Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Achtes Kapitel

Zwischenspiele

Als Theodor Fontane zur Kriegsfahrt nach Frankreich rüstete, stand er nicht mehr in den Diensten der »Kreuzzeitung«. Lange Jahre hindurch hatte er die Annehmlichkeiten der Stellung stark empfunden: die verhältnismäßig geringe zeitliche Beanspruchung, die pflichtmäßige Beschäftigung gerade mit englischen Dingen, die Kameradschaft mit Hesekiel, die für die»Wanderungen« wichtigen gesellschaftlichen Beziehungen. Aber je länger, je mehr hatten sich ihm auch die Schattenseiten seiner Tätigkeit ins Bewußtsein geschoben. Daß er weniger Gehalt bezog als der länger beim Blatte beamtete und durch die Wichtigkeit seines Ressorts gehobene Hesekiel, mochte hingehen, ja, Fontane empfand in seinem Gerechtigkeitssinn sein Einkommen im Verhältnis zu dem Hesekiels eher als beschämend hoch. Schlimmer war, daß der Zeitungsverlag nicht zu einem Pensionsvertrage zu bewegen war. Und nach Fontanes Anlage drückte ihn noch stärker als dies Materielle das Gefühl, dauernd subaltern behandelt zu werden. Er, der Fünfzigjährige, war schließlich nicht nur der Verfasser des britischen Artikels der »Neuen Preußischen Zeitung« – er war der Dichter des »Archibald Douglas«, der durch die Welt tönte, der »Preußischen Helden«, ohne die kein Lesebuch und keine Anthologie auskam, der Verfasser der »Märkischen Wanderungen«. All das galt hier nichts, und als er im April 1870 aus einem Gespräch mit Beutner, aus der Art, wie dieser Parallelen mit Hesekiel zog, 146 das schlagende Gefühl solcher Bewertung schmerzhaft heraushörte, kündigte er kurz entschlossen. Einem Ausgleich, den der Chefredakteur, »ganz die kleine Luckenwalder Natur«, versuchte, wich Fontane aus. »Du weißt,« schrieb er an seine Frau, »daß ich längst entschlossen war, in dieser Weise zu handeln, und daß ich die Brutalität, die darin liegt, unsre Freiheit und unsre geistigen Kräfte auszunutzen, ohne vorsorglich und human an unsre alten Tage zu denken – ich sage, daß ich diese Brutalität nicht mehr ertragen kann. Sooft ich an diesen Punkt denke, empöre ich mich, und zwar nicht das Schlechte in mir, sondern das Gute. Es ist gemein, beständig große Redensarten zu machen, beständig Christentum und Bibelsprüche im Munde zu führen und nie eine gebotene Rücksicht zu üben, die allerdings von Juden und Industriellen, von allen denen, die in unsern biedern Spalten beständig bekämpft werden, oftmals und reichlich geübt wird.« Es ist fast derselbe bittere Ton, den wenig später aus freilich schlimmerem Anlaß Bismarck gegenüber demselben Blatte anschlug.

Emilie Fontane
Nach einem Pastellbildnis aus den vierziger Jahren

Fontane hätte seinen Entschluß, der ihn einstweilen jeder festen Stellung beraubte, Frau Emilie mündlich mitteilen können; er wartete aber ihre Abreise nach England ab, wohin sie Martha zu einer Fontanes von London her befreundeten Familie Merington begleitete. Theodor Fontane befürchtete die Enttäuschung und Verängstigung seiner Lebensgefährtin und noch mehr deren heftige Äußerung; er zagte deswegen um so ernstlicher, als er kurz vordem den ihm seit Jahren vom Unterrichtsministerium gezahlten jährlichen Ehrensold von dreihundert Talern verloren hatte – der einstige Tunnelbruder, der Minister Heinrich von Mühler, Henriette Merckels Bruder, hatte ihn einfach gestrichen. Die Kränkung war um so größer, als Mühler im gleichen Jahre für Emanuel Geibel, der nicht 147 einmal Preuße war, bei König Wilhelm einen lebenslänglichen Ehrensold von jährlich tausend Talern durchsetzte.

