Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Viertes Kapitel

Lyrik und Balladen

Im Jahre 1850 war der Romanzenzyklus »Von der schönen Rosamunde« erschienen, im gleichen Jahre folgten bei Scherenbergs Verleger, dem Schöneberger A. W. Hayn, »Männer und Helden«, »Acht Preußenlieder«, und 1851, in dem damals üblichen Miniaturformat, bei Carl Reimarus »Gedichte«, Bernhard von Lepel gewidmet. Die »Argo«, ein von Fontane und Kugler veranstaltetes Jahrbuch, und Veröffentlichungen in Zeitschriften und in Otto Friedrich Gruppes Deutschem Musenalmanach mehrten die Versernte, und auch das von Fontane 1852 herausgegebene »Deutsche Dichteralbum« brachte Neues; durch die starke Berücksichtigung der Tunnelmitglieder in dieser Anthologie zog sich Fontane den unwirschen Tadel Hebbels zu, der andere Talente der Zeit, wie Dingelstedt, mit Recht vermißte. Den vollen Balladenertrag erwies dann der Band »Balladen«, den der Berliner Verleger Wilhelm Hertz, an den Varnhagen den Dichter schon früher vergeblich empfohlen hatte, im Jahre 1861 herausbrachte; Hertz übernahm schließlich auch die »Gedichte«, deren zweite Auflage freilich vierundzwanzig Jahre auf sich warten ließ, in sehr erweiterter, später immer noch vermehrter Fassung.

Die neun Rosamunde-Balladen, Theodor Fontanes erstes Buch, nennen sich Romanzenzyklus. Das in der Überschrift Romanze steckende Wort Roman hat auf die Ökonomie der Dichtung deutlich eingewirkt: sie ist gegen allen lyrischen Brauch in 50 »Kapitel« eingeteilt und gibt in der Tat den Roman Heinrichs II. von England und der Rosamunde Clifford mit seiner ganzen Abwandlung von Liebe, Heimlichkeit, doppelter Eifersucht schlüssig wieder. Fontane folgt nicht der geschichtlichen, sondern der sagenhaften Überlieferung, die Rosamunden im Schloß zu Woodstock verborgen leben und durch die rechtmäßige Königin Eleonore sterben läßt. Aber er verfeinert das letzte Sagenmotiv: nicht wirkliches Gift bringt den Tod, sondern der Gram über Heinrichs, von der vermummten Königin gemeldete angebliche Untreue treibt die Einsame in den Freitod. Das wird in lebhaftem Zeitmaß vorgetragen, in einer Balladenstrophe, die im allgemeinen Uhlands Vorgang im Gedicht »Vom treuen Walther« entspricht; nur in dem achten, dem Sturmkapitel, tritt an Stelle der einfachen jambischen Führung ein aufgelockerter daktylischer Rhythmus. Die Sprache ist schlicht erzählerisch, der epische Gang rasch aufs Ziel gelenkt, zu Betrachtungen, zu Ausdeutungen läßt sich der Dichter keine Zeit. Auch der »Höllensoff« der Eifersucht wird wie bei der Königin, so bei Rosamunde vor ihrem Selbstmord nicht rednerisch, sondern durch seine Wirkung dargestellt. Aber ein eigenes Gesicht trägt die Dichtung nicht. Nur in einzelnen sparsamen Schilderungen oder Andeutungen der das Rosamunden-Schicksal schicksalhaft umgebenden Natur zwingt uns ein besonderer Laut zum Aufhorchen:

Wohl hört er, wie das Birkhuhn schwirrt,
Wie über ihm die Taube girrt.

Aber oft genug gelangt Fontane auch in diesem Betracht über das Herkömmliche nicht hinaus. Dennoch ist die Sammlung innerhalb ihrer Zeit nicht zu übersehen, denn sie deutet, nicht nur für Fontanes eigene Entwicklung, weiter hinaus. Es war eine Epoche der zu zyklischer Form strebenden Romanzendichtung 51 überhaupt, und das Erscheinen der Rosamunde fiel gerade zwischen die »Amaranth« Oskars von Redwitz und »Waldmeisters Brautfahrt« des späteren Elloragenossen Otto Roquette. Von der liebenswürdigen Idyllik des zweiten Werks unterschied sich Fontane durch das unbekümmerte Hinstreben, die sachliche Bahnung des Weges zum tragischen Stoff. Ästhetisch wesentlicher war gegenüber der weichlichen Verschwommenheit der »Amaranth« die Herbheit der »Rosamunde«. »Amaranth« wurde wie ein künstlicher Dämpfer auf die nachschwingende Erregung der politischen Hoch-Zeit empfunden – dem gegenüber war Fontanes Werk gewiß kein Zeitgedicht, aber es entsprach in seiner Haltung bei aller romantischen Neigung mehr dem realistischen Zuge der Tage. Darum das Lob des im Loben spröden Dingelstedt mit seinem scharfen Sinn für das Tatsächliche. Und Fontane selbst ahnt etwas von seiner inneren Überlegenheit über Redwitz, dessen Begabung er unumwunden rühmt: er nennt seine »Rosamunde« gegenüber dem fremden Werk »klarer, einfacher, reifer und mehr aus einem Gusse«. Was ihr noch fehlte, faßt er selbst zusammen, wenn er die »Amaranth« »zumal in stellenweiser Ausführung bedeutender« nennt.

Ein bis zum Kern der dichterischen Wesenheit reichender Unterschied aber zwischen Fontane und in ihrem Ausgangspunkt verwandten Zeitgenossen liegt in etwas scheinbar Äußerlichem, das doch ein Innerliches war. Verlassen wir den Vergleich mit Redwitz und kehren in Theodor Fontanes engere Welt zurück.

Aus dieser Welt waren im Sturmjahr Emanuel Geibels »Juniuslieder« hervorgegangen, sie hatten den jungen Ruhm ihres Dichters noch bei weitem erhöht, und bei den Preiskonkurrenzen im Tunnel schwankte die Entscheidung gelegentlich zwischen Fontane und Geibels jungem Gefolgsmann Paul Heyse. In Geibel und Heyse regte sich bereits der Stil, den sie dann 52 in München weiter ausbildeten. Diese Kunst, die in Heyses Kindertotenliedern, in Geibels »Tod des Tiberius«, in Hermann Linggs historischer Lyrik, in der Epik und Nachdichtung von Wilhelm Hertz ihre Höhe gebundener Form erstieg, verleugnete die Schulung an Platen nicht, sie war bei Geibel noch von Heine, bei Heyse von Eichendorff stark beeinflußt und stand mit der Griechischen Anthologie wie mit der Poesie der Troubadours in einem, keineswegs nur wissenschaftlichem Zusammenhange. Fontane stellt an den Anfang seiner »Gedichte« eine Reihe lyrischer Stücke, die ohne weiteres auch von Geibel sein könnten; wenn er sich zuruft:

Es kann die Ehre dieser Welt
Dir keine Ehre geben,
Was dich in Wahrheit hebt und hält,
Muß in dir selber leben –

so klingt sein Tonfall mit dem des Lübeckers vollkommen zusammen; und wenn es gleich danach heißt:

Tritt ein für deines Herzens Meinung
Und fürchte nicht der Feinde Spott,
Bekämpfe mutig die Verneinung,
So du den Glauben hast an Gott –

so wird in Fontane auch die innere Annäherung an den Lyriker der bleibenden Mächte nach den Herwegh-Jahren deutlich spürbar. Aber er selbst zieht, ohne die jenseitige Schar zu bezeichnen, einen scharfen, nicht nur formalen Trennungsstrich, wenn er an Friedrich Witte, den er auch in den Tunnel eingeführt hatte, schreibt: »Erwägen Sie, wie viele Felder hat die Poesie, und wie wenige bebau ich! Sprech ich vom Formellen, so finden Sie keine Hexameter, keine Oden- und Hymnenstrophe, keine 53 Sonette, Terzinen und Ottaven, keine spanischen Trochäen, keine Ghaselen, keine Makamen, und hundert anderer Spielereien (Ritornell, Triolett, Malaiisches usw.) zu geschweigen. Das Fehlen dieser Formen ist weder was Zufälliges noch was Gleichgültiges – mit diesen Formen fehlen gleichzeitig bestimmte Dichtungsarten, denen jene Formen eben zugehören, gleichsam angewachsen sind. Sie finden in meinen Sachen keine Idylle, keine Fabel, keine Legende, kein still beschreibendes, kein Lehrgedicht. Es fehlt die Dithyrambe, es fehlt das Naive und Drollige und vor allem: es fehlen – die Lieder, das Lyrische überhaupt.« Das vorletzte ist nicht ganz richtig; allein die sehr drollig malende »Bienenschlacht« (später »Bienen-Winkelried« genannt) mit ihrem Motto

