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Ein Eisenbahnunglück und seine Folgen

Anfang 1915 ist Rasputin fast vollkommen wiederhergestellt. Sein Leben spielt sich jetzt ab unter dem Zeichen des Krieges, der ihm einen ganz besonderen Stempel aufdrückt und sein Handeln in ganz bestimmte Bahnen drängt. In Petersburg herrscht, wie in ganz Russland, ausgesprochene Kriegsatmosphäre. Die einen dienen treu auf ihrem Posten und erfüllen die bald bescheidene, bald wichtige Funktion, die ihnen obliegt. Andere benutzen den Krieg als Anlass für Spekulationen kleineren oder grösseren Ausmasses, je nach ihren Möglichkeiten und Kapitalien. Wieder andere geben sich, wie zum Trotz gegen den Tod, der über der Welt schwebt, wie in einer Art von Wahnsinn, den ausschweifendsten Vergnügungen hin.

Rasputin steht in engster Fühlung mit Vertretern all dieser Gruppen. Jetzt, da das kaiserliche Paar seiner nicht mehr entbehren kann, teilt er mit ihm alle Sorgen und Kümmernisse. Und da alle ihre Gedanken vom Krieg und von der Erringung des Sieges in Anspruch genommen sind, ist auch Rasputins Sinnen und Trachten nur auf den Krieg eingestellt. Mit seinem bäuerlichen gesunden Menschenverstand erfasst er, was richtig ist und was man tun muss. Der Graf Witte hat das einmal, noch kurz vor dem Krieg, im Auslande Bekannten gegenüber zum Ausdruck gebracht, indem er sagte:

»Sie können sich nicht vorstellen, was für eine grosse Intelligenz in diesem bemerkenswerten Menschen steckt. Er versteht besser als irgend jemand in ganz Russland den russischen Geist, seine Empfindungen und seine politischen Sehnsüchte. Er weiss alles auf Grund einer Art von Intuition. Es ist ein Unglück, dass er jetzt im Augenblick abgeschoben ist …«

Bei seinen Unterhaltungen mit der Annuschka und bei seinen Zusammenkünften mit dem Zarenpaar setzt Rasputin seine Ideen auseinander, er verfechtet sie und gibt seine Ratschläge. Natürlich würzt er sie meistens mit Gebeten. Die Gebete und der Glaube – das ist wie eine Art von Prisma, das seine Gedanken erst passieren müssen, um ihren ganz besonderen Wert in den Augen des Zarenpaares zu erhalten.

Mit Rücksicht auf seine hohen Protektoren und seine Beziehungen suchen die Geschäftsleute, die Financiers und die einfachen Spekulanten seine Freundschaft, damit er ihnen seine Unterstützung gewährt. Rasputin selbst ist an ihren Geschäften nicht interessiert: er ist vor allem eitel. Wenn der Bittsteller ihm gefällt, wenn er sieht, dass er dem Zaren nützlich oder doch wenigstens nicht schädlich ist, so gewährt er ihm seine Unterstützung. Aber der Betreffende muss den richtigen Ton zu finden wissen, die empfindliche Stelle bei ihm treffen, seiner Eigenliebe und seiner Eitelkeit schmeicheln, an seine Macht beim Zarenpaar appellieren. Alles hängt von der Geschicklichkeit ab, mit der er seine Angelegenheit bei Rasputin anzubringen versteht. Hat er Erfolg damit, wird ihm Hilfe zugesagt, aber nur Hilfe: die Sache selbst wird nachher von den hohen Persönlichkeiten »gemacht«. Rasputin selbst beschränkt sich ganz darauf, zu empfehlen. So bittet der General Mossolow ihn eines Tages, ihm dabei zu helfen, dass der Zar einem seiner Projekte zustimmt. Grigori antwortet ihm, nachdem er die Sache angehört hat:

»Ja … aber was kann ich dabei machen? … Alles, was ich machen kann, ist, dass ich ihm sage, er möge dich anhören … Und er wird dich dann anhören … Er ist ja intelligent, und er wird dann selbst sehen, was an der Sache dran ist … Ich aber, was kann ich weiter machen? … Ich kann dir meinen Segen geben.«

Rasputin hatte recht. Er beschränkte sich auf diese Form der Hilfe. Auf diese Weise waren die hohen Persönlichkeiten, die die Angelegenheiten auf Grund seiner Intervention weiterbearbeiteten, zu einem guten Teil für alles verantwortlich, was während der letzten zwei Jahre des Zarenreichs mit dem Namen Rasputin in Verbindung gebracht wurde.

