Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Erstes Kapitel

Von Ruppin nach Berlin

An einem Sommertage des Jahres 1858 fährt der fast vierzigjährige Theodor Fontane, den märkischen Freund Bernhard von Lepel zur Seite, auf einem fauchenden Dampfer den Firth of Forth von Granton nach Stirling hinauf. Zur Linken dehnt sich die Grafschaft Linlithgow, zur Rechten tauchen die Höhen von Kinroß auf, hinter denen die blaue Fläche des Loch Leven zu erraten ist. Stuartland, Douglasland. Des Reisenden Gedanken aber gehen eine andere Straße. Immer gibt ihm Fahren, Fortbewegung hinter den Pferden oder dem »Junker Dampf« nicht nur Umblick, auch Ausblick und Rückschau. Die Ufer des schottischen Stromes gemahnen an den Rhein, aber noch viel ausdrucksvoller an die Havel. Im Vergleich mit ihr verdeutlicht Theodor Fontane sich und den Lesern, an die er denkt, das Charakteristische des Forth. »Jedes Land und jede Provinz hat ihre Männer, aber manchem Fleck Erde wollen die Götter besonders wohl, und ihm die Rennbahn näher legend, die Gelegenheit zur Kraftentwicklung ihm beinahe aufzwingend, gönnen sie dem bevorzugten Landesteil eine gesteigerte Bedeutung. Ein solcher Fleck Erde ist das beinahe inselförmige Stück Land, um das die Havel ihr blaues Band zieht. Es ist der gesunde Kern, daraus Preußen erwuchs, jenes Adler-Land, das die linke Schwinge in den Rhein und die rechte in den Niemen taucht.« Und dann rühmt er die Havelufer als die Sitze der alten märkischen Familien, die »von den Tagen der Quitzows 5 an« mehr auf Charakter als auf Talent hielten, er nennt die preußischen Helden, die solchen Herrensitzen entstammten, die drei in dieser Flußschleife geborenen Reformatoren der Kunst, Winckelmann, Schinkel und Schadow, und zieht die Humboldts in den Kreis.

Fünfzehn Jahre später huldigt er, ohne erst des ausländischen Vergleichs zu bedürfen, der gleichen Landschaft, jetzt aber mit einem starken Akzent des eigenen bewußten Zugehörigkeitsgefühls. Damals hat er Fehrbellin die Gründungsstätte der preußischen Monarchie genannt – nun ist ihm der Tag jener Schlacht die Preußenwiege, dem Erdenwinkel aber, »wo die Wiege stand«, gilt der ganz persönliche letzte Gruß:

Geliebte Heimat, Havelland!

In dem weitgespannten Natur- und Geschichtsbild des also beschlossenen Gedichtes fällt eines auf: der Ort, in dem am 30. Dezember 1819 Theodor Fontane geboren wurde, Neuruppin, wird in dem langen Namenkatalog nicht erwähnt; und doch ist dies Ruppin das märkische Ludwigsburg. Auf kleinstem Raum ist hier eine Anzahl von Männern geboren worden, die für die Geschichte und das Werden Preußens von einer weit über das Örtliche und Provinziale hinausweisenden Bedeutung wurden. Die Heerführer Johann Heinrich Günther und Karl Friedrich von dem Knesebeck, Karl Friedrich Schinkel, der Maler Wilhelm Gentz und Theodor Fontane selbst, sie alle sind am Ruppiner See daheim. Aber im engsten Sinne bewußter und gepflegter Zugehörigkeit ist Neuruppin niemals Theodor Fontanes Heimat gewesen. Wer es nicht wüßte, würde aus den Schilderungen des märkischen Wanderers niemals den Ort der Geburt und der ersten Kinderspiele erraten, die Husumerei, die er Theodor Storm lächelnd ankreidete, bei ihm ist sie nie zu etwas 6 gediehen, was man Ruppinerei nennen könnte. Es ist das Havelland schlechthin und seine Potsdamer Ecke vor allem, was Fontane als Heimat empfand, es ist Preußen, das aus der Schlacht bei Fehrbellin emporwuchs, und es ist Berlin, das nach Fontanes Wort sein Stadtgenosse Schinkel aus einer Kasernenstadt in eine Stadt der Schönheit umwandelte.

