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Sechstes Kapitel.
Effie

Der Hausherr, dessen natürlich liebenswürdiges Benehmen herzliches Willkommen ausdrückte, hatte die beiden hübschen jungen Leute, die in seinen Salon eingedrungen waren, kaum mit einem Blick gestreift, als der mit Aufklärung der Situation Beauftragte sich schon in die Bresche warf.

»Es tut mir furchtbar leid,« sagte er, »aber ich habe mich geirrt. Ich traf diese junge Dame im Gasthof, und da sie hierher fuhr, benutzte ich ihren Wagen, denn ich glaubte, Sie seien ein Mister Michael French, den ich in London getroffen habe. Ich fische hier in der Gegend.«

»Sie erwarteten mich schon gestern abend,« sagte Miß Grimshaw. »Mein Name ist Grimshaw.«

»Bei Gott,« sagte Mr. French, »das ist eine angenehme Überraschung. Setzen Sie sich, setzen Sie sich!«

»Ich möchte noch sagen, daß mein Name Dashwood ist,« warf der Berichterstatter ein.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich bin hocherfreut, Sie beide zu sehen. Sie wohnen im Gasthof, sagten Sie? Und wie gefällt Ihnen denn Mistreß Sheelan? Und Sie trafen sich im Gasthof? Natürlich. Miß Grimshaw, ich weiß nicht, wie in aller Welt ich mich bei Ihnen wegen Ihrer langen Fahrt über Land entschuldigen soll. Ist der Stuhl bequem? Nein, er ist es nicht – nehmen Sie diesen. Sehen Sie ihn an, ehe Sie sich darauf setzen. Dan O'Connell saß auf diesem Stuhl, als er zu meines Großvaters Zeit zu den Wahlen hergekommen war. Ich habe oben noch das Bett, in dem er schlief. Ich möchte wohl wissen, welchen Michael French Sie getroffen haben? War es ein Mann mit einem großen schwarzen Bart?«

»Ja,« entgegnete Mr. Dashwood.

»Und goldener Brille?«

»Ja.«

»Und brüllte er wie ein Stier?«

»Er hatte eine ziemlich laute Stimme.«

»Das ist er. Es ist mein Vetter, die Pest über ihn! Na, einerlei. Eines Tags werde ich mich noch an ihm rächen. Er ist der größte Schur – ich meine, wir sind nie befreundet gewesen; aber unter Verwandten pflegt das so zu sein. Und dabei fällt mir ein – ich habe Sie noch gar nicht willkommen geheißen auf Drumgool, Miß Grimshaw. Seien Sie herzlich willkommen; mein ganzes Haus mit allem, was drin ist, steht Ihnen zur Verfügung, und ich hoffe, Sie werden sich bald heimisch fühlen. Und nun sitzen wir hier in dem alten Salon, der höchstens einmal im Jahr bei einer Gesellschaft benutzt wird. Kommen Sie beide mit mir in meine Wohnstube; dort brennt ein Feuer und Effie wird gleich zurück sein. Sie ist in ihrem Eselwagen ausgefahren. – Ist dies nicht eine nette alte Halle?« fuhr er fort, während sie die Halle durchschritten. »Es ist der älteste Teil des Hauses. Sehen Sie den Riß dort oben in der Täfelung? Dort fuhr die Kugel hinein bei dem Duell zwischen Rat Kinsella und Oberst White. Schwarzweiß war sein Spitzname, den er völlig verdiente. Sie fochten hier, denn der Schnee fiel draußen so dicht, daß man keinen Menschen auf zehn Schritt erkennen konnte. Das war 1801, und wieviele Jahre liegen sie schon im Grabe! Nein, niemand wurde getötet. Nur ein Pächter, der hergekommen war, um sich den Spaß anzusehen, und der in die Feuerlinie geriet. Er erholte sich, glaube ich, obwohl man sagt, daß er bis ans Ende seiner Tage die Kugel im Kopfe behielt. Dies ist die Wohnstube. Es ist im Winter das wärmste Zimmer. Das alte Haus ist so voller Löcher wie ein Sieb; aber hier zieht es nie. Norah!« rief er, den Kopf zur Tür hinaussteckend.

