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Kleine, leichte Verstimmung

Vor seiner Ankunft in Pokrowskoje machte Rasputin Station in Tiumen bei seinem Freund, dem Pater und Klostervorsteher Martian. Um die Wiederherstellung des Staretz zu feiern, gab dieser ein grosses Essen, bei dem es sehr lustig herging. Später erzählte man, dass Rasputin bei dieser Gelegenheit allein gegen zwanzig Liter Wein getrunken habe, und das kann durchaus wahr sein.

Nachdem er noch einige Freunde besucht hatte, kam Rasputin am 23. Juni in Pokrowskoje in Begleitung einer Verwandten namens Dunja an. Am Tage darauf war bei ihm grosser Empfang. Man trank, ass, drehte den Phonographen auf und tanzte. Und der Staretz, durch die reichhaltigen Getränke in geschwätzige Stimmung gebracht, rühmte sich wieder wie immer seines Einflusses in Petersburg. Er erzählte, wie es ihm gelungen sei, dreihundert Baptisten aus dem Gefängnis freizumachen. Sie hatten ihm jeder tausend Rubel versprochen; »aber diese Schurken«, fügte er lachend hinzu, »haben mir zusammen nur fünftausend statt dreihunderttausend Rubel gebracht!« Er habe auch den Zaren gebeten, dass die Milizen zweiten Aufgebots erst zum Herbst, nach der Ernte, einberufen würden und nicht etwa schon, solange die Arbeit auf dem Felde noch in vollem Gange sei, wie das Hauptquartier es gewollt habe. Er wisse doch genau, wie störend es für die Bauern sei, wenn gerade mitten in den Erntearbeiten ein Familienmitglied einberufen würde. Die Bauern stimmten ihm natürlich lebhaft zu.

Als er eines Tages hörte, dass der Gouverneur von Tobolsk durch das Dorf kam, suchte er ihn auf und bat ihn, eine Geldstrafe zu erlassen, die einem seiner Nachbarn auferlegt worden war, weil er ein Gebäude errichtet hatte, das nicht den baupolizeilichen Vorschriften entsprach. Im allgemeinen intervenierte er sehr häufig für die Bauern bei den Verwaltungsbehörden; er belästigte die Behörden geradezu mit seinen Eingaben. Aber die Beamten waren gezwungen, auf ihn Rücksicht zu nehmen; denn sie wussten ganz genau, dass er täglich Telegramme an die Wyrubowa und andere wichtige Personen nach Petersburg sandte und auch Telegramme aus Zarskoje-Selo bekam.

Einmal besuchte ihn Warnawa, der im Jahre 1913 auf seine Bitten Bischof von Tobolsk geworden war, in Begleitung des Reverend Martian. Dieser Besuch machte grossen Eindruck auf die neuen Priester im Ort, den Pater Sergei und seinen Diakonus. Wenn sie von jetzt an Rasputin trafen, so küssten sie ihm die Hände – zum grössten Erstaunen der Bauern, die sagten: »Das hätte aber der Pater Piotr niemals gemacht!«

Bald kamen auch Besuche aus Petersburg. Zunächst Frau E. N. Solowiewa, die Frau eines hohen Beamten der Synode und Anbeterin des Staretz. Dann kam bald eine andere Anbeterin, Frau Patuschinskaja, die Gattin eines Offiziers. Rasputin begann wieder sein fideles Leben, spielte den Kavalier bei seinen schönen Anbeterinnen, ohne jedoch darüber die Dorfschönen zu vergessen. Da die beiden Männer ihre Frauen aber schon sehr rasch telegraphisch zurückriefen, machte der Staretz sich auf den Weg, um den Bischof Warnawa zu besuchen. Als er am 17. Juli wieder nach Pokrowskoje zurückkam, fand er bereits neue Besucher aus Petersburg vor: den Oberschulinspektor Dobrowolski mit seiner Frau. Und wieder begannen die Feste. Frau Dobrowolskaja spielte Klavier, man sang, tanzte und trank. Der Staretz bemühte sich stark um sie. Die ganze Gesellschaft machte auf dem Dampfer einen Ausflug nach Tiumen und von da nach Jalutorowsk, um Frau Patuschinskaja zu besuchen. Die mit der Ueberwachung des Staretz beauftragten Beamten notierten darüber in ihren Notizbüchern unter dem 22. Juli: »Um acht Uhr abends sind Frau Patuschinskaja, Dobrowolski, dessen Frau und die Töchter Rasputins in den Strassen der Stadt spazieren gegangen. Um zehn Uhr sprang Rasputin durch das Hoffenster auf die Terrasse. Bald darauf kam Frau Patuschinskaja durch die Hintertür und stieg dann durch das Fenster ebenfalls auf den Hof. Sie machte Rasputin ein Zeichen, und beide verschwanden im Dunkeln.«