Nur kein Gegrübel,
Was es sei;
Wohl oder übel –
Der Scherz ist frei,

und das der ersten Sammlung einverleibte Shakespeare-Gedicht beweisen, daß das Komische, wenn auch allerdings nicht das Naiv-Komische, in Fontanes künstlerischem Hab und Gut seinen Ort hatte. Sonst aber umzirkelt er mit jenen Sätzen sehr genau die Grenzen, binnen deren er sich im Gegensatz zu Geibel, Heyse, späteren Münchnern wie Grosse und Schack und auch zum Teil zu dem Freunde Lepel bewegt. Wohl hat Fontane noch etwa ein paar reizvolle Ritornelle gedichtet – aber die Terzine, das Rispetto, die Vilote zu so reizvoller deutscher Schmiegung zu gestalten wie vor allen Paul Heyse, war ihm versagt und – er brauchte nicht erst aus der Not eine Tugend zu machen, weil mit seinem rhythmischen Gefühl sein dichterisches Lebensgefühl zu anderem Pol ausschwang. 54

Eines Sommertages saß Fontane mit Kugler und Storm in einem Tiergartenlokal. Es entspann sich eine Unterhaltung über Geibel, der eben ein neues Buch veröffentlicht hatte, und Storm sprach mit der ihm eigenen Schärfe dem Kuglerschen Erzfreund die »eigentliche Lyrik« ab, weil Geibel die latente Leidenschaft fehle, der aus dem Dunkel blendende Blitz. Das Gespräch wurde peinlich, weil Storm einfach fortfuhr: »In zwei Strophen von mir . . .« und sich dadurch eine nicht unberechtigte Reprimande Kuglers holte. Fontane aber stellt in der Rückerinnerung fest: »Storm hatte recht.« Er begründet seine Zustimmung vor allem mit Storms überragender Gewalt als Liebesdichter. Es lag aber noch anders. Fontanes Kunstverstand wurde hier zugleich von einer allmählich aufgebrochenen innersten Neigung zum Nordischen bedient, der Storms Kunst entgegenkam. Französischer Herkunft wie Geibel und Roquette, trennte Fontane sich hier von ihnen und ihren Freunden, wie ihm schon in Lepels lyrischem Werk jene Ballade von den Dänenbrüdern mehr zu sagen gehabt hatte als die kunstvollen Oden und Hymnen. Fontane hat kein Verhältnis zu den Minstrels und Troubadours seiner Stammesheimat, als deren später Nachfahr Geibel manchmal erschien – aber als er, gerade im Jahre 1848, Percys »Relicts of Ancient English Poetry« in die Hände bekam, empfand er es wie einen elektrischen Schlag, und er hat mit diesem Buche wie mit Walter Scotts »Minstrelsy of the Scottish Border« jahrelang gelebt. Hier, etwa in der Edward-Ballade, die er nach Herder noch einmal übertrug, fand Fontane jenes nordische Helldunkel, das ihn in des Friesen Theodor Storm Lyrik entzückte. Die Rosamunde-Balladen waren noch mehr stofflich als künstlerisch ein erster Ausflug ins Nordische, bei dem sich die durch Walter Scotts Romane befestigte englische Geschichtskenntnis mit bewähren durfte. Dann übersetzt Fontane Balladen von 55 Thomas Chatterton und William Cowper. Man fühlt bei dieser Schulung an als verwandt Erkanntem überall das Streben, sich in das besondere Klima dieser Welt einzufühlen; über ihr wölbt sich nicht das selige Blau Südeuropas, sondern der wolkenzerrissene Himmel nordischer Meeres und Gebirgslandschaft, aus dem mit einem Male ein blendender Blitz bricht, wie es in jenem Tiergartengespräch Theodor Storm von echter Liebeslyrik verlangt hatte. In der Beschäftigung mit Robert Burns, mit dem schottischen und englischen Volkslied lockert sich bei Fontane die Uhlandsche Balladenform immer mehr, sein eigentliches Temperament wird freier. Er tritt im gemeingermanischen Bezirk zwischen Burns und Scott, die Alten, und Robert Louis Stevenson, dessen Prosa von der gleichen inbrünstigen Stimmung getränkt ist. Und er lenkt in die Spur des Tunneldichters, der zwar auf einer jugendlichen Sehnsuchtsreise nach Venedig gestorben war, aber Ruhm und Dauer einer nordischen, nordisch empfundenen Ballade verdankt, Moritz Strachwitz.

Es kommt im Laufe der Jahre in diese Balladen ein harscher Ton, der weder bei Eichendorff noch bei Geibel Seitenstücke hat. Da ist, als Fragment bezeichnet, das Gedicht von Hakon Borkenbart, die Werbefahrt eines Greises um eine junge Prinzessin. Drei Strophen zu je sieben Zeilen. Jeweils die ersten vier geben in knapper Sachlichkeit den Tatbericht und leiten zu den drei Abgesängen über, in denen zwar die Handlung weitergeführt, aber zugleich der mitschwingende Sinn, das bewegende Moment der Ballade heraufgeholt wird:

Es prangt sein Feld in Garben,
Er aber prangt in Narben,
In Narben von den Dänen her.
—   —   —   —   —   —   —   — 56
Heut zieht er aus in Sorgen:
Er liebt schön Ingeborgen,
Des Königs Sala Töchterlein.
—   —   —   —   —   —   —   —
Und wär ich alt zum Sterben,
Auch Ruhm und Narben werben,
Und werben gut wie Jugendschein.

Diese drei Abgesänge reimen nicht untereinander, dennoch haben wir das Gefühl einer Wiederkehr der gleichen Tönung; und dies erreicht Fontane dadurch, daß die nachklingenden Reime jedesmal auf einer dumpfen R-Silbe schwingen:

Garben – Narben; Sorgen – borgen; sterben – werben;

und indem der Dichter vor das letzte Reimwort werben noch einmal das erste, Narben, setzt, verstärkt er die geheimnisvoll raunende Gewalt des Vortrags. Wir empfinden die Kennzeichnung Fragment als fehl, wir haben in balladischem Halblicht ein bewegtes Bild, das keiner weiteren Ausmalung bedarf.

Fontane hat ein Ohr für den poetischen Lautwert der nordischen Namen. Wie er in diesem Gedicht Borkenbart und Ingeborg für den Reim verwertet, so geschieht es in dem Gesamtkreis dänisch-schwedischer Balladen mit bewußter Kunst, die sich in dem Gedichte »Nordische Königsnamen« gar nicht erst halbwegs über sich lustig zu machen brauchte; denn Theodor Fontane benutzt diese zumeist dumpf klingenden Reime durchaus nicht nur des äußeren Klanges halber – er gibt ihnen im Rahmen seiner Dichtung nachhallenden Sinnwert. Wenn König Olaf Kragebeen aus dem »Wassersack« hinaus ins Skagerrak steuert, so bringt der drastische Gleichlaut das plötzliche Einlaufen aus der engen Bucht in den weiten Meeresarm mit vollendeter Deutlichkeit zum Ausdruck. Am stärksten gibt Fontane 57 dieser Neigung in der Ballade »Admiral Herluf Trolles Begräbnis« nach. Wie das Havellandgedicht, so birgt auch dies einen Namenkatalog. Aber es sind schließlich uns Deutschen fremde Namen. Und dennoch: wie wirkt diese gewissermaßen vor dem Sarge des Seehelden einhergetragene Lorbeerlast von Siegesschlachten in ihrer Reimverflechtung bildhaft, ja sieghaft!

An der pommerschen Küste, vor Pudagla-Golm,
Um den schwankenden Sieg uns zu retten,
So fiel er. Nun, Herrin von Herlufsholm,
Sage, wohin wir ihn betten.

Betten wir ihn in den Totensaal
Von Thorslund oder Olafskirke?
Betten wir ihn in Gjeddesdal
Unter der Trauerbirke?