»Ja, Sir?«

»Bringe die Karaffen. Rauchen ist Ihnen doch nicht unangenehm, Miß Grimshaw? Das ist vortrefflich. Interessieren Sie sich für Pferde, Mr. Dashwood?«

»Sehr,« erwiderte der junge Mann.

»Nun, dort ist Shaughrauns Huf. In Irland schlug er alles; er gehörte meinem Großvater und war für das Derby genannt, als ein paar Schufte ihn vergifteten. Es muß vor Ihrer Zeit gewesen sein, aber sein Tod machte mehr Aufsehen, als der Tod irgendeines Tieres, das jemals auf vier Beinen lief, ausgenommen vielleicht Nebukadnezar. Man machte Gedichte über ihn, und oben in meinem Schreibtisch liegt eine ellenlange Ballade, die mein Vater einer alten Frau in Abbey Street abkaufte. Hier kommt der Whisky. Aber, Norah, wovon träumst du und weshalb hast du nicht den Wein für die junge Dame gebracht? Keinen Wein trinken? Nun, bitte, sagen Sie nur ein Wort, und ich lasse Ihnen Tee machen. Oder möchten Sie lieber Kaffee? So, so. Sagen Sie ›wann‹, Mister Dashwood.«

»Dies Zimmer gefällt mir,« bemerkte das junge Mädchen, die Eichentäfelung und die Bücher betrachtend. »Es ist so gemütlich und doch so gespensterhaft. Haben Sie ein Gespenst?«

»Ein was? – Ich bitte um Verzeihung,« entgegnete Mr. French, indem er seine Manipulationen an einer Siphonflasche unterbrach.

»Ein Gespenst.«

»Ich glaube, eine alte Frau ohne Kopf geht um auf dem oberen Korridor, an dem die Schlafräume der Dienstboten liegen. Wenigstens heißt es so, aber es ist alles Unsinn, obgleich es ganz nützlich ist, die Mädchen damit zu ängstigen und zum Schlafengehen zu bewegen. Wer ist da?«

»Bitte, Sir,« sagte Norah durch die halbgeöffnete Tür, »Miß Effie ist von ihrer Spazierfahrt zurück und ganz wild darauf, die junge Dame zu sehen.«

»Ich nehme an, daß ich das bin,« sagte Miß Grimshaw. »Ich will hinaufgehen, wenn ich darf.«

»Gewiß, mit Vergnügen,« erwiderte French, indem er zur Tür ging, um sie mit vollendetem Anstand offen zu halten, während das junge Mädchen hindurch schritt.

Er schloß die Tür, wartete, bis Miß Grimshaw sicher außer Hörweite war, sank dann auf einen Lehnstuhl und wälzte sich und schrie vor Lachen.

»Sprechen Sie nicht mit mir,« rief er, obwohl Mr. Dashwood kein Wort gesagt hatte. »Haben Sie gesehen, wie ich Contenance hielt? Mensch, sie ist die Gouvernante, und ich glaubte, es käme eine alte Dame mit einer Brille! Wahrhaftig, ich werde mir eine Anstandsdame verschaffen müssen. Sie hätten mich mit einem Finger umstoßen können, als sie sagte, wer sie wäre. Aber ich habe mir nichts merken lassen, wie? Ich habe nicht gezeigt, wie erstaunt ich war? Sind Sie dessen sicher?«

Nachdem Mr. French über diesen Punkt beruhigt worden war, schenkte er sich noch ein Glas Whisky ein und erklärte, daß er Miß Grimshaw »durch eine Anzeige bekommen« habe. Darauf verbreitete er sich zu Mr. Dashwoods großer Erbauung über die Gerichtsvollzieherangelegenheit, Nips und Tucks Schönheit und den von Oberst Shelbourne gezahlten Preis, wobei er erklärte, daß es ihm nicht so sehr am Gelde gelegen sei, als daran, sich nicht in Shelbournes Achtung herabzusetzen. Und das würde unzweifelhaft geschehen, wenn er die Pferde nicht ablieferte.

