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VIII.
Drama oder Roman?

(Gelegentlich Henrik Ibsens Nora.)

(1881.)

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Es ist eine immer wiederkehrende Klage, daß unsere modernen Dramen nur zwangs- und deshalb unpassenderweise in dialogische Form gebrachte Novellen und Romane sind. Diese Klage ist nur zu oft gerechtfertigt. Und zwar aus einem Grunde, welcher fast so triftig und zureichend ist wie der, warum ein Kamel oder meinetwegen ein Schiffstau nicht durch ein Nadelöhr geht. Ich sage: fast; denn ich will angesichts gewisser Beispiele, die denn doch stark dafür zu sprechen scheinen, die Möglichkeit der Entstehung von Vollblutsdramen auch heutigen Tages nicht in Abrede stellen. Aber ich glaube, außer bei unseren jugendlichen dramatischen Heißspornen, kaum auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich behaupte, daß dieser Entstehung ein Umstand widerstrebt, der die Chance des glücklichen Vollbringens verschwindend klein macht. Dieser Umstand ist die veränderte Beschaffenheit unseres geistigen Auges, welches dramatisch zu sehen so gut wie verlernt hat; dieselbe Beschaffenheit, aus welcher Wilhelm von Humboldt W. v. Humboldt. Aesthetische Versuche. IV. Aufl. Kap. XLIV. S. 94 ff. die notwendige Genesis der sentimentalen Dichtkunst bei den modernen Menschen deduziert im Gegensatz zur naiven der Alten.

Welches ist diese Beschaffenheit?

Die, daß wir, wie ich an einer anderen Stelle Die Grenzen des Romans. S. 53 ff. ausgeführt, nicht mehr mit dem natürlichen Auge, sondern immer gleichsam durch ein Mikroskop schauen und so ein unendlich Mannigfaltiges überall erblicken, wo jene nur ein höchst Einfaches zu sehen glaub 298ten, vielmehr in ihrer Weise wirklich sahen – ein Einfaches, welches in seiner Bruchlosigkeit und leichten Uebersichtlichkeit der künstlerischen Auffassung und Verwertung auf halbem Wege entgegen kam. Auf diesem einfachen Sehen oder diesem Sehen des Einfachen beruht aber eben die naive Kunst und beruht die dramatische Kunst, mit der allein wir es hier zu thun haben. Für den Dramatiker gilt, was für den römischen Prätor galt: Minima non curat. Wehe ihm, wenn ihm das Drum und Dran zu sehr am gewissenhaften Herzen liegt; es ihm nicht genügt, die starke Pfahlwurzel des Menschenbaums erkannt zu haben, sondern er dem Gewirr der Triebwurzeln bis in die kleinsten und feinsten Verzweigungen und Verästelungen nachspürt! – »Bohrt ihr mir einen Esel? – Ich bohre einen Esel!« und die Klingen heraus und Schlag um Schlag! Das ist dramatisches Leben, das ist dramatisches Blut, wie es die Dichteradern Shakespeares füllt und durch jede Zeile, die er geschrieben, pulsiert. Und von dem ein Tropfen in unser bedächtiges Blut zündend überspringt, sobald wir in seinen Zauberkreis treten, unser ganzes Wesen ergreifend und wandelnd, daß uns sein holder Wahnsinn als die einzig normale Methode erscheint, die menschlichen Dinge zu sehen und zu beurteilen. Wer in der Welt hat je danach gefragt, wie es denn nur gekommen sein mag, daß Lears Töchter so gar verschieden arten konnten? Hatten sie verschiedene Mütter? starb die Mutter bei Cordelias Geburt? Sollte Edmund sein böses Gemüt durch alle die Jahre engsten Zusammenlebens so durchaus zu verbergen gewußt haben, daß er nun zuletzt den Bruder, den Vater völlig ahnungslos treffen kann? Sollte Jagos wahnsinniger Haß gegen Othello nicht noch aus einem anderen Grunde entspringen, den der Dichter nicht gekannt oder anzuführen vergessen hat? Und so in infinitum.