Betten wir ihn in die Kryptkapelln
In Roeskilde, Leire, Ringstede?
Sage, Herrin, wohin wir ihn stelln,
Eine Ruhstatt für ihn hat jede.

Reicher und vielfältiger aber noch als die skandinavische Ausbeute Fontanes, an die nach Stil und Ton auch die dithmarsische Ballade »Der Tag von Hemmingstedt« angrenzt, war, was ihm die britisch-schottische Umwelt entgegentrug; der erste Einlug auf jenem kurzen Urlaub an der Themse hatte unter dem Eindruck des Towers zu einem dramatischen Bruchstück »Carl Stuart« geführt, das freilich im ersten Aufzug steckengeblieben war. Die Beschäftigung mit Percy und Scott lenkte die Gedanken in die gleiche Bahn, die sich dann in den Jahren eines englischen Aufenthalts vor den bereiten Sinnen in ihrem ganzen geschichtlichen 58 Reiz und Reichtum entfaltete. Neben dem, was Fontane sich hier zu eigen machte und bezwang, wirkt die »Rosamunde« blaß. Mit einer Reihe neuer Verdeutschungen englischen und schottischen Guts treten der letzte York, Johanna Grey, Oliver Cromwell, Walter Raleigh, ja noch der geliebte Walter Scott in diesem Rahmen hervor. Stuartschicksal wird immer wieder gestaltet und findet seine letzte Ausdeutung in dem ganz kurzen Liede des James Monmouth. Zwischen dem Kuß unter der Linde, der ihm das Leben schenkte, und dem letzten Kuß auf das schwarze Gerüst schwingt hier in fünf Strophen ein schicksalhaft zum Fall auf dem Henkerblock bestimmtes Leben empor – unvergleichlich ausgedeutet und jäh überhellt mit der genialen Verszeile, in der wir von der Richtaxt durch die Lautmalerei wirklich nur, überschauert, den dräuenden Schimmer wahrnehmen:

Es blitzt wie Beil von weiten.

Ihre Krönung aber fand diese britisch-schottische Ballade und Fontanes in das Zwielicht nordischer Geschichte eintauchende Kunst überhaupt in dem Gedicht, mit dem er am deutlichsten in Strachwitzens Spur einbog, um sie schließlich doch mit der Frucht seiner im letzten anders gerichteten Persönlichkeit nicht sowohl zu verlassen als zu erweitern:

              Archibald Douglas.

»Ich hab es getragen sieben Jahr,
Und ich kann es nicht tragen mehr,
Wo immer die Welt am schönsten war,
Da war sie öd und leer.

Ich will hintreten vor sein Gesicht
In dieser Knechtsgestalt, 59
Er kann meine Bitte versagen nicht,
Ich bin ja worden alt,

Und trüg er noch den alten Groll,
Frisch wie am ersten Tag,
So komme was da kommen soll,
Und komme was da mag.«

Graf Douglas sprichts. Am Weg ein Stein
Lud ihn zu harter Ruh,
Er sah in Wald und Feld hinein,
Die Augen fielen ihm zu.

Er trug einen Harnisch rostig und schwer,
Darüber ein Pilgerkleid, –
Da horch vom Waldrand scholl es her
Wie von Hörnern und Jagdgeleit.

Und Kies und Staub aufwirbelte dicht,
Herjagte Meut und Mann,
Und ehe der Graf sich aufgericht't,
Waren Roß und Reiter heran.

König Jakob saß auf hohem Roß,
Graf Douglas grüßte tief,
Dem König das Blut in die Wange schoß,
Der Douglas aber rief:

»König Jakob, schaue mich gnädig an
Und höre mich in Geduld,
Was meine Brüder dir angetan,
Es war nicht meine Schuld. 60

»Denk nicht an den alten Douglasneid,
Der trotzig dich bekriegt,
Denk lieber an deine Kinderzeit,
Wo ich dich auf den Knien gewiegt.

»Denk lieber zurück an Stirling-Schloß,
Wo ich Spielzeug dir geschnitzt,
Dich gehoben auf deines Vaters Roß
Und Pfeile dir zugespitzt.

»Denk lieber zurück an Linlithgow,
An den See und den Vogelherd,
Wo ich dich fischen und jagen froh
Und schwimmen und springen gelehrt.

»O denk an alles, was einsten war,
Und sänftige deinen Sinn,
Ich hab es gebüßet sieben Jahr,
Daß ich ein Douglas bin.«

»»Ich seh dich nicht, Graf Archibald,
Ich hör deine Stimme nicht,
Mir ist, als ob ein Rauschen im Wald
Von alten Zeiten spricht.

»»Mir klingt das Rauschen süß und traut,
Ich lausch ihm immer noch,
Dazwischen aber klingt es laut:
Er ist ein Douglas doch.

»»Ich seh dich nicht, ich höre dich nicht,
Das ist alles, was ich kann,
Ein Douglas vor meinem Angesicht
Wär ein verlorener Mann.«« 61

König Jakob gab seinem Roß den Sporn,
Bergan ging jetzt sein Ritt,
Graf Douglas faßte den Zügel vorn
Und hielt mit dem Könige Schritt.

Der Weg war steil, und die Sonne stach
Und sein Panzerhemd war schwer,
Doch ob er schier zusammenbrach,
Er lief doch nebenher.

»König Jakob, ich war dein Seneschall,
Ich will es nicht fürder sein,
Ich will nur warten dein Roß im Stall
Und ihm schütten Körner ein.

»Ich will ihm selber machen die Streu
Und es tränken mit eigner Hand,
Nur laß mich atmen wieder aufs neu
Die Luft im Vaterland.

»Und willst du nicht, so hab einen Mut,
Und ich will es danken dir,
Und zieh dein Schwert und triff mich gut
Und laß mich sterben hier.«

König Jakob sprang herab vom Pferd,
Hell leuchtete sein Gesicht,
Aus der Scheide zog er sein breites Schwert,
Aber fallen ließ er es nicht.

»»Nimms hin, nimms hin und trag es neu
Und bewache mir meine Ruh,
Der ist in tiefster Seele treu,
Wer die Heimat liebt wie du. 62

»»Zu Roß, wir reiten nach Linlithgow,
Und du reitest an meiner Seit,
Da wollen wir fischen und jagen froh
Als wie in alter Zeit.««

In der »Rosamunde« wurde noch erzählt und eingeführt, wie fast immer bei Uhland, dem Vorbilde des Zyklus; im »Archibald Douglas« sind wir sofort mitten in den Dingen:

Ich hab es getragen sieben Jahr,
Und ich kann es nicht tragen mehr.

Ganz allmählich, im Selbstgespräch des Archibald und in der Wechselrede mit dem Könige, wird die Vorgeschichte der Begegnung, die Exposition der balladischen Handlung so weit aufgehellt, wie es irgend notwendig ist. Und nachdem der Douglas sich in dem Entschlusse bestärkt hat, heute der siebenjährigen Qual ein Ende zu machen, folgt eine lyrische Verdichtung des letzten ruhigen Augenblicks von zartester musikalischer Sinngebung. Wie eine Kantilene, mit der Jugend und Glück in dem Alten emporsteigen, klingt es:

Er sah in Wald und Feld hinein,
Die Augen fielen ihm zu.

Alsbald aber bricht die Welt in den Frieden, und nun setzt, nicht mehr abebbend, die volle Gangart dramatischer Balladik ein, aufgerufen durch zwei Zeilen, die mit einem hellen »Da« das Heranstürmen der königlichen Jagd ankünden:

Da horch vom Waldrand scholl es her
Wie von Hörnern und Jagdgeleit.

Mit Recht sagt Börries von Münchhausen, daß diese zwei 63 Verse zu den Wunderwerken deutscher Sprach- und Verskunst gehören. Und nicht minder treffend bis ins letzte die beiden nächsten, in denen das Auge erblickt, was vordem das Ohr vernahm:

Und Kies und Staub aufwirbelte dicht,
Herjagte Meut und Mann.