Am nächsten Tage reisten die Dobrowolskis nach Petersburg zurück. Rasputin blieb noch einen Tag bei seiner liebenswürdigen Gastgeberin und fuhr dann von Pokrowskoje aus mit seinem Sohn nach Petersburg.

Am 31. Juli traf er dort ein. Auf dem Bahnsteig erwartete ihn Solowiew, der ihn sofort über alles, was in der Synode vorging, ins Bild setzte. Zu Hause erhielt er sofort telephonische Anrufe von der Golowin und aus Zarskoje-Selo. Anbeterinnen und Geschäftsleute suchten ihn auf. Aus all diesen Unterhaltungen ersah er, dass die Atmosphäre in Petersburg sehr ungünstig für ihn geworden war. Der neue Prokurator der Hohen Synode, Samarin, führte eine heftige Attacke gegen alle Anhänger Rasputins. Man erzählte sich sogar in aller Oeffentlichkeit, dass er sein Amt nur unter der Bedingung übernommen habe, dass Rasputin aus der Hauptstadt verschwände; denn er beschuldigte ihn, dass er die Kirchen Verwaltung korrumpiere. Und der neue Innenminister, der Fürst Schtscherbatow, war ebenfalls ein ausgesprochener Feind des Staretz.

Andererseits war auch die allgemeine Lage sehr beunruhigend. An der Front rückte die Katastrophe näher. Allgemein griff man den Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch und seinen Generalstab an. In der Duma hielten die Abgeordneten heftige Reden gegen die Regierung, und der Führer der Rechten, Alexei Chwostow, erklärte, dass man im Lande sage, sie habe sich dem Feinde »ausgeliefert und verkauft«.

Die Zeit war so schwierig und aufregend, dass man in Zarskoje-Selo gar keine Zeit für den Staretz hatte. Man liess ihn wissen, dass er nach Pokrowskoje zurückfahren möge. Am 2. August sandte daher Rasputin zwei Telegramme nach Sibirien. Eins an die Patuschinkis: »Wir sehen uns bald. Küsse.« Das andere an seine Familie: »Bin bald wieder da. Küsse.«

Die Abreise des Staretz wurde übrigens noch beschleunigt durch einen Schlag, den ihm eine Persönlichkeit versetzte, von der man niemals erwartet hatte, dass sie in so heftiger Weise gegen ihn vorgehen würde.

Der neue Innenminister, Fürst Schtscherbatow, war ein Feind Rasputins, aber er hatte bislang noch niemals Gelegenheit gefunden, mit dem Zaren über ihn zu sprechen. Er begnügte sich anfangs damit, ihn mit Verachtung zu behandeln. Jedoch hatte sich eine Wandlung im Verhalten seines Adjunkten vollzogen, des Generals Djunkowski, der sich zu Zeiten des Innenministers Maklakow darauf beschränkt hatte, über den Staretz zu lächeln oder höchstens in Gegenwart von intimen Bekannten zu sagen, dass er ein unheilvoller Mensch sei. Gedrängt von Moskauer Freunden, die mit der Grossfürstin Elisaweta Feodorowna, der Schwester der Zarin, Verbindung hatten, und von einigen Leuten aus dem Gefolge des Zaren, entschloss sich der General, Rasputin beim Herrscher zu demaskieren, indem er auf die Vorgänge im Restaurant »Iar« zurückgriff. Sein Entschluss wurde sicher dadurch mitbestimmt, dass er die moralische Unterstützung der neuen Minister Samarin, Schtscherbatow und Poliwanow zu haben glaubte.