Nicht umsonst steht hier wie dort das Gedenken der größten Waffentat und Rettertat des großen Friedrich Wilhelm im Mittelgrunde des Fontanischen Bildes. Denn mit diesem eigentlichen Beginn neupreußischer Geschichte wußte Theodor Fontane das Geschick seines Geschlechts aufs engste verbunden, in diesem Abschnitt deutscher, märkischer, berlinischer Erinnerung wurzelte die Beglaubigung seines eigenen Deutschtums, Märkertums, Berlinertums.

Ein hochgemuter Fürst, so frei wie fromm,
Empfing uns hier, und wie der Fürst des Landes
Empfing uns auch sein Volk. Kein Neid ward wach,
Nicht Eifersucht – man öffnete das Tor uns
Und hieß als Glaubensbrüder uns willkommen.
Land-Fremde waren wir, nicht Herzens-Fremde.

Wir – das waren die fünftausend Hugenotten, die der Große Kurfürst nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes im Jahre 1685 in seine Staaten einlud und hier mit der äußersten Liberalität seßhaft machte. Mit ihnen zogen auch die Vorfahren von Fontanes Vater und Mutter in die Tore Berlins ein, zwischen Klosterstraße und Dönhoffplatz spinnt sich ihr Leben ab, und auch von ihnen, die zumeist dem Zinngießergewerbe angehörten, gilt, was der Sohn und Enkel der ganzen Französischen Kolonie zueignet: die Freistatt ward zur Heimstätte, sie bürgerten sich in des Landes Leiden und Freuden ein. 7

Fontanes am 24. März 1796 geborener Vater Louis Henri war der Sohn des Malers Pierre Barthélemy Fontane, der als Zeichenlehrer der königlichen Prinzen am Hofe wirkte und nach kurzer Glanzzeit als Kabinettsekretär der Königin Luise Schloßkastellan in Niederschönhausen ward. Er endete als wohlhabender Hausbesitzer in Berlin. Louis Henri ward Apotheker, nahm als Freiwilliger an den Freiheitskämpfen teil und verlobte sich sehr jugendlich mit Emilie Labry. Die Labrys waren Seidenhändler, und Fontanes Mutter, die am 21. September 1797 geborene Emilie, war in der Brüderstraße zur Welt gekommen. Fontane hat den Gegensatz zwischen den Naturen von Vater und Mutter auf die Formel »Gascogne und Cevennen« gebracht, durchaus im Einklang mit der in jene französischen Landschaften zurückreichenden Familienüberlieferung, vor allem doch als Sinnbild zweier auseinanderstrebender Naturen, deren Grundverschiedenheit nach einer jung und stürmisch geschlossenen Ehe nur um so stärker heraustrat. Als Theodor im Neuruppiner Apothekenhaus geboren ward, das älteste Kind, zählte der Vater dreiundzwanzig, die Mutter zweiundzwanzig Jahre. Das große Glück, junge Eltern zu besitzen, hat Theodor Fontane unter solchen Verhältnissen niemals recht empfinden können – er besaß nur einen jungen Vater und fühlte früh, wie gerade diese mit den Jahren nicht abebbende Jugendlichkeit die Mutter reizte. Hier der Bonhomme, immer von Einfällen, von Anekdoten sprudelnd, bei jeder ernsthaften Anforderung des Familienlebens verlegen, am Weihnachtsabend fassungslos vor der Aufgabe, den Kindern den Sinn des Festes nahezubringen, ein Senator der kleinen Stadt, der jede Sitzung schwänzt – dort die leidenschaftliche Mutter voller Energie, »ganz Charakter«, dabei durchaus auf sicheren Besitz, Reichtum, beste Manieren, wirkliche Macht aus. Beide waren ohne jeden Glauben an hergebrachte Autorität, aber Louis 8 Henri aus Abneigung gegen alles Methodische, Festgegründete, gegen alles, was sich ein »Air« gab, Emilie aus Mißtrauen gegen den realen Wert von Wissenschaften, hinter denen keine wahre Macht stand. Wo diese aber, auf Reichtum gegründet, vorhanden war, hörte ihre Skepsis auf, während die des Gatten nicht gemeint war, hier haltzumachen. Und so kam es früh dazu, daß Frau Fontane sich, wie sie es selbst ausdrücken würde, von dem Manne distanzierte, längst ehe sie sich wirklich – ohne gerichtliche Scheidung – von ihm trennte.