Fontanes Befürchtungen trafen zu. Sein Familienleben war im ganzen glücklich und friedlich. Man gewinnt in das Wesen des Fontanischen Hauses, Hirschelgasse 14 (jetzt Königgrätzer Straße 25), einen behaglichen Einblick durch Zeilen des Sohnes an die Mutter aus ihrem letzten Lebensjahr: »Die Kinder sind jetzt wirklich sehr nett. Theo ist klug, fleißig, strebsam; Martha mausert sich sehr heraus und wird elastisch, graziös, leider auch etwas eitel, putzsüchtig und schulschnabbrig; Friedel, ein sehr gutes Kind, auch nett aussehend, ist eine völlig komische Figur, ein durch ein Verkleinerungsglas angesehener Pächter oder Schiffskapitän. Theo ist der Jüngste in Obertertia. Neulich erzählte er uns, ein Großer habe gesagt: ›Schwach ist Fontane nur, aber Mut hat er‹; ›na‹ – setzte Theo hinzu – ›es ist besser, als wenn sie gesagt hätten: "stark ist er, aber feige"‹ Von George lege ich einen seiner letzten Briefe bei. Er wird in den nächsten Tagen Fähnrich werden, was seine ganze Seele in Anspruch nimmt. Glückliches Alter!«

Den Frieden solcher Zustände durchbrach aber gelegentlich die Heftigkeit der Hausfrau, die dann mit Fontanes äußerst reizbarem Temperament zusammenprallte; ohne eine schwere Erkrankung litt er jahrelang an nervösen Depressionen, die ihm die Arbeit erschwerten und ihn erregende Zusammenstöße fürchten ließen. Auch war er bei seinem geringen Zahlensinn und seiner Empfindlichkeit kein idealer Hausvorstand und machte der Gattin manchmal das Leben schwer. Er wußte wohl und glaubte sich in diesem Punkte bei der Anfälligkeit seines Nervensystems »Autorität«: »Man hat gegen sich selbst und fast noch mehr gegen andre die Pflicht, nicht mehr und nicht länger krank zu sein, als eben unvermeidlich ist; man kürzt sich und andern dadurch 148 die frohen Lebensstunden ab und gibt gar nichts dafür.« Aber wo zwei gegen jeden Hauch der Luft empfindliche und innerlich leicht verletzbare Naturen aneinander gebunden sind, ist die gegenseitige Einhaltung dieses überlegten und überlegenen Rezepts nicht immer leicht. Mit gutem Grunde machten Theodor und Emilie ihre Sommerfahrten fast regelmäßig getrennt – um so gelöster traten sie sich dann gegenüber.

Emilie war nach Theodors Worten »eine Haushälterin von jener nicht genug zu preisenden Art, die Sparsamkeit mit Ordnungssinn und Helfefreudigkeit verbindet«. Und sie fanden sich durchaus in dem Fontanischen Grundsatz: »Eine richtige Sparsamkeit vergißt nie, daß nicht immer gespart werden kann. Wer immer sparen will, der ist verloren, auch moralisch.« Dabei aber lebte in Emilie der echt französische Zug zum festen Einkommen, zur sicheren Rente, die typische Eigenart dieses klassischen Sparervolks, dem die deutsche Anlage gerade in diesem Betracht stracks widerspricht. Und so fiel die doppelte Gefährdung einer verbürgten Lebenssicherheit wie ein Donnerschlag auf die ferne Frau, obwohl ihr der Gatte nachweisen konnte, daß er für die nächsten zwölf Monate aus seinen Verlagsverträgen mit Hertz und Decker auf mindestens zweitausendzweihundert Taler zu rechnen hatte. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt und zur Anerkennung seines Wortes durchgerungen hatte: »Gewonnen kann durch Trübseligkeit nie etwas werden; einer Ermahnung, eines Spornes bedarf ich nicht, was irgend zu leisten ist, das leiste ich ohnehin. Zuspruch, Freudigkeit, Vertrauen erleichtern mir meine nicht leichte Aufgabe; Mißstimmung, ja selbst nur leichter Vorwurf erschweren sie mir, reizen mich und fördern gar nichts.«

Ganz im Gleichgewicht war Frau Fontane erst, als Theodor wieder eine feste Stellung gefunden hatte: wie einst einen Schritt 149 nach rechts, so tat er nun einen nach links; er ließ sich durch den Stadtgerichtsrat Robert Lessing, den Besitzer der »Vossischen Zeitung«, für dieses Blatt, dem er schon von Großbritannien her Artikel gesandt hatte, verpflichten. Er übernahm daran die Theaterkritik für das Königliche Schauspielhaus und kehrte auch damit zu der in dem Buche »Aus England« bezeugten Londoner Tätigkeit zurück.