Der General Djunkowski hatte, wie oben schon gesagt, seinerzeit wenig Neigung gehabt, über diesen Skandal einen Bericht zu machen, um so mehr da die Angelegenheit nicht in sein Ressort fiel. Das tat sie auch jetzt noch nicht, aber er hatte das Recht, dem Zaren direkt Bericht über die die Ochrana betreffenden Fragen vorzulegen, und bei dieser Gelegenheit wollte er von der Sache im »Iar« Gebrauch machen.

Er begann damit, dass er eine genaue polizeiliche Untersuchung über die Vorgänge vom 16. April im Restaurant »Iar« einleitete. Als er alle Berichte zusammen hatte, machte er einen Gesamtbericht über die Rolle und den Einfluss Rasputins, ebenso über die Bedeutung, die er im Leben des Zarenreiches gewonnen hatte. Gerade meldete man die Rückkehr des Staretz nach Petersburg, und der General beeilte sich daher, rasch Audienz beim Zaren zu erbitten. Sie wurde festgesetzt auf den Nachmittag des 4. August. Djunkowski erzählt, dass er dem Zaren einen sehr detaillierten Bericht erstattete, der sich ziemlich lange Zeit hinzog. Der Zar hörte aufmerksam und voller Wohlwollen zu. Als der General geendet hatte, dankte er ihm herzlich dafür, dass er ihm die Wahrheit enthüllt hatte, und bat, ihn weiterhin über Rasputins Schalten und Walten auf dem laufenden zu halten, jedoch möge er zu niemandem darüber sprechen.

Djunkowski verliess strahlend das Kabinett des Zaren. In dem Auto, das ihn nach Petersburg zurückbrachte, erzählte er seinem Sekretär, wie die Audienz verlaufen war. Er war ganz aufgeregt und glücklich darüber, dass er dem Lande, der Zarin und auch dem Zaren gegenüber seine Pflicht erfüllt hatte.

Der Zar war so entrüstet über den Staretz, dass er ihm befahl, sofort nach Pokrowskoje abzureisen! Schon am nächsten Tage, am 5. August, verliess er Petersburg. Die Wyrubowa und ihre Schwester brachten ihn im Auto zum Bahnhof. Die Fürstin Tatjana Schakowskaja, die Baronin Kussow, Miller und die Eheleute Dobrowolski erschienen zum Abschied.

Während der ganzen Reise war der Staretz sehr deprimiert. Er begann eine Unterhaltung mit den Ochranabeamten, die ihn begleiteten, und beklagte sich bei ihnen darüber, wie schwer das Leben doch sei, wenn man das Gute und die Wahrheit suche.

Verschiedene Umstände riefen allerdings rasch einen vollständigen Umschwung in der Ansicht des Zaren über den General Djunkowski hervor. Nach Mitteilung des Adjutanten Sablin, der behauptete, dies vom Zaren direkt gehört zu haben, enthielt der schriftliche Bericht von Djunkowski gewisse Dinge, die der General bei seinem mündlichen Vortrag nicht erwähnt hatte. Der Zar sah darin einen Beweis für einen gewissen Mangel an Aufrichtigkeit.

Andererseits nahm die Zarin die Verteidigung ihres Freundes in die Hand und griff Djunkowski heftig an. Schon im Juni hatte sie Djunkowski für ihren Feind gehalten und sich beim Zaren über ihn beklagt. Jetzt beauftragte sie einen Adjutanten, sich über das zu informieren, was in Moskau geschehen war. Der General Adrianow, zur Zeit des Skandals im Restaurant »Iar« Gouverneur der Stadt Moskau, war inzwischen seiner Aemter enthoben worden, und obgleich er es seinerzeit gewesen war, der dem Innenminister Bericht erstattete, sagte er jetzt, dass das Verhalten des Staretz im Restaurant »Iar« einwandfrei gewesen sei.