Der Betonungswechsel, der in dem Wort »herjagte« plötzlich den Akzent von der zweiten auf die erste Verssilbe verlegt, wirkt, als ob ein Vorhang gewaltsam mitten auseinandergerissen würde: jäh hat der Lärm die erwartende Stille übermocht. Und nun durchdringen sich Strophe für Strophe Gegenwart und Vergangenheit, das Lied der Jugend, der Kinderzeit wechselt motivisch mit der harten Melodie der freudlosen Gegenwart – bis die Handlung nicht weitergeht, sondern weiterreitet. Stoßweise, wie der harte Tritt des bergan gespornten Rosses, kommen die Worte aus dem Munde des Alten. Man meint ihn keuchen zu hören, wenn ihm immer wieder das »ich« durch die schweratmenden Lippen bricht:

König Jakob, ich war dein Seneschall,
Ich will es nicht fürder sein,
Ich will nur warten dein Roß im Stall
Und ihm schütten die Körner ein.

Dann hält die Jagd, und zum zweiten Male gebraucht Fontane den Betonungswechsel, um den Wandel der Situation deutlich zu machen:

König Jakob sprang herab vom Pferd,
Hell leuchtete sein Gesicht.

Wie jenes »Her«, so bezeichnet dieses »Hell« eine Peripetie, 64 und nun bringt der Schluß in zwei Strophen wieder die reine Melodie des Friedens, der Sühnung und Versöhnung.

Es ist der gleiche, mit jedem Worte rechtende, knappste balladische Ton wie bei Strachwitz, aber die lyrische Füllung, die im reinsten Sinne des Worts liebenswürdige Lockerung gibt diesem Krongut deutscher Balladendichtung den auszeichnenden, den unvergänglich Fontanischen Reiz. Was sein strengster Kritiker, Theodor Storm, schon frühen Balladen nachrühmte, daß sie aus der wirksamen Natur ihres Dichters sämtlich in seinem Ton und wie aus einem Gusse geschrieben seien – hier war dies in letzter Vollendung erreicht und der Jubel des Tunnels, der nie Schöneres gehört hat, nur das Vorspiel einer in drei Menschenaltern nicht abgeebbten Wirkung des 1854 entstandenen Gedichts.

Für die tieferen Zusammenhänge, denen es entbunden war, zeugt auch sein musikalisches Schicksal; Eichendorff war von dem Österreicher Schubert und, wie nachmals Geibel und Heyse, von Heyses Vetter Felix Mendelssohn-Bartholdy komponiert worden; der »Archibald Douglas« fand seine unsterbliche Vertonung durch jenen Carl Loewe, der den nordischen Sängen vom Ritter Oluf und vom Edward, der Kopischs »Nöck«, Kuglers nordischem »Gregorius« und der altschottischen Ballade von Tom, dem Reimer die Melodie gefunden hat.

*

Der Gedichtband von 1851, in dem Fontanes Ballade des nordischen Helldunkels vorgebildet erscheint, um sich freilich erst später zu vollenden, birgt als zeitliche Meistergabe die Ballade »Schloß Eger«. Je mehr Theodor Fontane zu sich selbst kam, um so stärker ward in ihm die Abwehr gegen das, was er gern 65 Dublette nannte; er hat später geradezu von einer Dublettenkrankheit gesprochen, an der unsere Literatur – »wie jede moderne Literatur« – schwer und chronisch kranke. Der römische Rechtssatz: »Ne bis in idem« galt ihm auch für das Schrifttum. Keine seiner Maria-Stuart-Balladen behandelt das Gespräch der beiden fürstlichen Basen Maria und Elisabeth, keine Marias Hinrichtung; ihre Weihe zu Blut und Mord durch die Geistergestalt der Poesie, der Tod Rizzios, ihre Liebe zu Bothwell – Das, lauter Motive, die Schiller nur angedeutet hatte, erscheint bei Fontane gestaltet. Gewiß sprach die Furcht vor der Vergleichung mit einem Höchsten bei diesem Ausbiegen mit; wesentlicher für die Stoffwahl war jedoch jene frühe Meidung unnötiger Doppelnis, positiv gesprochen ein Drang zum Originellen. »Originelle Dichtungen sind freilich noch lange nicht schöne Dichtungen, und, dem Grundwesen der Kunst nach, wird das bloß Originelle hinter dem Schönen immer zurückzustehen haben. Gewiß. Und ich bin der letzte, der an diesem Fundamentalsatz zu rütteln und zu rühren gedenkt.« Aber Fontane erkennt Zeitläufte an, wo das Originale gleichberechtigt neben das Schöne treten darf, »und wenn die Nachkommen einer zurückliegenden großen Epoche das Kapital ihrer Väter und Urväter aufgezehrt haben, so werden die willkommen geheißen, die für neue Güter Sorge tragen, gleichviel wie«.

Ein Letztes und im eigentlichen Sinne Entscheidendes kam bei der Verengung des Wallenstein-Stoffes in »Schloß Eger« hinzu, so wesentlich, daß darin ein Gesetz für Fontanes Ballade wie für die Ballade schlechthin umschlossen ist. Wohl ist die Ballade dem Drama durch zum Ziele drängenden Gang, der lyrisches Schwelgen und Verweilen abschneidet, nächstverwandt, aber sie ist kein Drama. Was im Rampenlicht mit innerer Folgerichtigkeit und allmählicher Herausholung, Staffelung, 66 Verknüpfung und Entknüpfung der Motive ausschließlich in unmittelbarer Sprache der handelnden Personen vorgeführt wird, hat die Ballade auf engem Raum darzustellen, auf Schraffierung bis ins einzelne muß sie verzichten; und wenn sie, wie so oft und auch bei Fontane, in Zwie- oder dar Dreigespräch mündet, so legt ihr auch da das innere Gesetz Grenzen auf, welche schon durch diese Zahlen zwei und drei dem jeder Ausweitung fähigen Drama gegenüber festgelegt sind. Die Ballade bringt auch die Tragödie, aber sie hat nach ihrem inneren Gebote zugleich und nicht etwa nebenbei die Aufgabe des der modernen Tragödie entschwundenen tragischen Chorus; darum die balladische Stimmung der »Braut von Messina«. Das, was Schiller hier nach Konrad Burdachs Ausdruck suchte, das ideale Spiel zwischen den Personen der Handlung und dem darüber schwebenden Chor, kehrt in der Ballade immer wieder. Der Chor, das sind die Gespenster der »Lenore« und des »Erlkönigs«, das sind die Stimmen, die im »Edward« aus den Lüften reden, das sind in Fontanes »Bothwell« die Schatten an den Wänden, die Flügelschläge des Windes an den klirrenden Scheiben. Und so formt sich die Ballade, dramatisch belebt, aber nach ihren Stilmitteln nicht voll dramatisch zu erscheinen imstande, gerade aus dieser geheimnisvollen Verflechtung heraus. Sie gibt dem Wirklichen den letzten Nachdruck und die nachschwingende Lebendigkeit, indem sie es rhythmisch mit einem Unwirklichen oder Halbwirklichen, einem Geahnten oder doch nur geschärften Sinnen Ahnbaren verknüpft. Man kann es auch, sehr zugespitzt, so ausdrücken: der Balladendichter bringt innerhalb seines Verses zugleich das, was der Schauspieler durch Miene und Gebärde, der Spielleiter durch Einrichtung, der Inspizient durch Beleuchtung vermittelt – er ist Dichter und Regisseur zugleich.

Gerade in dieser Hinsicht ist die beste Ballade des 67 Frühbandes, eben »Schloß Eger«, in hohem Grade bezeichnend. Schillers Tragödie heißt »Wallensteins Tod«, Fontanes Ballade trägt den Untertitel »Drei böhmischer Grafen Tod«. Schon in der Aufschrift wird also die Handlung auf einen Nebenschauplatz verlegt. Was sind uns neben dem großen Führer und tragischen Helden Illo, Tertschka und Kinsky? Aber in dem rasch einsetzenden Zeitmaß der Dichtung findet doch jeder in wenigen großen Strichen seine lebendige Charakteristik, der melancholisch ahnungsvolle Tertschka, der ungewiß zwischen Gott und Teufel pendelnde Kinsky, der tolle, hiebfeste, trunkene Illo – sie alle gemeinsam ein bewegtes Gemälde der Umgebung dessen, um den es hintergründig geht, und dessen Name nur dreimal auftaucht. Zuerst ganz sachlich:

Lärmend, im Schloß zu Eger,
Über dem Ungarwein,
Sitzen die Würdenträger
Herzogs Wallenstein.

