Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Neuntes Kapitel

Zur Höhe des Realismus

Im Tunnel hatte Romandichtung nicht für voll gegolten. Dichten, das hieß vorerst und vorzüglich: der Versform Meister sein. Erging sich ein Mitglied in Prosa, so kam es zur Novelle. Aus dem engern Tunnelkreise ist denn auch nur ein Roman von Bedeutung, Adolf Widmanns zeitgeschichtlich unübersehbarer »Tannhäuser«, hervorgegangen. Auch die vom Tunnel abgewanderten ältern Münchner hielten die Richtung: erst als Fünfziger schrieb Paul Heyse seinen ersten Roman, dem man den geborenen Novellisten wohl abmerkt. Fontane selbst bezeichnete freilich ein Prosastück, eine mit zwölf Jahren unter dem Eindruck des Ortes niedergeschriebene Phantasie auf dem Schlachtfelde von Großbeeren, als seinen Erstling; aber obwohl es von Philipp Wackernagel das Prädikat »recht gut« erhielt, blieb es ohne stetige Folge. Die 1839 im Berliner Figaro erschienene Novelle »Geschwisterliebe«, die kleinen Prosastücke der »Argo« von 1854, »Tuch und Locke«, »Goldene Hochzeit« und »James Monmouth«, bedeuten nicht viel, und die Verdichtung des letzten zur helldunkel zusammengepreßten Monmouthballade zeigt, welche Straße damals noch die Fontane allein gemäße war. Ein Volksbuch über Gustav Adolf kam nicht zustande, wäre aber mehr Historie als Dichtung geworden, und jene Großbeeren-Belichtung des Untertertianers erschien dem reifen Manne später lediglich als erste Märkische Wanderung, nicht als Vorschmack und Vorspiel epischer Dichtung. Und so ergibt sich die 157 erstaunliche Tatsache ohne Seitenstück in unserer Literaturgeschichte, daß ein auf dem Gebiete der reinen Dichtung wie geschichtlichen und landschaftlichen Schriftstellertums, als Journalist und Kritiker längst Fertiger, mit alledem vor allem in sich Fertiger an der Schwelle des siebenten Lebensjahrzehnts als ein Neuer mit ganz neuem Werke hervortritt. Überdenkt man die lange innere Vorbereitung und die mehr als zehnjährige Vorarbeit, so fühlt man wieder einmal die überzeugende Wahrheit von Nietzsches Wort:

Wer viel einst zu verkünden hat,
Schweigt viel in sich hinein:
Wer einst den Blitz zu zünden hat,
Muß lange – Wolke sein.

Im Frühsommer des Jahres 1866, eben bevor der Krieg ihm die Arbeit wieder aus der Hand schlug, hatte Fontane mit Wilhelm Hertz ein langes, eingehendes und eindringendes Gespräch über Plan, Entwurf und erste Kapitel des Romans. Was er dem Verleger vortrug, und was dieser, nicht zum erstenmal angerufen, aus eigenem Urteil dazugab, faßte der Dichter noch am Abend des Tages in folgender Aufzeichnung zusammen:

  1. Man muß die Dinge nicht zu gut machen wollen; das gibt nur Unfreiheit und Peinlichkeit.
  2. Man muß nicht alles sagen wollen. Dadurch wird die Phantasie des Lesers in Ruhestand gesetzt, und dadurch wieder wird die Langeweile geboren.
  3. Man muß Vordergrunds-, Mittelgrunds- und Hintergrundsfiguren haben, und es ist ein Fehler, wenn man alles in das volle Licht des Vordergrundes rückt.
  4. Die Personen müssen gleich bei ihrem ersten Auftreten so gezeichnet sein, daß der Leser es weg hat, ob sie Haupt- oder 158 Nebenpersonen sind. Auf das räumliche Maß der Schilderung kommt es dabei nicht an, sondern auf eine gewisse Intensität, die den Fingerzeig gibt.

Alle diese Punkte sind wichtig, und ihr Hervorheben enthält einen begründeten Hinweis auf vorhandene Schwächen. Ob ich es, da das Ganze fertig in mir lebt, hier und da noch ändern kann, ist freilich eine andere Frage. Das Ganze (womit ich mich nicht rechtfertigen will) ist mehr oder weniger auf eine derartige Behandlung hin angelegt.

Und darüber sei mir noch ein Wort gestattet. Ich habe mir nie die Frage vorgelegt: Soll dies ein Roman werden? Und wenn es ein Roman werden soll, welche Regeln und Gesetze sind innezuhalten? Ich habe mir vielmehr vorgenommen, die Arbeit ganz nach mir selbst, nach meiner Neigung und Individualität zu machen, ohne jegliches Vorbild; selbst die Anlehnung an Scott betrifft nur ganz Allgemeines. Mir selbst und meinem Stoffe möchte ich gerecht werden. Ohne Mord und Brand und große Leidenschaftsgeschichten, hab ich mir einfach vorgesetzt, eine große Zahl märkischer (d. h. deutsch–wendischer, denn hierin liegt ihre Eigentümlichkeit) Figuren aus dem Winter 1812 auf 1813 vorzuführen, Figuren, wie sie sich damals fanden und im wesentlichen auch jetzt noch finden. Es war mir nicht um Konflikte zu tun, sondern um Schilderung davon, wie das große Fühlen, das damals geboren wurde, die verschiedenartigsten Menschen vorfand, und wie es auf sie wirkte. Es ist das Eintreten einer großen Idee, eines großen Moments in an und für sich sehr einfache Lebenskreise. Ich beabsichtige nicht zu erschüttern, kaum stark zu fesseln. Nur liebenswürdige Gestalten, die durch einen historischen Hintergrund gehoben werden, sollen den Leser unterhalten, womöglich schließlich seine Liebe gewinnen, aber ohne allen Lärm und Eklat. Anregendes, 159 heiteres, wenn's sein kann geistvolles Geplauder, wie es hierlandes üblich ist, ist die Hauptsache an dem Buch. Dies hervorzubringen, meine größte Mühe. Daher zum Teil auch die ewigen Korrekturen, weil nicht die Dinge sachlich, sondern durch ihren Vortrag wirken. Ich möchte etwas Feines, Graziöses geben. Ob ich es erreiche, steht dahin.

Es war Fontanes erster Roman. Aber die Worte, mit denen er den Plan einbegleitet, sind nicht tastende Erkenntnisse eines Anfängers; es sind vielmehr wohldurchdachte ästhetische Ausführungen eines siebenundvierzigjährigen Künstlers, den sein Geschick höchst merkwürdig geführt hatte. Als der dreißigjährige Gottfried Keller, dem Tunnel fern, aber Scherenberg befreundet, in Berlin einkehrt, findet er trotz gewaltsamer Abirrungen ins Dramatische alsbald den archimedischen Punkt seiner großen epischen Natur. Vollends der späte Student Wilhelm Raabe gleitet in den gleichen Jahren an der Spree mit nachtwandlerischer Sicherheit in seine erzählerische Berufung hinüber. Theodor Fontane aber wird in denselben Zeitläuften Meister der Ballade und des Heldenliedes und übt dann Jahrzehnte hindurch die Feder an journalistischer Arbeit und an Werken, die zwischen Tagesschriftstellerei, Historie und Dichtung mitteninne stehen. Was er in solchem gesuchten und ungesuchten Schriftstellertum zu gewinnen und gewonnen hatte, mochte sich nun erweisen. Und Sätze, die er nach der Lesung von Joseph Scheffels »Ekkehard« niederschrieb, zeigen die Hauptlinie, auf der vorzustoßen er entschlossen war: »Die Studien allein machen es freilich nicht, ein historischer Blick und ein rückwärtsgewandtes prophetisches Ahnungsvermögen müssen hinzukommen. Aber diesen Blick und dies Ahnungsvermögen haben echte Poeten fast immer. Wenn mit Recht gesagt worden ist, der große Historiker müsse immer auch Poet sein, so ist ebenso wahr, daß jeder echte Poet 160 ein Verständnis auch für das Historische mitbringt. Wem sich das Leben erschließt, dem erschließen sich auch die Zeiten. Denn zu allen Zeiten wurde gelebt

Hält man das Buch von siebenhundertundachtzig Seiten oder gar die ungeheuerliche Handschrift dieses Fünfzehn-Jahre-Werks in der Hand, so erkennt man, wie bis ins Letzte treu sein Verfasser der Vorzeichnung geblieben ist, die er sich und dem Verleger auf den ersten Stufen entwarf. Man verfolgt aber auch mit Ergriffenheit, was alles Leben und Pflicht heranspülten, während immer wieder der beschwingte Gänsekiel zu diesem Herzenswerk an- und abgesetzt wurde. Da stehen auf den Rückseiten des Romans die geschichtlichen Vermerke für die »Wanderungen« über märkische Städte wie Gransee, Entwürfe für Kapitel des französischen Kriegsbuchs, eine lange Kritik von Lepels Gedichten, Protokollnotizen für die Akademie; hier ein Zeitungsausschnitt über Garibaldi, dort ein Briefentwurf des Sekretärs an Anton von Werner wegen Verleihung von Medaillen an ausstellende Künstler. Über und unter alledem geht aber das »Hauptgeschäft«, goethisch gesprochen, unbeirrt weiter, und wenn hier und da ein Kapitel noch den Vermerk trägt, es wäre nur »leidlich« oder »ziemlich« fertig, so lehrt der Vergleich mit dem Druck, daß diese von tausend Strichen und Einschaltungen strotzende Niederschrift schließlich doch ein Werk aus einem Gusse geworden ist.

Ein Roman aus dem Winter 1812 auf 1813 – eine Erzählung also nicht aus dem ungestüm vordrängenden Schwunge der Freiheitskriege selbst, sondern aus den Monaten der Vorbereitung, aus einer Zeit, von der die Bücher preußischer Geschichte keine leuchtenden Heldentaten, nur zähe, zielsichere Aufbauarbeit melden. Und dies verlegt in den Osten der Mark, in jene Gegend, die nicht Fontanes engere Heimat war, die er 161 vielmehr erst in dem Letschiner Jahr recht kennengelernt und in den Wanderungen für das »Oderland« geschichtlich ergriffen hatte. Die Havelufer blitzen nur einmal, bei einem Ausfluge nach Lehnin, in dem Buche des Freundes der Zisterzienser auf. Aber Berlin ist der zweite große, immer wiederkehrende Schauplatz, und mit einem Dreieck, das die Hauptstadt, Frankfurt und Küstrin als Spitzen hat, wäre die Handlung zu umschließen.

Diese Handlung kristallisiert sich, nachdem der ursprüngliche Plan eines Schill-Romans gefallen war, um das adlige Haus der Vitzewitz, einer jener märkischen Adelsfamilien, deren deutsch-wendische Herkunft Fontane schon im Aufriß unterstreicht, wie er in den »Fünf Schlössern« das wendische Geblüt der Quitzows hervorhebt. Auch die Umgebung der Gutsbesitzer auf Hohen-Vietz wird mit dieser für die Mark charakteristischen Blutmischung gekennzeichnet, der Schulze Kniehase schon durch den rein deutschen Namen als ein Pfälzer, ein Zugezogener eingeführt. Die Namenwahl hat Fontane überhaupt stets aufs neue sorgfältig überdacht, sich aus wendischen Wörterbüchern von der Bedeutung der Bauernnamen Rechenschaft gegeben und mit voller Absicht für alle männlichen Vitzewitze außer dem Haupte des Hauses zunächst alttestamentarische Vornamen gewählt; symbolisch heißt demgegenüber das Mädchen, das Lewin Vitzewitz als »Prinzessin« ins Haus führt, nach der Himmelskönigin mit dem Erlösernamen Marie.