Mit den Repräsentanten der dritten Kategorie feierte Rasputin seine Feste und Orgien nach allen Regeln der Kunst. Niemals hat er sich so vielen Ausschweifungen hingegeben wie in diesen zwei letzten Jahren seines Lebens. Niemals hat er so getrunken.

Man konnte den Staretz in der »Villa Rodé« und in allen Restaurants treffen, die gerade in Mode waren und wo die Repräsentanten von »ganz Petersburg« ihr Leben voller Feste und Skandale hinbrachten.

Sehr oft wurden diese Orgien, an denen Rasputin teilnahm, von Finanzleuten, Spekulanten und Leuten aller möglichen sozialen Stellungen, die ihn für ihre geschäftlichen Angelegenheiten interessieren wollten, veranstaltet.

Und den Leuten der vierten Gruppe, die nach Hilfe und Schutz suchten, waren seine Türen weit geöffnet. Man traf bei ihm Angehörige aller sozialen Schichten. Zu Hunderten, zu Tausenden suchten sie ihn auf, die einen wegen einer Empfehlung, die anderen wegen einer Unterstützung. Es kamen viele Frauen, sehr viele Frauen aus der Provinz, die ihn baten, zugunsten ihres Gatten oder eines Angehörigen zu intervenieren. Diese Bittstellerinnen waren zu allem bereit, wenn sie nur den erbetenen Schutz erhielten. Meistens gewährten sie gleich an Ort und Stelle in einem kleinen Nebenzimmer dem Staretz den Preis für seine Protektion.

Aber in dieser Form spielten sich die Dinge nur mit jungen und schönen Bittstellerinnen ab; doch schenkte Rasputin auch den weniger Begehrenswerten sein volles Interesse. Er gab den Leuten kleine Zettelchen für die Minister mit. Im allgemeinen beschränkte sich seine Empfehlung auf wenige Worte, die er mit kaum leserlicher Handschrift hinkritzelte: »Mein Lieber. Hilf ihr. Sie ist eine brave Frau.« Voran stand ein Kreuz, wie es bei Dienern der Kirche üblich ist, und darunter die Unterschrift »Grigori«.

Die Bittsteller aus der Provinz hatten ein blindes Zutrauen zu diesen Briefchen. An diejenigen, die ihn um Geld baten, teilte er Beträge aus, ohne sie nachzuzählen. Eine unglückliche Frau erzählte ihm von ihrer Not: er griff in seine Tasche, nahm alles heraus, was er drin vorfand, legte es vor der verdutzten Bittstellerin auf den Tisch und sagte:

»Da – nimm das und geh beten! Gott wird dir zu Hilfe kommen. Geh!«

Der Maler Korowin erzählt, dass einmal die Witwe eines Obersten zu Rasputin kam, eine unglückliche, kranke, hässliche Frau, die bislang vergebens an alle Türen geklopft hatte. Rasputin hörte ihre Leiden an und sagte:

»Haben die Leute denn Zeit, dich anzuhören! Sie hören dabei nicht einmal auf, ihre Papiere vollzuschreiben. Diese Dummköpfe, die Arbeit wächst ihnen ja über den Kopf!«

»Dann liess er mich sitzen« – so erzählt die Witwe des Obersten selbst weiter – »und wandte sich an jemanden, den er bislang ununterbrochen angesehen hatte.

›Hast du Geld bei dir?‹ fragte er ihn.

Der Betreffende durchwühlte seine Taschen.

›Gib mir alles, was du hast!‹ sagte der Staretz und liess es sich geben.

›Nun, ihr kleinen Drückeberger, die Geschäfte sind gut gegangen‹, sagte er dann zu den anderen. ›Gebt mir doch einige Kopeken!‹

Alle mussten in den sauren Apfel beissen. Er hatte die Hände voll Geld. Dann kam er wieder zu mir, reichte mir das Ganze und sagte: ›Nehmen Sie das, Hoheit!‹ Ich war nicht imstande, etwas zu sagen.

›Gehen Sie. Auf Wiedersehen!‹ sagte er dann. ›Verlieren Sie vor allem das Geld nicht!‹

Er legte mir seine kräftige Hand auf die Schulter und liess mich zur Tür taumeln.