Dies Geschick aber stand über Theodor Fontanes Kindheit. Es ist nicht ohne Reiz, die Stellung dieses Kindes zwischen den Eltern mit derjenigen Paul Heyses zu vergleichen, der auch zwischen zwei verschiedenen Temperamenten aufwuchs. Heyse sagt, seine Mutter, so sehr er sie liebte, hätte ihm nicht auf der Höhe des Vaters gestanden, »teils weil ich ihr manchmal etwas zu verzeihen hatte, wenn ihr rasches Temperament sie zu einer ungerechten Behandlung fortriß – teils weil sie sich unbedenklich in heiteren Stunden zu uns Knaben herabließ«. Im Fontanischen Hause war der Herablassende der Vater, und auch da litt unter dieser frühen und unbesorgten Kameradschaftlichkeit der kindliche Respekt, soviel oder sowenig davon bei dem nach Art romanischer oder jüdischer Kinder sehr frühreifen Knaben vorhanden war. Zu verzeihen aber hatte er als Kind diesem Vater nichts, und zwar aus doppeltem Grunde: er war ihm selbst zu ähnlich, und von väterlicher pädagogischer Ungerechtigkeit konnte schon deshalb gar keine Rede sein, weil von pädagogischer Bemühung keine Rede war. Viel eher mochte eine solche Empfindung der Mutter gegenüber aufkommen, hier aber nicht in Beziehung auf das Kind, sondern – seltsam und, wenn man will, tragisch genug – in dem Verhältnis der Mutter zum Vater. Wenn der Professor Heyse, durch anhaltenden jauchzenden Lärm 9 gestört, ins Kinderzimmer trat und die Jungen ihm entgegenriefen: »Mutter ist immer die Dollste!«, so verflog sein Unmut in einem Lachen; Emilie Fontane aber hatte für knabenhafte Ausgelassenheit ihres jugendlichen Gatten nur ein Achselzucken der Überlegenheit, und das tat dem Knaben wohl einmal in die Seele des Vaters hinein weh. Daß dies mütterliche Mißgefühl aus tieferer Berechtigung stammte, weil sie die wirklichen, die Lebenssicherheit des Hauses bedrohenden Charakterschwächen des Vaters dahinter sah, konnte dem Kinde erst allmählich aufgehen.

Religiöse Eindrücke, geschweige eine religiöse Führung hat Theodor Fontane im Elternhause nicht empfangen. Das Preußentum der Fontanes und der Labrys erhielt durch die hugenottische Abkunft einen besonderen Auftrieb, denn diese verband das Familiengeschick mit einer segensreichen preußischen Großtat; der Stammbaum beider Linien ward, nicht immer mit genealogischer Zuverlässigkeit, so hoch wie irgendmöglich durch die Jahrhunderte hinaufgeführt. Zu diesem Hugenottentume gehörte auch das reformierte Bekenntnis, und dies galt ganz folgerichtig der Mutter als vornehmer denn das lutherische; war es doch zudem die Konfession des königlichen Hauses. Aber das war auch alles. Und wenn Fontane später häufig davon spricht, das Katholische erschiene evangelischen Kreisen als vornehmer, so wirkt sich in dieser Betrachtung noch etwas von der religiösen oder irreligiösen Anschauungsart des Elternhauses aus – unbewußt so stark, daß der Sohn selbst von einer Mitempfindung dieses »vergleichsweise Höherstehens« niemals ganz frei geworden ist. Es ist das unfreiwillige Eingeständnis eines nicht klar empfundenen, erst auf der Lebenshöhe überwundenen Mangels.