Aber es ist auch nur der eine Shakespeare, vor dessen Majestät dergleichen wohl aufzuwerfende Fragen ehrfurchtsvoll ver 299stummen, mit denen wir freilich einen modernen Dramatiker gar nicht zu behelligen brauchen. Denn der gewissenhafte Mann ist bereits mit einem ungeheuren Fragekasten, den er selbst bis an den Rand gefüllt, an sein Werk gegangen; und sein Werk wird wesentlich darin bestanden haben, den ominösen Inhalt desselben Punkt für Punkt zu erledigen. Und wird nicht geruht haben, bis er über das Wo? und Wie? ein sonnenklares Licht gebreitet und das letzte kleinste Warum? aus seinem verborgensten Schlupfwinkel glücklich aufgestöbert hat. Und wird so lange und so eifrig und mit so feinen Werkzeugen an seinem dramatischen Bogen geschnitzelt haben, bis das Ding ihm schon unter den Händen oder doch ganz gewiß zerbricht, sobald man die bekannte fürchterliche Probe mit ihm anstellt.

Vielleicht um so sicherer zerbricht, je härter das Material war, je mehr es von der Art des Stoffes hatte, aus dem der Bogen einzig und allein geschnitzt werden kann.

Oder, um ohne Bild zu sprechen: der Widerspruch zwischen Zweck und Mittel, zwischen Intention und Ausführung wird um so greller hervortreten, um so peinlicher berühren, je tiefer in dem Süjet die Unversöhnlichkeit der Gegensätze klafft, welche sich im menschlichen Leben unablässig einander bekämpfen; und je dringender es deshalb einer bruchlos naiven Dichterseele bedurft hatte, um diesen Kampf auf seinen einfachsten tragischen Ausdruck zu bringen, die letzten Konsequenzen zu ziehen, das mitleidslose Facit rein heraus zu stellen.

Alle Welt ist einig in dem überaus peinlichen Eindruck, den »Nora« auf jedes Gefühl macht, das nicht einmal zart, sondern nur gesund zu sein braucht; und dieser durchaus berechtigte Eindruck ist eben die notwendige Folge und der subjektive Ausdruck jenes verhängnisvollen, in der Sache selbst liegenden Widerspruchs.

Was hat der Dichter mit der »Nora« eigentlich beabsichtigt?

Dasselbe, was er noch mit jedem seiner Werke beabsichtigte.

300 »Weshalb« – fragt G. Brandes in einer von Strodtmann angezogenen Stelle Ich bitte diejenigen, welche sich über Ibsens Entwickelungsgang genauer unterrichten wollen, das weitere in A. Strodtmanns trefflichem Buche: »Das geistige Leben in Dänemark« S. 204 bis 268 nachzulesen. – »weshalb greift Ibsen zu der wilden Tragik und dem großartigen Grausen der Völsungasage zurück, das er nur unfreiwillig und durch einen Mißgriff verringert, indem er die Heroen der Sage zu Menschen aus der späten Vorzeit herabsetzt? Um dies Bild der Gegenwart vorzuhalten, um ihr zu imponieren; um dies schwache, in Halbheit versunkene Geschlecht zu beschämen, indem er ihm die ganze Größe seiner Vorfahren weist, – die Leidenschaft, welche ohne Rücksicht nach rechts und links fessellos ihrem Ziele entgegen stürmt, den Stolz und die Stärke, die karg an Worten ist, die schweigt und handelt, schweigt und duldet, schweigt und stirbt; diese Willen von Eisen, diese Herzen von Gold, – Thaten, welche nach tausend Jahren noch nicht vergessen sind. Da, seht euch im Spiegel!«

Der Spiegel hängt vielleicht etwas niedriger, aber doch noch immer zwischen Himmel und Erde in dem dramatischen Gedichte »Brand« Uebersetzt von P. F. Siebold (Kassel 1880) und sonst mehrfach., das Strodtmann »eine Schöpfung« nennt, »die sich an Gedankentiefe einzig mit Goethes Faust vergleichen läßt, der es aber leider mehrfach an Klarheit und Verständlichkeit der Motive fehlt.« Ich gestehe, daß mir der Vergleich mit Faust etwas sehr gewagt erscheint; um so stichhaltiger ist der daran geknüpfte Vorwurf. Aber auch freilich nur, wenn man ihn auf die Einzelheiten bezieht; im großen und ganzen sind die Motive des Helden vollkommen klar und verständlich. Oder vielmehr das Motiv, denn er hat nur eins, aus dem sein Denken und sein Handeln mit Notwendigkeit resultiert: den energischen, durch keinen Widerspruch der stumpfen Welt, durch kein Mißgeschick, durch kein grausigstes Unglück, das ihn trifft, zu beugenden 301 Willen, sich zu Gott durchzuringen, von dem geschrieben steht: »Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen«; und abermals: »Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.« So, in strengster, heiligster Uebung des Gebotes, sorgt denn auch der Held nicht für sein Leben und nicht für seinen Leib; er sorgt nur für die Herde, die ihm anvertraute, die stumpfe Herde, die ihn Mutter und Weib und Kind und alles opfern läßt, um ihn hinaus zu stoßen in die heulende Wildnis, wo die Schneelawine sich über ihn wälzt, aus der er, bevor sie ihn vollends begräbt, noch seinen Klageschrei zum Himmel ruft:

Gieb mir Antwort, Gott, im Sterben:
Kann uns Rettung nicht erwerben
Manneswille quantum satis –?

worauf »die Stimme von oben« antwortet:

Er ist Deus caritatis.