Dies alles sind keine Äußerlichkeiten. Auch daß Fontane den Pfarrer seines Buches aus einem farblosen Dames nach Freytags und Raabes Vorgang in einen Mann mit humoristisch malendem Namen, Seidentopf, verwandelte, ist es nicht. Und gewiß nicht ohne Absicht hat er der beherrschenden Vordergrundsgestalt, dem Major von Vitzewitz, den ersten Vornamen Heinrichs von Kleist, des Frankfurters, Berndt verliehen. Denn 162 dieser Berndt von Vitzewitz trägt aus tiefverletztem preußischem Vaterlandsgefühl und aus entsetzlichem Erlebnis im eigenen Hause durch die Franzosen an der befohlenen Untätigkeit gegenüber dem in Rußland geschlagenen Feinde schwerer als alles um ihn. Von ihm geht der Plan zum Vorgehn auf eigene Faust aus, seine heiße Leidenschaft, doppelt eindrucksvoll unter grauem Haar, reißt Standesgenossen, Bürger und Bauern mit zu einem Anschlag auf die in Frankfurt versammelte französische Macht. Der Vorstoß mißglückt, er kostet dem Sohn die Freiheit, und des Sohnes Enthaftung bringt dem Neffen, dem Geliebten der Tochter, den Tod.

Dieser nackt herausgeschälte Kern der Romanhandlung deutet ganz klar auf Theodor Fontanes dichterische Absicht: auf die Verbindung einer Handlung von allgemein geschichtlicher Bedeutung mit individuellen, »privaten« Lebensgeschicken. Wenn er in jenem Prolegomenon sagt: »Selbst die Anlehnung an Scott betrifft nur ganz Allgemeines«, so lag hier dies Allgemeine als etwas für die Technik von »Vor dem Sturm« Wichtigstes klar am Tage. Walter Scott stellt in seinen Meisterwerken immer eine für den großen geschichtlichen Verlauf der gewählten Epoche nebensächliche Gestalt in den Vordergrund und läßt sie an dem historischen Geschehen teilhaben, durch dessen Hintergrund die dem wissenschaftlichen Darsteller wichtigen und vertrauten Gestalten schreiten. Theodor Fontane geht hierin noch weiter: von den Fürsten, Feldherren und Staatsmännern Preußens führt er keinen ein, der alte Prinz Ferdinand ist das einzige in Rede und Gegenrede erscheinende Mitglied des Königshauses, und nur in seinen Worten spiegelt sich die Gestalt Friedrich Wilhelms III. Einmal sehen und hören wir Fichte in der Universitätsvorlesung. Mit meisterlicher Sicherheit aber ist in all diesen Gestalten auf den verschiedenen Stufen des Alters, des Standes, der 163 Bildung die geschichtliche Stimmung herausgebracht, aus der das Geschick der Folgejahre emporwuchs. Bei dem jungen Vitzewitz-Paar, Berndts Kindern, ist sie jugendlich überglänzt, sie füllt nicht das ganze Herz und den ganzen Tag, neben ihr behält das sich erst aufbauende Leben sein volles Recht. Sie, die Jungen, warten ab, sie wollen, daß »nichts unzeitig, nichts gewaltsam« geschehe, ihr Gefühl scheut vor dem Bruch des Bündnisses mit dem gottgeschlagenen Napoleon zurück. Erdiger, aus dem sicheren Gefühl der unvergänglichen Scholle gewachsen, ist die vaterländische Bereitschaft der Hohenvietzer Bauern, wie sie sich beim Gespräch im Kruge, beim Heimweg über die monderhellte Flur äußert. Und ihr Gegenstück bildet die bürgerliche Sicherheit der Berliner. Mit einem vollkommenen Parallelismus der Vorgänge setzt Fontane zwei Szenen, ausgemalt bis zu den scheinbar nebensächlichsten Beigaben von Kneipe und Gasthausverkehr, nebeneinander: die Landleute in der Dorfschenke, die Hauptstädter im Weißbier- und Punschlokal auf dem Windmühlenberge vor dem Prenzlauer Tor. Stammtischgespräch hier und dort, alles aber, Wort und Gedanke, immer magnetisch zu dem einen großen Gegenstande hingezogen. Wir sollen verstehen und wir verstehen, wie diese nach Jahren der Aufwühlung, des Druckes, der Verstörung nun ruhig-bereite Stimmung all diese Männer am Tage, da es gilt, in den Kampf zwingen wird.

Aber Fontane ist sich bewußt, daß er das Bild verfärben würde, wenn er seine Menschen ganz und immer auf dies Eine stellte. In den Darstellungen der drei Kriege wie in dem Buche aus der eigenen Kriegsgefangenschaft hatte der Unverblendbare gezeigt: das Leben, der Alltag gehen auch in erregtesten Zeiten immer noch ein Stück gewohnter Straße, als ob es keine Weltgeschichte gäbe. Mitten in der furchtbarsten Ungewißheit über das eigene Geschick muß er am Kamin eines seiner 164 Gefängnischefs an häuslichem Kleinkram teilnehmen und kann dem Angriff einer flirtbereiten Verwandten des Franzosen nur mit Mühe ausweichen. Wie dort in Wirklichkeit, so hier in »Vor dem Sturm«. Frau Hulen, die Wirtin des jungen Vitzewitz, gibt in der Klosterstraße unterm Klang der Singeuhr ihre »Gesellschaft« mit Mohnpielen und einer Wanderpolonäse im Winter von 1812 auf 1813 wie in jedem früheren Winter, und wenn da von Krieg und Politik gesprochen wird, ist's nicht viel mehr als eine Art höheren Klatsches zwischen Alexanderplatz und Molkenmarkt.

In zwei andern Lagern muß sich die Aufgabe der Zeit erst von den Schlacken skeptischen Anhauchs reinigen. Im Hause von Berndts Schwager, dem Berliner Geheimrat von Ladalinski, kämpfen ererbte polnische Gesinnungen und Empfindungen mit dem neuen, freiwillig erworbenen Preußentum des Hausherrn; und es kommt zu tragischem Bruche. Die Tochter folgt gegen des Vaters Willen einem Landsmann ins polnisch-französische Lager, der Sohn fällt, geradeaus zu leben nicht fähig, ein halber Freiwilliger, er fällt vor dem großen Kampf, in dem er wiederum halben Herzens dabei gewesen wäre, bei der Befreiung des Vetters, bei der Rettung eines Hundes.

Und über zehrenden Skeptizismus hinweg muß sich das Notwendige durchwachsen im Hause der Gräfin Amelie. Drei Geschwisterpaare stellt Theodor Fontane in den Rahmen seiner Dichtung. Lewin und Renate von Vitzewitz, schon äußerlich einander grundähnlich, »gleiche Figur und Haltung, dieselben ovalen Köpfe, vor allem dieselben Augen, aus denen Phantasie, Klugheit und Treue sprachen«. Bei Kathinka und Tubal von Ladalinski tritt als Gemeinsames die unruhige Zwischenstellung zwischen zwei Nationen hervor; aber sie trennt, daß die Schwester, viel zielklarer, aus härterem Stoffe geschaffen als 165 der Bruder, auch fähig ist, ihr Schicksal entschlossen über die nächsten Bindungen hinweg in die Hände zu nehmen. Berndt von Vitzewitz aber und die Gräfin Amelie Pudagla, das älteste Geschwisterpaar des Romans, stellen innerhalb eines Stammbaums zwei äußerste aus gleicher Wurzel entschossene Zweige dar. Ein Charakterzug ist ihnen, wie allen aus dem Hause Vitzewitz, gemeinsam: Offenheit, sie alle vermögen die Kunst der Verstellung nicht zu üben. Sonst aber geht, nach ganz andersartigem Lebenslauf, beider Wesen in getrennten Richtungen. Und dieser voneinander strebenden Verzweigung gibt Fontane sowohl die geschichtliche Begründung wie die historische Folie durch die Ausrichtung auf zwei hinter den Vordergrundsgestalten aus dem Dämmer der Vergangenheit auftauchende Schatten des Hintergrundes. Wie ein Paar sich langsam über den Horizont der neuen Zeit vorschiebender Silhouetten recken sich hinter Berndt und Amelie Friedrich der Große und sein Bruder, Prinz Heinrich von Rheinsberg, auf. Berndt spricht nicht von dem Sieger in hundert Schlachten – den alten König, wie er im verschossenen Rock, mit geknickter Hutfeder, schief auf dem Condé, unablässig grüßend durch die tiefschweigende Menge die Wilhelmstraße entlang von der Revue ins Palais seiner alten Schwester einreitet, den bewahrt sein Herz, von dessen Gedenken geht sein Mund über. Amelie aber hält, auch, in ihrer Ausdrucksweise gesprochen: d'outre tombe, zu dem skeptischen Frondeur am Nebenhofe am Rhin, den seine Umgebung einst als den genialeren der hohenzollerschen Brüder betrachtete.

Wenn irgend etwas, so zeigt gerade diese sichere Verflechtung persönlichster Charakteristik mit geschichtlicher Ausrichtung auf großen Hintergrund, wie sehr Fontane in »Vor dem Sturm« nicht nur das von ihm selbst anerkannte Scottsche Gesetz befolgt – er geht auch unbeirrbar in den Spuren eines weit 166 allgemeineren Gebotes für den historischen Roman. Niemand hat diese Eigengesetzlichkeit einer im neunzehnten Jahrhundert langsam emporgestiegenen Dichtungsart schärfer, ja klassischer umrissen als in eben diesen siebziger Jahren Adolf Stern. »Der historische Roman«, sagt er, »soll und darf nichts anderes sein als ein Lebensbild, zu welchem sich der Dichter durch die Fülle der Empfindung und Anschauung gedrängt fühlt, er muß eine Handlung oder einen Konflikt, er muß Menschen darstellen, an die sich sowohl der Poet mit seiner eigenen Seele als der Leser mit seiner Teilnahme hinzugeben vermag, er muß mit einem Worte so viel rein Dichterisches (Menschliches) aufweisen, daß alles andere nur das Verhältnis des Brennstoffes zum Feuer hat.

