Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Dreizehntes Kapitel

Spätwerk und Spätruhm

Am 28. Dezember 1879 stürzte die vielbewunderte Eisenbahnbrücke, die oberhalb Dundees den Firth of Tay überquert, mit einem gerade über sie hinrollenden Eisenbahnzuge zu nächtlicher Stunde in die Fluten. Das furchtbare Ereignis erregte in der ganzen Welt so ungeheures Aufsehen und so tiefe Teilnahme wie vierzig Jahre später der Untergang des amerikanischen Dampfers Titanic zwischen den Eisbergen des Atlantischen Ozeans. Die aufrauschende Woge allgemeiner Verstörung, halbwegs wie ein Menetekel der siegreich aufsteigenden Technik aufgefaßt, fand auch in Deutschland ihren dichterischen Niederschlag. Johannes Prölß formte innerhalb seiner »Katastrophen« eine Ballade, und Max Eyth gewann dem schauerlichen Vorgang aus einem doppelt mitempfindenden Herzen dauerhafte Gestaltung ab; seine Ichnovelle »Berufstragik« gab unter dem Bilde der Ennobrücke mit der ganzen sicheren Sachlichkeit des Ingenieurs und der lebhaften Menschenschilderei des schwäbischen Dichters ein ins Typische erhöhtes Bild grausamer Unstimmigkeit zwischen technisch sicherer Rechnung und ahnungsvoll zwiespältigen seelischen Dispositionen; er erreichte so, daß die aus schwankender Seele geborene Konstruktion der Brücke von Anfang an wie mit einem tragischen Geburtsfehler behaftet erschien.

Theodor Fontane ward, wie Eyth, von dem Ereignis doppelt angepackt; freilich war es bei ihm neben dem menschlichen Anteil 255 nicht zuerst der technische, der ihn zur Nachgestaltung zwang. Seine frühe Ballade vom »Junker Dampf« hatte das »Elementenkind« mit halb humoristischer Behaglichkeit gegeben und an die dämonischen Mächte kaum gerührt. Was ihn, da zwischen Weihnacht und Neujahr die Nachricht durch die Berliner Blätter ging, so nahe bewegte, war der Ort des Begebnisses. Hart nördlich von der mit Lepel durchstreiften Landschaft um den Kinroßsee, die Douglasstätte, was das Unheil geschehen. Und sofort tauchte die ganze geheimnisvolle helldunkle Welt schottischen Balladentums wieder empor.

Die Ballade »Die Brück am Tay«, die im Januar 1880 in Paul Lindaus »Gegenwart« erschien, dankt ihren großen, bis heute nicht abgeebbten Erfolg der sicheren Verknüpfung von Stilmitteln, die sonst in Fontanes Werk getrennt gehandhabt werden; wenn ein Meistersprecher wie Emil Milan sie vortrug, so beruhte die einzigartige Wirkung deutlich auf dieser gelungenen Verschmelzung scheinbar unvereinbarer dichterischer Akzentreihen. Die eigentliche Erzählung verläuft in zwei Teilen. Zwei Strophen zeigen die in der Sturmnacht am Nordufer des Zuges harrenden Brücknersleute, drei die Bemannung der von Süden her den Train über die Brücke schleppenden Lokomotive. Diese Erzählung des Mittelkerns verläuft in dem läßlichen Tone von Fontanes märkischen Gedichten:

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut, ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu.

Es ist genau die gleiche Weise wie früher in den »Alte-Fritz-Grenadieren« und später in dem gleich volkstümlich gewordenen kindhaften Plaudergedicht vom Herrn von Ribbeck auf Ribbeck 256 im Havelland. Es ist auch genau die gleiche lockere Verknüpfung durch das immer wiederholte Und:

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit,
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenns Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll.

Fontane gewinnt in der Tay-Ballade eine innere, beziehungsreiche Verknotung der eigentlichen Handlung, indem er den Führer der Maschine zum Sohne des Brückenwärters macht. Verstärkt er so die über der sturmdurchtobten Nachchristnacht dräuende Bangnis durch Einführung eines Elementes persönlichster Teilnahme, so erreicht er die letzte und größte Wirkung, indem er das alles, Familie, Brücke, Zug, Ahnung, Absturz, in einen allgemeinsten Rahmen hineinstellt. Diesen Rahmen gab dem Leser und Übersetzer von Percy und Scott, dem Schöpfer der Stuart- und Douglasballaden die brauende, schottische Heide selbst, die zu Berlin vorerlebte, dann auf jener Reise für immer umfangene. Diesmal aber beschwört er, des Tages in Dunfermline eingedenk, keinen andern als Shakespeare, und die Hexen aus dem »Macbeth« künden in dramatischer Zwiesprach nicht nur das Furchtbare an und ab, sie erscheinen als die dämonischen Zerstörermächte stolzer menschlicher Gebilde. Und nun erwächst der ganz besondere, der einmalige Eindruck dieser Ballade aus der scheinbar unvermittelten Aneinandersetzung der mit kleinen Zügen ausgestatteten, familiär verörtlichten realistischen Mittelerzählung mit dem innerlichst beschwingten, helldunklen Hexenreigen am Beginn und Ende. Im Kernstück werden die Redenden, bevor sie zu Worte kommen, ausdrücklich eingeführt, 257 der Sohn sogar benamst – in der gespenstischen Umrahmung flüstern und zischen auf keinen menschlichen Namen hörende Dämonen ohne eine verbindende Silbe zwischen den Gesprächsfetzen. Der Brückner redet weitausgreifend eine ganze Strophe lang, selbst der gegen den Sturm kämpfende Maschinist spricht sich aus; die Hexen brauchen zu Abrede, Gegenrede und Bericht nur atemlos aufeinanderprallende Zeilen, Halbzeilen, Worte, Silben.

Der Brückner:
        Und was noch am Baume von Lichtern ist,
        Zünd alles an wie zum heiligen Christ.

Die Hexe:
        Ich lösche die Flamm.

Mit dem ganzen Stolze des Technikers rühmt Johnie dem Gefährten auf der schmalen Plattform wortreich den Kessel der Lokomotive, die sichere Spannung der Brücke.

Die Antwort der Hexe:
        Tand, Tand,
        Ist das Gebilde von Menschenhand.