Man sieht, die Lösung des Rätsels ist wie bei Faust in den Himmel verlegt, weil dort, wie hier, die Erde keine zu bieten scheint. Denn wenn der Mensch irrt, solange er strebt, und strebt, solange er lebt, so irrt er eben, solange er lebt. Aus diesem verhängnisvollen Zirkel ist kein Ausweg, und die bösen Pessimisten behaupten, daß eben darum das Leben selbst der Grundirrtum sei, aus dem uns nicht einmal der gemeine landläufige Tod, sondern nur jenes mystische Nirwana-Sterben erlösen könne.

Ibsen ist nun ein solcher Pessimist bis in den tiefsten Grund seiner leidenschaftlichen Seele hinein. Die Menschheit en bloc ist ihm die störrische, stumpfsinnige Masse, die noch nie auf ihre Propheten gehört, noch immer die Wenigen, die ihr Gefühl und Schauen offenbarten, in die Wildnis gestoßen oder gekreuzigt und verbrannt hat. Und die gute Gesellschaft! Daß sich Gott erbarm'! wie elend muß es um sie stehen, wenn sich dies ihre 302 »Stützen« Die Stützen der Gesellschaft, Schauspiel in vier Aufzügen. Deutsch von Wilhelm Lange. Der Reclamschen Universalbibliothek Nr. 958. nennen dürfen? ja, wenn sie es, in einem gewissen Sinne, wirklich sind: diese klatschsüchtigen Wohlthätigkeitsvereins-Strümpfe strickenden Kaffeeschwestern, dieser salbadernde Hülfsprediger, diese bibelfesten Jobber und Fixer, dieser »Herr Konsul«, der sämtliche gemeinnützige Anstalten seiner Stadt gestiftet und alle und alles – seine ganze bedeutende, beneidenswerte, vielbeneidete Existenz – auf eine Lüge basiert hat, – eine grundgemeine Lüge, in die er sich selbstverständlich immer tiefer und tiefer verstricken muß, bis ihn – nicht von der Intention – nur von der Ausführung des niederträchtigsten feigsten Verbrechens der wunderbarste Zufall errettet; der Erschütterte in sich geht; vor der ganzen »Gesellschaft«, die ihn zu feiern gekommen ist, ein stark verklausuliertes, jedenfalls sehr unvollständiges, sehr verhülltes Pater peccavi sagt und eine Besserung verspricht, an welche glauben will, wer mag.

Freilich, wie kann die Gesellschaft anders sein, wie kann sie fester stehen, wenn das Fundament, auf welchem sie sich aufbaut: die Familie, und des Fundamentes Grundstein: die Ehe, durch und durch zermürbt und verrottet sind? Oder fangen neun Zehntel dieser Ehen nicht an mit der Frage nach dem, wonach nur die Heiden trachten? Und entspricht dem unheiligen Anfang nicht die Fortsetzung bis ins Grab hinaus in der Trauer, die der betreffende Hinterbliebene zur öffentlichen Schau trägt, ohne sie innerlich zu empfinden, oder, wenn er sie momentan empfindet, zu vergessen, bevor die Schuh' verbraucht? Und so gegen den Toten weiter lügt und trügt, wie er gegen den Lebenden gelogen und getrogen? Warum auch nicht? der andere würde es genau ebenso machen; alle Welt macht es ebenso und befindet sich wohl dabei, um so wohler, mit je größerer Virtuosität und Feinheit sie die Komödie spielt. Keine Komödie der Irrungen! man 303 kennt ja hinüber und herüber die Plätzchen und Grimassen ganz genau und holt sich seine Tugendschminke und die falschen Großmutsedelsteine aus demselben Laden! Im Gegenteil: ein Irrtum wäre nur möglich, wenn einer auf den dummen Gedanken käme, von Zeit zu Zeit die Wahrheit sagen zu wollen, oder gar auf den erz- und urdummen, eine ehrliche Seele zu sein, eine liebevolle – das geht ja denn so Hand in Hand –, die sich der Wahrheit freut und der Ungerechtigkeit schon deshalb nicht, weil sie kaum eine Ahnung davon hat, was das wohl sein mag. Da kann denn freilich Irrtum, Verwirrung, ja, wenn's das Unglück will, das größte Unglück nicht ausbleiben.