Die Flamme verzehrt die Scheite, und um die Flamme und die von ihr ausstrahlende Wärme handelt es sich! Wer vor einem schlecht lodernden, qualmenden Feuer die Seltsamkeit und Mannigfaltigkeit des Materials rühmt, gilt für einen Narren, und wer eine schlechte Dichtung mit etwaigen politischen, ethnographischen und sonstigen Vorzügen rechtfertigt, der hat eben kein Empfinden für die Poesie und ihr eigenstes Wesen. Der historische Roman muß ebenso wie jede andere Schöpfung aus dem innersten Drange des Dichters, aus der Mitempfindung für die dargestellte Handlung, für die geschilderten Menschen hervorgehen. Wem es darum zu tun ist, an einem beliebigen Faden unbeseelte Sittenschilderungen oder politische Maximen aufzureihen, der charakterisiere schlicht Land und Leute oder schreibe Leitartikel, zum historischen Roman ist er so wenig berufen wie zu jeder anderen dichterischen Schöpfung. Eine solche aber ist der historische Roman und soll es bleiben oder werden.«

In jenem Briefe an Hertz hatte Fontane gesagt: »Nur liebenswürdige Gestalten, die durch einen historischen Hintergrund gehoben werden, sollen den Leser unterhalten, womöglich 167 schließlich seine Liebe gewinnen, aber ohne allen Lärm und Eklat.« Anspruchslos deckt er hier als persönliches Vorhaben ein Wesentlichstes in dem von dem Literarhistoriker umrissenen ästhetischen Gefüge der Dichtungsart auf, der er sich nun zugewandt hatte. Die Ausführungen Adolf Sterns fließen aus einer Betrachtung des Werks von Willibald Alexis. Ihm aber, dessen Bedeutung für Fontanes Balladenkunst wir kennenlernten, steht »Vor dem Sturm« noch in einem besonderen Sinne nahe. Zwischen den Gruppen, die allmählich von dem großen vaterländischen Geschick der Zeit ergriffen werden, lebt, spornend, zürnend, schicksalgehämmert, Berndt Vitzewitz. Ihm gilt nicht, wie seinen Kindern, die Mahnung des geheimnisvollen Alten Sängers aus Chamissos raunender Ballade; wenn er mit starrer Entschlossenheit von der zurückflutenden napoleonischen Armee sagt: »Über die Oder darf keiner«, so spricht er aus der Gesinnung seines Namensvetters Berndt Heinrich Kleist, aus jenem in aller deutschen Dichtung einzigen Haß, der da sang:

Schlagt ihn tot! Das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!

Dieser Berndt Vitzewitz aber ist von Fontane nach eigenem Zugeständnis im Angesichte jenes in den Wanderungen dargestellten Friedrich August Ludwig von der Marwitz geschaffen worden; und Fontane war sich bewußt, damit neben Willibald Alexis zu treten, der in dem gleichen Marwitz das Urbild seines Quarbitz auf Ilitz im »Isegrimm« gefunden hatte. Aber wie im Gedicht, so folgte auch in der epischen Prosa Fontane im Vergleiche mit dem andern Dichter preußischer Romane dem eigenen Gesetze, dem innersten Drange zur Auflockerung. Isegrimm gleicht dem Vitzewitz in der unbedingten preußischen Gesinnung, in der tatbereiten Sehnsucht nach Abschüttelung des fremden 168 Joches. Aber mitten im Wandel neuer Zeit bleibt er in einem verbissenen Adelsstolz verhaftet; dem tapferen und liebenswürdigen Standesgenossen verweigert er die Hand der Tochter, weil er einen jüdischen Blutstropfen hat; und als die andere Tochter den bürgerlichen Pfarrer heiratet, ist dies dem Alten eine schwer überwindbare Degradierung. Berndt findet sich leicht und rasch in das Verlöbnis des einzigen Sohnes mit Marie Kniehase; dabei ist diese nicht einmal des Schulzen eheliches Kind, sondern die Tochter eines im Dorfe verstorbenen wandernden Schaustellers. Dieses verschiedene Verhalten entspringt einem tieferen Gegensatz von charakteristischer Breite zwischen Quarbitz und Vitzewitz: Berndt glaubt an das Volk, an seine unter den Formen des neuen Staats entfesselte Kraft, Isegrimm frondiert, wie Marwitz, gegen das Neue, ihm ist überlieferte Gliederung unantastbar, schwer und spät, und nur halb wird er überwunden. Friedrich Marwitz hatte einen jüngeren Bruder, Alexander, eine jener aufleuchtenden und im großen Volksgeschick als strahlende Opfer hingehenden Erscheinungen, wie die Befreiungszeit sie auch in Körner und Friesen, die unsere in Walter Flex, Walther Heymann, Gerrit Engelke, Otto Braun besessen hat. Wir kennen Alexander von der Marwitz, den Freund der Rahel, vor allem aus seinen hinreißenden Briefen an sie; und es ist, als ob Fontane seinem Berndt Vitzewitz neben Zügen des älteren auch einen Einschuß von dem Wesen des jüngeren Bruders verliehen habe, den er im »Oderland« mit innerster Neigung als einen»gezähmten Falken« darstellt und seinem Balladenhelden Louis Ferdinand ähnlich findet.

Zu den adligen Vordergrundsgestalten der Vitzewitz und Ladalinski treten zwei bürgerliche. Zunächst Marie Kniehase. Ihre Bedeutung für die Handlung erhellt schon daraus, daß sie allein vor ihrem Auftreten doppelt eingeführt wird. In dem ersten 169 Weihnachtsgespräch zwischen Lewin und Renate sagt diese von der Freundin: »Sie ist wie ein Märchen.« Vordem aber schon, bei der abendlichen Schlittenfahrt von Berlin nach Hohen-Vietz, hat Lewin auf einem Grabstein in der Bohlsdorfer Kirche nur gerade die Zeilen der zweiten Strophe einer Inschrift entziffern können:

Sie sieht nun tausend Lichter,
Der Engel Angesichter
Ihr treu zu Diensten stehn;
Sie schwingt die Siegesfahne
Auf güldnem Himmelsplane
Und kann auf Sternen gehn.

Mit diesen Versen gewinnt sich Fontane ein Leitmotiv – man kann es das Marienmotiv nennen – für das ganze Werk. Marie, die Standesungebundene, die menschlich Unbefangenste im ganzen Kreise, ist nicht nur berufen, dem Hause neues Blut zuzuführen, sie, die »auf Sternen geht«, bannt den Schauer einer Vergangenheit, den der Aberglaube stets aufs neue in und um Hohen-Vietz spukhaft aufzucken läßt; und: »Jeder ist abergläubisch«, sagt Theodor Fontane später in »Cécile«.

Die zweite bürgerliche Hauptgestalt ist für die eigentliche Handlung scheinbar ohne unmittelbare Bedeutung, es ist der Prediger Seidentopf. Er vertritt gewissermaßen den Chorus der Dichtung, sein Wesen in seiner Mittlerstellung zwischen Schloß und Dorf wirkt ausgleichend und deutend, wie seine Weisheit denn auch das Bündnis zwischen Lewin und Marie als das vom inneren Gesetz Gefügte vorhergesehen hat und ohne Überraschung grüßt. Seine evangelische Verkündigung wäre nicht in die Schranken einer theologischen Schule zu zwängen, sie ist christlich schlechthin, menschlich warm, human im Sinne des zu Rüste 170 gehenden Zeitalters deutscher Humanität. Und mit Bewußtsein und fühlbarem Respekt ist ihr das streng biblische, herrnhutisch warme Bekenntnis der Tante Schorlemmer zur Seite gestellt; zwischen beiden reinen Menschen sind Lewin und Marie aufgewachsen. Gerade dem Pfarrer Seidentopf hängt Fontanes Laune das liebenswürdige Zöpfchen der Altertumsforschung an und verwickelt ihn in einen lebenslänglichen Kampf mit dem städtischen Freunde um germanische oder slawische Erstbesiedelung der Mark. Hier wird spürbar, wie auch diese scheinbare Abschweifung mit ihren humoristischen Lichtern zu dem Thema der Dichtung gehört: Fontane hatte ja das Deutsch-Wendische dieser märkischen Figuren als ihre Eigentümlichkeit hervorgehoben; er setzt es auch gegen das Deutsch-Polnische der jungen Ladalinskis mit deutlicher Farbengebung ab.

Als ein Ergebnis jener Rassenmischung, als auf welcher der preußische Staat sich auferbaute, tritt in »Vor dem Sturm« die Einung von zähem Willen zum Täglichen und scheinbar Kleinen mit der Fähigkeit, in großer Stunde scheinlos groß zu handeln, hervor – beim Adel, beim Bürgertum, bei der Bauernschaft. Bis in Körperhaltung und Ausdruck aber steigert Theodor Fontane dieses Abbild heimatlicher Volkheit in zwei Menschen, die im gegebenen Augenblick aus dem verhältnismäßigen Dämmer der Hinterwelt in die vorderste Linie rücken, in dem General Bamme und der Hohen-Vietzer Dorf»hexe« Hoppenmarieken. Die innerste Verwandtschaft der beiden grotesken und durchaus zweifelhaften Gestalten tritt in der sorgfältigen Ausstrichelung gerade ihres Wesens, ihres Sichgebens beherrschend hervor und gewinnt die letzte plastische Lebendigkeit, als der säbelbeinige Husarenführer der toten Botenläuferin einen letzten Besuch am offenen Sarge abstattet. Vieles in dem Roman könnte der Pinsel oder der Zeichenstift des Tunnelgenossen Adolf Menzel 171 festgehalten haben; dieser Vorgang, der abgebrühte Junggeselle im Schnurrock neben dem Schragen, auf dem bei der Toten ihr schwarzer Vogel hockt, dazu Hoppenmariekens Hakenstock, den Bamme mit den Worten »Zwergenbischof« zwischen den Fingern dreht – es wäre ein würdiger Vorwurf für Daumier gewesen.

Hier, in der szenischen Einzelbelebung, entfaltet sich mit besonderer Stärke Fontanes überall auf seinem schriftstellerischen Wege dargetaner Sinn für das Genre. Im Dichterklub, beim Herrenfrühstück, beim Empfang im geheimrätlichen Hause, vor der Bühne in Schloß Guse, in der Gesellschaft der Frau Hulen, unterm Weihnachtsbaum im Kruge – stets wird mit kleinen Zügen und dennoch so, daß nicht »Alles« gesagt wird, die Situation verdeutlicht und – das Wichtigste – Atmosphäre gewonnen. Nur zweimal geschieht dies auf dem Wege unmittelbarer Schilderung: bei der Einführung in Schloß Hohen-Vietz und bei der in Schloß Guse, und bei dieser zweiten Gelegenheit war der Rückfall in den Stil der »Wanderungen« um so erklärlicher, als Guse hinter dem verkürzten Namen den alten Derfflingerbesitz Gusow aus dem »Oderland« darstellt. Sonst überall wird Einstimmung genau dem Vorhaben gemäß durch »anregendes, heiteres, wenn's sein kann geistvolles Geplauder, wie es hierlandes üblich ist«, gewonnen. Und den Anlaß zu solchem nach Art und Individuum abschattiertem Plaudergespräch bieten vor allem gemeinsame Mahlzeit und gemeinsame Fahrt. Nicht weniger als einundzwanzig Tischgespräche und sechs Fahrtgespräche sind in »Vor dem Sturm« enthalten, dazu noch ein paar Reiterunterhaltungen. Und all dieser Austausch von Wort und Anschauung wird je nach der Zusammensetzung des Kreises abgewogen. Sie plaudern alle, wie eben »hierlandes« der Berliner und der Märker, aber nicht nur der Interessenkreis auf Schloß Guse ist ein anderer, nicht nur die französisch versetzte 172 Sprache der einstigen Rheinsberger Hofgenossin unterscheidet sie und ihre Gäste von denen des Krügers Scharwenka und der Tafelrunde des Rittmeisters von Jürgaß, der ein paar Züge von Bernhard Lepel empfangen hat. Überall enthüllen sich gerade im Gespräch die menschlichen und ständischen Eigenschaften, überall gewinnen wir von neuem Blickpunkte her eine Aussicht auf das in jeden Kreis ausstrahlende Schicksal der in Wehen liegenden Zeit.