Um so freier bekennt sich Fontane immer wieder zu dem geringen Ausmaß seiner formalen Bildung. In Neuruppin besuchte er die Klippschule; Nachhilfeunterricht im Lesen erteilte 10 die Mutter. Es gehört zur guten Überlieferung der Zeit, daß dies nicht an einem Schulbuch geschah; Frau Raabe unterwies in Stadtoldendorf, das Strickzeug in der Hand, ihren Wilhelm an Campes Robinson, Frau Fontane, die Stickerei auf dem Schoß, ihren Theodor am Brandenburgischen Kinderfreund. Im Jahre 1827 erfolgte die Übersiedelung der Familie nach Swinemünde, wo Louis Fontane die Apotheke gekauft hatte. Hier ging es ein halbes Jahr lang in die Stadtschule, die Holzpantinenschule, und als dies dann dem Honoratoriensohne doch nicht recht anstand, fand sich die Gelegenheit zur Teilnahme am Hauslehrerunterricht in einem der wohlhabenden Kaufmannshäuser. Aber diese vier Jahre trugen im Schulsinne wenig ein. Als der Zwölfjährige zu Ostern 1832 als Pensionär in das Superintendentenhaus von Neuruppin übersiedelte und vom Gymnasialdirektor Thormeyer für Quarta reif gefunden wurde, brachte er nach eigener Aufzeichnung etwa folgendes mit: »Lesen, Schreiben, Rechnen; biblische Geschichte, römische und deutsche Kaiser; Entdeckung von Amerika, Cortez, Pizarro; Napoleon und seine Marschälle; die Schlacht bei Navarino, Bombardement von Algier, Grochow und Ostrolenka; Pfeffels Tabakspfeife, Nachts um die zwölfte Stunde, Holteis Mantellied und beinahe sämtliche Schillerschen Balladen.« Dazu einige lateinische Brocken. Fontane selbst nennt das alles mit Recht Stückwerk, und dennoch barg dieses Stückwerk eine Art Weltbild, freilich kein prismatisches mit regelmäßigem Schliff und genauem Spektrum, sondern ein kaleidoskopisches, das sich aus lauter bunten Steinchen und Splittern zusammensetzt – die schüttelnde Hand aber mochte daraus immer neu zum Kranze, zur Figur geordnete Bilder gestalten. Daß dem so war, dankt Fontane weder der Schule noch den Hauslehrern, sondern dem Vater. Wie dieser in anekdotischer Zuspitzung vom eigenen Lebenslauf erzählte, so gab er 11 dem Kinde Weltgeschichte unter dem gleichen Gesichtswinkel, hier von seinem Gascognertum aufs Liebenswürdigste und Faßlichste bedient. Nichts ist für diese Art »sokratischer« Lehrart bezeichnender als die Geschichte des napoleonischen Generals Latour d'Auvergne. Diesen Tapfern hatte Napoleon nach seinem Heldentod dadurch geehrt, daß sein Herz in einer Urne bei der Truppe mitgeführt und sein Name bei jedem Appell weiter ausgerufen wurde. Diesen geschichtlichen Vorgang brachte der alte Fontane dem jungen oder vielmehr der junge Fontane dem jüngsten durch die immer wiederholte Aufführung folgender Szene bei:

»Kennst du Latour d'Auvergne?«

»Gewiß. Er war Le premier grenadier de France

»Gut. Und weißt du auch, wie man ihn ehrte, als er schon tot war?«

»Gewiß.«

»Dann sage mir, wie es war.«

»Ja, dann mußt du aber erst aufstehen, Papa, und Flügelmann sein; sonst geht es nicht.«

»Und nun stand er auch wirklich von seinem Sofaplatz auf und stellte sich als Flügelmann der alten Garde militärisch vor mich hin, während ich selbst, Knirps, der ich war, die Rolle des appellabnehmenden Offiziers spielte. Und nun aufrufend begann ich:

Latour d'Auvergne!«

»Il n'est pas ici,« antwortete mein Vater im tiefsten Baß.