Der Tropfen aber, der das Fass zum Ueberlaufen brachte, war ein heftiger Artikel gegen Rasputin in der Moskauer Zeitung »Birjewyia Wedomosti« vom 15. August. Das Blatt entwarf ein äusserst ungünstiges Bild vom Staretz, schilderte seine unheilvolle Tätigkeit und schloss mit den Worten:

»Wie konnte ein so verworfener Abenteurer so lange Zeit sich über Russland lustig machen? Ist es nicht verblüffend, wenn man denkt, dass die offizielle Kirche, die Heilige Synode, die Aristokratie, die Minister, der Senat, zahlreiche Mitglieder des Reichsrats und die Duma mit einer solchen Kanaille zusammenhalten konnten? Ist das nicht die entsetzlichste Anklage, die man gegen dieses Regime erheben kann? Gestern noch erschien der politische und religiöse Skandal, den der Name Rasputin hervorrufen konnte, als etwas ganz Natürliches. Heute will Russland, dass das aufhört.«

Dem Zaren fiel auf, dass gewisse Ausdrücke des Artikels wörtlich mit den Ausdrücken des Berichts übereinstimmten, den Djunkowski ihm vor zehn Tagen überreicht hatte. Ausserdem erschien es ihm unmöglich, dass der Artikel ohne Autorisation seitens hoher Beamten aus dem Innenministerium hätte erscheinen können. Damit war Djunkowskis Schuld in den Augen Nikolaus' II. ausser jedem Zweifel. Am 15. August schickte er dem Fürsten Schtscherbatow, dem Innenminister, das nachstehende lakonische Telegramm: »Enthebt sofort seiner Funktion General Djunkowski unter Beibehaltung im Gefolge.«

Mit Blitzesschnelle verbreitete sich in der Hauptstadt das Gerücht, dass Djunkowski wegen Rasputin abgesetzt worden war. Und obgleich der Zar den General gebeten hatte, zu niemandem darüber zu sprechen, dass er ihm einen Bericht über Rasputin gegeben habe, betonte man in den politischen Kreisen gerade die Tatsache, dass Djunkowski dem Zaren einen wahrheitsgemässen Bericht gegeben habe. Es war also offenbar, dass Djunkowski nicht diskret gewesen war.

Am 17. August veröffentlichte dann die Zeitung »Wetscherneje Wremja« einen Artikel »Immer noch Rasputin«, in dem gesagt wurde, dass Rasputin eine Kampagne zugunsten eines Sonderfriedens führe und dass er dabei die Unterstützung der »deutschen Partei« habe. Diese Unwahrheit, die durch keine konkrete Angabe gestützt wurde, lief ebenfalls rasch durch die Stadt. Alle wussten, auf wen die Anspielungen der Zeitung hinzielten. Die unsichtbare Hand des Feindes arbeitete mit verstärkter Kraft daran, den Gärungsstoff der Auflösung ins Hinterland zu werfen. Und alle, die ihre Entrüstung über eine sogenannte »deutsche Partei« – die es in Wirklichkeit niemals am russischen Hof während des Krieges gegeben hat – hinausschrien, arbeiteten unbewusst dem deutschen Hauptquartier in die Hände.

