Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Zwölftes Kapitel

Th. F.

Sie hören nicht die folgenden Gesänge,
Die Seelen, denen ich die ersten sang –

die schwermütigen Goethischen Verse gelten auch für Theodor Fontane, da er nun das sechzigste Jahr überschritten hatte. Wie die Wende von den Fünfzig zu den Sechzig, so war auch die von den Sechzig zu den Siebzig ohne Feierlichkeit vorübergegangen. Kurz vor dem fünfzigsten Geburtstage hatte er einmal Rückschau gehalten und seiner Frau gesagt: »Die Kinder in der Schule lernen meine Gedichte, Frau Jachmann donnert meinen Archibald Douglas und in der Literaturgeschichte von Heinrich Kurz hab ich mein Kapitel; aber wenn ich heute noch Bote beim Kammergericht würde, mit dreißig Taler Fixum Monatsgehalt und zehn Taler zu Weihnachten, so würden manche sagen: nun, er ist jetzt im königlichen Dienst, er hat ein Fixum, kann sich Bewegung machen und seiner Frau eine jährliche Pension von vierzig Talern hinterlassen. Lehre mich die Menschen kennen. Solange man sie nicht braucht, sind sie gut; wenn man sie aber braucht, so nimmt man mit Schrecken wahr, daß sie das Schlechteste gerade gut genug für einen halten. Zum Glück verdrießen mich diese Dinge nicht, im Gegenteil, ich lache dazu; aber sie rufen einem wenigstens zu: Halte fest, was du hast, gefährde nicht durch Prätention deine Position, wiege dich nicht in Illusion.«

Diese auch im Roman und in der geschichtlichen Arbeit bewiesene Unverblendbarkeit schoß in ihrem Ausdruck doch am Ziel 235 vorbei – und Fontane wußte das in anderen Stunden wohl. Wie hatten sich Merckel, Lepel, Heyse, Hesekiel, Wangenheims, Lazarus für ihn eingesetzt! Wenn solcher freundschaftlichen Mühe der Erfolg nicht immer entsprochen hatte, so trug nicht zum mindesten er selbst die Schuld daran. Jenes tragische Wort Kleistscher Selbstcharakteristik: »Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war«, trifft in einem weniger tragischen Sinn auf Theodor Fontane zu, nämlich immer, wann es sich um Hilfe durch Einrangierung in Amt und Stellung handelte. Was Storm fast lebenslänglich, Keller fünfzehn Jahre hindurch ertrug: behördliche Tätigkeit und Aktenwesen – Theodor Fontane vermochte es nicht, und die freie Schriftstellerei, einst der alten Freundin gegenüber gerühmt, war und blieb sein »sonderbares«, aber rechtes »Metier«, sooft er auch darüber stöhnen mochte. »Nur die, die durchaus weiter nichts können und deutlich fühlen, daß sie, wohl oder übel, nun mal an diese Stelle gehören, und nur an diese, nur die dürfen es wagen. Einfach, weil sie müssen und weil ein anderes Leben sie erst recht nicht befriedigen würde.« Diese Sätze, 1888 an den Sohn Theodor gerichtet, sind Fontanes letztes Wort über das, was ihm Berufung und Beruf war.

Die Plätze um den Tunneltisch verwaisten. Schon in den siebziger Jahren waren Blomberg, Eggers und Hesekiel dahingegangen, 1881 folgte ihnen Scherenberg, neben dessen ehrwürdig-schöner Gestalt Fontane noch manchmal über die Schöneberger Flur geschritten war. 1885 schied Bernhard von Lepel von der Erde. Der Tunnel war noch nicht ausgestorben, aber ihm fehlte die Teilnahme der Älteren, der Nachwuchs an Jüngeren, er entschwand schließlich Fontane selbst aus dem Gesicht. Um einen Eggersschüler von der Gewerbeakademie, den häufigen Tunnelpreisträger Heinrich Seidel, und um den Chemiker Emil Jacobsen, einen Freund und Landsmann Pietschs, bildete sich, 236 zum Teil unter bewußter Übernahme der Tunnelformen, der Allgemeine Deutsche Reimverein. In ihm kam Julius Stinde mit seiner rasch berühmt gewordenen »Familie Buchholz« zu Wort, der Verein stand auch, wie einst durch Löwenstein der Tunnel, durch Johannes Trojan dem Kladderadatsch nahe; sein bleibendes Wort aber sprach er in dem Kleinrealismus Heinrich Seidels, einer liebenswürdigen und durchaus berlinischen Abschattierung des großen Realismus, einer Entwicklung, deren Stammbaum sich ohne Zwang über Fontanes Geschichte vom kleinen Ei, Otto Friedrich Gruppe und Kopisch bis zu Chamissos Schwalbengedicht zurückverfolgen läßt. Fontane liebte Seidels anmutige Erzählerkunst, aber dem Kreise selbst stand er ebenso fern wie der Freundesrunde Karl Frenzels und Julius Rodenbergs, zu der alsbald auch Ernst von Wildenbruch stieß. Mit Friedrich Spielhagen gelangte er aus einem inneren Gegensatz heraus nie zu unbefangenem Verkehr.