Dann, wie aus dem überfüllten Pokale spritzend:

Eid und Treue brechen
Schreckt den Feigen allein,
Hoch, der König der Czechen,
Herzog Wallenstein!

Schließlich, des herzoglichen Purpurs entkleidet, wie ein Schrei, der zu einem Fürstentitel keine Zeit mehr läßt und die Katastrophe vorwegnimmt:

Bald in Schlosses Ferne
Hört mans krachen und schrein; –
Schau nicht in die Sterne,
Rette dich, Wallenstein! 68

Die Rolle des Chorus aber, der in den Mitspielern und den Hörern Ahnung und Furcht emportreibt und durcheinanderwirrt, fällt hier dem Lichtschein zu. Die zweite Strophe beginnt:

Lustig flackern die Kerzen;

die dritte:

Feurig funkelt der Unger;

und die vorletzte:

Licht und Fackeln kommen,
Geben düstren Schein:
In einander verschwommen
Blinken Blut und Wein.

Dazwischen aber, in der Mordszene, sind die Lichter erloschen, die Brutalität des Fechtens im engen Raume wird dadurch ausgedrückt, daß das Pfeifen und Schwingen der Degen die zuckenden Flammen tötet. Wenn es wieder hell wird, ist es, als ob der Vorhang über verwandelter Szene emporrauschte: vorher die in Ehrenketten blinkender Würdenträger, jetzt:

Stumm, vor seinem Mahle,
Sitzt der Tod am Tisch.

*

Mitten unter den Balladen der Annette von Droste steht das Gedicht »Die beschränkte Frau«, die Geschichte eines stillen, frommen Weibes, das den verbissen neben ihrer Gottergebenheit einherlebenden Gatten im Hereinbruch des Unglücks durch klaglos opfernde Güte weniger beschämt als bezwingt. Zwischen den wie mit zweitem Gesicht empfangenen Moor- und Heidegedichten der Westfälin nimmt sich diese wie ein Alltägliches vorgetragene 69 schlichte Geschichte fremdartig aus. Ebenso unverwandt scheint sich in Fontanes erstem Gedichtbande die Ballade »Die arme Else« (später »Und alles ohne Liebe« überschrieben) neben dem heroischen Gange von »Schloß Eger« darzustellen. Aber wir brauchen nur einen Blick in die Welt des berlinischen Balladendichters französischer Herkunft, Adelbert von Chamisso, zu werfen, und wir begegnen neben dem »Alten Sänger«, neben »Salas y Gomez«, neben dem »Abdallah« jener Frau Base mit dem klugen Rat oder seiner alten Waschfrau. Gewiß hatte Chamisso seine Wurzeln in der Romantik, aber nicht mehr in dem Erdreich ihrer frühen Erfassung, wie sie die Berliner Kinder Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Achim von Arnim verkörpern. Er besaß gleich dem von ihm meisterlich verdeutschten Béranger neben der Freude am grellen Stoff, einem internationalen Gemeingute der Romantik, die romanische Freude am Tatsächlichen, am Nächstgegebenen, und hierin kam ihm das märkisch-berlinische Wesen wie ein Verwandtes entgegen. Josef Nadler sagt von Chamisso: »Er selber übersprang alle Zwischenglieder und legte auf das erste Stammeln in deutschen Worten gleich die letzte Weihe der Kunst, die ihn im Innersten deutsch machte.« Nadler hätte noch hinzufügen können: nicht nur deutsch, sondern auch preußisch, auch berlinisch. Der erste wirkliche berlinische Dichter der Romantik, der Ostpreuße E. T. A. Hoffmann, versetzte sein scharf geschautes Berlin noch mit allen Gaben der Romantik, besser gesagt, er komponierte das Leben der Hauptstadt wie eine romantische Oper, in der, wie im »Freischütz«, schlichtwirkliche Lebensszenen sich mit Äußerung und Auftreten geahneter Wesen zu einer neuen Welt zwischen Wirklichkeit und Traum einen. Chamisso ging einen anderen Weg. Das Berliner Volk, wie es sich seinen Blicken vom Fenster der Friedrichstraße, in den Hinterhöfen der neuen Häuser, 70 auf dem Wege zum Botanischen Garten zeigte, stellte er ganz schlicht dar – sein Weg führte aus der Romantik heraus zum berlinischen Realismus. Seine Schwalbe ist nicht der über weiten Gefilden heimatsuchende, Ahnung nach sich ziehende Wandervogel, sie nistet am Sims des Stadthauses, und das Berliner Kind ruft von der Fensterbank ins Zimmer:

Mutter, Mutter! unsre Schwalben –
Sieh doch selber, Mutter, sieh!

Man hört das Kind ordentlich berlinisch »Mutta, Mutta!« rufen, und die Mundart selbst meldet sich, wenn Chamisso im Gedicht von der Base immer wieder den trockenen Refrain gibt:

Kratze, kratze, kratze, Trulle,
Dir den Ersten Besten an!

Scherenberg, auch er halbfranzösischen Blutes, war Chamisso auf dies Gebiet gefolgt, wie er ihm in der grellen Ballade nach- und nahekam; die Diktion in seinem »Güldnen Ring«, in seinen Blüchergedichten stammt aus Chamissos Schule. Fontane aber, im Tunnel Scherenbergs Tischgenoß, passiert, seiner französisch-berlinischen Natur gemäß, in die Straße der Vorgänger ein und führt diese Kunstweise in seiner persönlichen Art zur Vollendung. Das aber geschieht Chamisso und Scherenberg gegenüber und geschieht im Vergleich mit Kopischs aus der Romantik zum Realismus hinstrebenden märkischen Versen wiederum, wie gegenüber Strachwitz, durch Auflockerung. »Die arme Else« ist ebenso vollgültiges Zeugnis für Fontanes Wesen wie »Schloß Eger«, sie gehört nur in einen anderen Zustrom seiner aus zwei Quellen gespeisten Natur. Das Gedicht ist in seiner schlichten Wirklichkeitsfreude noch ganz chamissonahe. Sehr bezeichnend, 71 daß Storm es in seiner Besprechung des Bandes vollständig übergeht – es war ihm, der seine Abneigung gegen alles Preußische gern und über Gebühr betonte, zu berlinisch. Die erste Strophe klingt, als ob sie von einer Frau des Typus gesprochen wäre, den Fontane am meisten haßte: der Berliner Madame:

Die Mutter spricht: »Lieb Else mein,
Du mußt nicht lange wählen;
Man lebt sich in einander ein,
Auch ohne Liebesquälen;
Manch Eine nahm schon ihren Mann,
Daß sie nicht sitzen bliebe,
Und dünkte sich im Himmel dann,
Und alles ohne Liebe.«

Wie bei Béranger und Chamisso bleibt der Refrain auch in den drei folgenden Strophen, die in einfachster Linienführung das Unglück der so entstandenen Ehe schildern – als etwas Alltägliches.

Im Fortgang dieser märkisch-berlinischen Lyrik gewinnt aber Fontane freieren Ausblick, liebenswürdigere Ausdeutung. Hier tritt als ein Neues, seiner nordischen Ballade fremdes Element der Humor hinzu. Jenes Gedicht von Shakespeares Strumpf war, wie viele Gelegenheitsverse des Rütlikreises, wo Fontane als Großmeister des Verstoastes galt, auf eine Pointenfolge gestellt. Seine spätere Berliner Lyrik entbehrt dieser auf den Punkt hinzielenden Straffung, die leicht etwas Gewaltsames bekommt; mit der gelenkigeren Handhabung der Versmittel floß ein freierer Humor lösend ins Gedicht. Diese Versmittel aber blieben innerhalb des Rahmens, den Fontane im Briefe an Witte gezogen hat. Keine der überlieferten kunstvollen Versformen, nicht einmal die geschlossene Strophenweise der »Armen 72 Else« kehrt in diesem Umkreise wieder. Dies Berlinisch-Märkische, wie es erlebt ist, ist es zugleich erwandert, es ist im Gespräch erplaudert, und so wird es Gedicht. August Kopisch beginnt sein märkisches Lied:

Aus der Mark hier, wo wir wohnen,
Zogen vormals die Semnonen
Mit viel andrer Völker Schar.