Es war ein Abenteuer ganz nach dem Herzen Bobby Dashwoods, der sich selber in seinem kurzen Leben schon viel mit Geldverleihern befaßt hatte – ein Interesse, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Mr. Dashwood war, was Frauen einen »nett aussehenden Jungen« nennen, aber wenn man ihn von bestimmten, ihm sympathischen Themas abbrachte, zeigte er keine hervorragenden Geistesgaben. Das Examen für die Generalstabsschule in Sandhurst hatte er nicht bestanden. Wäre es statthaft, daß die Meisterschaft im Kricket und Fünferballspiel mitzählte, so hätte er eine hohe Nummer erzielen können, aber es wurde Mathematik verlangt, und diesen Ansprüchen vermochte Mr. Dashwood nicht zu genügen; im Französischen war er ebenfalls außerordentlich schwach. Seine Mängel wären imstande gewesen, ein halbes Dutzend junger Leute mit Untauglichkeit für einen Beruf auszurüsten, und das ist, glaube ich, die Ursache, weswegen es Mr. Dashwood gelang, ein so glückliches Leben zu führen.

Das Vergnügen, das Mr. Dashwood aus einer im allgemeinen freudlosen Sache, die Leben genannt wird, herauszudestillieren verstand, erinnerte schon mehr an Alchimie, als an Chemie. Ein Vergnügen überdies, dem jede Beigabe von Kopf- oder Herzweh fehlte. Leichtsinnig, aber nicht lasterhaft, stets munter, rein, gesund und wie ein Terrier auf jede Art von Sport erpicht, war er ein angenehmer Gesellschafter und so erfrischend wie ein Frühlingsmorgen – das heißt, wenn man sich in der richtigen Stimmung für ihn befand.

Er besaß ein jährliches Einkommen von fünfhundert Pfund (mit der Aussicht auf großen Reichtum nach dem Tode eines Onkels) und machte es möglich, sogar aus dieser Armut eine Art Vergnügen zu schöpfen durch die Aufregung, die das Verhandeln mit den Gläubigern und der Versuch, mit dem vorhandenen Gelde auszukommen – was nie gelang – mit sich brachten.

»Was für ein Spaß!« sagte Mr. Dashwood. »Und sie hat tatsächlich reinen Mund gehalten. Sie sagte, sie hätte einen Herrn bei einem alten Schloß abgesetzt, und klagte gar nicht, obgleich sie sich kaum noch auf dem Break aufrechthalten konnte. Sagen Sie, ist sie nicht großartig?«

»Ich trinke auf ihr Wohl,« versetzte French. »Und nun kommen Sie, ich will Ihnen Stall und Garten zeigen. Um ein Uhr wird geluncht; wir haben noch eine Stunde.«

Nachdem das erste angenehme Staunen sich gelegt hatte, beunruhigten Miß Grimshaws Jugend und Schönheit Mr. French nicht im mindesten. Er war ein Ehrenmann, redlich denkend in allen Dingen, die nicht mit Wechselgeschäften zusammenhingen, und die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit der Situation kostete ihn keinen Gedanken. Das Einzige, was ihm etwa eine Sekunde lang Sorge machte, war Giveen. Wie würde sich der wohl benehmen in dem Taumel des Entzückens, in den der hübsche jugendliche Ankömmling ihn versetzen mußte?

»Sie würde selbst 'runterkommen, um Sie zu sehen, Miß,« sagte Norah, indessen sie Miß Grimshaw die Treppe hinauf geleitete, »wenn sie's nicht in den Beinen hätte. Hier längs, Miß, den Flur entlang – dies ist die Tür.«

Als Norah den Türgriff erfaßte, wurde ein schurrendes Geräusch hörbar. Miß Grimshaw betrat das helle, freundlich eingerichtete Zimmer und erblickte Miß French, die erhitzt und mit glänzenden Augen auf dem Sofa saß und den Eindruck machte, als wäre sie nach einer Exkursion durch die Stube plötzlich zu ihrem Sofaplatz und Krankenleben zurückgekehrt.

»'Tag,« sagte das Kind.

»'Tag,« erwiderte Miß Grimshaw.