Als ich draussen das Geld nachzählte, waren es dreiundzwanzigtausend Rubel.«

Am 2. Januar 1915 verunglückte der Zug, der die Wyrubowa von Petersburg nach Zarskoje-Selo bringen sollte. Der Unfall forderte viele Opfer. Aus den Trümmern eines Wagens zog man auch die Annuschka schwer verletzt und mit gebrochenen Beinen hervor. Mehrere Stunden lang lag sie in einem Wächterhäuschen; man musste abwarten, bis die Schienenstrecke freigelegt war. Endlich kam ein Hilfszug, der sie nach Zarskoje-Selo brachte. Die Zarin und ihre Töchter erwarteten die Verletzte schon am Bahnhof. Alexandra Feodorowna brachte persönlich ihre Freundin in einem Krankenwagen ins Hospital. Eiligst erschienen der Zar und die Angehörigen der Wyrubowa. Die Fürstin Gedroitz, eine Aerztin, übernahm die Behandlung. Annuschka war noch nicht wieder zum Bewusstsein gekommen, und man glaubte, sie würde sterben. Man benachrichtigte Rasputin, der an diesem Abend in Petersburg bei der Fürstin Mdiwani in Gesellschaft des Generals Mossolow speiste.

siehe Bildunterschrift

Frau A. A. Wyrubowa, Rasputin und Frau Tamara A. Rodzianko.

Man teilte ihm telephonisch mit, dass Annuschka im Begriff sei, ihren Geist aufzugeben. Nach vielen Schwierigkeiten kam der Staretz in Zarskoje-Selo an, und der Schlosskommandant führte ihn in das Krankenzimmer. Noch immer lag die Wyrubowa ohne Bewusstsein. Rasputin trat ans Bett, nahm ihre Hand, sah sie fest an und sagte mit lauter Stimme in befehlendem Ton:

»Annuschka, wach auf, sieh mich an!«

Da schlug die Wyrubowa die Augen auf. Als sie Rasputin über sich gebeugt sah, fing sie an zu lächeln und sagte:

»Grigori – du bist da! Gott sei gelobt!«

Rasputin wandte sich zu den Umstehenden und erklärte: »Sie wird genesen!« Dann ging er taumelnd hinaus und fiel im Nebenzimmer ohnmächtig hin. Als er wieder zu sich kam, fühlte er eine grosse Schwäche und war ganz in Schweiss gebadet.

Der Eindruck, den die Szene auf die Zarin und auf alle Anwesenden machte, war ungeheuer. Die Zarin stellte das, was sich vor ihren Augen zugetragen hatte, als ein wahres Wunder hin. Und wenn Rasputin die Szene schilderte, pflegte er stets hinzuzufügen:

»Seitdem ist mir die Annuschka teurer geworden als die ganze Welt, noch teurer als die Zaren!«

Grigoris Prophezeiung bewahrheitete sich: die Wyrubowa blieb am Leben, aber sie hinkte und musste an Krücken gehen. Der Vorfall verstärkte ihren Glauben an Rasputin noch mehr und kettete sie noch fester an ihn. Gleichzeitig hatte er aber auch zur Folge, dass die Verstimmung der Zarin nachliess. Die Zarin hatte aus irgendeinem Grunde das Gefühl, dass sie selbst irgendwie für den Unfall, der die Wyrubowa betroffen hatte, verantwortlich sei, und sie wurde ihr gegenüber wieder ebenso zärtlich, wie sie zu Anfang gewesen war, und nichts konnte diese beiden unzertrennlichen Freundinnen in Zukunft mehr auseinanderbringen.

Für die Zarin war die Szene an Annuschkas Krankenlager ein neuer Beweis für die Kraft der Gebete des Staretz. Wie konnte man nach all dem noch daran zweifeln, dass seine Gebete Gott angenehm waren! Rasputin brauchte daher jetzt nur noch zu sagen, dass er beten werde, sofort hellte sich das Gesicht der Zarin auf; Rasputin sagte, er werde dafür beten, dass die Armee den Sieg davontrage, und die Zarin wartete voller Vertrauen auf den Sieg.