Diese beiden dumpf aushallenden Verszeilen schließen die Hexengespräche vor und nach der Katastrophe ab, sie bilden in ihrer Wiederkehr das sinngebende Leitmotiv des Gedichts. Mit einer die knappen Sekunden bis zum Rande füllenden Lautmalerei ist dies Gespenstergemurr durchgeführt. Wie durch knirschend zusammengepreßte Zähne erklingt die Antwort auf die Frage der ersten Hexe nach dem Schicksal des Zuges:

                                  »Ei, der muß mit.«
        »Muß mit –«

dagegen wie ein Brunstschrei aus endlich befreiter Kehle der Bericht, als alles vorüber ist:

        »Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.« 258

Der weite Weg von dem Versuche der Naturbeseelung in den Rosamunde-Balladen bis zu diesem Meisterstück mündete in eine gänzlich unrednerische, dramatisch bewegte Verbildlichung grausamer Naturmächte, die aus dem Dämmer einer sagenvollen Umwelt naturhaft herauswuchs; und ihre stimmungsmächtige Verbindung mit einem eben erlebten Schrecknis aus ganz moderner Welt, zugleich mit einem Einsturz bescheidenen Hausglücks, hob das Ganze in eine schwebende balladische Höhe, die der Dichter lange nicht beschritten hatte. Gerade ein Jahr vorher hatte er Klaus Groth gegenüber seinen »Balladenkroam« abgeschworen und das »spektakulöse Tüg« als zu lärmvoll verworfen. Nun war er an einem Stoffe aus der Gegenwart in die alte Spur eingebogen, hatte die alten Mittel mit weiser Kunst höchst sparsam verwendet und durch ihre Zusammenfügung mit einem Stück Idyll in innerer Bedeutung und äußerer Wirkung noch überhöht.

*

»Prosa bedeutet einen Verzicht.« Dies Wort Carl Spittelers in seiner Gedenkrede auf Gottfried Keller hat für Theodor Fontanes Gefühl auf der zweiten Höhe seines Schaffens keine Geltung. Er ist sich der Kraft und Feinfühligkeit seines Prosaausdrucks nun voll bewußt und kennt auch die persönliche, ihm gemäße Ausdrucksart. Er weiß, daß er wie im Gedicht so im Roman auf die leichte Verknüpfung durch das Und gestellt ist, er ist sich über die Berechtigung und die Grenze seiner Plaudergabe klar und verfeinert diese manchmal bis zu einem Punkte, an dem nur noch die Anspielung übrigbleibt und wie dem im Werke Angesprochenen so dem Leser ein halbes Erraten zugemutet wird. Fontane kennt auch seine Vorliebe für Fremdwörter, und wenige werden Erich Schmidts Aufruf gegen 259 Ausschreitungen der Sprachreinigung so gern unterschrieben haben wie er. Aus französischem Erbgut bewahrt er gewisse Wendungen, so die Neigung, den Superlativ des Adjektivums als Hauptwort zu brauchen, oder den Briefschluß »Ergeh es Dir gut!«, dem man das abgefallene, einleitende Que noch abhört.

1888 erschienen »Irrungen, Wirrungen«, 1890 die in zweiter Durcharbeitung fertig gewordene »Stine«, 1892 »Frau Jenny Treibel«, 1895 »Effi Briest«, diese beiden zuerst in Rodenbergs »Deutscher Rundschau«, 1896 die »Poggenpuhls«; die ungefähr gleichzeitig mit diesen entstandene »Mathilde Möhring« gab erst nach des Dichters Tode Josef Ettlinger heraus. Mitten zwischen diesen Berliner Romanen steht, 1892 gedruckt, »Unwiederbringlich«.

Josef Nadler nennt »Unwiederbringlich« eine balladenhafte Geschichte und sagt, sie spiele in Holstein »und nicht darum bloß in Storms Nähe«. Balladisch ist jedoch nur das eine von Nadler hervorgehobene Motiv: die Gräfin Christine Holk geht, nachdem sie den abgeirrten Gatten feierlich zum zweiten Male geheiratet hat, nach wenigen Tagen freiwillig in den Tod. Und wie das geschieht, von der Treppe der Seeterrasse in das spiegelklare Meer – das ist freilich eine stormnahe Szene; auch die Waiblingersche Strophe, deren Gefühlsgehalt das literarische Leitmotiv des Romans bildet, hat in ihrem Aushauch Stormsche Schwermut:

Wer haßt, ist zu bedauern
Und mehr fast noch, wer liebt.

Aber damit ist auch die Vergleichsmöglichkeit mit dem Werke des Husumers erschöpft. Denn diese Schleswig-Holsteiner, unter die Fontane den ihm aus Strelitz zugetragenen Stoff versetzt hat, haben keineswegs landsmännische Züge; Abel Hradscheck 260 war als halbwendischer Oderbrücher, Lehnert Menz als Schlesier, Ezechiel van der Straaten als Berliner erkennbar und durchgeführt – die deutschen Menschen von »Unwiederbringlich« tragen solche verfeinerte Kennzeichnung, Eigentum Stormscher Gestalten, nicht, und wenn die Gräfin Christine doch das Antlitz einer deutschen Sonderprovinz aufweist, so ist es keine landschaftliche, sondern eine geistig-geistliche: sie ist nur als Herrnhuterin zu begreifen und weiß das. Für die Eingrenzung der Geschehnisse war es ein glänzender Griff, das Schloß am Meer zum Schauplatz zu wählen; Fontane hebt damit die Holks und ihren Anhang aus allzu naher, fremder Umgebung heraus und schafft sich die Möglichkeit, Holkenäs und Kopenhagen unmittelbar über die Ostsee hin in Verbindung zu bringen. Dies ist für die Ökonomie des Romans deshalb so wichtig, weil so die Gegensätze zwischen der weltlich-frivolen Hauptstadt und der fromm-verschlossenen Stille in Christine um so unvermittelter zu Erscheinung und Wirkung gelangen. Und dieses rasche Hin und Her wirkt stark auf den ohnehin labilen Charakter des Grafen, er kommt immer wieder aus dem Gleichgewicht, das bereits durch die zunehmende innere Absperrung Christines angekränkelt ist. Schon vor dem später überbrückten Bruche reden und schreiben die beiden Eheleute übereinander trotz aller Liebe mit einer fremdartigen Objektivität, die freilich in manchen Briefen Theodor Fontanes an Mathilde von Rohr oder sogar an Martha über Emilie Fontane ein deutliches Seitenstück hat. Bei dieser Klarsicht über das Innenverhältnis, mit dem die Holksche Ehe sogleich in unsern Gesichtskreis tritt, erscheint die unverkennbare Parteinahme Fontanes gegen Holk ebenso unberechtigt wie in »L'Adultera« diejenige gegen van der Straaten, hier steckt ein Balancemangel im künstlerischen Gleichgewicht.