Aber die Wirrnis und der Zwiespalt von 1870 sollten sich sechs Jahre später, und schlimmer, wiederholen. Theodor Fontane ward im Jahre 1876 der bis dahin von dem Professor Otto Friedrich Gruppe bekleidete Posten des Ersten Sekretärs der Königlichen Akademie der Künste angeboten, zu deren Mitgliedern so zahlreiche Tunnelfreunde und Elloristen gehörten. Er nahm die vielbeneidete Stellung, die Freund Zöllner nachmals durch lange Jahre mit Glück und dem Titel eines Geheimen Regierungsrats ausfüllte, an – aber er verließ sie schon nach Monaten. Was Zöllner besaß, und was ihn in den Augen der Professoren hob, eine durch Prüfungen belegte amtliche Schulung, das eignete Fontane nicht; und was ihn darüber hinaus gerade den Künstlern hätte verbinden sollen, sein eigenes Künstlertum und sein kritisches Gefühl, das kam in dieser Tätigkeit eines Referenten und Protokollanten nicht zur Geltung. Nicht umsonst war er sechsundfünfzig Jahre alt geworden, ohne ein Staatsamt bekleidet zu haben. Er hatte wieder das Gefühl, subaltern eingeschätzt und behandelt zu werden, und unsanfte Zusammenstöße mit dem Präsidenten Friedrich Hitzig, Kuglers Schwager, machten ihm alsbald das Amt noch unerträglicher. Dazu kam eine nach seinem Urteil schlimme Verlodderung der Akademiegeschäfte. Kurz, er erbat und erhielt nach kaum einem Vierteljahr den Abschied, und nun geriet er in den schwersten Zwiespalt mit Emilie während ihrer ganzen Ehe. Für seine 150 letzte Empfindung gegenüber der aufgegebenen Tätigkeit hatte sie kein Organ. »In dieser ganzen Zeit habe ich auch nicht eine Freude erlebt, nicht einen angenehmen Eindruck empfangen. Die Stelle ist mir, nach der persönlichen wie nach der sachlichen Seite hin, gleich sehr zuwider. Alles verdrießt mich; alles verdummt mich; alles ekelt mich an. Ich fühle deutlich, daß ich immer unglücklich sein, daß ich gemütskrank, schwermütig werden würde.« Solchem innersten Eingeständnis stand bei der Hausfrau und Mutter die berechtigte Enttäuschung darüber entgegen, daß ein vielbegehrtes Staatsamt mit hohem Einkommen, Ruhegehalt und Titel wieder ins Wesenlose entschwand. Wie schwer diese Tage auf dem Hause lasteten, hat Fontane nur Mathilde von Rohr bekannt. »Ich konnte das Gefühl des Degradiertseins, das ich nach Lage der Sache durchaus haben mußte, nicht ertragen.« Er versucht, Emilie gerecht zu werden: »Bescheiden in ihren Ansprüchen, ist sie in ruhigen Tagen eine angenehme, geist- und verständnisvolle Gefährtin; aber ebensowenig wie sie die Stürme in der Luft vertragen kann, ebensowenig erträgt sie die Stürme des Lebens. Sie wäre eine vorzügliche Prediger- oder Beamtenfrau in einer gut und sicher dotierten Stelle geworden. Auf eine Schriftstellerexistenz, die, wie ich einräume, sich immer am Abgrund hin bewegt, ist sie nicht eingerichtet. Und doch kann ich ihr nicht helfen. Sie hat mich als Schriftsteller geheiratet und muß sich schließlich dareinfinden, daß ich, trotz Abgrund und Gefahren, diese Art des freien Daseins den Alltagskarrieren mit ihrem Zwang, ihrer Enge und ihrer wichtigtuerischen Langweile vorziehe. Jetzt, wo ich diese Karrieren allerpersönlichst kennengelernt habe, mehr denn je.« Er gesteht ein, daß seine Frau von ihrem Standpunkt aus recht habe, aber er fügt der alten Freundin gegenüber doch hinzu: »Sie hat sich in dieser Angelegenheit nicht so benommen, wie sie gesollt hätte.« Erst nach einer Reise von Frau 151 Fontane aufs Land glätteten sich die Wogen, und als Theodor am 1. Oktober 1876 zur »Vossischen Zeitung« zurücktrat, begann wieder das Gleichmaß der Tage.