Neben das Gespräch tritt – für den leidenschaftlichen Briefsteller Theodor Fontane besonders bezeichnend – der Brief. Unter allen deutschen Dichtern hat er wohl am häufigsten die Feder zur Unterhaltung, zur Plauderei, zum »Beplaudern« von Mensch und Ding in die Ferne hinüber angesetzt, und so läßt er auch die Menschen von »Vor dem Sturm« schreiben, wie er in den »Wanderungen« und den Kriegsbüchern den Brief als vornehmes und sicheres Mittel der Darstellung benutzt hat. Achtzehn Briefe (und zwei Testamente) füllen einen beträchtlichen Raum des Buches, keiner überflüssig, jeder vor- und zurückdeutend, jeder mittelbar belichtend und weiterführend.

*

Theodor Fontane sagt in dem Sendschreiben an Wilhelm Hertz: »Die Personen müssen gleich bei ihrem ersten Auftreten so gezeichnet sein, daß der Leser es weg hat, ob sie Haupt- oder Nebenpersonen sind. Auf das räumliche Maß der Schilderung kommt es dabei nicht an, sondern auf eine gewisse Intensität, die den Fingerzeig gibt.« Bei Marie Kniehase war diese Dichtigkeit des ersten Eindrucks schon vor ihrem persönlichen Erscheinen gewollt und erreicht, die erste handelnde und redende Hauptfigur aber ist Lewin von Vitzewitz. Er ist am engsten mit allen andern verknüpft, seine Erkrankung nach der Flucht der Base Kathinka 173 mit dem Polen füllt ein gutes Stück des Mittelgrundes, bei seiner Befreiung findet Kathinkas Bruder Tubal den Tod, er, Lewin, führt schließlich die »Prinzessin ins Haus«. Und mit dem Bericht über seine Ehe und ihr Glück schließt Renate die Erzählung, die mit seiner Weihnachtsfahrt von Berlin nach Hohen-Vietz begann.

Es gehört zur geistesgeschichtlichen Sendung des modernen Entwicklungsromans, daß seine Verfasser immer wieder im Sinnbilde ein Inbild des eigenen Werdens gaben – von Wilhelm Meister über Franz Sternbald und David Copperfield bis zu Heinrich Lee war stets die eigene Lebenslinie der Erzähler wie eine Aorta durch das Adergeflecht des Kunstwerks hindurch als schlagende Blutbahn spürbar, ja sichtbar gewesen. Theodor Fontane war über die Zeit des Entwicklungsromans hinausgediehen. Längst stand er sich zu objektiv gegenüber, um gleich dem einst neben ihm in Berlin ringenden Keller Glück, Not und Schuld eigener Jugend darzustellen. Aber er lieh dem jungen Lewin von Vitzewitz doch eine Reihe von Zügen seines eigenen Wesens. Auch dem eignet Fontanes, zumal in der Kriegsgefangenschaft bewährte, Fähigkeit der raschen Verständigung mit allerlei Volk, ohne daß es erst zu Menschen anderen Standes, geringerer Bildung eines besonderen Brückenschlags bedürfte. Lewin besitzt und erweist die Fontanische Gerechtigkeit gegenüber dem Feinde, zumal dem geschlagenen, die aus allen Kriegswerken des Dichters spricht. Er sucht einer Örtlichkeit auch unter ungünstigen äußeren Umständen Geschichte und Charakter abzulesen: die kurze Rast auf der Winterfahrt führt ihn in die halbbeleuchtete Kirche zur Enträtselung jenes Grabmals; und auf dem Marsch von Hohen-Vietz nach Kirch-Göritz findet er Zeit und Neigung, dem Vetter die geschichtlichen Honneurs der irgend sichtbaren Orte des Lebuser Landes zu machen. 174 Lewin ist Mitglied eines Dichterkränzchens, in dessen Lebensformen sich Satzung und Art des Tunnels über der Spree spiegeln. Percys Balladensammlung kommt »nicht von seinem Tisch«, ist »Lieblingsbuch«. Seine Bedürfnislosigkeit in äußeren Dingen ist ihm etwas Selbstverständliches, und er ist im hohen Maße eindrucksfähig für fremdartige, manchem sonst wenig spürbare Eindrücke, ohne doch andrerseits ihnen so ganz anheimzufallen wie der halbpolnische Tubal.

Der Gegensatz zu diesem und Lewins Nähe zu seinem Schöpfer treten aber auch in der geistigen Einstellung besonders hervor. »Vor dem Sturm« spielt in der Zeit der Romantik; sie, die große Deutsch-Bewegung, erlebt in den Freiheitskriegen ein Großteil der »Tat von ihren Gedanken« – dann hat sie die Scheitelhöhe ihrer Wirkung und Leistung überschritten. Sie wellt auch als literarische Bewegung in das große Zeit- und Menschenbild des Romans hinein, aber ihr Ziebinger Hauptquartier, dessen Patron der Berliner Ludwig Tieck ist, wird mit einiger Ironie behandelt, und ihr halbproduktiver Vertreter unter den Gestalten der Dichtung heißt nicht nur Faulstich, er ist auch eine wurmstichige Persönlichkeit und hat einst zum Kreise der Gräfin Lichtenau – seiner historischen Folie – gehört. Als Lewin und Tubal ihn in Kirch-Göritz besuchen, führt er sie mit der Feierlichkeit eines um Adepten werbenden Priesters in den romantischen Gedankenkreis und schließt mit einem Preise des Novalis. Nach den »Hymnen an die Nacht« liest er den jungen Leuten die herrlichen Strophen des Liedes »Wenn alle untreu werden«. Beide sind bewegt, aber Tubal bewegter als Lewin; »er stand wie alle sinnlichen Naturen unter dem Einfluß schwärmerischen, sich anschmiegenden Wohllauts«. Und als er den Eindruck in sich verarbeitet hat, sagt er zu Faulstich: »Wie beneide ich Ihnen diese Kirch-Göritzer Tage! Statt 175 des Geschwätzes der Menschen Schönheit und Tiefe, und dabei Muße, sich beider zu freuen.« – Von Lewin aber heißt es: »Er schwieg. Er kannte zuviel von der Wirklichkeit der Dinge, um zuzustimmen.« Wenn irgendwo, so redet hier durch das Mittel des jungen Edelmanns Theodor Fontane selbst. Und nicht zufällig läßt er gerade Lewin sein eigenes Geschick der Kriegsgefangenschaft erfahren und, noch im Angesicht des wahrscheinlichen Todes sich, wie Fontane in Gueret, an eigenen Versen aufrichten:

Hoffe, harre; nicht vergebens
Zählest du der Stunden Schlag,
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und es kommt ein andrer Tag.

*

Demselben Wilhelm Hertz, dem Theodor Fontane im Beginne der Arbeit den dann so treu eingehaltenen Umriß hingezeichnet hatte, schrieb er, als das Buch die Druckpresse verlassen hatte:

»Der große Zug der Zeit ist Abfall. Aber man hat es nachgerade satt. Die Welt sehnt sich aus dem Haeckelismus wieder heraus, sie dürstet nach Wiederherstellung des Idealen. Jeder kann es jeden Tag hören. Und es ist ernst gemeint. Da kommt nun dieses Buch, das dem in tausend Herzen lebendigen Gefühl Ausdruck leiht. Hätt' ich es gewollt, hätt' ich auch nur einen Tropfen ›fromme Tendenz‹ hineingetan, so wäre es tot, wie alles Zurechtgemachte. Aber es steckt in dem Buche ganz gegen mein Wissen und Willen. Ich finde es jetzt zu meiner Überraschung darin, und doch liegt eigentlich kein Grund zur Überraschung vor; denn alles, was ich gegeben habe, ist nichts als der Ausdruck meiner Natur. Ich hoffe, daß es auch so wirkt. Trifft dies zu, so ließe sich sagen: ›Seht, der Wind dreht sich; 176 die alten Götter leben noch. Unsinn. Das Christentum ist nicht tot. Es steckt uns unvertilgbar im Geblüt, und wir haben uns nur darauf zu besinnen. Jeder, der sich prüft, wird einen Rest davon in sich entdecken. Und diese Reste müssen Keime zu neuen Leben werden.‹«

Diese Worte, noch im nachzitternden Zeitrausche der Gründerzeit, im Jahr der Attentate gegen den alten Kaiser, im Beginn der mechanisierten Epoche deutschen Lebens niedergeschrieben, enthüllen einen positiven Keim der Dichtung, nicht eine tendenziöse Einkeilung, wie sie dem Zeitroman eignete. Und sie entsprechen einer weit hinaus und tief hinein weisenden Stelle des Romans. Da reden Renate und Tante Schorlemmer, die Erzieherin der früh mutterlos Gewordenen, von den Grönländern in der Kolonie Neu-Herrnhut und von ihrem Selbstgefühl. Renate wirft ein: »Da müßt ihr ihrem Selbstgefühl gegenüber oft einen schweren Stand gehabt haben. Denn ich entsinne mich, daß Pastor Seidentopf, als wir noch zum Unterricht gingen, zu Marie und mir sagte: ›Ein schlichter und ein großer Sinn passen gleich gut zu den Offenbarungen des Christentums; aber ein eitler Sinn widerstrebt ihnen hartnäckig.‹« Nun spüren wir deutlich, wie die innerste Führung von »Vor dem Sturm« stracks gegen das sich vermessende Selbstgefühl der neuen Zeit gerichtet ist, gegen eine materialistische Welterklärung, deren Überwindung der Dichter noch auf ihrer Höhe ahnend vorwegnimmt.

Theodor Fontane hatte in den Jahren, binnen deren »Vor dem Sturm« entstand, eine Heldenbahn seines Volkes begleiten und nachzeichnen dürfen, er hatte höchste Leistungen vaterländischen Aufschwungs, Opfertaten von strahlender Größe und von sich still bergender Schlichtheit geschaut und gepriesen. Er hatte Mächte, die einer Welt Schach zu gebieten schienen, stürzen 177 sehen und einen Grund dafür in einer von allem Tieferen losgelösten, zu einer bloßen Form persönlicher Eitelkeit gewordenen Vaterlandsliebe gefunden. Seine geschichtliche Arbeit in England und Schottland, in der märkischen Heimat und im Kampfgebiete dreier Feldzüge hatte sich immer das unbequem zu erreichende und meist unbelohnte Ziel gesetzt, die Dinge und nicht ihre Konvention, die Wahrheit und nicht die Phrase zu ermitteln. Gerade in der Kriegsgefangenschaft hatte er sich notiert: »Die fromme Phrase ist die schlimmste«; und in demselben Werke von seltsamer Not hörten wir ihn der nationalen Phrase absagen. Aus diesem Gesinnungsquell erfloß jener das neue große Werk fruchtbar durchrauschende Strom, von dessen gleich Mahomets Felsenquell höchsten Mächten zudrängender Gewalt die Worte seines Seidentopf wie, in dankbarer Rückschau, seine eigenen zeugen.

