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Fünftes Kapitel.
Garryowen

Andy Meehan, ein Jockey, der für Mr. French schon drei Rennen gewonnen hatte, war ein Produkt des Guts und ein Wunderkind, wenn auch durchaus nicht kindlich.

Niemand kannte sein genaues Alter; nicht ganz fünf Fuß hoch, hauptsächlich bestehend aus Knochen, über die die Haut sich straff spannte, das Gesicht fast unter der Mütze verschwindend, stellte Andy ein sehr schwer zu lösendes physiologisches Problem dar. Nach Mr. Frenchs Ausspruch nahm er an Gewicht ab, je mehr er aß. Früher, bevor Mr. French ihn als Aushilfe in den Stall nahm, in halb verhungertem Zustande, war Andy verhältnismäßig dick gewesen. Gut untergebracht und ernährt, wurde er mager und unternehmend – erstrebte einen höheren Posten und erhielt ihn. Er war ein geborener Jockey, denn er besaß Kopf, Hand und Knie. Er war dafür gemacht, zu Pferde zu sitzen, gerade wie eine Muschel dazu geschaffen ist, am Pfahle zu kleben. Zu Fuß bedeutete er nichts, im Sattel alles: Einsicht, Gewandtheit, Ruhe, Mut und Berechnung.

Verschiedene Pferdebesitzer hatten versucht, Andy seinem Herrn abspenstig zu machen. Aussicht auf Beförderung und höheres Gehalt reizten Andy jedoch nicht. French war sein Herr, und auf alle fremden Angebote fand Andy nur eine Antwort: »Zur Hölle damit.« Ich bin im Zweifel, ob Andys Wortschatz mehr als zweihundert Wörter enthielt. Er war sehr stumm, ausgenommen gegenüber Mr. French und Moriarty. »Ja« und »nein« bei gewöhnlichen Gelegenheiten und »Zur Hölle damit«, wenn er ärgerlich wurde, genügten für seine täglichen Bedürfnisse.

Gestern abend hatte er Nip und Tuck allein nach dem Bahnhof gebracht und in den Zug verladen, war zu Fuß zurückgekehrt und flickte heute morgen in der Sonne auf dem Hof einen alten Sattel, als Mr. French an dem Gittertor erschien. Mr. French war ohne Hut aus dem Hause gegangen, hatte eine Zigarre im Munde und die Hände in den Taschen. Er erteilte Andy einige Befehle, die dieser an Moriarty weitergeben sollte, und öffnete dann eigenhändig die obere Türhälfte einer Box.

Ein wunderschöner Kopf kam zum Vorschein. Es war Garryowen. Die Augen voller Güte und Feuer, die beweglichen, von feinem Gefühl und zarter Sensitivität zeugenden Nüstern, der edle Mut und die Vernunft, die aus jeder Linie des schöngeschnittenen Kopfes sprachen – dies alles mußte man sehen, um es würdigen zu können.

Für Mr. French war Garryowen mehr als ein Pferd. Er war ein Freund und sogar mehr als das. Garryowen war bestimmt, das Glück der Frenchs aus dem Sumpf zu ziehen, den Namen der Familie zu Ehren zu bringen und seinen Herrn mit Lorbeer zu krönen.

Garryowen war Frenchs letzte Karte, auf die er seinen letzten Pfennig zu setzen im Begriff war. Einfacher gesagt: Garryowen sollte im kommenden Jahr in dem City- und Suburbanrennen laufen und es gewinnen. Ich nehme an, der Leser hat bereits die Tatsache in sich aufgenommen, daß Mr. Frenchs Finanzen sich nicht gerade in sehr geordnetem Zustande befanden. Die Nip- und Tuckbegebenheit gab jedoch nur gleich einem Strohhalm die Richtung des Windes an, der in wenigen Monaten in einen Sturm auszuarten drohte. Sie war nur ein Zwischenfall, denn die Summe, die Mr. French Harrison schuldete, war so unbedeutend, daß er kaum einer Woche bedurfte, um das zur Begleichung der Schuld nötige Geld zusammenzubringen.

Die Hauptsorge bestand darin, daß Mr. French im Frühling des nächsten Jahres fünfzehnhundert Pfund beschaffen mußte, um die Ansprüche eines Mannes namens Lewis zu befriedigen; wie er das bewerkstelligen und zugleich die Kosten tragen sollte, die der Transport des Pferdes nach England und das Rennen verursachen würden, war bis jetzt eine völlig offene Frage.

Es bestand nicht nur die Absicht, das Pferd laufen zu lassen, sondern auch Wetten daraufhin einzugehen.

French hatte beschlossen, das City- und Suburbanrennen zu gewinnen. Manchmal wünschte er, daß er sich mit Punchestown begnügt hätte; aber von einem einmal gefaßten Entschluß zurückzugehen, war nicht seine Art. Überdies bot sich ihm vermutlich nie wieder solche Chance, gleichzeitig in einem großen englischen Rennen zu siegen und ein Vermögen zu erwerben, denn Garryowen war ein unbekanntes Pferd, wenn es das überhaupt gab, und ein Flieger, falls jemals ein flügelloses Geschöpf diesen Titel verdiente.