»Où est-il donc?«

»Il est mort sur le champ d'honneur.«

Man stelle sich die – vor der Mutter stets sorgfältig verborgene – Szene recht leibhaft vor: den schönen großen Vater mit der militärischen Gestalt und dem militärischen Schnurrbart, wie er den Flügelmann macht, und den kleinen, dem Vater so 12 ähnlichen Sohn, wie er in möglichst aufgereckter Haltung den Appell abnimmt. Wie sollte man es nicht verstehen, daß dieser preußische Sproß von Gascogne und Cevennen diesen Unterrichtsstunden und den an sie geknüpften Gesprächen »eigentlich alles Beste, jedenfalls alles Brauchbarste« verdankte, was er nach seiner Meinung wußte! Diese Geschichten blieben ihm »wie ein Schatzkästlein« zu Händen, und keinem Lehrer hat er sich so zu Danke verbunden gefühlt wie dem Vater mit seiner durch ein treffsicheres Gedächtnis zusammengelesenen und zusammengehörten anekdotischen Bildung. Freilich: eines mußte hinzukommen, der Empfänger zum Sender. Wenn Effi Briest bei ähnlichem Zuhören sagt: »Ich behalte so was,« so ist sie eine Lernerin mit der Uranlage ihres Dichters.

Swinemünde aber war ja nicht nur der Ort früher Bildung, es war auch, viel mehr und weit eindrucksvoller, der Platz der ersten Knabenspiele. Obenan unter diesen standen für Theodor und seinen um nur zwei Jahre jüngeren Bruder Rudolf die soldatischen. Und die pommersche Hafenstadt war in ihrer reizvollen Lage zwischen Strom und Meer zugleich die Stätte erster mächtiger Natureindrücke, Idyll in der friedlichen Sonne farbiger norddeutscher Herbsttage, bis zum Schrecknis belebt im Seesturm an der noch schlecht bewehrten Küste; und die völkerverbindende Meeresstraße warf nicht nur unheimliches Strandgut an die Küste, sie bereicherte auch manches Haus mit seltsamer Habe und brachte in das pommersche Gleichmaß stets aufs neue seltsame und erregende Takte einer durch die Ostseewellen herangespülten Außenwelt. Die Fontanes wußten sich trotz dem Magistratssitz des Vaters und seiner Tonangabe in der Ressource etwas Anderes als ihre Mitbürger, und so lernte der älteste Haussohn gerade hier zuerst Menschenbeobachtung aus dem immer vorhandenen Abstande. Zeitlebens hat er eine betonte Vorliebe 13 für das Hanseatische gehabt, noch sein letzter, großer, unausgeführter Romanplan galt einem solchen Motiv; aber das Swinemündisch-Hanseatische war doch nur eine Ausgabe in Sedez. Es sah fast alles nach viel mehr aus als es war, und die Konsulatsschilder und internationalen Fahnen der Schiffsbedarfshändler und Zollmakler täuschten einen Verkehr und einen Reichtum vor, deren scharfer Prüfung im Grunde nur das Haus des Geheimen Kommerzienrats Krause standhielt. Neben ihm kamen noch die aus Berlin stammenden Schönebergs und der pommersche Zweig der westfälischen Scherenbergs in Frage, und diesen letzten standen die Fontanes um so näher, als der alte Scherenberg nacheinander mit zwei Damen aus der Französischen Kolonie verheiratet war. Das tief Unsolide vieler Swinemünder Lebensläufe geistert noch in das Gedicht des größten Swinemünders, Christian Friedrich Scherenberg, »Der verlorene Sohn«, mit später Macht hinein, auch Theodor Fontane hat es wohl erahnt. Denn hier sah er mit den Augen der Mutter. Dem Vater war das alles gerade recht, aber eben weil Louis Henri sich in diesen unklaren Verhältnissen wohl fühlte, spürte Frau Emilie die Kernsäule an vielem, das sich als gesund gab, um so sicherer heraus, und Theodor empfand aus der mütterlichen Erbmasse her ebenso. Als er viel später mit dem lange tief verschuldeten George Hesekiel ein nachdenkliches Geldgespräch hatte, sagte er schließlich: »Ja, 's ist sonderbar, es geht mir ja mehr als bescheiden, aber ich würde nicht sonderlich darunter leiden, wenn ich nur dann und wann einen Pump zustande bringen könnte. Das kann ich aber nicht. Ich habe durchaus kein Talent zu dergleichen; ich bin zu ungeschickt.« Der Freund sagt ihm gerührt: »Gott erhalte dir diese Ungeschicklichkeit.« Fontane aber führt auf die Andauer dieser Ungeschicktheit den im ganzen guten Gang seines Lebens zurück. Der mütterliche Blutstropfen war 14 der Quell dieses Segens, und der Swinemünder Anschauungsunterricht tat das Seine dazu. Noch viel abschreckender aber wirkten die letzten Erlebnisse im Hause von Onkel August Fontane.