Fontane hatte noch einmal den Versuch gemacht, seinen Lebensweg zu ändern. Dreißig Jahre waren verflossen, seit er dem Tunnel beigetreten war, ein Dichter unter Dichtern,

                              blutjunge Ware:
Studenten, Leutnants, Refrendare.
Rang gabs nicht, den verlieh das »Gedicht«,
Und ich war ein kleines Kirchenlicht.
So stand es, als Anno 40 wir schrieben,
Aber ach, wo bist du Sonne geblieben,
Ich bin noch immer, was damals ich war,
Ein Lichtlein auf demselben Altar,
Aus den Leutnants aber und Studenten
Wurden Genräle und Chefpräsidenten.

Und mitunter, auf stillem Tiergartenpfade,
Bei »Köngin Luise« trifft man sich grade.

»Nun, lieber F., noch immer bei Wege?«
»»Gott sei Dank, Exzellenz, . . . Trotz Nackenschläge . . .««
»Kenn ich, kenn ich. Das Leben ist flau . . .
Grüßen Sie Ihre liebe Frau.«

So mußte es nun bleiben, und die halb leutselige, halb genierte Begrüßung durch alte Jugendgenossen war nicht das schwierigste Problem. Fontane war Preuße genug und zur Genüge der Sohn seiner Mutter, um den Wert von Rang, Titel und einflußreicher Stellung richtig einzuschätzen; als ihn Graf Redern zu sich 152 zitiert und Emilie über die Form wütend ist, geht er ruhig hin. »Er ist Oberstkämmerer und Graf und bewohnt das schönste Palais in Berlin.« Da er aber alles, was ihn der Hierarchie einordnet, in der Hand hielt, spürte er schließlich nur die »dreimal geknotete Sekretärschlinge« und war froh, seinen Kopf aus ihr herausgezogen zu haben. Er war geneigter als je vordem, den Schriftstellerberuf, »mag der aufgeblasene Bildungspöbel darüber lachen«, schön zu finden und schrieb unter diese aufwühlende Episode, ein spätes und tiefer eingreifendes Gegenstück der Münchner, den Satz: »Sich angehören ist der einzig begehrenswerte Lebensluxus.«