Fontane sucht diesen dadurch auszugleichen, daß er die 261 halbjüdische Hofdame, der Holk gemäß ihrer kühlen Berechnung in schwüler Stunde zu eigen wird und die dies »Eigen« nur eben nach Stunden zählen mag, zu einem äußersten Gegenpol der Gräfin Christine macht. Aber er selbst behandelt sie, seine Gestalt, wie andere jüdische Erscheinungen seiner Romane mit Ironie, und schwächt dadurch gegenüber der ernst genommenen Gegenspielerin wiederum die künstlerische Einheit.

Wie »Graf Petöfy« in der Hof- und Magnatengesellschaft von Wien und Ofenpest, so spielt ein Großteil der Vorgänge von »Unwiederbringlich« in der engsten Umgebung des dänischen Königshofs unter Friedrich VII. Mit viel reicherer Kleinmalerei noch als dort sucht Fontane das Bild der Residenz zu beleben, Hofchargen, Offiziere, Politiker, Geistliche scharen sich in der mit feinster Stimmung gezeichneten Stadt und der noch stärker ins Vorderlicht tretenden dänischen Landschaft um die alte Prinzessin, deren Kammerherr Holk ist, um den nur einmal unmittelbar hervortretenden König, vor allem um Holk selbst. Wie im »Petöfy« reiht sich auch hier, ja in noch dichterer Folge, Anspielung an zeitliche Anspielung, manches davon heute schon unverständlich, wie denn etwa sogar Liliencrons väterlicher Freund Thomsen-Oldensvorth als politische Person aufgeführt wird. Bei aller Echtheit der äußeren Färbung, der man die Liebe zu der schönen Stadt und dem eigenartigen Lande abmerkt, fragen wir uns doch: Sind diese Menschen im Grunde Dänen? Es wäre unzulässig, Fontanes Kopenhagener Welt an den Gestalten von Künstlern ganz anderen Stils wie Jens Peter Jacobsen oder Herman Bang zu messen; aber wenn wir an den ihm im Plauderhaften verwandten Sophus Bauditz oder den Fontane noch näher stehenden Palle Rosencrantz denken, so wird deutlich: alle diese Dänen von »Unwiederbringlich« haben etwas Berlinisches, die ländlichen etwas Märkisches. Das gegenseitige Schrauben, die in 262 der Oberschicht durchbrechende Ironie, die echt tunnelmäßige Freude am Erzählen von Balladenstoffen und am tenzonenhaft geistreichen Hin und Wieder des Gesprächs – das alles sind ganz heimatliche Züge Fontanischer Erzählungskunst. Die zugespitzten Gespräche mit ihren immer etwas medisanten geschichtlichen Rückblicken bei der Prinzessin in Frederiksborg gehen nicht anders als diejenigen beim Prinzen Louis Ferdinand in der Tiergartenvilla. Und mit dieser Parallele zum »Schach von Wuthenow« sind wir einem zweiten Kernmotiv von »Unwiederbringlich« ganz nahe gekommen: die unverhältnismäßige Breite, mit der sich das Kopenhagener Hofleben und die dänische Politik ins Bild schieben, finden in Fontanes geschichtlichen Preußenromanen ihre Entsprechung. Man braucht statt der den ganzen Roman begleitenden Folie Friedrich VII. – Gräfin Danner nur Friedrich Wilhelm II. – Gräfin Lichtenau zu setzen, statt der dänischen Katastrophe von 1864 die preußische von 1806, und begreift den tieferen Sinn der Dichtung: kränkelnde Menschheit unter kränkelnder Führung in kränkelnder Zeit. Aber so, wie Theodor Fontane hier das Zeitgeschichtliche überbetonend in den balladisch beginnenden, balladisch endenden Stoff einbezieht, steht er nicht Storm, sondern Friedrich Spielhagen so nahe wie sonst nie.

*

Die andern sechs Romane zeichnen die Berliner Welt weiter aus, die Fontane in »Vor dem Sturm« und im »Schach« als geschichtliches, in »Cécile« und »L'Adultera« als gegenwärtiges Milieu gewählt hatte. Diese Welt hat nach oben keine gesellschafliche Grenze, sie reicht bis auf den Hofball im Königlichen Schloß; unten schneidet sie oberhalb des neuen Industriearbeiter-Volkes ab. Wohlhabender Garde- und Ministerial-, armer 263 Schwertadel, der mit Mühe und Entbehrung seine gesellschaftliche Stellung wahrt, Bürgertum, das wohlhäbig in der Wolle sitzt, anderes, das vom Beamtengehalt lebt, Kleinbürgertum, das sich recht und schlecht durchbringt, Dienerschaft – das ist die soziale Stufenleiter, auf der sich Fontanes Gestalten bewegen. Mit immer bewußterer Absicht bringt er Berliner Persönlichkeiten ins Bild oder doch ins Gespräch; man könnte sie wie in seinen Aufzählgedichten gruppieren: die Geistlichen Büchsel, Kögel, Frommel, Stöcker, Cassel, die Staatsmänner und Generäle, Bismarck voran, aber auch Moltke, Radziwill, Pleß, Hohenlohe, die in seinen Kritiken gespiegelten Darsteller, den Augenarzt Gräfe wie den Waffenhändler Mehlis, und sogar die namhaften Gastwirte und Konditoren Dressel, Hiller, Huth, Tübbecke, Mühling, Buggenhagen, Zenner, Bolzani, Sarotti. Dazu entfaltet sich eine völlige Topographie Berlins; die Innenstadt mit Behren- und Wilhelmstraße, Humboldthafen, Invalidenpark und Jannowitzbrücke wird ebenso deutlich wie der alte Westen und die Außenbezirke von der Oberspree bis Saatwinkel, von Rixdorf bis Wilmersdorf, jedoch unter immer stärkerem Zurücktritt jeder Naturbeschreibung. Gutzkow hatte in den »Rittern vom Geiste« Berlin hinter der Hauptstadt schlechthin versteckt, und Spielhagen war ihm darin gefolgt, hatte dann, etwa in der »Sturmflut«, wenigstens erfundene Straßennamen gegeben, genau wie es trotz voller Deutlichkeit des Berliner Bildes Raabe im »Hungerpastor« und in den »Leuten aus dem Walde« getan hatte. Fontane griff auch hier auf den Vorgänger Alexis zurück; sein Realismus gewann Dichtigkeit und Nähe auch aus der Tatsache, daß er seine Menschen in kontrollierbarer Umgebung ansiedelte, sie fortwährend mit geschichtlich belegbaren Personen zusammenführte. Ein einziges Mal wird eine solche für eine Gestalt des Romans von schicksalhafter Bedeutung: 264 Effi Briest wird von der Kaiserin Augusta zur Ehrendame eines Stifts auserwählt, und der alte Kaiser richtet auf dem Hofball »gnädige, huldvolle Worte an die schöne junge Frau, ›von der er schon gehört habe‹«. »Da fiel es« – nämlich das Schuldgefühl –»allmählich von ihr ab.« Die Stelle steht in genauer Parallele zu einem Vorgang in Alphonse Daudets »Nabob«; da erscheint das französische Kaiserpaar bei einem Sterbenden und deutet auf des Helden absinkendes Geschick vor.