Und im Hinblick auf die nationale Sendung des Buches und auf das, was eine laute Zeit ihrerseits unter nationaler Sendung verstand, schrieb Theodor Fontane über »Vor dem Sturm«: »Das Buch ist der Ausdruck einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung. Es tritt ein für Religion, Sitte, Vaterland, aber es ist voll Haß gegen die ›blaue Kornblume‹ und gegen ›Mit Gott für König und Vaterland‹, will sagen: gegen die Phrasenhaftigkeit und gegen die Karikatur jener Dreiheit. Ich darf sagen – und ich fühle das so bestimmt, wie ich lebe –, daß ich etwas in diesem Buche niedergelegt habe, das sich weit über das herkömmliche Romanblech, und nicht bloß in Deutschland, erhebt.«

Um vaterländische Geschicke geht es in der ganzen Dichtung. »Ein großes Fühlen« wurde damals geboren – Das und dessen Wirkung auf die verschiedenartigsten Menschen war die bewegende Ursache, die treibende Unruhe der Handlung gewesen. Und wie 178 ihr auch in tragischem Adagio, im plauderhaften Scherzo Melodienreichtum zuwuchs – immer tönte die große Fuge des preußischen Schicksals dazwischen, und immer mit jenem von allem Spielerischen, allem Trivialen abgelösten Klang, den im Rückwärtshorchen dieser Brief festhielt. Als Berndt Vitzewitz über König und Behörden hinweg zu seinem Unternehmen gegen die Franzosen aufruft, sagte einer der Gesinnungsfreunde: »Es ist ein königliches Land, dieses Preußen, und königlich, so Gott will, soll es bleiben. Es haben es große Fürsten aufgebaut, und der Treue der Fürsten hat die Treue des Volkes entsprochen. Ein Volk folgt immer, wo zu folgen ist; es hat dem unseren an freudigem Gehorsam nie gefehlt. Aber es ist fluchwürdig, den toten Gehorsam zu eines Volkes höchster Tugend stempeln zu wollen. Unser Höchstes ist Freiheit und Liebe.«

Diese Sätze gelten nicht nur für diesen Anlaß; sie deuten tief in die seelische Zwangslage vieler der Besten jener hochgespannten Monate vor dem Frühjahr 1813 hinein und auf den Pflichtenwiderstreit Yorcks vor, der an andrer Stelle ausdrücklich in das unausweichliche Licht der Verantwortung vor Gott hineingestellt wird. Diese Worte, an den letzten Sinn der Dichtung rührend, werden nicht von, sondern zu Berndt Vitzewitz gesprochen; dennoch klingen sie, die der Sprecher nachmals im Tode bewährt, an Sätze an, die Theodor Fontane einst aus dem Munde von Friedrich Marwitz anführte, an Sätze zugleich, die der junge Politiker vor dreißig Jahren in anderer deutscher Schicksalsstunde in den erregten Tag gerufen hatte. Aber diese Worte eines höchst geläuterten Patriotismus, einer mannhaft vorbildlichen Volksgesinnung, stehen zugleich in engem innerem Zusammenhang mit dem von Fontane vor dem vollendeten Werke so stark empfundenen christlichen Lebensgehalt seiner Dichtung. Seidentopf spricht von Schlichtheit und Größe als den der 179 Offenbarung des Christentums zupassenden Herzenseigenschaften – Othegraven nennt Freiheit und Liebe die höchsten preußischen Tugenden. Theodor Fontane aber hat schon in der »Grafschaft Ruppin« Liebe und Freiheit als die schönsten Seiten des Christentums bezeichnet.

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O wie entfernt bist du, wie himmelweit,
Du meines Goethe mutge Morgenzeit!
Du Mondnacht selbst, da der Romantik Hand
Aus blauen Blumen bleiche Kränze wand!
Du Götterdämmrung, als mit klass'schem Zwang
Zum erstenmal moderne Freiheit rang,
Als Engel Byron mit dem Pferdehuf
Aus vollbewegtem Jetzt sein Epos schuf,
Als Heine noch aus Gold die Pfeile trieb,
Aus Marmor Platen seine Lieder hieb,
Als Uhland-Rückerts Dioskurenstern
Hoch im Zenit stand, dem Versinken fern!
Vorbei der Götter- und der Heldenruhm!
Nur Zwielicht rings, nur Epigonentum!
Was wälz ich noch im Schweiß des Angesichts,
Wie Sisyphus, die Steine des Gedichts?
Sie rollen, eh ein ganzes Werk vollbracht,
Zerstreut, zertrümmert, wieder in die Nacht.
Die Zeit hat andre Ziele als die Kunst:
Ihr bester Geist verpufft in Dampf, in Dunst.
Und dennoch reizt, wie ein vergrabner Schatz,
Mich stets ihr Kampf von Satz und Gegensatz,
Ihr Drang, der jede alte Form zerbricht,
Erfindet er die neue auch noch nicht, 180
Ihr ungestümer, allgemeiner Schwung
Nach Macht, nach Freiheit und nach Einigung.
In solchen Zügen scheint die Gegenwart
Mir wahlverwandt und meiner eignen Art.
Von allen Altern lieb ich sie allein,
Mein Mütterchen, mein Kind, mein Fleisch und Bein.
Mir ist, dem Menschen, Menschliches nicht fremd
Und näher als das Ritterwams mein Hemd.
Deswegen such ich in der Ferne nie,
Nur in der Näh das Gold der Poesie.
Ich wasch es lieber aus dem tiefsten Schlamm,
Als daß ichs nehme, wos vorüberschwamm.

Diese Verse rühren von einem Dichter her, der die Höhe der darin erstrebten Kunstweise selbst noch nicht zu erklimmen vermochte; aber mit seinem unvergleichlichen kritischen Blick hat Franz Dingelstedt in ihnen Antlitz und Antrieb der Zeit richtig gezeichnet, in der er, der um fünf Jahre Ältere, neben Theodor Fontane emporstieg.

Über Fontanes Jugend hatten noch die Sterne später Romantik gestanden. Bei Anthieny las der Schulschwänzer mit Hingebung Gedichte Eduard Ferrands, Franz von Gaudys, und im Kuglerschen Hause trat ihm noch die große Romantik in der ehrfurchtgebietenden Erscheinung Josephs von Eichendorff entgegen, wie im Tunnel Gaudys gleichstrebender Bruder Friedrich. Bei Herder und Percy hatte er dann aus der nämlichen Quelle wie einst die junge Romantik geschöpft, aber im Tunnel über der Spree war nach der kurzen Herwegh-Episode seines Schaffens seine Lyrik im Anschluß an Kopisch, Strachwitz, Scherenberg, an die Ballade des Alexis, an Chamissos Berliner Kunst zu ihrem preußischen realistischen Tone gereift. Sein niemals 181 abgeschworenes Bekenntnis zu dem »begnadeten Manne« Walter Scott schloß zwar dessen Romantik mit ein, aber mit dem ausdrücklichen Zusatze, daß in dem Werke des Schotten die Romantik ihre »gesundesten« Blüten getrieben habe; die Kritik, die ein logischer Rückschluß diesem Beiwort zu entnehmen hat, schwingt auch durch die Faulstich-Szene von »Vor dem Sturm«, und nicht von ungefähr erringt in dem literarischen Klub des Romans die Ballade »Und Calear, das ist Sporn« vor anderen Dichtungen jubelnde Zustimmung; das war nicht ein Stück Selbstverherrlichung, die Einschaltung deutete vielmehr auf den Zusammenklang der neuen preußischen Kunst mit dem Geiste von 1813 und auf den inneren Zusammenhang von Fontanes Ballade mit diesem Erstling seiner Prosadichtung.

Der deutsche Roman hatte seit Fontanes Eintritt in den Tunnel eine der Lyrik parallele Entwicklung von äußerster Wichtigkeit genommen. Der jungdeutsche Tendenz- und Reiseroman, einst an die Stelle des romantischen Künstler- und Geschichtsromans getreten, war rasch wieder abgesunken, und wenige Jahre nach der Revolution zeigte sich die Prophezeiung des großen Wegbereiters Karl Immermann in ihrer ganzen vordeutenden Kraft: »Wir müssen durch das Romantische, welches der Ausdruck eines objektiv Gültigen sein sollte, aber nicht ward, weil seine Muster und Themen ganz anderen Zeitlagen angehörten, hindurch in das realistisch-pragmatische Element. An diesem kann sich, wenn die Musen günstig sein werden, eine Kunst der deutschen Poesie entwickeln.« Während Fontane in England war, erschienen Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde«, der erste Band der »Leute von Seldwyla«, im gleichen Jahre 1856, Heinrich Heines Todesjahr, schloß Willibald Alexis den Kreis seiner vaterländischen Romane mit der 182 »Dorothee« ab, und Gustav Freytags »Soll und Haben« beging eben den ersten Geburtstag.

Diese Werke in all ihrer persönlichen Verschiedenheit gehören nach ihrem gemeinsamen Innenklang und nach der Lebenserfassung ihrer Dichter in den gleichen Umkreis des Realismus. Um was es ging, das hatte ein lyrischer Wettstreit zwischen Justinus Kerner und Gottfried Keller ausgesprochen. Der alte schwäbische Romantiker und Geisterseher hatte der neuen Zeit der Maschine, des Dampfers, der Eisenbahn Fehde angesagt und seine Empfindung, zeitabgewandt, so ausklingen lassen:

Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel
Zum Himmel, eh es ist zu spät,
Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel
Die Poesie still trauernd geht.

Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle,
Träumt er von solchem Himmelsgraus,
Er, den die Zeit, die dampfestolle,
Schließt von der Erde lieblos aus.

Da hatte ihm – im Jahre 1845 – Gottfried Keller, die Augen dem goldnen Überfluß auch dieser Zeit zugewandt, erwidert:

Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen
Und spannt Eliaswagen an;
Willst träumend du im Grase singen,
Wer hindert dich, Poet, daran?