Als das genialste Mitglied des Tunnels und des Rütli, Adolf Menzel, auf der Höhe seines Ruhmes den siebzigsten Geburtstag feierte, da nahte der Preußendichter dem Preußenmaler nicht als Abgeordneter des Sonntagsvereins, aber er huldigte diesem »Sanspareil« in einem Gedichte, das, wie eine letzte Märkische Wanderung, auf der Treppe von Sanssouci den großen König und den Verfasser zu einem Gespräch über den gleich unfeierlichen Dritten zusammenführt. Auch hier das Kunstmittel der scheinbar wahllosen, nur durch Kommas gegliederten Aufzählung, wie im »Havelland« oder im »Adligen Begräbnis«, vollgepackt mit lauter Motiven Menzelschen Schaffens und gerade so eine völlig ziel- und wertsichere Verbildlichung dieser Kunst. Es ist, als ob sich das Ohr in dieser Fülle ebenso überrascht zurechtzufinden hätte, wie das Auge das etwa mit der gleichen heiteren Belohntheit vor Menzels »Fischmarkt in Verona« leisten muß: 237

Ja, wer ist Menzel? Menzel ist sehr vieles,
Um nicht zu sagen alles; mindestens ist er
Die ganze Arche Noäh, Tier und Menschen:
Putthühner, Gänse, Papagein und Enten,
Schwerin und Seydlitz, Leopold von Dessau,
Der alte Zieten, Ammen, Schlosserjungen,
Katholsche Kirchen, italiensche Plätze,
Schuhschnallen, Bronzen, Walz- und Eisenwerke,
Stadträte mit und ohne goldne Kette,
Minister, mißgestimmt in Cashmirhosen,
Straußfedern, Hofball, Hummer-Majonnaise,
Der Kaiser, Moltke, Gräfin Hacke, Bismarck . . .

Wie viele dieser Gestalten fänden auch in einer Revue von Fontanes eignem Schaffen ihren Ort! Aber während sich um Menzel die Großen des Reiches, den Kaiser an der Spitze, huldigend scharten, ging Fontane unbelohnt seinen Weg.

Auch die Plätze am Familientische, Potsdamer Straße 134c, wurden leer. George war als Hauptmann Lehrer am Kadettenhause in Wahlstatt, dann in Lichterfelde geworden und hatte sich mit einer Berliner Hugenottin verheiratet. Theodor gründete sich als Intendanturassessor in Münster den eignen Hausstand, kam dann als Vortragender Rat und Abteilungschef ins Kriegsministerium. Friedrich ging in den Buchhandel und errichtete in jungen Jahren mit seinem Berufsgenossen Fritz Theodor Cohn den Verlag von F. Fontane & Co., er durfte die späten Werke des Vaters verlegen. Martha hatte ihre Lehrerinnenprüfung bestanden; sie trat dem Vater besonders nahe, im Briefwechsel mit ihr gab er sich frei wie einer Freundin gegenüber und sprach manches aus, was er Frau Emilie nicht oder noch nicht sagen mochte. Martha vermählte sich dann mit dem Fontane befreundeten 238 Architekten und Professor Otto Fritsch und siedelte sich nachmals in Mecklenburg an, an der Großen Müritz, die auch Fontane durch manchen Sommeraufenthalt lieb geworden war.

Im Jahre 1887 ward Theodor Fontane der erste Enkel geboren; aber kaum war die Freude über diese gute Kunde aus Münster recht empfunden worden, da riß eine mit furchtbarer Heftigkeit einsetzende Blinddarmentzündung George mitten aus jungem, hoffnungsreich aufsteigendem Leben. Der Vater trat in dem gleichen Augenblick, da der Puls stillstand, an das Bett des Sohnes.

Um den Alternden wurde es einsamer, und manchmal hatte er Frau Emilie, die das schwerer trug, zu trösten. Wohl findet sich noch in August von Heyden, dem Maler, ein neuer Freund und Genosse für das Rütli aus der alten absterbenden Welt, sonst aber sieht er rings um sich eine neue Generation aufsteigen. Und in dieser bildete sich ein Kreis, der sich Fontaneverehrung und Fontaneliebe zur Devise gewählt hätte, auch wenn ihm nicht Theodor der Jüngere von Anbeginn, als geistreicher Versredner durchaus auf den Spuren des Vaters, zugehört hätte. Diese Vereinigung der »Zwanglosen« wurde im Jahre 1883 von dem damaligen Kammergerichtsreferendar Paul Meyer, dem Verleger Hans Hertz, Wilhelms Sohn, und dem jungen Ostpreußen Paul Schlenther gegründet. Es war nicht, wie der Tunnel, ein Dichterkreis, man las sich nichts vor, aber unter Verzicht auf jede Titelanrede, auf jede feste Vereinsform fand man sich zu geistreich-heiterm Gespräch, zu belebter Geselligkeit zusammen, in der man, nach Theodors des Jüngeren Wort,

                      das, was hemmt und bindet,
nicht als einen Zwang empfindet.