»Oh, sehen Sie sie an!« rief Norah. »Und die Decke, die ich ihr über die Beine gelegt hatte, liegt mitten in der Stube! Sie sind vom Sofa 'runter gewesen, Miß Effie.«

»Ich habe nur meine Füße auf den Boden gesetzt,« protestierte das Kind. »Du brauchst mich nicht zu schelten. Meine dummen alten Beine! Ich wollte, sie würden abgeschnitten.«

»Also du bist Effie,« sagte Miß Grimshaw, indem sie auf dem Rand des Sofas Platz nahm. »Weißt du, wer ich bin?«

»Und ob,« entgegnete Miß French. »Sie sind Miß Grimshaw.«

Ein unterdrücktes Kichern lag in ihrer Stimme, als ob Miß Grimshaw nicht nur die eben angekommene Erzieherin, sondern einen geglückten Scherz vorstelle, ein Kichern, das auf die Tatsache hindeutete, Miß Grimshaw habe in letzter Zeit im Drumgooler Hausstand den Stoff für humoristische Unterhaltungen und Vermutungen abgegeben.

»Klingeln Sie bitte, Miß, wenn ich Ihnen Ihre Stube zeigen soll,« sagte Norah. Dann zog sie sich zurück und Miß Grimshaw blieb mit ihrem Zögling allein.

Der Raum war halb Kinder-, halb Wohnzimmer und mit einer Tapete dekoriert, die ein lebhaftes Muster von Rosen und grünen Blättern aufwies. Katzenporträts von Louis Wain und Bilder aus den Weihnachtsheften des »Graphic« schmückten die Wände; auf einem Bort lagen eine Anzahl Bücher in gelbem Umschlag und in einer Ecke ein Haufen Witzblätter – Exemplare von »Punch«, »Judy« und »Fun«, sämtlich veralteten Datums.

Alle in Drumgool House befindliche leichte Literatur war allmählich in diesem Zimmer angelangt und hier geblieben. Die Bücher in gelbem Umschlag waren die Werke Artur Sketchleys, eines höchst ergötzlichen Humoristen, dessen Name fast aus unserem Gedächtnis verschwunden ist. »Mrs. Browns Ferienreisen«, »Mrs. Brown in Paris«, »Mrs. Brown an der See« – alles war vorhanden. Irgendein Mitglied der Familie French, das Sinn für Humor besaß, hatte seinerzeit die Bücher und Witzblätter gekauft.

Die langverstorbenen Künstler, die abgestandenen Witze, die Moden und Gewohnheiten der achtziger Jahre, die uns wie ägyptisches Altertum anmuten, erschienen Miß French in ihrer Gefangenschaft frisch und neu. Blätter und Bücher der Jetztzeit kamen kaum in ihre Hände, denn French war kein eifriger Leser.

»Wo ist Ihre Brille?« fragte Effie, nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, indem sie sich in ihre Decke einhüllte und in dem scherzend vertraulichen Ton sprach, der mit langer Bekanntschaft verbunden zu sein pflegt.

»Verzeih, wie sagtest du?«

»Vater meinte, Sie würden 'ne Brille tragen.«

»Oh, meine Brille! Sie kommt mit dem nächsten Zuge, mit meiner Schnupftabaksdose und meiner Birkenrute zusammen.«

»Hinaus mit Ihnen!« sagte Miß French, sich unter der Decke bewegend, als würde sie gekitzelt. »Ihre Schnupftabaksdose und Ihre Birkenrute! Hinaus mit Ihnen!«

Zum ersten Male begegnete Miß Grimshaw einem Kinde, das ausschließlich auf Dienstboten angewiesen gewesen war – und noch dazu auf irische Dienstboten – aber das Ergebnis zeugte von soviel Gutherzigkeit, daß kein Mißfallen aufkam.

»Also auf solche Weise bietest du mir Willkommen, indem du mich hinausschickst, nachdem ich kaum angekommen bin! Nun gut, ich gehe.«

»Nur fort!« entgegnete das Kind, ebenso leicht auf den scherzenden Ton eingehend, wie eine Billardkugel in ein Loch läuft. »Galopp, Galopp! Mir ist es einerlei. Heda! kommen Sie wieder!«

»Was willst du?« fragte Miß Grimshaw, von der Tür her, während sie den Griff in der Hand hielt.

»Ich möchte Ihnen was erzählen.«

»Nun?«

»Ich möchte es flüstern.«

Miß Grimshaw näherte sich dem Sofa.

»Beugen Sie sich herunter.«

Sie beugte sich hinab; zwei kleine Arme umklammerten ihren Hals und dicht an ihrem Ohr erscholl ein trommelfellerschütterndes »Buh!« dem ein feuchter herzhafter Kuß als Entschuldigung folgte.


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