Ich grüße dich im Schäferkleide,
Herfahrend, – doch mein Feuerdrach
Trägt mich vorbei, die dunkle Heide
Und deine Geister schaun uns nach. 183

Daß Fontane, der in einer frühen Ballade den »Junker Dampf« besungen hatte, gleich Dingelstedt auf Kellers Seite stand, bezeugt der Fortschritt seiner Kunst. Diese von dem großen Schweizer lyrisch einbekannte Haltung entsprach dem seelischen Wandel der Zeit, wie er sich vor Fontanes Augen nicht nur in der ansteigenden Technik der Siemens und Borsig äußerte; er tat sich auch in der historischen Schule Leopold Rankes, in den neu aufblühenden Naturwissenschaften, nicht zuletzt in der Politik Bismarcks und Lassalles dar. Unter diesem Zeichen setzt sich der realistische Roman durch. Nach Vorläufern wie Jeremias Gotthelf, Charles Sealsfield, Berthold Auerbach – auch Robert Prutz gehört dazu – bringt Willibald Alexis, auch er von Scott ausgegangen, die erste Erfüllung. Gustav Freytag schafft seine Erzählungen von deutscher Arbeit so aus bestem bürgerlichem Empfinden heraus wie Fritz Reuter und John Brinckman die ihren. Louise von François stellt ihre aus dem Besten der preußischen Aristokratie geschöpften Bilder daneben. Gottfried Keller ringt sich durch und vereint in Roman und Novelle eine erstaunliche Lebensfülle mit der Goldklarheit einer künstlerisch gebändigten Form, der, nach Fontanes Wort, die »uns kalt lassende Marotte« der romantischen Schule zumeist fehlt. Wilhelm Raabe steigt vom berlinischen Realismus der Sperlingsgasse zu Werken auf, unter deren wirklichkeitsgetreuer Lebensfülle geheimnisvolle überzeitliche Mächte aus verborgenen Tiefen ins Licht langen. Joseph Scheffels und Wilhelm Heinrich Riehls historische Romane und Novellen, das Werk von Hermann Kurz, Carl von Holteis, Edmund Hoefers und anderer kleinerer Talente liebenswürdig und eindringlich schildernde Erzählerkunst ergänzen das Bild; Theodor Storms Novellen mit ihrer »dichten« Stimmung und Versinnlichung, Klaus Groths epische Meisterleistung »De Heisterkrog«, seine Prosaerzählungen gehören in seine Mitte. 184

In ihrer Gesamtheit zeigt der deutsche erzählerische Realismus auf seiner um 1870 erreichten Entwicklungsstufe einen neuen Pegelstand deutscher Geistesgeschichte an. Das Ideal der Lebenstreue war erreicht, das Ideal der Tendenz, das die dreißiger und vierziger Jahre beherrscht hatte, überwunden. In dem Kampfe, den Gustav Freytag dem Jungdeutschtum und »der Willkür der alten Romantik« angesagt hatte, war ihm und seiner Generation der Sieg zugefallen. Goethes Wort, daß man »von Natur richtig sein« müsse, galt von ihnen allen, und weil sie sich – jeder in seinen Grenzen – auf diese ihre richtige Natur, auf Anlage und Volkstum, sehr weit verlassen konnten und verließen, gelang ihnen eine Lebensgestaltung, binnen deren jeder wiederum mit künstlerischem Takte seine Grenzen einhielt. Sie waren alle, bei sonstiger Verschiedenheit, liebevolle und blickrechte Beobachter, hatten alle auch einen besonders lebendigen Sinn für Gewerbe und Hantierung, tägliches Tun und Treiben, sie alle erwiesen auch da, wo sie nicht geschichtlichen Stoff wählten, ausgeprägten geschichtlichen Sinn. Fontanes Worte über Scheffels »Ekkehard« in ihrer auf ein Allgemeineres zielenden Fassung gelten für alle Epiker der realistischen Höhe.

Was sich in wenigen Prosastücken von Annette von Droste-Hülshoff und in Karl Immermanns »Oberhof« andeutete, der bezeichnend genug aus dem »Münchhausen« hervorragt – Das war in knappem Zeitraum Gestaltung geworden, das von Dingelstedt beklagte Epigonentum durch ein gleich ihm ins Reale verliebtes Geschlecht überwunden. Ein Querschnitt durch das Leben der ganzen bekannten Welt war gelegt, durch das Sein und Schalten der engsten Heimat wie durch das der nun schon sicher gesehenen Ferne; zugleich bedeutete die neue Kunst einen Längsschnitt durch das deutsche Leben von seinen geschichtlichen Wurzeln bis in die damalige Gegenwart hinein. 185

Diese Gegenwart aber war seit der Mitte der sechziger Jahre auch schon von anderen Tönen durchklungen. Neben dem realistischen Roman hatte sich ein neuer Zeitroman durchgesetzt, der in vollem Gegensatz zu jenem den Anschluß an das einstige und in Karl Gutzkow immer noch schöpferisch lebendige Junge Deutschland suchte. Seine, des von Fontane aus innerstem Gegensatz arg unterschätzten Landsmanns, großen Zeitromane sind von nachhaltigem Einfluß auf Friedrich Spielhagen gewesen, der seit den sechziger Jahren mit seinen erregten und erregenden Zeitbildern von Erfolg zu Erfolg schritt. Im Gegensatz zu der Art und Technik des Realismus entbehrten sie wie die Zeitromane Rudolf Gottschalls und des Jungmüncheners Hans Hopfen nicht eines sensationellen, beizenden Einstroms, und auch der etwas später einsetzende Zeitroman Adolf Wilbrandts und August Niemanns ging nicht auf die sichere Gegenständlichkeit der realistischen Meister aus. Der historische Roman nahm in ganz Mittel- und Westeuropa eine parallele Entwicklung. Wie auf Walter Scott in England der geschichtliche Bildungsroman Edward Lytton Bulwers und der archäologische Tendenzroman Charles Kingsleys, so folgte auf Alexis in Deutschland, nach George Hesekiels leicht hingepinselter Schilderung preußischer Vorzeit mit dünn um die geschichtlichen Linien geschlossener Handlung, der archäologische Bildungsroman von Georg Ebers, der historische von Karl Frenzel, und Felix Dahn überpflanzte im »Kampf um Rom« die geheimnisvoll verflechtende Technik von Gutzkows »Rittern vom Geiste« und die sensationell zuspitzende Vortragsweise des neuen Zeitromans ins Geschichtsbild. Das Negativ jener Sternschen Ausführungen über Wesen und Berechtigung des historischen Romans war gerade aus der Betrachtung des neuen Abweges gewonnen, auf dem Belehrung und Historie statt Belichtung und Menschendarstellung gesucht wurden. 186

So trat Theodor Fontane mit der neuen Gabe als ein Spätling der eigenen wie der literarhistorischen Entwicklung vor die deutschen Leser. Er kam nicht allein. Neben ihm fanden noch andere realistische Begabungen erst jetzt, gegen das Ende des achten Jahrzehnts des Jahrhunderts, das Tor zu ihrer epischen Berufung. Wie er, der Altersgenosse Gottfried Kellers, neue Bahn beschritt, so entdeckten drei Altersgenossen Wilhelm Raabes jetzt erst ihr eigenstes Kunstgebiet: Rudolf Lindau, Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar. In der Sicherheit der Lebenserfassung gleichen sie den Realisten der Höhe; dennoch stechen diese Spätrealisten in manchem fühlbar von ihnen ab. Rudolf Lindau, der den Fontanischen Weg über die Presse und die Kriegsschilderung gegangen war, aber eine weit längere und eindringlichere Auslandsschulung hinter sich hatte als der märkische Flurnachbar, brachte dem Realismus eine weltmännische Haltung zu, die seinen Meistern sonst nicht eignete. Marie Ebner-Eschenbach vertiefte den menschlichen Gehalt dieser im tiefsten bürgerlichen Kunst durch eine, von Turgenjew beeinflußte Neigung zu den neu herandrängenden sozialen Problemen, mehr noch zu den Trägern dieser Probleme, dem Vierten Stande, und – unter österreichischer Perspektive – den subgermanischen Nationen. Ferdinand von Saar aber schied sich bei der auf seiner Höhe lebenstreuen und stimmungsvollen Ausgestaltung österreichischen Lebens von den älteren Meistern durch einen diesem optimistischen Geschlechte fremden hoffnungslosen Pessimismus, er fand nicht wie Raabe von der Erkenntnis der Kanaille zur Lebensüberwindung aus der Tiefe her.

Theodor Fontanes eigentlicher Vorgänger innerhalb des klassischen Realismus war Willibald Alexis. Indem der Ruppiner mit dem Altmärker und den beiden Österreichern als ein Neuer hinaustrat, erwies auch er gegenüber dem Älteren eine 187 charakteristische Abwandlung des realistischen Stils. Als er im Jahre 1873 auf Rodenbergs Aufforderung für dessen »Salon« einen Essay über Alexis schrieb, stellte er dasjenige Werk am höchsten, das in seinem Aufbau Scotts historisches Romangesetz am reinsten verfolgt: den »Cabanis«. Er nennt Alexis »einen der Besten und Treuesten« und sagt mit Nachdruck: »Er darf unser Stolz sein.« Er zieht die meisterlichen Linien seiner Landschaftsschilderung meisterlich nach. Aber er glaubt nicht, daß Willibald Alexis sich »die Welt oder auch nur das Weltpartikelchen, das sich Deutschland nennt«, »voll und ganz« erobern wird. Den Grund hierfür sieht Fontane nicht in der Stoffwahl; »die schottischen Helden sind nicht interessanter als die märkischen« – da sprach der Kritiker ebensowohl für sich, den Mann von Havel und Müggel, wie für den Kritisierten. Aber des Alexis »Stilschwerfälligkeit« spreche das entscheidende Wort – man fühlt, wie Fontane das kennzeichnende Wortungetüm eigens geschaffen hat, um damit gleich sein Urteil in der Nuß zu geben.

Aber er wird noch deutlicher, und zwar in einem Vergleich zwischen dem, der »da spielen durfte, wo andre sich im Schweiße ihres Angesichts quälen«, nämlich Sir Walter Scott, dem gemeinsamen Vorbilde, und Willibald Alexis. »Der eine ist leicht und glatt, der andre schwer und knorrig; über die Dialoge des einen geht es hin wie eine Schlittenfahrt über gestampften Schnee, über die des anderen wie eine Staatskarosse durch den märkischen Sand.« Wir merken hier an, wie gern Fontane, nicht nur in »Vor dem Sturm«, gerade Schlittengespräche bringt – der Rhythmus der gleitenden Fahrt geht in die Unterhaltung ein. »Langsam mahlt es,« so fährt die Charakteristik des Alexis-Stils fort, »bis die Wurzeln kommen und alles zusammenfährt. Der Stil ist bei Willibald Alexis die schwächste 188 Seite, die gefährlichste Klippe für seine Einführung in die Volkskreise. Es ist unmöglich, ihn rasch zu lesen.«

Ohne zu erörtern, wie weit dies Urteil über des Alexis möglichen Erfolg in wiederum gewandelter Zeit zutrifft, erkennen wir in dieser Gegenüberstellung Scott-Alexis zugleich eine solche Fontane-Alexis. Das nämliche innere Gesetz, nach dem die äußere Umformung der Gestaltenfolge Marwitz-Quarbitz-Vitzewitz erfolgte, waltet in Theodor Fontanes neuem historischem Roman überall. Wie in den Balladen darf er auch im Prosaepos manches Mal nur andeuten, und das von ihm selbst so oft gebrauchte Wort Plaudern bezeugt nun seinen tieferen Sinn: die Quantität schlägt in die Qualität um, aus dem äußern »Beplaudern« wird eine innere Lösung, die da gefällig verknüpft, wo der in Alexis verkörperte ältere historische Realismus schwerer wandelnd langer Begründung und Auseinandersetzung nicht entraten zu können meinte. Im Beginne der großen Arbeit hatte Fontane noch an Hertz geschrieben: »Mein Manuskript stottert«; dies Stottern hatte die lange Reife der Produktion, die immer neue Durchfeilung getilgt.