Männer von verschiedenstem Beruf und politischem Bekenntnis 239 schlossen sich hier aneinander, so die Musiker Siegfried Ochs und Max Stange, der Kunsthändler Fritz Gurlitt, der vielseitig begabte Arzt Robert Hessen, der als »Eccardus« der Geschichtschreiber des niedern Volkes in Deutschland wurde, der Konsistorialrat Georg Reicke, die Musikhistoriker Heinrich Welti und Max Friedlaender. Durch Schlenther kam eine ganze Reihe von Schülern Wilhelm Scherers, so Otto Brahm, Gustav Roethe, Edward Schröder, Otto Pniower, als einheimische oder auswärtige Mitglieder hinzu, von der Universität vervollständigten der Historiker Richard Sternfeld, der Mediziner Carl Posner den Kreis, der sich eine Weile um Karl Stauffer-Bern als genialen Mittelpunkt scharte und von ihm eine Radierung der Runde als Gegengabe empfing wie einst der Tunnel von Menzel.

Diese Zwanglosen fühlten sich Fontane samt und sonders nahe, sie sahen in ihm nicht ihr »Angebetetes Haupt«, aber ein schweigend aufgenommenes Ehrenmitglied. Nicht wenige von ihnen, Schlenther, Pniower, Roethe, Sternfeld, Brahm, haben sich durch aufhellende kritische Arbeit um sein Werk verdient gemacht, nicht zuletzt auf sein Vorbild ging die bewußte Unfeierlichkeit der Zwanglosen zurück, und nicht von ungefähr setzte der Dichter zwei Zwanglose, Schlenther und Meyer, zu seinen literarischen Nachlaßverwaltern ein. Wie sie fast alle zur Dämmerstunde einmal den Weg die fünfundsiebzig Stufen hinauf zu seiner Wohnung fanden, so besuchten sie ihn in corpore im Augustusbade von Neubrandenburg, so gedachten sie seiner mit herzlicher Wärme und stelzenloser Ehrerbietung bei jedem schicklichen Anlaß. Auch die nächste Spätfreundin des Fontanischen Paares und Hauses, Frau Marie Sternheim, stand diesem Kreise nahe.

Die hohe Gestalt, deren jugendlichen Schwung Heyse und Roquette gerühmt hatten, war nur wenig gebeugt. Freilich, wie 240 ein Dichter sah der alte Fontane im Grunde so wenig aus wie die anderen Meister des realistischen Geschlechts. Klaus Groth und Gustav Freytag wirkten im Alter wie vornehme Bauern, Raabe wie ein weiser kleinstädtischer Schullehrer und Keller gewiß nicht wie ein Poet. Auch hier der gesetzte Abstand von der Romantik und der gewordene von den Münchenern, die, Geibel und Heyse, Schack und Lingg, allesamt unverkennbaren Künstlertypus trugen. Theodor Fontane aber, wann er mit regelmäßigen Schritten in dem langen unmodischen Rock, die schwarze Krawatte doppelt um den Kragen geschlungen, den Kanal entlang ging, immer noch, wie's in einer seiner Berliner Spazierskizzen heißt, »auf der Suche«, der glich mit dem starken weißen Schnurrbart unter dem jugendlich blauen Blick einem ausgedienten Stabsoffizier oder allenfalls einem General a. D., er hatte immer noch, wie seine französischen Richter einst gefunden hatten, militärische Augen.

Fontanes Denkmal
im Berliner Tiergarten von Max Klein

Diese Augen gewannen »sorgenvollen« Ausdruck, wenn er, »den Oberkörper vorgebeugt, in leibhaftiger Fragestellung«, abends auf seinem Parkettplatz Nummer 23 im Königlichen Schauspielhause am Gendarmenmarkt saß. Diesen Sitz hat er selbst als ein Sperrfort bezeichnet, das, »in die scharfe Ecke zwischen Proszeniums- und Parkettlogen hineingebaut«, in den rechten Parkettgang vorwuchs. Er empfand diese Absonderung als häßlich, denn er hätte eitel sein müssen, um sie als Auszeichnung zu erachten. Da saß er nun als Nachfolger von Friedrich Wilhelm Gubitz und übte zwanzig Jahre hindurch, von 1870 bis 1889, das Amt des Theaterreferenten für die »Vossische Zeitung«.