Von dem, was sich Theodor Fontane bei der Arbeit an seinem ersten Roman zum künstlerischen Gesetz gemacht hatte, stand nun die Bemühung um »anregendes, heiteres, wenn es sein kann geistvolles Geplauder, wie es hierlandes üblich ist«, voran. Die Menschen dieser Romane sprechen immer, und eine graphische Festlegung des Raumverhältnisses zwischen Darstellung und Selbstdarstellung in Gespräch und Brief würde von Werk zu Werk ausschließlicher den Vorrang der Unterhaltung, zugleich den Fortschritt von direkter zu indirekter Charakteristik beweisen. Wenn Fontanes Personen allein sind, so tritt noch das Selbstgespräch bedeutsam hinzu, so bei den beiden Grafen in »Stine«, bei Corinna Schmidt und Leopold Treibel (darin dem Sohne seines Vaters) in »Frau Jenny Treibel«. Die Tönung dieser Plaudereien ist immer die gleiche berlinische. Sie pointieren alle gern, und es klingt mit der gleichen Kadenz, wenn der Gardeoffizier im Kasino sagt: »Retterin und Kusine sind heutzutage fast identisch,« oder wenn die Witwe Pittelkow in der Invalidenstraße zu Stine meint: »Ich glaube, der Spiegel verkleinert, un verkleinern is fast ebensogut wie verhübschen.« Sie alle sind sehr wach, bewußt, »helle«, lassen sich nichts vormachen, und wenn sie sich etwas vormachen, so wissen sie das und können, wie Jenny Treibel, im entscheidenden Augenblick ohne jeden Übergang aufhören. 265

Dennoch unterscheiden sich diese Fontanischen Gestalten durch Gebärde und Sich-Geben sehr lebhaft voneinander. Die alte Kunst, die im Dichterkränzchen von »Vor dem Sturm«, an der Tafel Prinz Louis' im »Schach« oder der St. Arnauds in »Cécile« eine bunte, in Haltung und Temperament verschiedene Menschenrunde zusammenführte und durchkomponierte, setzt etwa um den Pittelkowschen Tisch drei Herren der Gesellschaft mit drei Frauen zusammen und läßt in anspielungsreichem Gespräch, in vulgärer musikalischer und rezitatorischer Unterhaltung sechs trotz ihrem Berlinismus ganz verschiedene Charaktere sich enthüllen: den rücksichtslos dahinlebenden alten Adligen, der sein Vergnügen nimmt, wo er es findet, den schon verbrauchten Standesgenossen, den nur noch der Nachgenuß kitzelt, den aus der Art schlagenden jungen, der, lebensgeprüft, wie aus einer Loge zusieht; mit ihnen die resolute Witwe Pittelkow, die aus Not das Verhältnis des Grafen geworden ist und »ihr gegenwärtig Leben als einen Dienst, drin sich Gutes und Schlimmes die Wage hält«, nimmt; sie weiß, daß sie »rüber« ist und bildet so das Gegenstück zu der zierigen Schauspielerin Wanda, die dies »Rüber« nicht Wort haben will, und zu Stine, die noch auf dem andern Ufer steht.

Dieser Roman erweist seine ältere Entstehung innerhalb dieser Berliner Geschichten nur durch eins: er schließt mit einer Katastrophe. Der junge Graf Haldern liebt Stine Rehbein, sie liebt ihn wieder, will ihn aber nicht heiraten, weil sie ihn nicht aus seiner gesellschaftlichen Sphäre ziehen und, wie sie meint, damit unglücklich machen will. Da vergiftet er sich. Sonst ist von solch Äußerstem nicht mehr die Rede. Lene Nimptsch in »Irrungen, Wirrungen« wird das Verhältnis des jungen Kavallerieoffiziers Botho von Rienäcker, aber nicht aus Not, sondern aus hingebender Liebe. An Klaräugigkeit aber gleicht diese Berlinerin der so ganz anderen Pauline Pittelkow; sie weiß: es 266 ist nur für kurze Zeit, und braucht im entscheidenden Augenblick den geliebten Mann gar nicht erst freizugeben, sie hat ihn nie für gebunden gehalten. In »Frau Jenny Treibel« will Corinna Schmidt, die Tochter von Jennys wegen seiner Armut verschmähten Jugendfreunde, den jungen reichen Treibel heiraten, sie hat ihn im Netz, aber die vergebens ersehnte Schwiegermutter ist stärker, Corinna verzichtet und ehelicht ihren Vetter Oberlehrer, wie Leopold die reiche Hamburger Schwägerin. Mathilde Möhring gewinnt sich den jungen Zimmerherrn, zwingt ihn durch das Referendarexamen, erreicht seine Wahl zum Bürgermeister einer Kleinstadt, verliert ihn an einer schweren Krankheit und kehrt nach Berlin zurück, wo sie die Mutter und sich als Lehrerin durchbringt. Vollends in den »Poggenpuhls« läßt sich von Handlung überhaupt nicht sprechen. Eine adlige Majorswitwe führt samt ihren drei Töchtern mit leidlichem äußerem Anstand das Fontane so verhaßte Leben des petit crevé; eine kleine Erbschaft erlaubt eine bescheidene Besserung und reichlichere Zuschüsse an die beiden im Osten garnisonierenden Söhne, sie schiebt den Entschluß des zweiten, entweder eine reiche Jüdin zu heiraten oder in die Schutztruppe zu treten, etwas hinaus – das ist Alles.