Fontane wendet sich aber auch gegen den Humor des Alexis. Er findet ihn zu stark mit Ironie versetzt. Und auch in diesem und gerade in diesem Betracht ist der Verfasser von »Shakespeares Strumpf« seither einen unmeßbar weiten Weg gegangen. Ganz selten spielt noch Ironie, das allgemach herrenlos gewordene Erbgut der romantischen Schule, hinein, im Grunde nur, wie wir sahen, bei einer Anspielung auf diese Schule selbst. Sonst aber schaltet überall ein sich frei erhebender Humor. Fontanes französischer Reisegenoß Friedrich Theodor Vischer kommt in seiner Stufenleiter des Humors zu der über Ironie oder Satire hinaus gesteigerten Begriffsbestimmung: »Eine sittliche Welt versinken sehen, wie der männliche Geist des Aristophanes, 189 Undank, Ungerechtigkeit, Schwäche der Gesetze, Bestechung, Ränke walten sehen mit dem Feuerauge Shakespeares und doch auch den Humor über diese Weltübel erweitern, dies ist das Höchste, das Schwerste.« Und Vischer sieht nun von diesem höchsten Standpunkt her – Fontane nennt ihn den des Olympiers – die Innigkeit der inneren Liebeswelt sich zur Gewalt des von dem allgemeinen Pathos für diese objektive Welt erfüllten Geistes erweitern.

Das allgemeine Pathos für diese objektive Welt – es war ganz Fontanes innerstes Lebensbekenntnis.

Laß ab von diesem Zweifeln, Klauben,
Vor dem das Beste selbst zerfällt,
Und wahre dir den vollen Glauben
An diese Welt trotz dieser Welt –

so hat er sich schon in frühem Vers zugesprochen. Und wenn wir das Wort Pathos im Ursinn, nicht als stilistische Kategorie, nehmen, ist »Vor dem Sturm« von diesem mitleidenden Weltgefühl ganz erfüllt und steigert es zu einer humoristischen Überschau, für die der Dichter in jenem Präludium an Hertz das bescheidene Wort »heiter« gebraucht. Dabei ist nicht zuerst an die mit hundert kleinen Zügen ausgestrichelten humoristischen Kabinettsstücke Hoppenmarieken und Bamme zu denken, sondern an den humoristischen Hauch des Ganzen, der noch dem Schwersten einen schwebenden Nachklang gibt. Ja, so sind die Dinge, so die Menschen – der Eindruck blaßt gegenüber »Vor dem Sturm« niemals ab; aber indem wir an den schweren Geschicken teilnehmen, fängt uns zugleich die besondere aura der Dinge ein, der Blick von der überlegenen Höhe aus Weltgang und Weltübel wird auch uns möglich, wie er dem Dichter die mâze gab.

Wenige Jahre nach »Vor dem Sturm« lernte Fontane 190 Emile Zolas erste Rougon-Macquart-Romane kennen. »Das Talent ist kolossal, bis zuletzt. Er schweißt die Figuren heraus, als ob er über Feld ginge und säte. Gewöhnliche Schriftsteller, und gerade die guten und besten, kommen einem arm daneben vor,« schreibt er darüber an Emilie, und erweitert sein Urteil so: »Von Unsittlichkeit oder auch nur von Frivolität keine Spur (es ist grenzenlos dumm, daß gerade das diesen Büchern vorgeworfen wird), und selbst von Zynismus ist kaum was zu finden; es ist aber durchaus niedrig in Gesamtanschauung von Leben und Kunst. So ist das Leben nicht, und wenn es so wäre, so müßte der verklärende Schönheitsschleier dafür geschaffen werden. Aber dies ›erst schaffen‹ ist gar nicht nötig; die Schönheit ist da, man muß nur ein Auge dafür haben oder es wenigstens nicht absichtlich verschließen. Der echte Realismus wird auch immer schönheitsvoll sein; denn das Schöne, Gott sei Dank, gehört dem Leben geradeso gut an wie das Häßliche. Vielleicht ist es noch nicht einmal erwiesen, daß das Häßliche präponderiert.« Diese frisch aus dem Handgelenk niedergeschriebene, im Fortgang der Lektüre bestätigte Anschauung von Zolas Werk eröffnet durch den Gegenschluß einen weiten Blick auf Fontanes positive Anschauung von den Möglichkeiten und Gesetzen des epischen Kunstwerks. Sie münden genau in die dem Brief an Hertz zugrunde liegende Selbstbetrachtung und treten in »Vor dem Sturm« in epischer Verdichtung an den Tag.

Ein andermal, bei der Arbeit an späterem Werk, läßt sich Fontane folgendermaßen vernehmen: »Und doch darf ich erhobenen Hauptes die Frage stellen: Wer ist denn da, der dergleichen schreiben kann? Keller, Storm, Raabe, drei große Talente, – aber sie können das gerade nicht. Ich kenne nur drei, die's könnten: Heyse, Hopfen, Spielhagen. Heyse würd es vielleicht 191 besser machen, aber schwächlicher, Hopfen vielleicht besser, aber verrückter, Spielhagen vielleicht besser, aber spielhagenscher.«

Der Anlaß, aus dem heraus sich Fontane hier in einen Gegensatz zu sechs unter sich so verschiedenen Erzählern stellt, ist gleichgültig; daß er es bewußt und so nachdrücklich tut, entspringt dem inneren Wissen um Eines, das ihn von allen diesen schied. Hier, auf dem spät betretenen Gebiete der Prosaerzählung, kam nämlich endlich auch sein französisches Blut als wirkende Macht zur Geltung. Die gaskognische Vorliebe von Louis Henri Fontane für die fein pointierte Anekdote, Fontanes seine ganze Korrespondenz durchziehender Hang zum »Medisieren«, seine Freude an gütiger »Unterhaltlichkeit«, die ihm zum Beispiel den Gesprächsmeister Rudolf Lindau im Verkehr so sympathisch machte – das alles sind echt französische Züge, sie begründen auch den durch keine dramatische Schwerkraft verdienten Erfolg des neueren französischen Dramas von Scribe und Sardou bis zur Gegenwart auf allen Bühnen der Welt. Wenn Fontane über ein Stück von Emile Erckmann und Alexandre Chatrian sagt: »Der Kern war ein Kern wie andre mehr, aber eine geschickte Hand zog den Baum mit besonderem Glück und zeitigte goldene Früchte,« so weist dies Wort von der geschickten Hand auf etwas spezifisch Französisches, typisch Französisches im Werke dieser Elsässer von der deutsch-welschen Sprachscheide hin. Und was er bei Zola, der Deutsche aus Frankreich bei dem Franzosen aus Italien, vermißte, ließ sich sehr wohl unter diesen Gesichtspunkt einordnen. Die überlegene Kultur war nach der Einwanderung der Hugenotten in die Mark bei diesen, ihre »feineren Umgangsformen, für die sie das Vorbild gaben«, hebt ihr Nachkomme Theodor Fontane ebenso hervor wie ihre Selbstlegitimierung auf geistigen Gebieten. Fontane war, wenn einer, Märker, Preuße, Deutscher. Dennoch schlug als ein den 192 Gesamtton bestimmendes Farbenspiel dieses andere Blutserbteil, das beweglichere Temperament in der Haltung gegenüber dem »deutsch-wendischen« Elemente durch, und mit guter Absicht hat er Lewin und Renate von Vitzewitz eine Französin, »groß, schlank, blond, eine typische deutsche Schönheit, wie so oft die Töchter des altfranzösischen Adels,« zur Mutter gegeben, wie auch die Mutter der beiden Fontane-Lieblinge Marwitz französischen Blutes war. Das »Feine« und »Graziöse«, das er (das französische Fremdwort ist bezeichnend) in der großen Romandichtung mit in die Scheuer bringen wollte, war eingefahren worden; daß in Fontanes Werk gerade diese Überlichtung ihm und dem genießenden Leser so voll genugtat, daß sie dem Werk das (wiederum französisch gesprochen) kennzeichnende Timbre gab, war eine ebenso liebenswerte wie vor andern auszeichnende Frucht seiner Herkunft.

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              Adlig Begräbnis

Ein Zugwind ging durch die Stuben,
Aufstanden Hall und Tor,
Als die Mittelmärkschen begruben
Ihren alten Otto von Rohr.

Sechs Rohrsche Vettern ihn tragen,
Sechs andre nebenher,
Dann folgen drei von der Hagen
Und drei von Häseler.

Ein Ribbeck, ein Stechow, ein Zieten,
Ein Rathenow, ein Quast,
Vorüber an Scheunen und Mieten,
Auf den Schultern schwankt die Last. 193

Um den Kirchhof her ein Blitzen
Von Herbstessonnenschein,
Die roten Berberitzen
Hängen über Mauer und Stein.

Eine dreizehner Landwehrfahne
Der alte von Bredow trug,
Und Hans Rochow von Rekahne
Schloß ab den Trauerzug.

Dies märkische Gedicht gehört, wie »Admiral Herluf Trolles Begräbnis«, wie die Vers-Huldigung an das Havelland im dritten Bande der »Wanderungen«, zu Fontanes Namen und Auszählgedichten, bei denen aus den Namen Reimgewicht und charakteristische Färbung gewonnen wird. Bei der Rückschau auf die Geschichte von Hohen-Vietz in »Vor dem Sturm« schildert Fontane ein Gastmahl zur Zeit des Westfälischen Friedens, und mit ganz verwandter Führung verzeichnet er die Teilnehmer, zuerst jeden mit Vor-, Zunamen und Wohnort, dann, genau wie im Gedicht, einfach »zwei Schapelows, zwei Beerfeldes und fünfe von Burgsdorf«.