In August Lewalds »Theaterroman« tritt ein heruntergekommener Theaterkritiker auf, der sein Metier auffaßt als ein »freies, unabhängiges und leichtes Geschäft«. Das war ungefähr 241 genau das Gegenteil von Fontanes Auffassung. Der von Paul Schlenther festgehaltene Sorgenausdruck seines Antlitzes entsprach genau der inneren Haltung des Dichterjournalisten vor der Rampe. Seine ganze Tätigkeit auf diesem Felde unterschied sich dem Grunde nach wesenhaft von derjenigen für die »Wanderungen« und die Kriegsbücher. Die märkische Arbeit war ihm einst als eine Berufung aufgegangen, und so hatte er sie erfüllt, und auch die Kriegsgeschichte war aus einem innewohnenden Bedürfnis seiner Natur entsprossen. Ein Theaterenthusiast aber, wie seine Landsleute Tieck und Gutzkow, war er nie gewesen; wohl hatte er in jungen Jahren manch unvergeßlichen Eindruck gerade von den Brettern des Schauspielhauses her empfangen, aber wir sahen ihn schon in London diesen Teil seiner dortigen Tätigkeit nur eben pflichtgemäß, ohne treibenden Anteil ausüben. Nie hatte er eine Arbeit übernommen, die er sich nicht zutrauen durfte, und so ging er auch an diese mit dem guten Bewußtsein, das Nötige mitzubringen. Als dies Notwendige aber erachtete er – ganz im Einklang mit seiner Anschauung über Kunstphilosophie, über »geschulte Ästhetiker« in den bildenden Künsten – Anlage, Spürsinn, bon sens, nicht Schulung durch Theorie. »Ich hatte nicht«, so läßt er sich im Rückblick vernehmen, »den Ehrgeiz, ein Theaterhabitué zu sein . . . Daß es besser ist, man weiß in seinem Beruf was, als man weiß nichts oder wenig, das soll auch in bezug auf Theaterkritik nicht bestritten sein; aber wenn ich in die eine Seite der Schale die Vorzüge, in die andre die Nachteile des Nicht-Eingeweihtseins lege, so möchte ich – wenn nur eine gewisse literarische Bildung und eine gewisse künstlerische Generalveranlagung da ist, die mit leidlich feinfühligen Fingerspitzen gut von schlecht, echt von unecht unterscheiden kann, beinah der Meinung sein, daß das Nicht-Eingeweihtsein mehr Vorzüge wie Nachteile hat. Im einzelnen – 242 weil einem die Vergleichsobjekte fehlen – wird man Schnitzer machen, aber im ganzen wird man freier und unbefangener sein . . . Im ganzen aber – bei allem höchsten Respekt vor dem Wissen – kommt es doch im Leben mehr auf den ›angeborenen‹ als auf den ›anstudierten‹ Beruf an. Erfahrung ist besser als Studium, aber auch Erfahrung steht hinter dem von Anfang an Gegebenen zurück!«

Hätte diese Zeilen, in denen der ganze Nachdruck auf den Worten »Fingerspitzen« und »Generalveranlagung« liegt, der junge Fontane geschrieben, so könnte man wohl davon reden, er habe aus einer, aus seiner Not eine Tugend machen wollen und gemacht; der Alte, der sie schrieb, wußte, daß ihm in der Tat etwas früher oft als Not Empfundenes zu höchstem Gut, zu jenem ariston gediehen war, davon der Grieche das Wort für Leistung und Tugend zugleich herleitet. »Von Natur richtig«, konnte er auch diesen Weg gehen, und gerade der Anlaß eines boshaften Witzes über seine theaterkritische Mühe bewies den inneren Wert und die auch hier unverblendbare Klarsichtigkeit des Urteilers, der »gar nicht einzufangen« war.

Theodor Döring, der erklärte Liebling des Berliner Publikums, war Fontane kein Fremder; in Dresden hatte der Dichter ihn zuerst gesehen und ward von einzelnen Rollen hingerissen. Wie hoch er den Künstler auch fernerhin stellte, beweist sein Bericht über Dörings Bühnenjubiläum: Fontane vergleicht diese Feier als einziges würdiges Seitenstück jener unvergeßlichen Enthüllung des Friedrichsdenkmals, und jedermann mußte fühlen, was diese Parallele mit Rauch bedeutete. Aber als Malvolio in Shakespeares »Was ihr wollt« tat Döring Fontane nicht genug oder zuviel. Er gab »die Rolle nicht wie von der Bühne, sondern wie vom Lutter- und Wegnerschen Tisch her und spielte sie seinem Publikum bloß vor. ›Seht, so werd ich das 243 machen, so denk ich mir diesen Kerl, was meint ihr?‹ Und indem er so die Rolle mehr privatim zum besten gab, als sie drin aufgehend spielte, stand er kritisch darüber und amüsierte sich über des Dichters und sein eigenes Gebilde . . . Das Grundwesen Malvolios besteht gerade darin, daß er eines solchen Heraustretens aus sich selbst absolut unfähig ist.« Wir fühlen die Echtheit der Beobachtung, auch wenn wir sie nicht an Otto Franz Gensichens in die gleiche Kerbe schlagender Besprechung nachprüfen könnten. Und obwohl Fontane sein Urteil viel vorsichtiger gab als hier in späterer Rückschau, nur davon sprach, daß der Darsteller sich über den Malvolio selber mokiere und dies dem Publikum andeute, war Döring tief gekränkt, und auf seine Veranlassung schrieb Adolf Glasbrenner in der »Montagspost« einen Aufsatz über Fontane, in dem er die Chiffren

Th. F. = Theater-Fremdling

auflöste. Daß niemand herzlicher über den Witz lachen würde als der scheinbar Getroffene, der als Berliner einem guten Einfall so wenig widerstehen konnte wie in einer gefährlichen Szene von »L'Adultera« sein van der Straaten, dessen waren die verschworenen Fontane-Fremdlinge sich nicht bewußt.