Was diesen Erzählungen ihren Reiz gibt, ist demgemäß nicht Handlung, Aktion, Spannung, die doch in den Verbrechensgeschichten, im »Schach«, in »Unwiederbringlich«, trotz der verwandten Grundzüge, unleugbar vorhanden waren. Hier spricht vielmehr zunächst die Farbigkeit des Kulturbildes mit, die breite Entfaltung des Lebens der neuen Reichshauptstadt. Man wird sie bis zu der oben gesteckten Grenze in ihrem Werden von 1870 bis zum Ausgang des Jahrhunderts kulturhistorisch nicht besser kennenlernen können als aus diesen Fontanischen Romanen. Dies wäre nun freilich kein Gewinn aus der dichterischen Potenz 267 heraus; denn auch für den Roman aus der Gegenwart gilt das Sternsche Gesetz des historischen. Dichterisch erreichen diese Bücher Nachdruck und Haltung durch das Genrehafte. Was hier unter Genre verstanden wird – ein französischer Literarhistoriker nennt es Fontanes amour du petit fait –, sei an zwei Berliner Gemälden der gleichen Epoche klargemacht, Bildern noch dazu, deren Stoff Fontane selbst nach beiden Richtungen hin in einem liebenswürdigen Plaudergedicht behandelt hat. Anton von Werner hat ein Berliner Hoffest gemalt. Im Weißen Saal steht in fürstlicher Haltung, den Helm in der Hand, der Kronprinz im Gespräch mit dem Universitätsrektor Helmholtz, dem Oberbürgermeister Forckenbeck, dem Dekan Virchow, die alle mit den Zeichen ihrer Würde bekleidet sind; Adolf Menzel nähert sich der Gruppe. Dieser selbst aber gibt ein Fest an der gleichen Stelle so: in gedrängter Enge nehmen Damen und Herren den Imbiß ein, jeder in einer andern, durch die Fülle bedingten Haltung. Ein alter Geheimrat hat den Schiffhut zwischen die in Galonhosen gepreßten Beine geklemmt und balanciert, zwischen Würde und Verlegenheit, auf der einen Hand einen Teller Mayonnaise, in der andern die Gabel. Dies ist Genre, wie in Fontanes Gedicht nach der steifen Gruppenbildung unter den Kronleuchtern der gemeinsame fidele Abmarsch »die Wendeltreppe hinunter«. Und dieses Genrehafte erfüllt und belebt diese Geschichten. Frau Dörr, die komisch aufgeputzte Gärtnersgattin, im Gespräch mit Botho und Lene auf der Wilmersdorfer Feldmark, Treibels und ihre Freunde beim Ausflug nach Halensee, Professor Wilibald Schmidt an seinem »Abend« im leichten Geklätsch über die nicht erschienenen Mitglieder und in ausschweifendem Gespräch über Schliemanns Ausgrabungen. Der jüngste Leutnant von Poggenpuhl am Küchentisch in der Unterhaltung mit dem alten Hausmädchen über ein 268 Geburtstagsgeschenk für die Mama, einen ausgehöhlten Edamer auf dem Zeigefinger, die Rinde trudelnd wie einen kleinen Halbglobus.

Mit einer Technik ohnegleichen sind diese Gesellschaftsbilder ausgezeichnet. Wie Adel und Bürgertum im neuen Kaiserreich aussahen, das kam erst hier gegenüber dem immer wieder durchgepausten Ablauf des Salon- und Zeitromans zum Ausdruck. Die Berliner Romane Paul Lindaus stehen außer Vergleich, aber auch Hans Hopfens und Friedrich Spielhagens hierhergehörige Schöpfungen können in diesem Betracht neben Fontanes vielfältigem Kolorit, seiner reichen Abschattierung wechselnder Umwelten nicht bestehen. Fragt man freilich nach dem letzten Hintergrunde, dem von innen bewegenden Triebe, dem, was Fontane selbst den in einfache Lebenskreise eintretenden großen Moment nennt, so fehlt er. Alle diese Menschen sind wie auf der Flucht vor der Leidenschaft, und sie sind sich dessen voll bewußt. In dem an schärfster Beobachtung reichsten dieser Romane, in »Frau Jenny Treibel«, kann Corinna den reichen Fabrikantensohn nicht heiraten, weil dessen Mutter, eine emporgekommene Bourgeoise nach der Schnur, die Millionenmitgift vermißt. Aber was tauscht Corinna zur Freude ihres Vaters, des Professors, dagegen ein? Wilibald Schmidt, der »bequeme Egoist«, sagt es selbst:

»Marcell, sag ich, ist Archäologe. Vorläufig rückt er an Hedrichs Stelle. Gut angeschrieben ist er schon lange, seit Jahr und Tag. Und dann geht er mit Urlaub und Stipendium nach Mykenä . . .

Die Schmolke drückte auch jetzt wieder ihr volles Verständnis und zugleich ihre Zustimmung aus.

Und vielleicht, fuhr Schmidt fort, auch nach Tyrins oder wo Schliemann gerade steckt. Und wenn er von da zurück ist und 269 mir einen Zeus für diese meine Stube mitgebracht hat . . . und er wies dabei unwillkürlich nach dem Ofen oben, als dem einzigen für Zeus noch leeren Fleck . . . wenn er von da zurück ist, sag ich, so ist ihm eine Professur gewiß. Die Alten können nicht ewig leben. Und sehen Sie, liebe Schmolke, das ist das, was ich eine gute Partie nenne.«

Dies in seiner Führung fabelhaft echte Gespräch zeigt eines: es besteht gar kein Unterschied zwischen den Treibels und den Schmidts. Was für die einen der Holzhof, der Kommerzienratstitel und eine Meißner Vase, ist für die andern die amtliche Versorgung, der Professortitel und der Zeus – bourgeoishaft ist beides, und beide Gruppen leben, wie die Fontanischen Menschen dieser Spätwerke überhaupt, im Gegensatz zu denen der frühen nicht aus dem Herzen; selbst die, von denen, wie von Lene Nimptsch, seiner schönsten weiblichen Spätgestalt, dieses Motiv gelten könnte, beugen sich der Räson. Räson ist der Urgrund all dieser Ehen, zwischen Botho und der Base, zwischen den alten und den jungen Treibels, zwischen Corinna und Marcell, sie hat sicher auch zwischen Wilibald und seiner toten Gattin gewaltet, sie führte zu dem »Verhältnis« zwischen dem Grafen Haldern und Pauline Pittelkow wie zu dem zurückliegenden der Dörr. Und wenn in dem andern »Verhältnis«, dem von »Irrungen, Wirrungen«, echte, ergreifende Neigung spricht und bebt, so folgt ja auch hier die widerstandslose Duckung unter die Räson, die in ausgesprochenem Räsonnement verteidigt wird. Lewin Vitzewitz heiratet Marie Kniehase, das Schulzenkind von dunkler Herkunft, und der General von Bamme freut sich dessen ebenso wie Renate, ja, er macht die junge Frau zu seiner Erbin. Hier, in den Werken des alten Fontane, wird solche Möglichkeit nicht einmal ernstlich erwogen, und ihr Ausschluß kostet seit »Stine« niemand mehr das Leben. 270