Der zu neuem Werk Ausschreitende bleibt also lang geübter, zur Meisterschaft erwachsener Kunst verhaftet. Daß die Kritik nach solchem Zusammenhange suchte, war nur selbstverständlich. Paul Heyse, den Fontane und seine Mutter einst bei den märkischen Vorstudien für seinen »Roman der Stiftsdame« an Ort und Stelle beraten hatten, fand die Nähe zu den »Wanderungen« hervorstechend, er empfand das Landschaftliche als den Schwerpunkt, wie Fontane es bei Alexis hervorgehoben hatte. So wenig auch Fontane mit dieser Akzentverlegung einverstanden war, freute er sich doch der warmen brieflichen Liebeserklärung des alten Genossen aus berlinischem Hause wie des Lobes und 194 der Zustimmung von Otto Roquette und Ludwig Pietsch, mit dem ihn der gemeinsame Dienst an der »Vossischen Zeitung« in immer engere Beziehung gebracht hatte. Gewissermaßen als Erbin des schon 1874 vollendeten guten Freundes George Hesekiel fand seine Tochter Ludovica, des Vaters Nachfolgerin im historischen Roman, den kritischen Weg zu Fontanes neuer Dichtung. Trotzdem, auch trotz der warmen Würdigung durch den Rütlionen Wilhelm Lübke, fühlte Theodor Fontane eine Enttäuschung über den kritischen Widerhall. Nichts schien ihm den »Lebenspunkt« der Dinge zu treffen. Erst Julius Rodenbergs Besprechung tat ihm genug. Freilich hatte sich dieser, der eine in manchem verwandte schriftstellerische Laufbahn hinter sich hatte, gerade in diesen Jahren, da er in Berlin die »Deutsche Rundschau« begründete und zum Erfolge führte, Fontanes dichterischem Lebenskreise besonders stark genähert. Auch er hatte just nach langer Jahre Arbeit, durch andere Ausgaben unterbrochen, ein Romanwerk beendet, das ihn auf ganz neuer Bahn zeigte; und diese »Grandidiers« waren nicht nur äußerlich in Fontanes nächstem Umkreise, der Französischen Kolonie Berlins, beheimatet – sie zeugten auch von Julius Rodenbergs Einleben in Berliner Art, von der Abstreifung einstiger spätromantischer Schweiferei. Zudem war das auf einen humoristischen Ton gestellte, warmblütige Werk zugleich, nach Theodor Fontanes Wort, »von einem schönen Dankbarkeitszuge, einer freudigen Anerkennung dessen, was dies Preußen, seine Fürsten und sein Volk für Deutschtum und Freiheit, vor allem aber für die Freiheit der Gewissen getan haben,« erfüllt. Man entnimmt schon den Urteilsworten die gefühlsmäßige Verwandtschaft der »Grandidiers« zu »Vor dem Sturm«. Und diesem Buche gegenüber fand nun Rodenberg in seiner »Rundschau« das Fontane wahrhaft wohltuende Wort, wohltuend auch da, wo Rodenberg Ausstellungen 195 zu machen hatte. Nicht das Landschaftliche war diesem Kritiker das Kennzeichnende, erschien ihm als die verbindende und überhöhende Linie des Werkes; er fand vielmehr das Besondere der Dichtung in dem Balladischen und ging so weit, eine völlige Aneinanderreihung von Balladen festzustellen. Damit zeigte er deutlich und sicher auf den letzten Zusammenhang von Fontanes früher und Fontanes später Meisterschaft. In der Tat enthält »Vor dem Sturm« nicht nur unausgeführte Balladenstoffe, wie die beiden Erzählungen der Kränzchengäste aus ihren Feldzügen – es rundet manchen Vorgang zu balladischer Eindringlichkeit und taucht ihn in balladische, helldunkle Stimmung: so den Zug nach Frankfurt mit dem Ausblick auf das jäh erhellte andere, vom Feinde besetzte Oderufer, so die nächtliche Rettung Lewins aus dem Küstriner Gefängnis mit dem Schlußakt, Tubals Opferung für den braven Hund, so Lewins verstörtes Irren über die verschneite Landstraße nach Kathinkas Flucht und sein Wahnbild, das in einer harmlosen Reisenden die Fliehende zu erkennen vermeint. Aber balladisch nach ihrer Einstimmung und dem in der echten fontanischen Ballade geübten Gesetz der geheimnisvollen Vordeutung sind auch die Schloß Hohen-Vietz umschwirrenden Spukgerüchte und Prophezeiungen, und der in sein Berlin einreitende königliche Greis gesellt sich als prosaisch geformtes Seitenstück zu den Versbildern aus Friedrichs Umkreise.

»Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen.« Das Rückertsche Wort mochte dem Balladendichter gelten, als er im rüstigsten Mannesalter auf britisch-schottischem Boden seine Ballade vollendete. Der Sechzigjährige hatte nach langer Wanderung in mannigfach belebten Tälern eine zweite Höhe erklommen und fühlte alsbald: was scheinbarer Abschluß war, bedeutete in Wahrheit neuen Beginn. Indem er aber von dem zweiten Gipfel aus den ersten zurücksah, fand er sich wohl reifer, älter, zu 196 weiterer Überschau in neu eröffnete Ferne emporgediehen – letztlich war er doch nach dem Gesetze seiner innersten Natur, als es sich ihm erst in der Fremde ganz offenbart hatte, in dem Seinen geblieben. Und aus diesem eigentlichsten Ich hatte er der deutschen Epoche realistischer Kunst ein Meisterwerk von bisdann auf ihrem Höhenzuge nicht vernommenem Klange gegeben. Der deutsche historische Roman hatte mit »Vor dem Sturm« über Alexis hinaus einen neuen Stil, eine Bereicherung an graziösen Ausdrucksmitteln, eine einzigartige Verbindung von Größe und Genre gefunden, wie einst durch denselben Theodor Fontane über Strachwitz und Scherenberg hinaus die deutsche Ballade.

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Große geistige Bewegungen schaffen die Bereitschaftsstellungen, in denen die Nationen fähig sind, neue politische und soziale Schicksalsführungen zu verstehen und zu bestehen. Der klassische Humanismus von Königsberg und Weimar hatte, ohne jede bewußte politische Zielsetzung, die Feste der alten feudalen und absolutistischen Gewalten sturmreif gemacht und die großen bürgerlichen Reformen ermöglicht, die Joseph II. im Süden, der Freiherr vom Stein im Norden vollbrachten. Die Romantik bereitete den nationalen Durchbruch vor, der die Befreiung Deutschlands von fremder Herrschaft erzwang. Im Jahre von Waterloo erscheinen beide großen Strömungen in einem Bette, beide aber können politisch nicht auslaufen, weder völlige Freiheit des deutschen Bodens von fremder Herrschaft wird erreicht – darum die immer neue Entzündung der nationalen Leidenschaft an der schleswig-holsteinischen Frage – noch werden die Reichseinheit und die innere Freiheit gewonnen.

Der Realismus hatte die Sendung, beides vorzubereiten, nachdem der Anlauf sowohl eines späthumanistischen 197 Liberalismus wie eines stark westlich gerichteten Radikalismus im Jahre 1848 nicht zum vollen Durchstoß gediehen war. Er, der Realismus, erwies auf allen seinen geistigen Arbeitsgebieten die währenden Kräfte deutscher Art und die herangewachsene Leistungsfähigkeit des deutschen Bürgertums, sein »Soll« und »Haben«, und er tat all dies vor allem auf der Hochebene der Kunst dar. Im Gegensatz zu dem verrauschten jungdeutschen Radikalismus hatte der Realismus in seiner erzählerischen Ausformung nichts vom Westen, überhaupt tiefgehende Anregung nur von zwei unverkennbar germanischen Dichtern, Walter Scott und Charles Dickens, empfangen; er stand so in paralleler Haltung zu der gleichzeitigen deutschen Malerei der großen Reihe Waßmann, Kauffmann, Blechen (dessen Biographie Fontane anzulegen begann), Menzel, Raysky, Steffeck, denen mit Fontanes Epos gleichzeitig Leibl und Schuch verjüngte Folge leisten.

Die Romantik war in ihren innersten Antrieben ein Kind des einst in der gewaltigen germanischen Rückstau neu besiedelten deutschen Ostraums, und auf seinem Boden, vor allem in Berlin, schlug sie in entscheidender Stunde ihr Panier auf. Der Realismus, ohne Programm und sogar ohne repräsentative Zeitschrift, vom Tunnel abgesehen selbst ohne Gruppenbildung, wies demgegenüber eine fast lückenlose Reihe von Schöpfern aus den Altstämmen auf, von dem Friesen Storm und dem Dithmarscher Groth über Reuter, Brinckman und Raabe, der sein Sachsentum gern betonte, und den Thüringer Ludwig, zu dem Hessen Riehl, den Schwaben Kurz, Scheffel, Keller. Aus dem Kolonialland waren in der Höhezeit nur die Schlesier Alexis und Freytag aufgestiegen, sie waren zugleich neben den Schleswig-Holsteinern, Mecklenburgern, Braunschweigern, Meiningern, Nassauern, Württembergern, Badenern, Schweizern die einzigen Preußen. So zielt ihre Schaffensrichtung aus dem 198 deutsch-slawischen Gebiete her am stärksten auf ein bestimmtes Ideal der Einheit, auf das Reich unter preußischer Führung, zu dem sich Wilhelm Raabe erst im Berliner Anschauungsunterricht und im Nationalverein durchringen mußte. Wie Alexis unter allen Genossen der herbste, Freytag der nüchternste ist, so bereiten sie am deutlichsten die großpreußische Zukunft vor, für die der Realismus auf allen wissenschaftlichen und künstlerischen Gebieten die der Philosophie entfremdete Nation erzog.

Und hier, in der Ergänzung der beiden Preußen nach der vollzogenen Reichseinigung und der vollen Emanzipation des Bürgertums, liegt wie die literarhistorische so die zeitgeschichtliche Sendung des Fontane von »Vor dem Sturm«; er hatte davon auch, wie der Brief an Hertz über den »Abfall« zeigt, ein deutliches Bewußtsein. Er, der weder deutschen noch wendischen Blutes war, der Sohn von Cevennen und Gaskogne, erlebte mit der dankbaren Liebe des Eingeheimsten und der klaren Anmut seines hellen Blickes diese »deutsch-wendischen« Menschen und ihre Geschichte noch einmal. Die große, ganz in der realistischen Linie geleistete, Freytags Werk verwandte Arbeit an den »Wanderungen« und den Kriegsbüchern war die Vorbereitung für diese Erfüllung. Der archäologische wie der sensationell angefärbte Zeitroman, die Butzenscheibenlyrik, Hamerlings hingeschwülte Epen, die modischen »Sänge« kleinerer Leute – das alles stand wie Makarts Bilder und die entleerte Historienmalerei im geistesgeschichtlichen und im zeitgeschichtlichen Zeichen der beginnenden geistigen Verdumpfung, von der Bismarcks Biograph spricht, der zunehmenden Reichsentseelung, die Wilhelm Raabe und Paul de Lagarde empfanden. »Vor dem Sturm« – das galt geschichtlich der Vorbereitung zum Abwurf des napoleonischen Joches; aber dies letzte große Romanwerk des Realismus steht auch zeitgeschichtlich »Vor dem 199 Sturm«, es ist in Jahren vollendet worden, die politisch und national die Mängel der kleindeutschen Lösung neben ihren genialen Zügen deutlich werden ließen, in Jahren, die das unvollkommene soziale Gefüge des neuen Reiches zu entblößen anfingen, die eine Enthüllung konfessioneller und sozialer Spannungen nach der anderen und ihre ungeistig-brutale, kluftvertiefende Bekämpfung von oben her brachten. Wie jener Römer in den die vaterstädtische Erde sprengenden Spalt sprang, so wies Theodor Fontane in dem Werke später Müh und betonter Liebe an einer Grenzscheide des Zeitalters über die Risse im Volkskörper hinweg, ohne Spur einer absichtsvollen Einkeilung, noch einmal auf die Zeit ungetrennten deutschen, christlich bestimmten Volksgefühls hin – ein Dichter auf seiner endlich gewonnenen zweiten Höhe, zugleich ein Deuter auf seines Volkes Höhenweg. 200

 


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