Es lag ja keineswegs in Fontanes Absicht, das Tadelnswerte zu suchen, gar zu »verreißen«. War er überhaupt befangen, so war er's nach der günstigen Seite hin. Er saß nach seinem Bewußtsein vor der ersten Bühne der Hauptstadt und des Königreichs, und insofern schloß sich auch dieser Teil seiner publizistischen Arbeit an die »Wanderungen« an – auch das Königliche Schauspielhaus war ein Stück Berliner und preußischer Geschichte und spielt nicht umsonst im Hintergrunde von »Schach von Wuthenow« mit. Gern Ausstellungen machen war niemals seines Amtes gewesen, aber »öffentliche billets doux« zu 244 schreiben, war er weder von Lessing und Hermann Kletke, seinem Chefredakteur, berufen, noch konnte das nach seinem empfindlichen Gewissen, das unter lieblos-kritischer Verkennung des eigenen Werkes oft genug gelitten hatte, seine Aufgabe sein. So schreibt er immer vorsichtig, langsam zum Kern der Dinge hintastend, vor allem der großen Verantwortung bewußt, in einem der ersten Blätter der Hauptstadt Zensor und Berater zugleich, Mittler zwischen Bühne und Publikum zu sein. Heilige Stille mußte um ihn herrschen, wann er am Vormittage nach der Aufführung seinen Aufsatz schrieb, und gespannt überflog er hernach die Kritiken der übrigen Zeitungen, sein Urteil an dem anderer noch einmal kontrollierend. Er war auch in diesem Sinne »auf das Herz gestellt«, wie er das von einer Rolle sagt, die eine Schauspielerin nur mit »Schule, Schärfe, Verstand« gespielt und deshalb verfehlt hatte.

Was ihm das Königliche Schauspielhaus in diesen Jahrzehnten bot, war zwiespältig. An großen oder doch bedeutenden Darstellern fehlte es nicht. Gustav Berndal, Minona Frieb-Blumauer, Richard Kahle, Theodor Liedtke von älteren, Arthur Vollmer, Adalbert Matkowsky, zu dem Fontane freilich den Weg nicht recht fand, und Paula Conrad, sein »Liebling«, von jüngeren Kräften, dazu Gäste wie Friedrich Mitterwurzer, Hedwig Niemann-Rabe, Adelaide Ristori, Ernesto Rossi – es war schon eine stattliche Schar und oft eine Augenweide und ein Ohrenschmaus. Was er als Höchstes vom Darsteller erwartete, das hat er nach einem Gastspiel Adelaide Ristoris zusammenfassend ausgesprochen. Er rühmt ihre Gabe des Charakterisierens und führt sie nicht einfach auf ihre superiore Begabung, sondern auf ein »enormes Studium, ja mehr ein völliges Zusammenleben mit der Gestalt, die dargestellt werden soll«, zurück. »Die Individualität der Künstlerin geht nach und nach in ihrem 245 Gebilde unter oder tritt doch so weit zurück, daß sie kaum noch als sie selbst zu erkennen ist, während unsre Künstler (nur ein, zwei Ausnahmen abgerechnet) lediglich sich selber geben und dem Kostüm und dem einfachen Inhalt der Rolle es überlassen, die Charakterisierung zu übernehmen. Sie unterstützen den Dichter nicht, sondern schädigen ihn um so viel, wie ihre Individualität zu der darzustellenden Rolle nicht paßt.«

Schälen wir aus diesen heute wie einst gültigen Ausführungen das nackte Gerüst, so finden wir ohne Überraschung ein wohlgestütztes Bekenntnis zu dem gleichen Realismus, der das Innen- und Stilgesetz des Schilderers, vor allem des Epikers Theodor Fontane und seiner Generation war; und wenn es ein andermal in einer Rezension heißt: »Der Mensch soll nicht arabeskenhaft verbraucht werden,« so kostet es keine Mühe, dies Gebot vom Theater auf die Dichtung zu übertragen und in Fontanes Werk selbst belegt zu finden. Aber er geht angesichts der italienischen Künstlerin weiter aus sich heraus: »Sehen wir, wie sie verfährt. Sie faßt die zu spielende Rolle ins Auge und findet, daß die betreffende Heroine nicht bloß heldisch, sondern noch alles mögliche andere ist. Auf dies ›andre‹ kommt es an.« Und hier, in diesem Satze, offenbart sich der spezifisch Fontanische Realismus, der, auf seiner Höhe auch dem lotgerade Heldischen abgewandt, seinen Gestalten immer noch »das andre«, auf das es »ankommt«, mitgab. Was der Dichter als Leistung an den Tag brachte, erkannte er auf anderem künstlerischem Felde unumwunden als ein Artverwandtes an und erhob es, aus seiner Natur, aus seinem »angeborenen« Berufe heraus, zur Forderung.