Nun ist gewiß: das deutsche und das märkische Volk von 1880 ist nicht das von 1812, und Fontane weiß das. In kleinen Versbildern zeichnet er Schlagschatten in das glänzende Bild des Kaiserreichs, subalterne und auf mechanisch ersessenes Wissen pochende erfolgreiche Streberei, ehrfurchtlose Gründergesinnung, die altes künstlerisches Erbgut in die Rumpelkammer verbannt, Erfolganbetung vor Publikum, Jury, Hofrang und Geld. Aber hier, im Roman, geht er mit, nicht, wie einst, mit dem »Gesetz«, nur mit dem gesellschaftlichen Herkommen, eben mit der als Tatsache jenseits der Kritik hingenommenen Räson. Es hat sich ein Stellungswechsel vollzogen: sein französisches Blut, das ihm das Nachplaudern so leicht machte, bricht noch in anderem Sinne durch. In der großen, von Eduard Wechßler aufgehellten germanisch-romanischen Antinomie von Geist und Esprit steht Theodor Fontane, der Hugenottensproß, auf einmal auf der Espritseite, zwischen Eheleuten, die sich nach französischer Art »respektieren«, unter Menschen, die gegen ein gut gespitztes Wort, auch ein eigenes, wehrlos sind. In »Vor dem Sturm« blickten durch das Zeitbild Urformen menschlicher Gesellschaft, im »Schach« wühlte im zeitlichen Problem das überzeitliche der Hybris. Hier ist es anders. Das Helldunkel der großen Ballade, des großen Geschichtsromans, der großen Novelle fehlt, ein kühles Licht bescheint eine kühl wägende, entherzte, alternde Welt, und hinter allem Gespräch, hinter Freien und Gefreitwerden klingt es wie matter Paukenschlag aus verdecktem Orchester:

Es kribbelt und wibbelt weiter.

Und der zeitliche Reiz dieses »Kribbelns und Wibbelns« verfliegt schon für eine Folgezeit, die in veränderter Welt nicht mehr begreift, warum ein Graf nicht eine hübsche und herzensfeine Handwerkerstochter heiraten soll; eine junge Dame aus 271 gutem Hause, die einen Kameraden ihres Bruders »distanziert«, weil dieser mitwirkend auf der Bühne (noch dazu der Königlichen) gestanden hat, ein adliger Ministerialassessor, dem die Nachricht von der Ehe zwischen einer Prinzessin und einem Oberförster »beinah den Atem nimmt« – diese Dinge, auf die doch diese Romane zum guten Teil gestellt sind, erscheinen schon heute nachwachsenden Lesern viel weniger »real in ihrem Sinne« als Goethes Prinzessin von Belriguardo.

Adolf Bartels hat Wilhelm Raabes Romane im Gegensatz zum gleichzeitigen Zeitroman Naturromane genannt und damit den Charakter der Raabischen Dichtung durchaus getroffen. Auch Raabes Erzählungen haben zum Teil intime zeitliche Färbung, aber auch dann eine darüber hinaus weisende Ausrichtung. Diesen Durchstoß durch das Zeitliche ins Überzeitliche vollbringt der Fontane der geschichtlichen Ballade, der Dichter von »Vor dem Sturm« oder »Grete Minde« immer aufs neue, noch in dem balladischen Gegenwartsbilde »Die Brück am Tay« – der Dichter dieser Berliner Romane bleibt im Wesen der Epoche verhaftet, er schreibt Sphärenromane. Ergreift er diese soziologische Sphäre mit feinerem Tastgefühl als Friedrich Spielhagen, so versagt er sich doch der organischen Durchdringung der Dinge durch die gerade dies Geschehen ausformenden Mächte. Wohl geht die seit 1870 alles deutsche Leben überragende und in Haß und Liebe mitbestimmende Gestalt Bismarcks auch durch den Hintergrund dieser Fontanischen Bilder. In »Irrungen, Wirrungen« begegnet uns der dritte Bismarckfrondeur, diesmal nicht, wie in »Cécile« und »L'Adultera«, ein in seinem Ehrgeiz verletzter raunzender Beamter, sondern ein märkischer Adelsmann vom Deklarantentyp, wie er dem Dichter aus dem Kreuzzeitungskreise wohlvertraut war. Aber dies Bismarckgespräch ist zwar für die Charakteristik des Onkels vom Lande, dessen Typus mit 272 gleicher Echtheit neben Wildenbruchs »Onkel aus Pommern« steht, wichtig; bei der geringen Bedeutung der Oheimsgestalt im Gefüge des Romans würde es jedoch seine künstlerische Rechtfertigung nur finden, wenn die beschworene Macht auch in ihrem allgemeinen Einfluß auf das berlinische Gesamtbild hervorträte und nicht nur Episode bliebe. Spielhagen seinerseits begnügt sich in seinen besten Werken, wie der »Sturmflut«, damit nicht, er macht deutlich, wie die im Hintergrunde waltenden Staatsmänner und die Politik überhaupt das Einzelgeschick mitbestimmen – ein, wenn nicht das eigentliche Rechtfertigungsmoment des Zeitromans, dessen Fehlen Fontanes Werken noch stärker die Bezeichnung Gesellschaftsroman oder Sphärenroman aufprägt.

Die Art, wie gerade Bismarck lediglich episodisch durch den Hintergrund von »Effi Briest« schreitet, zeigt die gleiche Grundanlage auch dieses Romans. Dennoch bedeutet er, der vorletzte oder, sofern man das Familienbild der Poggenpuhls nicht als Roman rechnen will, der letzte der Folge, eine Abwendung und Umschaltung. Alle die ganze Reihe färbenden, Fontane allein eigenen Vorzüge, das vollendete Gesprächsleben, die Nutzung des Details, die Zeichnung der Figur durch ihre Gebärde – das alles lebt auch hier in der letzten Verfeinerung. Aber die Komposition erhebt sich zu einer vordem nicht erreichten Geschlossenheit. Fontane grenzt sich viel schärfer ein. Der schlagendste Beweis dafür ist die Einbeziehung Swinemündes in das Werk. Was im »Petöfy« nur ein Stückchen Erinnerung war, wird hier Schauplatz, Ort der Schicksalsknüpfung; aber Fontane weicht der Versuchung, die Kinderheimat in Dehnung und Kleinleben darzustellen, aus, alles wird nur so weit belichtet, wie es für Effis Weg und Wende notwendig erscheint. Und so war es auf dem Elterngut Hohen-Cremmen, so bleibt es in Berlin und in 273 Ems. Effi wird als halbes Kind mit einem Manne von glänzender Karriere vermählt, der einst in ihre Mutter verliebt war. Der Schluß des zweiten Kapitels mit dem »Effi, komm« der beiden Freundinnen mitten in die Verlobungsszene der Spielgefährtin hinein ist vordeutendes Leitmotiv. Nicht aus Leidenschaft, sondern halb aus durch Langweile geweckter Neugier, halb aus dem leisen Frösteln über die Erziehergebärde des viel älteren Gatten heraus verfällt Effi an dem kleinen Landratssitz einem Offizier, einem »Damenmann«. Sie ist glücklich, als sie durch die Beförderung ihres Mannes dem Allem entrückt wird. Und da das Geschehene längst unter ihr Bewußtsein hinabgesunken ist, entdeckt Instetten alte Briefe, erschießt den Major im Duell und trennt sich von der Frau, die hinsiecht und auch bei den Eltern, die sie spät zurückgerufen haben, nur eben noch ein Stückchen Abendsonne erhascht.