Für Grigori hatte der Unfall der Wyrubowa noch eine andere, sehr bedeutungsvolle Folgeerscheinung. Die Wyrubowa blieb nämlich zwei Monate im Hospital, dann brachte man sie in ihre Wohnung, wo sie noch sehr lange Zeit liegen musste. Während dieser ganzen Zeit genoss Rasputin eine viel grössere Freiheit, weil seine Freundin Annuschka ihn nicht aufsuchen konnte. Alle diejenigen, die daran interessiert waren, dass der Staretz sich dem Trunk und der Ausschweifung hingab, nutzten diese Gelegenheit weidlich aus. Und Grigori, der nicht nur an Frauen – denn die kannte er schon – sondern auch am Wein, an Zigeunermusik und an den Petersburger schlaflosen Nächten Gefallen gefunden hatte, machte gern von seiner Freiheit Gebrauch. Die Polizeiberichte, die nach der Revolution auszugsweise veröffentlicht wurden, geben ein anschauliches Bild von seinem Leben aus jenen Tagen.

Und dabei erwähnen die offiziellen Berichte keineswegs alles, was sonst noch in den Notizbüchern der mit der Ueberwachung beauftragten Beamten notiert war. Viele Namen und viele Oertlichkeiten wurden mit Stillschweigen übergangen, wenn bekannte Persönlichkeiten in die Orgien und galanten Abenteuer verwickelt waren.

Am 26. März endigte einer dieser Abende, den man im Moskauer Restaurant »Iar« veranstaltete, mit einem grossen Skandal.

Mit der Zunahme der Spekulation in Kriegslieferungen war Moskau nämlich in den Tätigkeitsbereich Rasputins eingetreten. Mehrere rührige Moskauer Geschäftsleute hatten seine Bekanntschaft gesucht, um ihren Transaktionen besseren Erfolg zu sichern.

Am 26. März abends gegen elf Uhr erschien er im Restaurant »Iar« in Begleitung zweier Damen und des Journalisten N. I. Sojedow, der ebenfalls kaufmännische Geschäfte betrieb. Alle hatten reichlich getrunken. Sie wollten den Handel »begiessen«, den sie abgeschlossen hatten. Sie nahmen ein Separatzimmer, liessen eine Zigeunerkapelle kommen und riefen bei S. D. Kugulski an, dass er ihnen noch Gesellschaft leisten möge. Der Zigeunerchor sang, man tanzte Matchiche und Cake-Walk, man leerte viele Flaschen. Rasputin war halb betrunken, tanzte und liess sich zu vertraulichen Aeusserungen gegenüber den Zigeunerinnen hinreissen.

»Diesen Kaftan«, sagte er zu einer von ihnen, »hat mir die Alte gemacht.« Und dann erklärte er ihr, dass er mit der »Alten« die Zarin meinte.

Vollkommen gerührt nach einem russischen Tanz, brüstete er sich noch mit folgenden Worten:

»Was würde ›sie‹ wohl sagen, wenn ›sie‹ mich hier so sähe!«

Die ganze Gesellschaft trank weiter. Grigori wurde immer betrunkener. Um ihn zu reizen, sagte ihm jemand, er wäre ja gar nicht Rasputin. Er nahm die Sache ernst und fing nun an, übrigens auf sehr komische Art und Weise, zu beweisen, dass er doch Rasputin sei.

»Hinterher«, sagt der Bericht des Chefs der Moskauer Ochrana, »wurde das Betragen Rasputins vollkommen undezent und nahm einen sexual-pathologischen Charakter an. Er soll seine Geschlechtsorgane entblösst und in diesem Zustand sich weiterhin mit den Choristinnen unterhalten haben, wobei er an einige von ihnen handgeschriebene Zettelchen verteilte, die allerlei Weisheiten enthielten, wie: »Liebe selbstlos!« Der Kapellmeister gab Rasputin zu verstehen, dass es unmöglich sei, sich so zu verhalten, aber Rasputin erwiderte ihm, dass er die Gewohnheit habe, sich so zu amüsieren, wenn er sich amüsiere. Rasputin verteilte dann noch an die Sängerinnen Geldsummen, die ihm die jüngere der beiden Damen aus seiner Begleitung gegeben hatte. Die Gesellschaft brach um zwei Uhr morgens auf.«

In den beiden Hauptstädten rief der Skandal aus dem Restaurant »Iar« grosse Entrüstung hervor. Allgemein war man sich darüber einig, dass der Muschik sich jetzt mit einer Schamlosigkeit aufführe, die wirklich alle Grenzen überschreite.