*

Die Genugtuung über die wiedergewonnene Freiheit hatte aber noch einen, vielleicht den wichtigsten Grund in einem dichterischen Plane, mit dem sich Theodor Fontane seit den ersten sechziger Jahren trug, ohne ihn austragen zu können. Neben der Arbeit an den »Wanderungen« und an den Kriegsbüchern, die zu des Verfassers Kummer kaum jemand nach ihrem wahren Gehalte würdigte, ging unablässig die innere und allmählich, mit immer neuen Vorstößen, immer neuen Stockungen, die äußere Formung eines großen Romanwerks einher. Sie begleitete den Dichter, der so lange in der halben Verpuppung des Journalisten, Kriegsschilderers und Historikers steckte, auf die Sommerreise; auf dem Spill zu Warnemünde, bei Hermann Scherz in Kränzlin unweit Ruppin, in Tabarz unter den thüringer Tannen, bei Moritz Lazarus auf seiner sächsischen Besitzung Schönefeld, bei dem neuen Schwager Weber, Elise Fontanes Mann, in Schweidnitz – immer folgte Theodor Fontane neben allen andern Plänen dieser. Er beschäftigte ihn auch auf der Reise nach Italien, die er im Oktober 1874 mit Emilie antrat. 153 Es ging über Verona, Venedig und Florenz nach Rom, Neapel und Capri. Fontane unterlag fast auf der ganzen siebenwöchigen Fahrt einem starken körperlichen Unbehagen; aber nicht dies war bei ihm, der damals ganz selten schmerzfrei war, der Grund für den verhältnismäßig geringen Eindruck dieser Spätreise. Er empfindet sie selbst als eine solche und ruft sich immer wieder zurück, was er wohl dreißig Jahre früher in Neapel und vor den Schätzen Pompejis empfunden hätte. Wenn er dergleichen aussprach, wußte er doch wohl, daß es nur zum Teil richtig war. Er hatte nicht bloß, wie er Mathilde Rohr schreibt, »seine bescheidene Lebensaufgabe an Spree und Havel, nicht am Vesuv, sondern an den Müggelbergen« – die nordische Richtung seiner menschlichen und dichterischen Anlage und Entfaltung war die eigentliche Ursache eines Fremdgefühls jenseits der Alpen, wie sie ihm Paris unheimisch gemacht hatte. Hier lag eine jener Grenzen, die ihn von den nach München gegangenen Freunden und Jugendgenossen, auch von dem Syrakuspilger Lepel und jenem sonst verwandten Kopisch, dem Entdecker der Blauen Grotte, trennten. Dazu kam eine innere Auflehnung gegen die mit der Autorität des Klassizismus behauptete Unvergleichlichkeit der italienischen Kunst des Altertums und der Renaissance, und gerade der Tunnel und Rütlifreund der Eggers, Woltmann, Kugler, Lübke, Lucae empfand solch allgemeines Urteil als für sich nicht verbindlich. Er lehnte sich, je älter er wurde, um so mehr gegen die Schulurteile auf. »Immer begreiflicher wird mir«, schrieb er als Sechzigjähriger, »der Haß der bildenden Künstler gegen die Kunstphilosophen. Kunstgeschichte geht, solang es einfach Geschichte bleibt, aber sowie das Raisonnement anfängt, wird es furchtbar. Das Urteil eines feinfühlenden Laien ist immer wertvoll, das Urteil eines geschulten Ästhetikers meist absolut wertlos. Sie schießen immer 154 vorbei; sie wissen nicht, haben oft aber gar keine Ahnung davon, worauf es eigentlich ankommt.« Das war nur mit einem Korne Salz zu verstehen, denn in den »Tagen der Okkupation« hatte er Friedrich Theodor Vischers Urteilsfeinheit herzlich gehuldigt – aber stimmungsmäßig war solche, allmählich in Fontane erwachte Anschauung für die Romfahrt und die unbewußte Einstellung zu den jenseits der Alpen wartenden Schätzen wesentlich. Es fehlte Theodor Fontane nicht zuerst die Jugend, sondern jene Unbefangenheit, die er sogar auf der erzwungenen französischen Gefangenenfahrt sieghaft bewährt hatte. Wer irgendwie innerlich auf Widerspruch eingerichtet ist – und das war unleugbar hier und diesmal Fontanes Fall –, verändert und verfehlt unbewußt Abstand und Sehwinkel. Und immer nur, wann Fontane sich zur sonst gewohnten Unbefangenheit durchrang, kam er zu freudigem und selbständigem Anteil, so vor Tizians Assunta in der venezianischen Akademie und vor den Gemälden der Frührenaissance; er ist geneigt, jenes zauberhafte Werk über Raffaels Dresdener Madonna zu stellen, und sieht sich von der präraffaelitischen Zeit mehr angeheimelt als von der Epoche des höchsten Glanzes. Im Jahre 1875 war er allein noch einmal wenige Tage in Oberitalien, bei zweifelhaftem Wetter und schlechter Stimmung erst recht ohne Genuß.

Zu der »Lebensaufgabe« an Spree und Havel gehörte nun aber auch das Werk, das in der neuen Wohnung endlich zur Vollendung heranwuchs; auch sie lag in preußisch-geschichtlichem Umkreise, Potsdamer Straße 134c, im Hause des Johanniterordens. Unter dem Türschilde mit dem achtspitzigen Kreuz ist Theodor Fontane fast dreißig Jahre lang Tag für Tag aus und ein gegangen, von den Fenstern im dritten Stockwerk her hat er das immer wachsende Leben des Berliner Westens beobachtet, von hier aus lenkte er tagtäglich die Schritte zum 155 Lieblingsspaziergang seiner späten Jahrzehnte, den Landwehrkanal entlang und hinüber in den Tiergarten, zu »Königin Luise«, zur Rousseau-Insel, zum Neuen See. Und im Herbst des Jahres 1878 erschien endlich, nach dem Vorabdruck im Daheim, bei Wilhelm Hertz:

Vor dem Sturm

Roman

aus dem Winter 1812 auf 13. 156

 


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