»Das verwünschte Geld! Irgendwie werde ich es schon kriegen,« meinte French, als er sein Bankkontobuch zuklappte und den Briefbogen zerriß, auf dem er Zahlenreihen notiert hatte. Er rechnete, daß er nach Ausnutzung sämtlicher Hilfsquellen genug haben würde, um tausend Pfund auf das Pferd zu setzen und die Unkosten des Rennens zu bestreiten. Um dies zu ermöglichen, mußte er höchst verwickelte Manipulationen auf dem Gebiet des Geldmarkts vornehmen. Die Sache konnte jedoch gemacht werden, wenn Lewis unberücksichtigt blieb.

Die fünfzehnhundert Pfund, die Mr. French Lewis schuldete, mußten Ende März gezahlt werden und das City- und Suburbanrennen findet im April statt. Wenn Lewis das Geld nicht rechtzeitig empfing, würde er Garryowen nebst Mr. Frenchs übriger Habe beschlagnahmen und das Lebensschifflein dieses unglücklichen Mannes wäre dann zu hoffnungslos gescheitert, um jemals wieder flott werden zu können.

Der einzige Lichtpunkt in seinen Angelegenheiten war, daß Effie zweihundertfünfzig Pfund jährlich besaß, die von einem ahnungsvollen Großvater so festgelegt waren, daß weder Kunst noch Tücke sie mobilzumachen oder in den allgemeinen Schmelztiegel zu werfen vermochte.

Dies war Frenchs Hauptkummer, und an seinem Hauptkummer erkennt man den Mann.

Garryowen schnupperte an der Weste seines Herrn, gestattete, daß seine Ohren gestreichelt wurden, verzehrte ein Stück Zucker und beantwortete einige vertrauliche Bemerkungen seines Besitzers mit einem unterdrückten leisen Wiehern. Dann schloß Mr. French die Tür, verließ den Stall und ging in den Küchengarten, von wo man die Landstraße überblicken konnte.

Das Abenteuer, das die Erzieherin am vergangenen Abend erlebt, machte ihm kolossalen Spaß. Der Gedanke, daß eine gesetzte ältliche Dame – wenn auch wider Willen – Zeuge davon sein mußte, wie ein Gerichtsbeamter genasführt wurde, amüsierte ihn höchlich, aber das war nichts dagegen, daß Moriarty sie als Köder benutzt hatte.

Heute morgen war ihm jedoch der Humor dafür vergangen; ihm graute ein wenig vor der Unterredung mit einem empörten ältlichen weiblichen Wesen, das möglicherweise ihre Entrüstung bis zum äußersten treiben, ihre Stellung aufgeben und die Heimreise antreten würde.

Er sah nach der Uhr. Sie zeigte auf halb elf. Dann blickte er auf die sich windende, einem weißen Bande gleichende verödete Landstraße, auf der weder Moriarty, noch der Wagen oder die gefürchtete Erzieherin erschien. Das schöne Wetter hielt noch an, und die fernen Berge waren in dem hellen Morgenlicht herrlich sichtbar.

Der von Moriarty am vorigen Tage gesandte Botenjunge hatte gemeldet, daß Moriarty den Gerichtsvollzieher nach dem »alten Schloß« zu fahren und dort abzusetzen beabsichtige, und zugleich ausführliche Einzelheiten des Plans mitgeteilt. Die Ankunft des empörten Beamten stand ebenfalls am heutigen Tage bevor und würde ohne Zweifel ein Seitenstück zur Ankunft der entrüsteten Gouvernante bilden.

Ein Mann von Frenchs philosophischer Gemütsart vermochte jedoch diese Dinge auszuschalten – sie lagen für ihn, um Sophokles zu zitieren, »in der Zukunft« und verdienten nicht, daß man sich um sie bekümmerte, ehe sie Gestalt angenommen hatten.

Als er so dastand und den Blick gemächlich über das vor ihm ausgebreitete Gelände wandern ließ, bemerkte er weit entfernt auf der Landstraße einen dunkeln, sich bewegenden Punkt. Er beobachtete ihn, wie er näher und näher kam. Es war der Break. Sich die Augen beschattend, erkannte Mr. French, daß drei Menschen darauf saßen: Moriarty und zwei andere – eine Frau und ein Mann.

Die Idee, daß der Gerichtsvollzieher und die Erzieherin zum Angriff bereit als Verbündete zusammen anlangten, schoß ihm einen Augenblick wild durch das Gehirn. Dann verwarf er den Gedanken. Moriarty war ein viel zu kluger Diplomat, um dergleichen zuzulassen.

Als dann der Wagen auf dem Kiesweg heranrollte, sah Mr. French, daß die Frau ein hübsches junges Mädchen und der Mann gutgekleidet und jugendlich war. In der Annahme, daß die Erzieherin hinweggezaubert und daß dies Gäste irgendwelcher Art seien, eilte er nach dem Hause zurück und rief nach Norah, dem Stubenmädchen.