Theodor Fontane war knapp anderthalb Jahre auf dem Ruppiner Gymnasium geblieben, viel gelernt hatte er nicht, und das Heim des alten Pfarrers, der bei Tische immer ein Hustenglas neben sich stehen hatte, war unbehaglich genug gewesen. In einem seiner raschen Entschlüsse nahm der Vater den Tertianer aus der Lateinschule und brachte ihn in die Gewerbeschule von Karl Friedrich Klöden. Diese Berliner Anstalt, die erste ihrer Art, erfreute sich unter Leitung des hervorragenden Geographen eines vorzüglichen Rufes, aber wenn irgend etwas, so war die jähe Umschulung des fast Vierzehnjährigen ein neuer Fehler, die lateinischen und griechischen Anfänge galten hier nichts, denn alles war auf Naturwissenschaft und Technik abgestellt. Der deutsche Unterricht bei Philipp Wackernagel war trotz der Bedeutung des Mannes höchst trocken, und der dritte große Lehrer des Instituts, der Mathematiker Jakob Steiner, konnte sein fassungsloses Staunen über die geradezu »grandiose Nichtbeanlagung« des neuen Schülers für alles, was mit Zahlen zusammenhing, nur durch ein gelegentliches Zublinzeln ausdrücken, das nach Fontanes Gefühl sogar ein gewisses Maß von Anerkennung über so völlige Ahnungslosigkeit enthielt. Dazu die Unterbringung bei August Fontane, dem Stiefoheim, in dem das Bonhommetum des Bruders zu einer gefährlichen und bedenkenlosen, an das Verbrecherische streifenden Lebensspielerei ausgeartet war. Schon der Umzug aus einem eleganten Stockwerk der Burgstraße in einen verfallenen Neubau neben dem Judenkirchhof in der Großen Hamburger Straße deutete auf das Ende vor. Inmitten lauter gescheiterter Existenzen, vom verarmten polnischen Grafen, 15 entamteten Bürgermeister und bankerotten Kaufmann bis zur puella publica, hausten hier zwischen schimmelnden Wänden Familie und Kostgänger. Und als Onkel August dann wieder auf Sommerwohnung weit vor dem Oranienburger Tore (bei Liesens, wo jetzt in der Liesenstraße Fontanes Grab liegt) zog, war der Schulweg bis zur Niederwallstraße so weit, daß der Schüler lieber auf eigene Faust botanische Streifzüge, in Wahrheit Bummelfahrten durch Grunewald und Jungfernheide bis nach Tegel und Schlachtensee hin machte oder in der Anthienyschen Konditorei in der Weinmeisterstraße die Zeitungen, die Zeitschriften mit den Kritiken Rellstabs, den Gedichten Gaudys und Kopischs las. Es war der Gefahrpunkt im Leben des elternfernen Sohnes; daß er ihn ohne seelischen Schaden überstand, dankte er dem Kern der mütterlichen Solidität und der väterlichen Gabe, aus jeder Blüte den ihm gemäßen Honig zu saugen. Die Schule versäumte er, aber die Streifereien im Berliner Weichbild lehrten Unvergessenes, und die Lesestunden bei Anthieny vermittelten ihm eine unvergleichliche Kenntnis der zeitgenössischen Literatur. Die ganze Bedenklichkeit seiner ersten Berliner Lebensumstände offenbarte freilich erst der Abschluß, der Zusammenbruch August Fontanes, der die Gelder seiner Mündel und die des langjährigen Hausmädchens unterschlagen hatte. Unmittelbar nach dieser Katastrophe trat Theodor Fontane, der die Berechtigung zum einjährigen Militärdienst ersessen hatte, als Lehrling in die Rosesche Apotheke in der Spandauer Straße, er sollte und wollte den väterlichen Beruf ergreifen, Kindheit und Schulzeit des Sechzehnjährigen waren zu Ende.