Das Zarenpaar nahm sich diese Beleidigung des Staretz sehr zu Herzen und verteidigte Rasputin mit erneutem Eifer. Der Zar hatte bei dem Artikel in der »Birjewyia Wedomosti« bereits die Geduld verloren und rief den General Frolow, den Chef des Militärbezirks von Petersburg, dem natürlich auch die Militärzensur unterstand, zu sich und warf ihm vor, dass er den Artikel gegen Rasputin habe durchgehen lassen. Frolow liess seinerseits den Herausgeber der Zeitung zu sich kommen, bedrohte ihn mit Exil und schloss die Unterredung mit den Worten: »Verbot, an Rasputin zu rühren. Absolutes Verbot!« Der Verleger aber suchte Beistand beim General D. P. Strukow, dem Chef der Militär-Zensur-Kommission, einem anständigen Menschen, der an diesem verantwortungsvollen Posten keineswegs auf seinem richtigen Platz war. Nachdem er sich mit Frolow darüber unterhalten hatte, sagte er dem Herausgeber:

»Der General lässt sich bei Ihnen entschuldigen. Er hat Ihnen gegenüber nur die Worte und das Verhalten wiederholt, mit denen er in Zarskoje-Selo wegen Ihres Artikels empfangen worden ist. Was den Artikel selbst anbetrifft, so bittet er mich, Sie wissen zu lassen (hierbei senkte Strukow die Stimme) – natürlich unter der Bedingung, dass Sie mir Ihr Ehrenwort geben, dass Sie es ganz für sich behalten – dass Ihre Artikel wirklich nützlich und ausgezeichnet waren. ›Er hat unerhört recht daran getan, dass er sie veröffentlichte‹, hat er mir gesagt … Aber jetzt: kein Wort mehr … Mund halten über alles, was Rasputin betrifft.«

Diese Zwischenfälle erschütterten das Vertrauen des Zaren zum Innenminister Fürst Schtscherbatow. Die Pressekampagne gegen Rasputin hätte nur in Gang kommen können, meinte er, weil der Innenminister ein Auge zugedrückt hatte. Die Gerüchte, die durch die Redaktionssäle liefen, schienen übrigens diese Auffassung zu bestätigen. Und in der Gesellschaft der Hauptstadt überschüttete man Schtscherbatow mit Lobliedern, weil er für die Pressefreiheit sei und mit Samarin und Djunkowski einen Kampf für die gute Sache gegen Rasputin führe. Deshalb taten Rasputins Parteigänger in der Hauptstadt alles, um den Innenminister endgültig in Ungnade fallen zu lassen.

Das war die Tragödie, die sich in der Hauptstadt abspielte. Die Kluft zwischen dem Thron einerseits und der grossen Gesellschaft und den Schichten der Intelligenz andererseits vertiefte sich immer mehr. In derselben Zeit führte der Hauptschuldige an diesem Drama in Pokrowskoje ein vergnügtes, nach allen Richtungen ausschweifendes Leben.

Am 9. September steigt Rasputin in Tiumen an Bord eines Dampfers, der ihn nach Pokrowskoje bringen soll. Es ist ein klarer, schöner Herbsttag. Die Radschaufeln plätschern vergnügt im Wasser des Flusses. An Deck, wo eine kleine Militärabteilung Platz genommen hat, horchen die Leute auf Geschichten, die lachend einer aus ihrer Runde erzählt. Rasputin tritt aus seiner Kabine. Er ist halb betrunken. Als er die Soldatengruppe sieht, tritt er näher, beginnt mit ihnen eine Unterhaltung, stiftet ihnen fünfundzwanzig Rubel und fordert sie auf, zu singen. Und während der Dampfer auf der spiegelglatten Fläche dahingleitet, erhebt sich einer dieser russischen Gesänge, die einem das Innerste der Seele aufwühlen, in denen man, wie die Fremden sagen, die slawische Seele vibrieren hört. Auf die Reling gestützt, hört Rasputin sinnend zu. Als der Chor schweigt, steigt er in seine Kabine hinunter, kommt dann wieder und bringt hundert Rubel, die er unter die Soldaten verteilt. Er ist sehr befriedigt und fragt die Soldaten, ob sie nicht etwas Heiteres singen wollen. Und schon ertönt das feurige »Auf, auf, Dunja …«, das der Chor mit scharfen Pfiffen begleitet. Rasputin wird lebendig. Er fängt an zu singen, zu tanzen und im Takt mit den Fingern zu schnalzen. Zum Teufel mit allen schwarzen Gedanken! Er zieht die Soldaten mit sich und lässt ihnen in der zweiten Klasse zu essen geben. Der Kapitän widersetzt sich. Nun, er lässt ihnen einfach in der dritten Klasse servieren.