Dieser Realismus, der nicht die Romantik, nur die »falsche Romantik« aus der Welt schafft, spricht sich auch vor der dramatischen Dichtung scheulos aus, deren gesetzliche 246 Verschiedenheit von der Romanform er anerkennt. Und er trifft am schärfsten auf Goethe. In dem Gleichnisgedicht »Fritz Katzfuß«, einem genrehaften Seitenstück zum »Kleinen Ei«, erzählt Fontane von einem märkischen Krämerlehrling, der seiner Herrin wie den Kunden ein Rätsel ist; immer verträumt, immer mit stillem Lächeln, unangreifbar, trödelig, allen unverständlich, bis sich das Rätsel löst. Eines Tages fällt ihm ein Buch aus dem Schirtingrock: Goethes Gedichte, und an der Stelle eines Mignonliedes liegt als Lesezeichen ein Streifchen Schlackwurstpelle. Da folgt das Gleichnis:

Wie dir die Lehrzeit hinging bei Frau Marzahn,
Ging mir das Leben hin. Ein Band von Goethe
Blieb mir bis heut mein bestes Wehr und Waffen,
Und wenn die Witwe Marzahns mich gepeinigt
Und dumme Dinger, die nach Waschblau kamen,
Mich langsam fanden, kicherten und lachten,
Ich lächelte, grad so wie du gelächelt,
Fritz Katzfuß, du mein Ideal, mein Vorbild.
Der Band von Goethe gab mir Kraft und Leben,
Vielleicht auch Dünkel . . . All genau dasselbe,
Nur andres Haar und – keine Sommersprossen.

Dieses Gedicht, das der Novelle »Die alten Leutchen« von Helene Böhlau den Schöpfungsanstoß dankte, darf doch nicht in zu ausschließlicher Ausrichtung auf den Zusammenhang Goethe-Fontane verstanden werden – es handelt sich vielmehr um ein Sinnbild für den Gegensatz von Alltag und Poesie schlechthin. Wohl hatte Fontane, wie jeden empfänglichen jungen Deutschen, einst der »Faust« entzückt und geschüttelt – dennoch hat Fontane ein letztes und innerstes Verhältnis zu Goethe nicht gehabt. In den nicht für den Druck, nur zu eigener Klärung niedergeschriebenen Goetheeindrücken wird Fontane im Grunde 247 nur vor dem »Werther« warm, selbst »Hermann und Dorothea« findet er »nach der Seite der Kunst hin nicht übermäßig imponierend«. Liliencron stellte Klaus Groths »Heisterkrog« über Goethes Epos; Fontane nennt in seiner Liebeserklärung an den Ditmarscher Goethe unmittelbar neben ihm als Dauerbesitz; aber hier, wo man gerade »Hermann und Dorothea« erwartet, stehen nur wieder die Mignonlieder aus dem »Katzfuß«. Vollends vor »Wilhelm Meisters Lehrjahren« bekennt sich Fontane bei aller Anerkennung des Zeitbildlichen: »Es ist ein Glück, daß wir solche Zeit los sind, und daß wir, wenn auch mit schwächeren Kräften, jetzt andere Stoffe bearbeiten.« Was er an der gleichen Stelle über Goethes »schemenhafte«, mäßig interessierende Männergestalten sagt, erinnert in höchst charakteristischer Weise an Äußerungen des größten realistischen Staatsmanns über den größten deutschen Dichter, Äußerungen, die erst nach Fontanes Tode ans Licht traten. Als dieser in der »Vossischen Zeitung« Herman Grimms Goethebuch mit unüberbietbarem Verständnis nach Verdienst pries, ging er auf den Stoff der Arbeit – trotz der hier lebenden Kongenialität von Stoff und Form – nicht ein, und in das Lob für Wildenbruchs Gedicht »Werthers Lotte im grauen Haar« mengte sich eine nachdrückliche Verwahrung gegen »Goethegötzenkultus«.

Vollends vor der Bühne wird der Abstand noch breiter und betonter. Den »Egmont« glaubt Fontanes in einem neuen Menschenalter gefestigter geschichtlicher Sinn völlig verwerfen zu müssen: »Diese Egmontgestalt ist mir heute einfach ein Greuel, eine historische Sünde.« Er nennt sie ein Attentat gegen eins der schönsten Kapitel der Geschichte der Menschheit. Bäumte sich hier sein geschichtlicher Wirklichkeitsdrang auf, der doch ein andermal zugestand:

Such nicht, wie's eigentlich gewesen – 248

so empörte sich angesichts des »Torquato Tasso« sein Hang zum »realen« Leben, das er »in unserem Sinne« am Hofe der Leonoren nicht gespiegelt findet. Gewiß: Das existierte einmal und bildet deshalb »ein Darzustellendes, an dem sich die Kunst, und zwar die dem Realen abgewandte am erfolgreichsten, immer wieder versuchen mag«; aber kurzab urteilt er doch: »Schön und vornehm, aber nichts weiter; wer wirklich lebt, will reales Leben sehen.« Weiter von Weimar fortzutreten, ist kaum möglich. Hier liegt dem Dichter, der an »Vor dem Sturm« schafft, Goethe fern rückwärts in einem Einst, das, »gemessen an den Taten und Gestalten unserer Tage, klein«, mit »esoterischen« Vorgängen und Verhältnissen ausgefüllt erscheint. Es ist genau die Stimmung und der geschichtliche Pragmatismus des Dingelstedtschen Gedichtes. Unsere Tage: das war 1873 der eben vorübergegangene deutsche Siegeslauf, das waren Bismarcks Reden und Erfolge, war Menzels »Eisenwalzwerk« und sein Vorwurf. Es war damals noch nicht üblich, die Gegensätze Potsdam und Weimar als deutende Sinnbilder zu gebrauchen: bringt man die auch zu jener Zeit schon wirksamen Gegensätze auf diese Formel, so findet man in diesem bewußten und bewußt scharf hervorgetriebenen Gegensatze Goethe-Fontane Fontane so ganz auf dem Potsdamer Flügel wie nie zuvor, und Gustav Freytag, dem er sonst, trotz warmer Zustimmung zu »Soll und Haben«, innerlich fern war, ganz nahe.