Was in dieser mit Achtsamkeit auf den letzten Ton und einem verschwiegenen Mitschwingen zugeneigter Empfindungen vorgetragenen Geschichte geschieht, das liegt genau so auf der Linie unanfechtbarer gesellschaftlicher Räson wie die Vorgänge der anderen Romane. Und dennoch eröffnet sich hier eine weitere Aussicht, wird der Durchstoß zur menschlichen Freiheit über das Gesetz der Konvention versucht. Am klarsten wird das durch den Vergleich von zwei Szenen. In »Irrungen, Wirrungen« führt den Botho Rienäcker, der noch zwischen seiner Liebe zu Lene und der Heirat mit der hübschen und reichen Kusine schwankt, ein Ritt zu dem Denkstein für den im Duell gefallenen Polizeipräsidenten von Hinckeldey in der Jungfernheide. Der war in den Tod gegangen. »Und warum? Einer Adelsvorstellung, einer Standesmarotte zuliebe, die mächtiger war als alle Vernunft, auch mächtiger als das Gesetz, dessen Hüter und Schützer zu sein er recht eigentlich die Pflicht hatte. ›Lehrreich. Und was habe 274 ich speziell daraus zu lernen? Was predigt dies Denkmal mir? Jedenfalls das eine, daß das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehen, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.‹«

Nun war Hinckeldey von einem adligen Spieler, den er bei verbotenem Hasard antraf, gefordert worden und hatte sich zum Kampfe gestellt, obwohl er in Ausübung seiner Dienstpflicht gehandelt hatte. Dem Anblick dieses Denkmals wäre also Abscheu vor einem alle sittlichen und gesetzlichen Schranken durchbrechenden, mißleiteten Standesgefühl abzulesen gewesen. Botho aber befestigt sich daran in dem Herkommen, das auch sein Tun allein bestimmen soll und bestimmt. Und wenn er am Schluß sagt: »Gideon [Lenes Gatte] ist besser als Botho,« so ist das nicht mehr als eine Façon de parler.

Der Baron Instetten aber, der doch genau nach dem gleichen Standeskodex gehandelt hat, kommt nicht darüber hinweg. Sein Leben ist überschattet. Nach seinem eigenen Gefühl ist die einfache Frau und uneheliche Mutter, die ihrer Herrin Effi freiwillig in die Verbannung gefolgt ist, »ihm über«. »Mein Leben ist verpfuscht . . . mir ist alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschläger an seiner Seele packen? Dazu muß man selber intakt sein.« Die andern blieben alle »intakt«. Noch der Vater Briest tröstet sich über die unbesonnene Entlassung der kaum erwachsenen Tochter in eine reine Konvenienzehe mit den Worten: »Ach, laß . . . Das ist ein zu weites Feld«; Instetten aber spricht sich das Gericht angesichts dieser von Fontane mit allem halbkindlichen Reiz begnadeten Frauengestalt, die noch nicht einen Ehebruch wie einen Orden zu tragen gelernt hat und, ein herzanfassendes Schauspiel, durch die Doppelnis konventioneller Gedankenlosigkeit und feudaler Ehrbegriffe vernichtet wird. Hier rückt Fontane deutlich neben 275 Freytag und Raabe, die das Duell einen Frevel wie jeden Mord nennen, aus der Sphäre steigt er zu freier Aussicht auf, wie die künstlerische Fügung von »Effi Briest« statt läßlichen Weitergangs schlußrechte Staffelung gebracht hatte – der Umschlag der Quantität in die Qualität.

*

Die Reihe der Berliner Romane gewann eins, was »Vor dem Sturm« nicht errungen hatte: Spätruhm, Spätruhm bei der jungen Generation, die in Berlin und im Reich um Fontane herum aufwuchs. Das Erscheinen dieser Dichtungen fiel in eine Zeit literarischer Kämpfe, wie Fontane deren in seinem langen Leben viele mit angesehen hatte. Er war einst mit der Herwegh-Welle geschwommen, hatte das Treiben der Berliner »Freien« um Luise Aston beobachten können, war am Durchbruch des preußischen Realismus in vorderster Reihe beteiligt gewesen, und war dann, wie Wilhelm Raabe, durch Feuilletonismus und Archäologismus in die Ecke gedrückt worden. Nun kam wieder ein neues Geschlecht herauf, im Jahrzehnt der Einigungskriege geboren, und heischte lärmvoll Platz. Der neuen naturalistischen Kunst stand Fontanes Werk genau so fern wie das Wilhelm Raabes oder Rudolf Lindaus. Es ist sehr bezeichnend, daß in der Programmschrift der Jungen, in des Berliners Karl Bleibtreu »Revolution der Literatur« Fontane überhaupt nicht genannt wird. Für Bleibtreu ist Alexis der »genialste deutsche Romandichter«, aber für den einzigen ebenbürtigen Nachfolger aus dem gemeinsamen Heimatbereich hatte er kein Wort und konnte es im Grunde auch nicht haben in einem Pamphlet, das Heyse zu den Toten wirft, Raabe verschweigt und Storm wie Keller »bei weitem überschätzt« findet. In der Tat führt von Fontanes spitzfingerigem Realismus keine Brücke etwa zu den 276 grobkörnigen Berliner Romanen Max Kretzers oder den grassen Münchener Studien Michael Georg Conrads, noch zu den eckigen Gestalten von Anna Croissant-Rust und Clara Viebig oder zu der sachlichen, langsam wärmenden Darstellung von Polenz. Wenn Fontane dennoch zu der jungen Bewegung eine ganz andere Stellung nahm als etwa Raabe und Heyse, die sie schroff ablehnten, so beruht das auf drei Dingen. Einmal sah er mit Genugtuung aus der »Dublettenkrankheit« Neues, Originelles auftauchen, dann aber gab er einfach der Jugend das unveräußerliche Recht, da zu sein und sich zu versuchen:

Ob unsre Jungen mit ihrem Erdreisten,
Wirklich was Besseres schaffen und leisten,
Ob dem Parnasse sie näher gekommen,
Oder bloß einen Maulwurfshügel erklommen,
Ob sie, mit andern Neusittenverfechtern,
Die Menschheit bessern oder verschlechtern,
Ob sie Frieden säen oder Sturm entfachen,
Ob sie Himmel oder Hölle machen, –
Eins läßt sie stehn auf siegreichem Grunde,
Sie haben den Tag, sie haben die Stunde,
Der Mohr kann gehn, neu Spiel hebt an,
Sie beherrschen die Szene, sie sind dran.