Nach dieser Szene zieht sich Rasputin wieder in seine Kabine zurück. Als er wieder zum Vorschein kommt, ist er vollkommen betrunken und kann sich kaum auf den Beinen halten. Er rempelt einen Fahrgast an, streitet sich und balgt sich fast mit einem anderen wegen des Bischofs Warnawa; er beleidigt in grober Weise einen Kabinensteward und beschuldigt ihn, er habe dreitausend Rubel gestohlen, die er unter seinem Kopfkissen verborgen hatte. Man beschliesst, bei der Ankunft in Tobolsk ein Protokoll aufnehmen zu lassen. Immer noch taumelnd gelangt er schliesslich in seine Koje, lässt sich schwer neben dem Tisch hinfallen und brummelt, den Kopf hängen lassend, unverständliche Worte, während der Speichel ihm von den Lippen läuft. Lachend betrachten ihn die Fahrgäste durch die Schiffsluken. Einer sagt, die Worte des orthodoxen Requiems nachahmend:

»Ewig gedenke ich dein, oh Rasputin, ewig gedenke ich dein, oh heiliger Mann!«

»Man soll ihn verprügeln! Man soll ihm den Bart abschneiden!« scherzt ein anderer.

Die Polizeibeamten bitten darauf den Kapitän, die Schiffsluken zu schliessen.

Der Staretz rollt sich unter dem Tisch zusammen und verfällt in einen bleiernen Schlaf.

Am Abend kommt der Dampfer in Pokrowskoje an. Die Töchter des Staretz erwarten ihren Vater in Begleitung von Dunja und Katia. Unter den Glossen des Publikums schaffen die Polizeibeamten mit Hilfe von zwei Schiffsleuten den Staretz an Land: er schläft noch immer wie ein Klotz. Man hebt ihn schliesslich auf einen Wagen und fährt ihn nach Hause …

Am nächsten Tage, als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, fragte er, was denn eigentlich am Tage vorher auf dem Dampfer geschehen sei. Er konnte es sich gar nicht erklären, wie er so betrunken sein konnte, denn er habe nur drei Flaschen Wein getrunken.

»Oh weh, mein Junge! Das ist aber eine unangenehme Geschichte!« sagte er immer wieder.

Wie schon bei seinem letzten Aufenthalt in Pokrowskoje, bekam er auch dieses Mal bald nach seinem Eintreffen wieder den Besuch des Bischofs Warnawa und des Paters Martian. Auch Frau Patuschinskaja kam wieder, und der Staretz machte ihr, gleichzeitig aber auch der Frau des Diakons den Hof. Er war jedoch in recht düsterer Stimmung. Der Bischof sagte ihm, dass der Gouverneur von Tobolsk ihm eine Strafe habe auferlegen wollen, weil er einen Skandal auf einem Dampfer verursacht habe, doch sei es dem Bischof gelungen, das zu unterdrücken. Das hinderte aber den Staretz nicht, sich in einem Telegramm in Petersburg darüber zu beschweren. Aus der Hauptstadt schrieb man ihm, dass die Zeitungen ihre Kampagne gegen ihn fortsetzten. Rasputin beklagte sich einem der Polizeibeamten gegenüber eines Tages darüber mit folgenden Worten:

»Ja, mein Junge, meine Seele ist tief betrübt. Ich bin sogar ganz stumpfsinnig vor Kummer. Es kann mir passieren, dass ich ein oder zwei Stunden lang meinen Geist befreit fühle, aber dann ist alles plötzlich wieder aus.«

»Und warum befinden Sie sich in solchem Zustand?« fragte der Beamte.