Als Rasputin wieder in Petersburg war, schickte er seinen beiden Moskauer Anbeterinnen zärtliche Depeschen. An die eine, eine Fürstin, telegraphierte er: »Freue mich über meine Eroberung; traurig über Wartezeit; küsse meine Liebe.« An die andere, die Frau eines Kaufmanns: »Angebeteter Schatz; bin aufs engste bei dir in Gedanken; küsse dich.«

Den Monat April verbrachte er sehr heiter in Petersburg. Er nahm an den Trinkgelagen seiner Freunde teil; sehr häufig brachte er Frauen mit nach Hause, die die ganze Nacht bei ihm blieben. Am 26. April fand in seinem Hause eine Abendgesellschaft statt, an der ein Bankier teilnahm. Man tanzte, sang und amüsierte sich so, dass der Staretz am andern Tage noch nicht wieder zu sich gekommen war.

Der Monat Mai verlief ebenso lustig. Rasputin feierte mehrere Gelage mit dem Bankier Manus. Zweifellos handelte es sich um ein wichtiges Geschäft, das zum Ressort des Finanzministers Bark gehörte; denn am 11. Mai schrieb Alexandra Feodorowna an den Zaren:

»Unser Freund hat Bark aufgesucht, und sie haben sich zwei Stunden lang sehr gut miteinander unterhalten.«

Die Bankiers waren aber nicht die einzigen Genossen seiner fidelen Stunden. Wie schon bisher, findet man auch jetzt Leute aller Art in seiner Umgebung: eine Dame aus der Gesellschaft mit einem grossen Titel, eine Prostituierte, einen kleinen Kaufmann, einen Geschäftemacher, einen Offizier aus der Provinz und sogar einen General.

Das hindert ihn aber nicht, am 1. Juli nachstehendes Telegramm an seine Familie in Pokrowskoje zu senden, die ihn gebeten hatte, zu kommen:

»Bin sehr betrübt; Annuschka geht es schlecht, wird Operation nötig sein. Im Augenblick lässt man mich keinesfalls abreisen. Wie geht es Euch. Küsse Euch.«

So spielte sich das Leben des Staretz ab. Bei seinen Ausschweifungen stärkten ihm seine Freunde und Anbeterinnen den Rücken. Ein Skandal jagte den anderen, die Empörung seiner Gegner wuchs, aber das Zarenpaar schien davon nichts zu wissen. Der Zar war vollkommen vom Krieg in Anspruch genommen. Bis zum Monat Juli war er fast ständig auf Inspektionsreisen, zeigte sich überall, wo es notwendig war, und durchstreifte ständig ein riesiges Dreieck, dessen Ecken Helsingfors in Finnland, Lwow in Galizien und Medschingert in Transkaukasien waren.

Die Zarin hatte sich in den ersten sechs Kriegsmonaten überanstrengt; der Unfall der Wyrubowa hatte sie mitgenommen, und jetzt lag sie seit Februar darnieder und stand kaum noch auf.

Wenn man von den Gesuchen und Empfehlungen, die auf dem Gebiete des Geschäftlichen und der Spekulation lagen, absieht, so beschränkten sich um diese Zeit die Beziehungen des Staretz zum Zarenpaar auf Segenssprüche, Gebete, Wünsche und manchmal Ratschläge: Er billigte die Reisen des Zaren; als er die kranke Zarin nicht zu sehen bekommen konnte, sandte er ihr durch die Wyrubowa Segenswünsche für den Zaren. Aber als er von der Wyrubowa hörte, dass der Zar sich vorgenommen habe, nach Galizien zu reisen und dass die Zarin ihn bitte, für gutes Gelingen der Reise zu beten, liess er antworten, dass nach seiner Meinung die Reise verfrüht sei.

»Gott wird über ihn wachen«, sagte er. »Aber es ist noch nicht der Moment, dorthin zu fahren. Er wird niemanden und auch nicht sein Volk zu sehen bekommen. Sicher wäre das interessant, aber es wäre besser, sich erst nach dem Kriege dorthin zu begeben.«

Er hatte durchaus recht. Diese Reise, eine Idee des Generalstabs, war tatsächlich verfrüht und bot sogar grosse Gefahren für die Sicherheit des Zaren. Die Vorfälle bewiesen das. Aber die Reise war nun einmal beschlossene Sache. Rasputin konnte also weiter nichts tun als beten und die Zarin beruhigen, dass alles gut ablaufen würde.

