bemerkte Miß French.

»Ich weiß,« erwiderte Monarch, »Mrs. Driscoll kriegte 'ne Postkarte. Ich soll mit dem Break an die Bahn. Nun, Miß Effie, hier is Ihr Mantel, Sie müssen ihn anziehen.«

»Langweiliges Ding,« sagte Miß French, als Monarch den verschmähten Mantel von der Erde auflas.

Sie zog ihn an, und sie setzten die Fahrt fort, bis sie bei der Boa anlangten.

Unter Murren wurde auch diese umgelegt und dann der Weg wieder ausgenommen, bis sie zu dem großen Hut kamen, der am Boden lag.

Moriarty schob das Gummiband unter das Kinn des Kindes und gab dem Hut einen kleinen Stoß, um ihn gerade zu rücken.

Gleich einer Flamme unter dem Lichthütchen erloschen Miß Frenchs Lustigkeit und frohes Aussehen, die schon beim Anlegen von Hut und Mantel abgenommen hatten, bei dem Aufsetzen des Hutes gänzlich, und im Trauermarsch, begleitet von Moriartys begräbnisartigen Trommelschlägen auf des Esels Rippen, zogen sie nach Hause.

An der Tür wurden sie von Mrs. Driscoll erwartet.

»Das ist recht, Moriarty,« sagte sie, »Sie haben sie doch nich den Hut abnehmen lassen?«

»Sie nahm ihn ab,« sagte Moriarty, »und ich hab' ihn ihr eigenhändig wieder auf den Kopf gesetzt – was sagen Sie da? Hab' ich den Wind an sie kommen lassen? Was für'n Wind meinen Sie und wovon sprechen Sie? Hier is sie, bringen Sie sie ins Haus, ich muß nach meinen Pferden sehen, es is gleich eins.«

Mrs. Driscoll verschwand im Hause, in ihren Armen die Letzte der Frenchs tragend. Armes Kind! Wenn jemals jemand in Gefahr stand, durch Freundlichkeit umgebracht zu werden, so war sie es.

Zu Tode verhätschelt.

Mancher Kranke hat dieses Märtyrertum und diesen sichern Vernichtungsprozeß durchgemacht.


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