»Nun, mein Junge, weil es im Lande nicht gut aussieht. Und dann gibt es da so Unglückszeitungen, die über mich schreiben. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich muss ihnen mal den Prozess machen.«

Als Rasputin einmal bei seinem Bruder Nikolai war, geriet er wegen einer Kleinigkeit mit seinem Vater in Streit und warf sich wie ein Tobsüchtiger auf den alten Mann, stiess ihn vor die Tür, warf ihn auf die Erde und fing an, auf ihn einzuschlagen.

»Schlag mich nicht, du Kanaille!« rief der Greis.

Aber Rasputin hörte nicht darauf und fuhr fort, auf ihn einzuprügeln. Nur mit grosser Mühe gelang es, sie zu trennen. Der Alte, der ein blaues Auge davontrug, schimpfte auf seinen Sohn ein:

»Jedem, den ich treffe, werde ich erzählen, was für ein Dummkopf du bist. Alles, was du verstehst, das ist, die Brüste der Dunja zu streicheln.«

Man musste Rasputin zurückhalten, weil er von neuem sich auf seinen Vater stürzen wollte. Alle beide waren betrunken.

Bald geschah dann ein neues Unglück: die weiteren Einberufungen, unter die auch Rasputins Sohn fiel. Rasputin telegraphierte verzweifelt nach Petersburg, ob sein Sohn nicht in das Privatregiment des Zaren eingereiht werden könne. Die Antwort war negativ; General Wojekow lehnte glattweg ab. Rasputin wandte sich dann an Frau Patuschinskaja, die es durchsetzte, dass er in das Tiumer Regiment eintreten konnte.

Rasputin lebte mit seiner Familie und mit Frau Patuschinskaja in dem Kloster, dessen Prior Martian war. Er hatte Angst, in die Stadt zu gehen; denn er hatte anonyme Drohbriefe erhalten. Einer dieser Briefe, der mit Schreibmaschine geschrieben war, lautete:

»Grigori, unser Vaterland ist im Begriff, zugrunde zu gehen. Man will einen schimpflichen Frieden schliessen. Da du chiffrierte Telegramme vom kaiserlichen Hauptquartier erhältst, schliessen wir daraus, dass du grossen Einfluss hast. Daher bitten wir dich, die wir dazu bestimmt sind, es so einzurichten, dass die Minister dem Volke gegenüber verantwortlich sind, dass die Duma zum 23. September dieses Jahres zum Heile unseres Vaterlandes einberufen wird, und wenn du das nicht tust, werden wir dich töten. Wir werden keinerlei Mitleid haben, und unsere Hand wird nicht zittern wie die Hand der Gussewa. Wo du dich auch aufhältst, wir werden unseren Auftrag durchführen. Wir sind zehn Mann, die durch das Los bestimmt sind.«

Voller Angst zeigte Rasputin diesen Brief den Polizeibeamten und bat sie, ihre Ueberwachung noch zu verstärken. Er sagte ihnen mit verzweifelter Miene, dass er gern nach Petersburg zurückkehren möchte, aber Annuschka riefe ihn immer noch nicht.

Den Kontakt mit der Wyrubowa und, durch ihre Vermittlung, mit der Zarin hatte er nach seiner Abreise aus Petersburg aufrechterhalten. Telegramme gingen häufig hin und her. In der ersten Woche hatte er energisch die Entschliessung des Zaren unterstützt, das Oberkommando über die russischen Truppen selbst zu übernehmen; er hatte ihn gedrängt, nicht wieder nach hinten zurückzukommen, denn er allein werde Russland retten. Alexandra Feodorowna schrieb alle diese Telegramme auf ein Blatt Papier ab und überreichte dem Zaren diesen Bogen, als er am 22. August nach dem Hauptquartier abreiste, um das Oberkommando zu übernehmen.