Am 15. April begab sich die Zarin zum erstenmal wieder seit langer Zeit zur Wyrubowa. Dort traf sie Rasputin. »Unser Freund ist einige Zeit bei Ania geblieben«, schrieb sie hinterher an den Zaren. »Aber wie gut ist er gewesen! Er hat mich so vieles über dich gefragt!«

Nikolaus kam am 22. April nach Zarskoje-Selo zurück und bekam Rasputin Ende des Monats zu sehen. Am 4. Mai reiste er wieder ab. Grigori sandte ihm ein Glückwunschtelegramm zu seinem Geburtstag, und der Zar bat seine Gattin, ihm dafür herzlichst zu danken.

Da er sah, dass die Zarin nicht genügend gegen ihre Krankheit anging und sich zu sehr ihren Nerven überliess, riet er ihr, in irgendeine Stadt zu fahren und Verwundete zu besuchen. Die Zarin raffte sich zusammen und ging nach Witebsk.

Am 12. Juni war er bei der Wyrubowa und bat sie, dem Zaren und der Zarin nur eine einzige Bitte zu übermitteln: dass man an irgendeinem Tage in ganz Russland Prozessionen veranstalten möge, um Gott zu bitten, dem Lande den Sieg zu verleihen. »Der Herr wird uns viel mehr erhören, wenn wir uns alle zusammen an ihn wenden.« Am 14. morgens traf er die Zarin bei der Wyrubowa und sagte ihr, sie möge dem Zaren raten, Befehl zu geben, dass alle Fabriken des Landes Granaten herstellten, und er gab ihr bei dieser Gelegenheit einen Stab vom Berge Athos für den Zaren. Am selben Tage noch besuchte ihn die Wyrubowa, die zum erstenmal wieder nach Petersburg kam, in seiner Wohnung. Sie fand ihn ausserordentlich in Gedanken, weil er gehört hatte, dass der Hohe Prokurator der Heiligen Synode, Sablère, durch Samarin ersetzt werden sollte. Er bat die Annuschka, sich zu erkundigen, ob das Gerücht auf Wahrheit beruhe. Nach seiner Auffassung war es besser, Sablère zu behalten, bis man einen wirklich geeigneten Ersatz für ihn gefunden hatte. Am 15. abends erfuhr er kurz vor seiner Abreise, dass die Ernennung Samarins beschlossene Sache war. Ebenso hörte er noch von anderen Ernennungen und ferner, dass ein Richtungswechsel in der Innenpolitik eintreten sollte. Ihn interessierte aber allein die Ernennung Samarins, weil sie ihn persönlich betraf. War die Kirche nicht sein eigentliches Feld? Obendrein wusste er, dass Samarin einer seiner mächtigsten Moskauer Feinde war. Obgleich er über diese Botschaft verzweifelt war, nahm er doch den Zug nach Pokrowskoje.

Wie soll man sich diese Passivität anders erklären, als damit, dass er damals in Petersburg niemanden um sich hatte, der ihn in diese Dinge hineintrieb? Tatsächlich war Rasputin nur ein Werkzeug, das auch nur funktionierte, wenn es in erfahrene Hände fiel. Wenn niemand da war, der ihn dirigierte, so befasste er sich nur mit seinen eigenen Angelegenheiten.

Das hinderte aber nicht, dass damals sein Name zum Hauptagitationspunkt gegen den Zaren, die Zarin und die Regierung geworden war. Verwischte man eine Niederlage, herrschte im Hinterland Unruhe: alles erklärte man mit dem Namen Rasputin. Der Justizminister Schtscheglowitow war nicht mehr populär: man brauchte nur zu verbreiten, dass er ein Freund Rasputins sei, obgleich er sein Feind war und ihn in Wirklichkeit niemals persönlich kennengelernt hatte. Ein Hochverratsprozess oder ein Spionagefall kam in Gang: sofort lief das Gerücht um, dass Rasputin darin verwickelt sei. Damals schon beschuldigte man Rasputin und durch ihn sogar die Zarin, dass sie Anhängerinnen eines Sonderfriedens seien.

Kurz und gut: für alle, die eine Kampagne gegen die Regierung und gegen den Thron führten, für alle, die die Moral hinter der Front unterminieren wollten, für alle, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Russland mit seinen Alliierten zu entzweien, war der Name Rasputin das beste Agitationsmittel. Und dieses Mittels bedienten sich ebenso die russischen Politiker mit ihrem engen Horizont wie die russischen Revolutionäre, ja, sogar die Feinde Russlands.

Darin liegt der schreckliche und schicksalsschwere Sinn des Wortes Rasputin zu jener Zeit.


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