Wesentlich positiver ist des Theaterkritikers Fontane Verhältnis zu Schiller; spricht er gelegentlich des »Egmont« von Goethe als dem »Heros deutscher Nation« in Gänsefüßchen, so nennt er Schiller unumwunden den Stolz der Nation. Freilich will er auch ihm gegenüber keine falsche Pietät, kein Drangeben eigenen Urteils und Geschmacks. Dramaturgisch stellt er die »Piccolomini« als Verschmelzung des französischen 249 Klassizismus mit dem historischen Sinn und der »scharfen und reichen« Charakteristik des Shakespearischen Dramas, vom Standpunkte nationaler Sendung den »Tell« am höchsten und wärmt an ihm sein Herz in den Augusttagen von 1870. Gutzkows »Uriel Acosta« lehnt er als ein Tendenzstück aus einer überwundenen Epoche ab, wieder weil ihm der »Stempel historischer Wahrheit« fehlt. Hier findet er gegenüber dem Helden, der nicht tragisch, nur traurig sei, das harte und für den Schöpfer des Berndt Vitzewitz tiefbezeichnende Wort: »Helden marchandieren nicht«; und wie im ausgesprochenen Gegensatz zu dieser scharfen Abfuhr erhebt Fontane die »absolute Phrasenlosigkeit« von Kleists »Hermannsschlacht«, die man damals dem Berliner Publikum noch nicht vorenthielt, mit letzter und uneingeschränkter Zustimmung. Wieder taucht hier das in der Kellerkritik zur Zeichnung der Romantischen Schule gebrauchte Wort Marotte auf; auch Heinrich Kleist unterliege ihr in seinen anderen Stücken, aber die »Hermannsschlacht« sei davon frei. Zu so stärkstem Lobe wie gegenüber diesem Freiheitsstück steigert sich Fontane selten, am nachdrücklichsten vor einem gerade einem Kleistschen Thema verwandten Drama, Otto Ludwigs »Erbförster«. Hier spricht des Kritikers künstlerisches Gewissen ohne weiteres: »Es ist und bleibt ein Stück ganz ersten Ranges«; sein menschliches Gefühl muß dann allerdings bekennen, er käme wegen der unablässig gespielten »Wehsaite« aus der Pein nicht heraus, und bestätigt sich hiermit den »krankhaften, tief melancholischen Zug« des großen Talentes. Aber er findet doch hier nicht den Zug der »Verzerrung«, der vor allem ihm Hebbels »Herodes und Mariamne« unhaltbar macht. Seine Stellung zu Hebbel ist im Grunde damit umrissen, sein Urteil läuft hier völlig in der Bahn Frenzels und Heyses, es ist die im wesentlichen negierende Auffassung, die man auch die Berliner 250 Einstellung zu Hebbel nennen könnte; auch Wildenbruch stand so, und Schlenther hat sie – im Gegensatz zu seinem Freunde und Mitfechter Otto Brahm – festgehalten.

Es war Fontanes Kritikerschicksal, daß ihm die deutsche Bühne aus dem Born seiner Gegenwart keine dankbaren Aufgaben bot. Der Stand des Dramas von 1870 bis gegen das Ende seiner Tätigkeit für die »Vossische Zeitung« entsprach dem des Romans: Archäologismus und Feuilletonismus, bestenfalls neben Heyses hochstrebenden, aber selten mit fest zugreifender Hand gezimmerten Dramen dieser Jahre Ernst Wicherts saubere und anspruchslose Lustspielarbeit. Anzengruber ist ihm auf den Brettern nicht begegnet, und in dem meteorenhaft plötzlich aufsteigenden Wildenbruch störte ihn zuerst ein Gebrest der »Effekthascherei«; erst vor den »Quitzows« streckte er freudig bezwungen die Waffen. Den Novellisten und Berliner Humoristen liebte er längst; nun erkannte er die Fähigkeit »des Hinstellens klar und bestimmt gezeichneter Gestalten«, die »lapidare Simplizitätssprache«, die »glänzende Findigkeit« an, die aus einer, von Fontane selbst ins Hochdeutsche übertragenen märkischen Volksballade die Gestalt des Köhne Finke hervorgehen ließ. Vor allem fühlte er den eigenen Nerv getroffen, als er zugestehen mußte, wie Wildenbruch aus diesem »ganzen kolossalen Wirrwarr« mit glänzender»Ausscheidungskunst« das Entscheidende geschält und belebt habe. Unbewußt spürte der Dichter der Preußenlieder und von »Vor dem Sturm« in dem epischen Schüler Scherenbergs die verbindende geistesgeschichtliche preußische Linie.