Und schließlich: er fand in der neuen Generation einen jungen Dichter, der ihm das Herz bewegte.

Sein kritisches Amt rief ihn nicht nur ins Königliche Schauspielhaus, sondern auch in die Aufführungen der 1889 begründeten Freien Bühne. Ihr Leiter war Otto Brahm, an ihrer Wiege hatten zwei andere Zwanglose, Fritz Mauthner und Paul Schlenther, gestanden, drei Kritiker, die sich mit allem Nachdruck zu Fontanes neuen Romanen bekannten; schon folgten 277 ihnen mit zwei so entgegengesetzten Literarhistorikern wie Richard M. Meyer und Adolf Bartels die Jüngeren Felix Poppenberg, Ernst Heilborn, Franz Servaes, Carl Busse, Arthur Eloesser, Harry Mayne. Bei dem Urteil über Ibsens auf der Freien Bühne gespielte Dramen fand Fontane nicht den ganz freien Ton. Der Eindruck besonders der »Wildente« war tief, aber er stemmte sich, nicht immer ohne Ironie, gegen Ibsens ethischen und medizinischen »Doktrinarismus«. Vor der »Familie Selicke« von Arno Holz und Johannes Schlaf sprach er die rasch berühmt gewordenen Worte: »Hier haben wir eigentlichstes Neuland. Hier scheiden sich die Wege, hier trennt sich Alt und Neu.« Freilich wehrt sich Fontane gegen den Wiederholungsstil dieses Naturalismus: »In Wirklichkeit geht es zwar so her, und wem die photographische Treue alles bedeutet, der wird auch diese richtige Beobachtung des Lebens bewundern müssen; die Bühne aber hat ihre eigenen bestimmten Gesetze, von denen vorläufig nicht wohl abzugehen ist.« Gegen die Stoffwahl, die »traurige Tendenz nach dem Traurigen«, wendet er sich, gesteht aber doch zu, daß diesen Stücken, die »keine Stücke sind«, vermutlich die Zukunft gehören, ihnen zum mindesten Bürgerrecht eignen werde.

Ganz gewonnen aber ward er nicht für eine Richtung, sondern für einen Dichter. Im September 1889 empfing er von »einem Herrn Gerhart Hauptmann ein fabelhaftes Stück«, und dies »Vor Sonnenaufgang« benahm ihn völlig. Hier fand er einen »völlig entphrasten Ibsen« und ohne das, was Fontane an dem norwegischen »Apotheker« »zugespitzte Entwicklung« seiner »Verrücktheit« nennt. Bei Hauptmann erschien ihm das wirkliche Leben »in seinem vollen Graus«. »Dabei (und das ist der Hauptwitz und der Hauptgrund meiner Bewunderung) spricht sich in dem, was Laien einfach als abgeschriebenes Leben erscheint, ein Maß von Kunst aus, wie's nicht größer gedacht werden 278 kann.« Und als er dann auf der Freien Bühne die denkwürdige Aufführung angesehen hatte, sprach er in den Skandal und Streit hinein sein kritisches Dichterwort; er erteilte der angeblich in krassen Effekten erstickenden Dichtung den Adel: er hieß sie eine Arbeit, die viel von der Ballade habe, und ihren Dichter einen Mann, der »nicht bloß den rechten Ton, auch den rechten Mut und zu dem rechten Mute die rechte Kunst besitze«. Noch später unterstrich er dies Urteil, bekämpfte das Vorurteil, der neue Realismus sei ein für allemal mit der Häßlichkeit vermählt, und nannte Hauptmann, neben dem Ibsen »bloß ein Kadett« sei, einen Dichter, der »mal wirklich einer ist und ein Mensch dazu«.

Das schrieb und so empfand ein fast Siebzigjähriger, der mit Gaudy und Lenau groß geworden war, Eichendorff gekannt hatte und als Jünger Scherenbergs und älterer Freund Paul Heyses im Tunnel gesessen hatte. Ihm war aus der zweifelhaften väterlichen Erbmasse ein Größtes zugefallen: die Fähigkeit, Jugend jugendlich mitzuempfinden, vor neuen Eindrücken nicht scheu ins Altenteil zurückzuschrecken, gar zu grämeln. Schrieben und sagten seine Altersgenossen: »Unverständlich sind uns die Jungen,« so hielt er's, unverblendbar wie immer, damit: »Unverständlich sind mir die Alten.«

So gewann die Feier seines siebzigsten Geburtstags nicht den Anstrich eines Abschiedsfestes für treue Dienste, sondern, nicht nur von den Zwanglosen her, den Ton der Feier eines rüstig Schaffenden mitten im Werk. Bei Menzels Siebzigstem hatte er noch als ein »kleines Kirchenlicht« in der Menge gestanden und auf Menzels Dankdiner im Kaiserhof »unsereins« neben den Ministern und Geheimräten nur »als Ausläufer« empfunden; jetzt verlieh ihm, dem ausgesprochenen Nichtdramatiker, der Kaiser den Schillerpreis, und es wird Fontane keine geringe 279 Freude gewesen sein, daß er ihn gerade mit Klaus Groth zusammen empfing. Schon vordem, bald nach seinem Regierungsantritt, hatte ihm Kaiser Wilhelm II. mit dem Hausorden von Hohenzollern die erste Auszeichnung erteilt, die nicht dem Journalisten, sondern dem Dichter galt. Der Geburtstag sah im Englischen Hause unter Friedrich Spielhagens Vorsitz eine gedrängte Gratulantenschar um den Dichter gesellt. Der Unterrichtsminister Gustav von Goßler, Theodor Mommsen und Karl Frenzel feierten ihn, Franz Krolop sang hinreißend, zu Fontanes tiefer Bewegung, den »Archibald Douglas«. Dann aber kam für die Jugend Ernst von Wolzogen zu Worte. Er, Schiller wie Schinkel verwandtschaftlich verbunden, wandte sich an den, der

                        nicht olympisch das Haupt geschüttelt,
Als die Grünen am Tor des Parnaß gerüttelt –

und trotz der Bedrücklichkeit, die alles Feierliche für ihn hatte, empfand Theodor Fontane in dieser Stunde, was er mit halbem Staunen nun Jahr um Jahr als zuwachsenden Gewinn aufgenommen hatte, Dankbarkeit mit Dankbarkeit erwidernd: »Die Jugend hat mich auf den Schild erhoben.« 280

 


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