Wie anders der zwanzig Jahre jüngere Theodor Fontane vor demselben Stoff! Er nimmt uns an die Stelle des Ausmarsches mit, und wir erleben mit ihm auf der Kuppe der Müggelberge eine »Semnonen-Vision«, die Zug für Zug realistisch ausgestaltet wird. Dieses persönliche, im Wandern erlebte Dabeisein drückt der gegenüber Kopisch aufgelockerte Vers vollkommen aus:

Über den Müggelsee setzt mich der Ferge.
Nun erklettr ich die Müggelberge,
Mir zu Häupten rauschen die Kronen
Wie zu Zeiten der Semnonen,
Unsrer Urahnen, die hier im Eichwaldsschatten
Ihre Gottheitsstätten hatten.

An die nordische Ballade gemahnt die auch hier gebräuchliche Benutzung bezeichnender Namen für den bezeichnenden Reim:

Bei Kiekemal und bei Kiekebusch
Blasen Hörner den Abschiedstusch.

Der Philosoph und Romantiker Otto Friedrich Gruppe, der Herausgeber des »Deutschen Musenalmanachs«, hatte in dem Gedicht »Der schwelgerische Pastor« von einem hungrigen Kandidaten berichtet, der an dem knapp besetzten Tisch des frommen Pfarrhauses zur Sättigung schließlich ein halbes Ei zugelegt 73 bekommt: »Platzt er, so platzt er!« Das war in raschem Vortrag auf die Pointe hin erzählt. Fontane greift in der von seinen Anfängen durch lange Entwicklung getrennten Geschichte vom kleinen Ei zu ganz verwandtem Motiv. Die märkische Krügersfrau setzt dem gräflichen Hauslehrer, der in seinen Ferien ihrem Sohne umsonst Nachhilfestunden gibt, nach langen Wochen einmal ein Frühstück vor. Aber wie ganz anders führt uns Fontane in die Umwelt, die märkische Umwelt der kleinen Geschichte ein! Wir sind im Grafenschloß und im Kruge mit lauter kleinen Zügen vollkommen behaust, kennen Graf und Kandidat, Krüger und Krügerin, bis dann endlich das »Frühstück« aufgetragen wird.

Und eines Tages, nicht mehr allzu früh,
(. . . »›er bleibt zu lange, gibt sich zu viel Müh‹«)
Erscheint beim Unterricht die Krügerin
Und stellt vor Porst nen Eierbecher hin,
Nen Eierbecher, drin ein kleines Ei,
Ganz klein, die dünne Schale schon entzwei.
Porst lächelt, nimmts und ißts in guter Ruh;
Die Krügrin lächelt auch, und sieht ihm zu.

Mit welcher Intimität und mit wieviel innewohnendem Humor ist diese Szene bis zum Greifen, ja zum Schmecken deutlich gegeben! Und welche Folie gewinnt die Dichtung, die eigentlich »Märkisches Hochgemüt« benannt war, mit ihrem berlinischen Abschluß, der märkisches Kleinleben vor die große Kulisse der Hauptstadt stellt! Das Königliche Schloß, der Opernplatz. Der zum Generalsuperintendenten gewordene Kandidat kommt von einer Audienz beim Summus Episcopus. Er trifft die Krügersfrau und hält sie an. Und man fühlt ihm das Lächeln ab, mit dem er ihr märkisches Geplauder anhört. 74

»Gott, Gott! mir zittern ordentlich die Knie,
Herr Kandidat, jetzt erst erkenn ich Sie,
Sonst war Ihr Rock so weit und so bequem,
Sie sind nicht mehr so spillrig wie vordem.
Und was mein Mann, mit dem wirds immer schlimmer,
Er sitzt so rum und raucht und schläft noch immer;
Uns Willem aber, dem gehts gut genug,
Wir sind im Altenteil, er hat den Krug;
Vorm Haus die Linde hat er eingeschient,
Und hat auch wirklich nur ein Jahr gedient.
Gott, manchmal denk ich noch an all die Sachen,
S mußt Ihnen doch ne rechte Freude machen;
Die Gräfin kam ja Neujahr erst zurück,
Da war das mit dem Willem doch ein Glück,
Und gab ein Bißchen doch für Sie zu tun,
Statt so den ganzen Tag sich auszuruhn.
Und einmal als die Stunde schon vorbei . . .
Sie nicken . . . ach, Sie wissen schon . . . Das Ei.«

*

Theodor Fontane hat in einer kulturgeschichtlichen Darlegung des Berlinertums dieses »aus dem spezifisch Märkischen geboren« genannt und solches am Ablauf der berlinisch-preußischen Geschichte seit Friedrich I. und Sophie Charlotte erwiesen. Auch die berlinische Sprache steht der märkischen sehr nahe, wenn sie auch nach Hans Meyers Nachweis stärker an das Hochdeutsche heranreicht und durch ihre Versetzung mit jüdischen, zumal aber französischen (Kolonisten-) Elementen gegenüber der Landsprache eine völlige Selbständigkeit erreicht hat. Diese beruht freilich, da Sprache ja nur Ausdruck geistiger Lebensform 75 ist, im wesentlichen auf der im Laufe der Jahrhunderte herausgebildeten besonderen Geistesart des Berliners – erst im zwanzigsten Jahrhundert ist der wissenschaftliche Nachweis hierfür durch Agathe Lasch vollkommen geführt worden.

In Fontanes lyrischen Genrebildern zeigt sich in der Sprachbehandlung und Sprechabwandlung die Nähe des Berlinischen und des Märkischen sehr deutlich. Wenn die Semnonen »mit Kiepen und Kobern« zur Welteroberung ausziehen, so ist das berlinisch gesehen und gesprochen. Das Wort spillrig im Munde der Krügersfrau ist Märkern und Berlinern gemeinsam, aber wenn sie von ihrem Manne sagt, er dröhme bloß so hin, oder wenn sie ihren Sohn »uns Willem« nennt, so spricht sie reines märkisches Platt. Wie die Balladen der Stuarts und der schottischen Clans, so übertrug Fontane auch altmärkische und altpommersche Volksballaden von den Hohenzollern, den Quitzows und den Gans zu Putlitz in neue Sprache, und dieses Eintauchen in niederdeutsche Sangeswelt aus Volkes Mund verfeinerte sein heimisches Sprachgefühl so sehr, daß er in der humoristischen Ballade von Jan Bart seine auf die einfache Form gestellte Verskunst bis zum unmittelbaren niederdeutschen Ausdruck ausweiten konnte. Bei dem Berliner Schmiedegesellen Köhne Finke, dem Sänger der Schlacht des fünfzehnten Jahrhunderts, in die Lehre gegangen, gelangt Fontane zur volkhaft echten Darstellung des französischen Seehelden des siebzehnten und läßt ihn und seine Liebste sprachgeschichtlich ganz richtig das Seemannsplatt der Vlissinger Küstenlandschaft reden.

Jan Bart geht über den Vlissinger Damm.
»Hür, Katrin, wi trecken tosamm;
En Huus, en Boot, ne Zieg un ne Kuh,
Wat mienst, Katrin? sy miene Fru.« 76

Katrin an ihrem Friesrock zog,
»Ne, Jan, bist mi nich Mynherr noog.«
Der nickt und lacht: »Na, denn Adje.«
Und nach Frankreich geht er und sticht in See.

Der Hanseat Arthur Fitger hat in einem Gedicht voll brennender Farben, die den Maler in ihm wohl erkennen lassen, den gleichen Stoff behandelt. Fontane reizt nicht die Darstellung der Piratenfahrten, nicht der Prunk des Bourbonenhofs – er steuert in den acht knappen Strophen auf zwei charakteristische scheinbare Nebenszenen hin, von denen die eine, die letzte, so ins Plattdeutsche ausmündet, wie das Gedicht plattdeutsch begann. Ludwig XIV. ernennt den erfolgreichen Seehelden zu seinem Großadmiral; und er verneigt sich:

                                            »Majestät,
Was klug und recht ist, kommt nie zu spät.«

Man empfindet durch die abgeknapsten paar Worte die halb stolze, halb unbeholfen-unhöfische Verbeugung, mit der sie gesprochen werden. Dann ist Jan Bart wieder am Vlissinger Damm und trifft die alte Flamme, sie ist Gattin und Mutter. Und wieder erfühlt man die Gebärde, mit der sie, dümmlich-phlegmatisch und doch mit niederdeutschem Witz, spricht:

Er grüßt sie lachend und noch einmal:
»Katrin, ich bin nu Großadmiral,
Katrin, wrüm biste nich mit mi goahn?«
»›Joa, wenn ickt wußt hätt, hätt ickt doahn.‹«

Diese Linienführung bedeutet im »Jan Bart« wie im Gedicht vom kleinen Ei nicht mehr eine Mündung in die bloße Pointe, sondern einen epigrammatischen Schluß. Das 77 Pointengedicht empfängt im Grunde seine ganze Berechtigung vom Ende her, es ist nur um der Zuspitzung willen, auf die es unaufhaltsam zustrebt, da. In diesen epigrammatisch endenden Fontanischen Gedichten aber entfaltet sich, ob in breiterer Fassung wie beim »Ei«, ob in engerer wie beim »Bart«, unabhängiges Leben, es bleibt immer Raum für

En beten Beschriewung, en beten Idyll,

wie es in einem Gedichte an Klaus Groth heißt. Und das gilt mit geringer Abwandlung auch für das preußische Heldenlied, zu dem Fontane im Tunnel allmählich hinfand.