Des Bruchstückhaften seiner Bildung war Theodor Fontane sich auch damals durchaus bewußt. Ein anderer hätte dagegen aufbegehrt. Der junge Hebbel wußte kaum weniger als in gleichen Jahren der junge Fontane. Aber wie drängt er nach 16 systematischer Lehre, nach Studium, nach Lückenfüllung! Nichts davon bei Fontane.

Gewiß: Der kaum abmeßbare Temperamentsunterschied, der den Märker niemals recht ein Herz für den Dithmarscher fassen ließ, erklärt zum Teil auch diese Verschiedenheit. Aber Anderes, Wesenswichtigeres kam hinzu. In Hebbel stak der Dramatiker, der Maurerssohn mit dem Elfenblick baute innerlich schon an dem tragenden Gerüst großer Weltanschauungswerke. In Fontane aber regte sich unbewußt der Balladendichter, und diesem ist von je eine im höchsten Sinne genäschige historische Bildung von anekdotischem Reiz dienlich und gemäß gewesen – auch Annette Droste und Detlev Liliencron sind dafür schlagende Beispiele; das Bonmot gilt mehr als der pragmatische Verlauf, die Geschichtensammlung mehr als die Biographie, die Chronik mehr als das gelehrte Werk, die Zeitungsnotiz mehr als das stenographische Protokoll. Jedoch noch ein Drittes spricht mit und führt, indem es den Vergleich recht fruchtbar macht, in den Kern der Dinge. Auf Hebbel lastete je länger je mehr das Gefühl eines wuchtenden, durch Schulmangel vertieft empfundenen sozialen Druckes. Der Kirchspielschreiber war von dem Kirchspielvogt durch eine unüberbrückbare gesellschaftliche Kluft getrennt – der Apothekerlehrling stand mit dem Prinzipal zwar nicht auf der gleichen beruflichen Rangstufe, aber im gleichen sozialen Kreise, und Theodor Fontane doppelt, weil er zur Französischen Kolonie zählte. An seinem selbstverständlichen Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft ist ihm nie ein Zweifel gekommen, und dieser Zweifel wäre auch ganz unberechtigt gewesen. Ob er selbst Geld hatte oder nicht, spielte für sein Gefühl gar keine Rolle. Und er war nun dazu ein Berliner. Als sich Theodor Storm über die ihm unübersteigbar scheinenden gesellschaftlichen Schranken in Preußen beklagt, ganz im Sinne seines Gedichts 17 »An meine Söhne« – da antwortet ihm Fontane: »Es gibt nirgends in der Welt, auch in Frankreich nicht, so wenig eine ›exklusive Gesellschaft‹ wie bei uns. Geburt, Reichtum, Rang, Talent und Wissen vertragen sich hier in wunderbarer Weise, und Graf Arnim, mit einem halben Fürstentum hinter sich, verkehrt mit dem Lokomotivenbauer Borsig oder mit Professor Dove völlig ebenso wie mit seinesgleichen.« Da spricht der Stolz des Berliners, der nun auf den rechten Platz gekommen war. Der Sohn des Havellandes ist auf einem Umweg an die Spree unweit der Havel zurückgekehrt, auf den Boden, der seinen Vorfahren Gastrecht und Heimat bot, in seines Stadtgenossen Schinkel schöne Stadt – er ist ihr treu geblieben. 18

 


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