Dem feuilletonistischen Salondrama Paul Lindaus und seiner Nachtreter gegenüber ließ er sich aus einer läßlichen Reserve nicht herauslocken; sich wie Karl Frenzel gelegentlich über das Milieu dieser »Dramatik« zu empören, war seine Sache nicht, 251 dazu war er nicht genug auf das Theater als solches gestellt, es war ihm, dem kritischen Spätling, nicht Herzenssache genug. Den »frivolen Zug unserer Zeit« fand er nicht so schlimm, und wenn die Dinge »unterhaltlich« waren, erfüllten sie nach seinem Urteil, seiner Meinung vom Theater auch einen berechtigten Zweck.

Die Geschichte der deutschen Theaterkritik ist noch nicht geschrieben. Ihr künftiger Historiker wird die seltsame Erscheinung vorfinden, daß in einer Zeit schwächlicher dramatischer Erzeugung, die allerdings eine Epoche vortrefflicher schauspielerischer Leistung und durch die Meininger auch neuer Regie war, dieser Teil der künstlerischen Kritik eine weder vordem noch nachher erreichte Höhe behauptet hat. In Berlin stand neben Fontane Karl Frenzel, manchmal stark doktrinär, aber immer von erarbeiteten geschichtlichen Gesichtspunkten ausgehend und bei einem kühlen Temperament wirkend wie ein der Bühne zugeschworener Bewahrer. Unter den Jüngeren begann Fritz Mauthner zu schreiben, immer mehr Philosoph als Kritiker, stärker als auf die Darstellung auf den Gehalt der Dichtung aus, da aber oft von feinem Spürsinn. Schon rüsten Julius und Heinrich Hart und die Schüler Scherers, Schlenther und Brahm, zu ihrem kritischen Kampf, und auch Gustav Roethe schreibt in Göttingen jahrelang die Bühnenbesprechung wie sein Amtsgenosse Adolf Stern in Dresden. In Königsberg erwächst Emil Krause zu einem, auf Jüngere wie Schlenther, tief einflußreichen, unbestechlich selbständigen Richter und Wäger, und in Wien bewahrt Friedrich Uhl mit seiner unbefangenen Schärfe, in Prag gewinnt Alfred Klaar mit seiner gediegenen literarhistorischen und dramaturgischen Bildung und seiner Theater-Verliebtheit Boden wie Heinrich Bulthaupt in Bremen. Zwischen ihnen allen steht, von anderem Werke her hereingeschneit, 252 Theodor Fontane, weder theatersüchtig noch auch Theater-Fremdling. Die Streifzüge durch England und Schottland, die märkischen Wanderungen, die Kriegsschilderungen – sie dankten dem Zudrange seiner Natur ihr Sein; zum Theater war er mehr »par dépit« gekommen, aber mit all seinem Ernst hatte er auch dieser Aufgabe gedient, und all sein plauderhafter Humor, seine Gabe beplaudernder Charakteristik war auch in sie hineingeflossen. Keinem der andern Kritiker in seiner Nähe war diese ganz auf Fingerspitzengefühl gestellte kritische Kunst verwandt, aber in ihrer den Tag durch den persönlichen Reiz überwaltenden Dauerhaftigkeit tritt sie in die Nähe des größten Theaterkritikers ihrer Epoche, Ludwig Speidels. Beiden steht das malende, das im Zupacken unwiderleglich charakterisierende Wort zur Verfügung, beide können die Stimmung eines Theaterabends gleich meisterlich wiedergeben. Nur formte Speidel, der für sein inneres Dichtertum keinen andern Ausdruck fand, jedes Feuilleton zu runder Gestalt. Fontane, ein Freund und Bewunderer dieser Art Wiener Feuilletons, das »den Gesellschaftszustand verfeinere«, strebte gleiche Rundung gerade hier selten an, erreichte sie selten. Der Märker ist impressionistischer als der zum Wiener gewordene Schwabe. Aber auch das Verhältnis besonderer freiwilliger Verpflichtung gegenüber der ersten Bühne des Landes verbindet den Kritiker des Berliner Königlichen Schauspielhauses und den des Hofburgtheaters, dessen Spielplan dem der Spreebühne glich und an dem auch und erst recht die schauspielerische Leistung die dramatische Gabenfülle überwog. Im Verhältnis zu seinem immer weiter in konzentrischen, spiralförmig überhöhten Kreisen aufsteigenden Gesamtwerk bedeutet Theodor Fontanes kritische Arbeit für das Theater nur einen Nebenweg – da aber nach seinem Wort eben überall und zu allen Zeiten gelebt ward und wird, so konnte er aus 253 dieser wesenhaften Erkenntnis auch hier, oft abgekürzt, oft skizzenhaft, immer ehrgeizlos und doch im Bewußtsein seiner offenen und immer empfänglichen Natur, dem Leben auf und vor der Bühne Lebendiges, Persönliches, in guter Stunde Unwiderlegliches abgewinnen. Th. F. – das war nicht Theater-Fremdling im Sinne des verletzten Spötters; es hieß nicht immer Theater-Freund – aber die kleine, zwanzig Jahre hindurch unter den Text gesetzte Chiffre, auch hier bedeutete sie – und das war nicht wenig – immer: Theodor Fontane. 254

 


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