Als Scherenberg, vier Jahre vor Fontane, in den Sonntagsverein eintrat, gewann er Mitgliedschaft und Zuneigung zunächst durch Gedichte wie den »Gestrandeten Sklavenhändler«, Romanzen, die in der Linie von Chamissos dramatisch gesteigerten, gern Verbrechen und Sühnung malenden Balladen lagen. Was schon durch seltsam-fremden Stoff anzog, das ward auf lange hin im Tunnel bevorzugt. Scherenbergs Zechlied der spanischen Fremdenlegion, sein »Polarfahrer im Binnenmeer«, Strachwitzens »Gefangener Admiral« wirkten. Sie wirkten gerade durch ihre Abhebung von dem Waldlied der Romantik, auch von Geibels frühen Gedichten, und Fontane hat in dem grellmalenden »Trauerspiel von Afghanistan«, noch später in der Übertragung von Alfred Tennysons »Balaklawa« stofflich und stilistisch in die gleiche Kerbe geschlagen. Unterdessen hatte Scherenberg nicht nur sachlich auf preußischen Boden gefunden, er hatte auch neben dem kühn gesteigerten und manchmal übersteigerten Stile seiner ersten Schlachtenepen die Tonart für die Gestaltung des von Niederlage zu Sieg aufsteigenden Friedrich bezwungen und so den Durchbruch zum preußischen Realismus vollzogen. Was bei Chamisso berlinisches Genre geworden war, 78 ward nun – und hier liegt die eigentliche literarische Bedeutung des Tunnels über der Spree – preußisch-geschichtliches Genre. Der Vollender dieses Stils aber ward Theodor Fontane. Wohl versuchte er sich nicht, wie Marc Anton Niendorf oder die Tunnelgenossen Leo und Theodor Goldammer, als unmittelbarer Nachfolger Scherenbergs; dennoch liegt in dieser mächtigen Anregung und diesem oft ungefügen, aber »originalen« Vorbilde die eine Wurzel von Fontanes preußischem Balladenstil. Anderes kam hinzu. Zunächst die Liebe zur balladischen Kunst des Willibald Alexis, den Fontane bezeichnenderweise noch für einen Hugenottenabkömmling hielt, so daß der Stammbaum Chamisso-Alexis-Scherenberg-Fontane fast ganz französisch wäre. Alexis' Balladen haben zwar das Größte erfahren, was einem Dichter begegnen kann: sein »Fridericus Rex« ist schon bei Lebzeiten des Dichters so zum Volkslied geworden, daß man den Verfasser darüber aus den Augen verlor. Sonst aber sind sie – und Fontane beklagt dies nachdrücklich – völlig vergessen und waren es auch schon in Fontanes Tunnelzeit, kaum ein Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen. Sie haben schon den preußisch-knappen Ton, wenn auch oft, so in der »Berezinanacht«, keine eigentliche Melodie. Neben Fontane gingen im Tunnel George Hesekiel und Hugo von Blomberg in dieser Bahn, Hesekiel in seiner sprudelhaften Produktivität verflachte die Weise, Blomberg pointierte, und nicht immer so glücklich wie in dem Friedrich-Gedicht, das den alten Helden sein »Davor bin ich da« sprechen ließ. Theodor Fontane aber folgte auch hier dem innewohnenden Gesetze der Auflockerung, und ihm kam nun die große Mitgabe des väterlichen Geschichtsunterrichts voll zustatten, ihm brachte jeder der preußischen Helden durch ungesuchte Gedankenassoziation zu dem Vollbild die ganze, reizvolle Mitfracht jener in Swinemünde erlauschten und repetierten Anekdoten, deren Säckel der 79 unermüdliche Zeitungsleser immer wieder nachgefüllt hatte. Es war der gleiche künstlerische Vorgang wie in Adolf Menzels Holzschnitten zum Leben und Werk des Königs: aus dem die Tragik und die Größe eines Heldenlebens umrankenden Genre wuchs solches Heroentum doppelt lebendig, den Sinnen vielfältiger spürbar, vom scheinbar kleinen Punkt her neue geschichtliche Aussicht eröffnend, empor.

Männer und Helden

hieß das kaum zwei Bogen starke Heft im Format von Scherenbergs »Waterloo« und barg acht Gedichte:

Der alte Derffling,
Der alte Dessauer,
Der alte Zieten,
Seydlitz,
Keith,
Schwerin;

dazu kam ein später unterdrücktes Lied auf Schill, das schon nach seiner langzeiligen Strophe nicht ganz in die Reihe gehörte, und jener Anruf

An den Märzminister Grafen Schwerin-Putzar.

Die Versform ist eine achtreihige Strophe, jeder Vers mit drei Hebungen in einfachster jambischer Führung; wieder finden wir bei Uhland, im »Schenken von Limburg«, das Vorbild. Keins der Gedichte ist auf einen Refrain gestellt, und nur in »Zieten« begegnet uns eine Wiederholung: die erste und die letzte Strophe schließen mit der Wendung

Zieten aus dem Busch, 80

die erst durch Fontanes Gedicht die volkstümliche Verewigung erfuhr. Der Vortrag ist von einer scheinbar kunstlosen Einfachheit, der Aufbau jeweils von durchsichtiger Klarheit. Jedesmal ist alles »wie aus einem Guß«, und wenn dies Bild aus der Plastik an Schadows Statuen derselben Feldherren auf dem Berliner Wilhelmplatz erinnert, so trifft der Vergleich sehr weithin zu: wie auf des Altmeisters Zietenstandbild die lebhaften Sockelreliefs den Eindruck der Heldengestalt heben und vollenden, so prägt Fontane seine Bilder ein, indem er, der an der Anekdote Geschichte gelernt hat, durch einzelne Züge und Begebnisse illustriert. So im »Zieten« durch die Begegnung mit dem Könige auf dem Torgauer Blachfeld:

Doch Zieten sprach: »Ich kehre
Erst noch mein Schlachtfeld aus,

und durch einen Vorgang in Sanssouci:

Einst mocht es ihm nicht schmecken,
Und sieh, der Zieten schlief,
Ein Höfling wollt ihn wecken,
Der König aber rief:
»Laßt schlafen mir den Alten,
Er hat in mancher Nacht
Für uns sich wach gehalten,
Der hat genug gewacht.« –

So bringt Fontane es fertig, mit Zieten zugleich in wenigen Zeilen auch noch ein Stück Friedrich zu geben. Im »Seydlitz« ist alles um den Ritt des Reiterführers nach Gotha und den Überfall beim Male gruppiert, im »Schwerin« um das »Mir nach!« des Feldmarschalls bei Prag, das dann in dem Gedicht an den Nachkommen noch einmal auftönt. Im »Derffling« ist 81 das einstige Schneidertum des Soldaten als durchlaufendes Motiv genommen. Fontane hat später selbst die Zuverlässigkeit dieser Überlieferung bezweifelt, aber hinzugefügt: »aller entrüsteten Gelehrsamkeit zum Trotz ist es im Herzen des Volkes dabei geblieben.« Wenn sich aber diese Tradition auch fernerhin unverlöschbar gehalten hat, so stammt das aus Fontanes Gedicht, das den alten Helden neu volkstümlich machte.