Einige der Telegramme, die Rasputin geschickt hatte, waren ziemlich unverständlich:

»Erinnert euch Versprechen zu treffen. Nur der Herr hat das Banner des Sieges gezeigt. Selbst wenn Kinder und Freunde gegen euch sind, müsst sagen steigt die Treppe hinauf. Unnütz unsern Geist stören zu lassen.«

Als man von Zarskoje-Selo aus geschrieben hatte, dass man wegen der Wendung, die die Dinge an der Front nahmen, sehr in Unruhe sei, telegraphierte er:

»Warum euch aufregen? Fürchtet nichts. Schutz der Mutter Gottes über uns. Besucht Hospitäler um Namen Gottes zu rühmen. Feinde wollen euch erschrecken, habt Glauben.«

Im September war Frau Rasputin neuerdings in Zarskoje-Selo. Jedesmal wenn sie die Wyrubowa sah, sagte sie ihr, wie sehr ihr Mann unter all den Verleumdungen, die man über ihn in Umlauf setze, litt. Seine treuen Anhänger beschlossen, eine Offensive zu seinen Gunsten einzuleiten. Eben war der Bischof Warnawa von Tobolsk zur Heiligen Synode gerufen worden, wo er einige Erklärungen abgeben sollte. Er benutzte die Gelegenheit, um voller Leidenschaft beim Prokurator Samarin für Rasputin einzutreten. Samarin aber genierte sich nicht, ihm ganz offen zu sagen, was er von Rasputin dachte. Die Ausdrücke, mit denen er ihn belegte, wurden der Zarin hinterbracht, Und man erzählte ihr auch, dass der Gouverneur von Tobolsk ebenfalls Beleidigungen gegen Rasputin, ja auch gegen die Wyrubowa und sogar gegen den Hof, ausgesprochen habe.

Für die Zarin stand die Unschuld Rasputins ausser jedem Zweifel, und sie wurde in ihrer Auffassung noch bestärkt durch eine Erklärung, die der Justizminister Alexander Chwostow, der sich allgemeiner Achtung erfreute, abgegeben hatte. Am 24. August hatte Chwostow im Ministerrat bekanntgegeben, dass nach Aeusserungen Rodziankos man darauf gefasst sein müsse, dass im Falle einer Auflösung der Duma noch vor Beendigung der Sitzungen eine Interpellation wegen Rasputin eingereicht werden würde. »Man kann sich leicht denken, wie diese Interpellation begründet sein wird«, hatte der Minister weiter gesagt. »Aber es ist uns unmöglich, den Leuten den Mund zu stopfen. Es wird ein Skandal ohnegleichen werden. Rodzianko erklärt uns, dass das einzige Mittel, dies zu vermeiden, darin bestehe, dass der Justizminister von sich aus ein Untersuchungsverfahren gegen Rasputin einleitet und ihn scharf im Auge behält. Ich habe die Frage unter diesem Gesichtswinkel geprüft und bin zu der Ueberzeugung gelangt, dass für die Justizbehörde keinerlei Tatsachen vorliegen, auf Grund deren man ein solches Eingreifen rechtfertigen könnte.«

Eine solche Erklärung aus dem Munde eines wegen seiner Gerechtigkeit allgemein angesehenen Ministers, der obendrein ganz offen gegen Rasputin eingestellt war, musste natürlich von ganz besonderem Gewicht sein. Bei der Duma selbst fand Rasputin unerwartet noch einen neuen Verteidiger: Alexei Chwostow, den Abgeordneten der Rechten, der wegen seiner aufsehenerregenden Reden gegen die Deutschen und gegen den General Djunkowski bekannt war.

Dank den vereinten Bemühungen der alten und der neuen Freunde des Staretz erlaubte der Zar, der am 23. September aus dem Hauptquartier nach Zarskoje-Selo gekommen war, dem Staretz, nach Petersburg zurückzukehren. Schon am nächsten Tage verliess er Pokrowskoje; am 28. September traf er in der Hauptstadt ein, und damit begann ein neuer Abschnitt seines Lebens, der aufs engste verknüpft ist mit den Namen: Fürst Andronikow, Alexei Chwostow und Beletski.


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