»Öffne den Salon und ziehe die Rolläden auf,« schrie Mr. French. »Es kommt Besuch. Laß sie eintreten und sage ihnen, daß ich in einer Minute erscheinen würde.«

Er lief die Treppe hinauf, um sich umzukleiden, denn er trug eine schreckliche alte, an den Ellenbogen zerschlissene Jagdjoppe und hatte Pantoffeln an den Füßen.

Während er den Anzug wechselte, hörte er, wie die Gäste hereingelassen wurden, und dann stürmte Norah die Treppe herauf und donnerte an seine Tür.

»Sie sind im Salon, Sir.«

»Schön,« sagte Mr. French. »In einer Minute bin ich unten.«

Mr. Dashwood und seine Gefährtin hatten im Gasthof gemeinsam gefrühstückt. Ein aus Jugend und Gesundheit bestehendes Freimaurertum hatte das Mahl zu einem vergnügten gestaltet, trotz des abgestoßenen Teetopfes, des schlechten, unleidlich versalzenen Specks und des Tees, der wie ein Gebräu aus Mahagonispänen schmeckte.

Von Miß Grimshaw rührte der Vorschlag her, daß Mr. Dashwood, da er seinen Freund zu besuchen gedenke und denselben Weg wie sie zu machen habe, ihren Wagen benutzen möge.

Moriarty, der um seine Meinung befragt wurde, stimmte bereitwilligst ein.

»Er is noch nich angekommen, Miß,« sagte Moriarty, als er das Pferd hielt, während Miß Grimshaw auf den Wagen kletterte.

»Ich möchte wissen, was aus ihm geworden ist,« sagte das junge Mädchen, indem sie ein Plaid über ihre Kniee ausbreitete.

»Meiner Treu, das möchte er woll selber gern wissen,« erwiderte Moriarty und nahm die Zügel in die Hand, »wenn er nich den Richtweg übers Moor gegangen und in 'n Sumpfloch gefallen is.« Welches alles für Mr. Dashwood so unverständlich war, als würde griechisch gesprochen.

Nun warteten sie im Drumgooler Salon auf Mr. Frenchs Erscheinen.

»Übrigens hoffe ich,« erklärte Mr. Dashwood, »er ist wirklich der Mann, den ich in London kennen lernte.«

»Das hoffe ich auch,« erwiderte das junge Mädchen, indessen sie in dem eigenartigen alten Raum mit den vielen Potpourri-Vasen, Sofaschonern und altväterischen Möbeln umherblickte. Das Zimmer hatte einen schwachen Modergeruch, gleich einem vergilbten alten Liebesbrief. Einstmals hatten hübsche Frauen hier gesessen und auf dem Rosenholzflügel gespielt, dessen Klang im Baß den Tönen einer Harfe und im Diskant denen einer Mandoline ähnelte; sie hatten Sofaschoner verfertigt, Richardsons Romane gelesen und nach dem Diner gewartet auf die vom Weine erhitzten Herren, deren fröhliche Stimmen für immer verstummt waren.

»Das hoffe ich auch,« sagte Miß Grimshaw. »Bei mir ist alles in Ordnung, wissen Sie, denn ich bin die Gouvernante. Wenn er nicht Ihr Bekannter ist, wird es sehr seltsam aussehen, daß wir zusammen ankommen, also, bitte, erklären Sie ihm das. Haben Sie Talent für Auseinandersetzungen?«

»Entschieden. Sagen Sie, hat er wohl Familie? Ich meine, sind da eine Menge Kinder?«

»Nein. Mister French hat nur eine kleine kränkliche Tochter. Eine richtige Erzieherin bin ich übrigens nicht. Ich nehme kein Gehalt und dergleichen und bin nur hergekommen, weil – nun, weil ich eine Zeitlang ein Zuhause haben und Irland kennen lernen möchte.«

»Mir scheint, Sie werden hier recht viel von Irland sehen,« entgegnete Mr. Dashwood, gen Osten blickend auf das einsame weite Gelände, das die Berge gleich aufgereiht stehenden gewappneten Kriegern bewachten und auf dem ziehende Wolken- und Vogelschatten das einzige waren, das sich regte.

»Ja,« sagte Miß Grimshaw und gähnte. Sie fand Mr. Dashwood nett, aber augenblicklich erschien ihr seine leichte Unterhaltung fast bedrückend.

»Wie werden Sie es hier im Winter aushalten!« fuhr er fort, während er beobachtete, wie der vor kurzem noch sonnenbeleuchtete Riesenmonolith Croag Mahon sich in Dunst einhüllte, gleich einer sich verschleiernden Dame. »Was in aller Welt sollen Sie mit sich anfangen, wenn es regnet?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Miß Grimshaw. »Seien Sie kein Pessimist. Ah!«

Die Tür öffnete sich und herein trat Mr. French – ein Herr, den Bobby Dashwood noch nie in seinem Leben gesehen hatte.


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