Es haben alle Stände
So ihren Degenwerth,
Und selbst in Schneiderhände
Kam einst das Heldenschwert.

Erst diese Verse, die alsbald in jedem Schulbuch standen, haben den Schneider Derfflinger der Volksphantasie unverwischbar einverleibt, und wer heute im alten Derfflinger-Palais, wo einst Fontane bei d'Heureuse Zeitungen las und Kaffee trank, ein Schneidergeschäft untergebracht sieht und über die innere Beziehung lächelt, denkt dabei bewußt oder unbewußt an den einstigen Gast der Konditorei.

Unwillkürlich lockt das Schwerin-Gedicht zum Vergleich mit Alexis' »General Schwerin«, der»Zieten« mit seiner Andeutung der Tafelrunde zu einer solchen mit Geibels »Sanssouci«. Wohl fühlt man bei der Rückkehr zu Alexis die verwandte knappe Tonführung und merkt, wie fruchtbar auch für Alexis das Studium märkischer Volksballaden gewesen ist; aber Alexis setzt der Handlung noch ein Licht auf, indem er den preußischen Marschall durch vier von einem feindlichen Pfaffen besonders geweihte Kugeln sterben läßt. Fontane hält sich demgegenüber an das Einfachste: die Tatsache, die Anekdote, das populär gewordene Wort. Und die breite Ausmalung des Rokokoparks im Zeitstil, die nachschwingende Eigenart von Geibels schöner 82 Dichtung, hat in diesem Rahmen bei Fontane keinen Platz; wie man auf einem Menzelschen Holzschnitt zum Kugler-Buch Friedrich und Voltaire zwischen drei korinthischen Säulen vor der bloßen Andeutung eines Gitters im Gespräch vorbeigehen sieht und der ganze Nachdruck des Bildchens auf ihrer Gebärde liegt, so in Fontanes karg ausgezeichneter Friedrich- und Zieten-Szene.

Die »Männer und Helden« sind nicht Balladen im Vollsinn, der Dichter selbst nennt sie Preußenlieder; aber sie sind in ihrer realistischen Genrehaftigkeit immer wieder mit Balladenstimmung versetzt; wie sehr, das lehrt eine Änderung, die Fontane später am Schluß des »Schwerin« vornahm. Da hieß es zuerst, sachlich abschließend:

Und als des Krieges Weise
Zu feuern nun befiehlt,
Von jeder Wange leise
Sich eine Träne stiehlt;

dann aber, echt balladisch malend und vordeutend:

Wie Wetterwolken-Schwere
Sieht mans am Himmel ziehn,
Sie ziehen vorauf dem Heere,
Sich lagernd über – Kolin.

Storms Lob war lau, er empfand: »Die Gedichte haben etwas spezifisch Preußisch-Militärisches.« Er empfand ganz richtig, aber was ihn fremd anwehte, grüßte der Tunnel jubelnd als etwas Nahvertrautes. Wie Fontane im »Archibald Douglas« die nordische Ballade Strachwitzens in gelösterer Form zu neuer Vollendung geführt hatte, so hatte er hier dem preußischen Realismus, dem Grundelement der Tunneldichtung, über Scherenberg hinaus die bis heute lebendige Form verliehen. 83 Und wieder deuteten epigrammatische Schlüsse zurück und vorwärts:

Ich halt es mit dem Zopfe,
Wenn solche Männer dran.
              —   —   —
Treulos sind alle Knechte,
Der Freie nur ist treu.

Der geschworene Dublettenfeind ließ sich durch den Erfolg nicht verlocken, aus diesem preußischen Heldenlied eine Spezialität zu machen. Nur noch dreimal nahm er den alten Rhythmus in verwandter Stoffwahl auf: in dem Gedicht »Die Fahne Schwerins«, in einer zweiten Seydlitz-Huldigung und in dem 1857 empfangenen »Prinz Louis Ferdinand«.

Und in diesen beiden letzten Dichtungen lockert sich das Uhlandsche Maß. Um den zum Ziele drängenden Galopp des Reiterführers zu vergegenwärtigen, wechselt Fontane den Rhythmus; indem er die Zahl der Senkungen zwischen den Hebungen vermehrt, gewinnt der Dichter den jacheren, wiegenden, jugendlichen Gang.

Anschnallt er die silbernen Sporen,
Blaustählern war der Dorn, –
Zu Calcar war er geboren
Und Calcar, das ist Sporn.

Es sausen die Windmühlflügel,
Es klappern Leiter und Steg,
Da, mit verhängtem Zügel
Gehts unter dem Flügel weg.

Es ist zugleich im Betonungswandel der ersten Verszeile die schon im »Douglas« sieghaft bewährte Technik. Vollends im »Louis Ferdinand« macht Fontane von dieser unbefangenen 84 Erweiterung des Versmaßes glücklichsten Gebrauch. Und hier hat er in den acht einleitenden Versen den vom Zwielicht der Romantik und der gesellschaftlichen Legende umflossenen Hohenzollern so sicher und bei aller Wortsparsamkeit mit solcher Rundung gemalt, daß dies Bild der lebendigen Dauer Louis Ferdinands Profil und Farbe gegeben hat:

Sechs Fuß hoch aufgeschossen,
Ein Kriegsgott anzuschaun,
Der Liebling der Genossen,
Der Abgott schöner Fraun,
Blauäugig, blond, verwegen
Und in der jungen Hand
Den alten Preußen-Degen –
Prinz Louis Ferdinand.

Den Preußenliedern gesellten sich noch ein paar Genrebilder in dem läßlichen Tonfall des »Jan Bart« oder der Geschichte vom kleinen Ei. Was Blomberg zur Ballade gestaltete, wird hier zur knappsten, wesentlich auf Rede und Gegenrede beschränkten, geplauderten lyrischen Skizze. In diesen, »Alte Fritz-Grenadiere« überschriebenen vier Bildchen, die wiederum an Menzelsche Illustrationen erinnern, handelt es sich nicht um Helden, die das Volk bei Namen kennt. Aus der Masse der Namenlosen vielmehr, aus den narbenvollen Reihen des friderizianischen Kriegsvolks treten Männer scharf belichtet ins Bild, im Wechselgespräch mit dem König, mit dem fremden Offizier, mit dem Berliner Budiker. Dies Gespräch ist nun märkisch, berlinisch, es wird durch den Gebrauch militärischer Zeitausdrücke eigenartig belebt.

Wahrhaftig, ihr habt die schönste Montur,
Litzen, Paspel, Silberschnur, 85
Blechmützen wie Gold, gut Traktement
Und der König jeden von euch kennt.
—   —   —   —   —   —   —   —   —
Immer dieselbe verfluchte Ravage, –
Potsdam, o du große Blamage!

Nur in den beiden ersten Gedichten ist Friedrich selbst aufgetreten, dennoch erscheint er auch in den beiden letzten als der, dessen Wesen und Willen dem Denken und Handeln, dem Sprechen und selbst dem Räsonnieren der Grenadiere, wie einst ihrer Schlachtaufstellung, die Richtung gibt.

Louis Henri Fontane hatte, nicht aus einem System, sondern aus Anlage und Gefühl heraus, den Sohn an Anekdoten und reizvollen Szenen Geschichte gelehrt; was der Vater ahnte, begriff der einstige Schüler: daß nämlich die Anekdote letztes Recht und letzte Bedeutung nur gewinnt, wenn sie mit dem innersten Wesen ihres Helden zusammenklingt. Große Menschen wie große Zeiten leben im Volke nicht in beglaubigter Wirklichkeit weiter, sondern in der gesteigerten Wahrheit, die wir Mythos nennen. An diesem Mythos preußischer Geschichte hat Theodor Fontane mit gebaut; wir sehen und hören die Helden seiner Preußenlieder noch heute so, wie sie in seinen Versen wandeln, reiten, reden, sterben. Indem der dreißigjährige Dichter, der einst so mangelhafte Schüler selbst ins Schulbuch einging, erwarb er zugleich ein Stück unvergänglicher Mitwirkung am Geschichtsbau unserer Nation, einem Bau, dessen Steine und Pfeiler das Volk nicht dem Werke seiner Historiker, sondern dem seiner Dichter entnimmt, wofern ihr Herztakt in der Gestaltung des volklichen Mythos mit dem seinen zusammenklingt – wie hier. 86

 


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