Setzen wir, als den wahrscheinlicheren, den Fall, daß die Frau jene dumme, ehrliche, wahrhaftige, gerechte Seele ist – was wird geschehen? Vor allem wird sie, als Frau, die robuste Kraft nicht haben, mit der wohl einmal ein ehrlicher Kerl sich seinen Weg über den Markt des Lebens bahnt; nicht die physische und nicht die geistige, um so weniger, als absolut nichts geschehen ist, ihren Geist zu entwickeln, zu formen, zu stählen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Mutter dies schwierige Geschäft hätte unternehmen können; sie wäre denn eine Auserwählte von Tausenden gewesen. Jedenfalls ist sie dem armen Kinde früh gestorben und hat es in der Obhut einer Wärterin zurück gelassen, die sich damit begnügen mußte, es groß zu ziehen, wie das ein armes, ungebildetes, beschränktes Mädchen vom Lande eben versteht und kann. Und der Vater? O, das war ein sehr geistreicher, in der Gesellschaft unendlich beliebter Mann, der natürlich für die Gesellschaft leben und viel, sehr viel Geld verdienen mußte. Dann die Geschäfte, die langweiligen, verdrießlichen Geschäfte eines Beamten, um so verdrießlicher, als man sich seinen Vorgesetzten gegenüber durchaus nicht ganz unangreifbar weiß! Und der vielgeplagte Mann sollte die Zeit gehabt haben, sich um sein kleines Töchterchen zu bekümmern? in ihr junges, liebebe 304dürftiges Herz Eingang zu suchen? von ihrem Herzen aus auf ihren bildsamen Verstand, ihren lebhaften Geist einzuwirken? sie die Welt sehen zu lassen durch seine klugen, ach! allzu klugen Augen? Geht doch! Die kleinen Hände sind nur da, ihm die Falten weg zu streichen von der sorgenvollen Stirn! Die böse Kassenrevision! Aber ihr Lachen ist so silberhell; laß sie lachen! mache sie lachen! lache mit ihr! Für den nötigen Ernst wird schon das Leben sorgen, obgleich sie an der Seite des jungen, exemplarischen Mannes –

Jawohl, des exemplarischen Mannes!

Oder verdiente er das schmückende Beiwort nicht, dieses Muster von einem pflichttreuen, integren Beamten, der sich den Finger abhacken würde, an dem ein Geldstück der ihm anvertrauten Gelder hangen bliebe, und wenn's nur Gott im Himmel sähe? dieser Gentleman born and bred, der seine Ideen so strenge in Ordnung hält wie seine Krawatten, und seine Ehre so blank wie seine Stiefel, und der innerlich so reinlich ist wie äußerlich, daß er in der Nähe von Personen, an denen ein moralischer Makel haftet, geradezu ein körperliches Unbehagen empfindet? Und welch ein Ehemann! thut er seiner kleinen Frau nicht alles zu Liebe, was er ihr an den Augen absehen kann? gewährt er ihr nicht jeden Wunsch, selbstverständlich, so weit seine etwas beschränkten Mittel reichen? geht seine uneigennützige Liebe zu ihr nicht so weit, daß er mit ihrer Anmut, ihrer Schönheit förmlich vor den Leuten prunkt, richtige Parade mit ihr macht und den Beifall der Leute entgegen nimmt, als habe er ihn selbst verdient? Freilich in der verschwiegenen Stille ihres traulichen Heims belohnt er sie dafür auch durch eine Zärtlichkeit, die so echt ist, daß er nach sieben vollen Jahren sie mit dem stolzen Geständnis beglücken kann: er liebe sie noch immer wie seine Braut. Und dabei – welch ein Mann! – macht ihn seine echte Zärtlichkeit gar nicht blind gegen die kleinen Schwächen seines Sing 305vögelchens, seines Eichkätzchens; er ist sogar imstande, sie ganz ernsthaft zu schelten. Und selbst wenn sie große Schwächen in die Ehe mitgebracht, so wären sie längst evaporiert wie Nebel im Sonnenlicht an der Seite des Musters eines Beamten, Gentleman und Gatten, ohne daß er auch nur den Mund auf zu thun, jemals über die tieferen Fragen des Menschenlebens mit ihr zu sprechen gebraucht hätte. Offen gestanden: er hatte dazu niemals Zeit, und endlich: er ist doch kein Nachmittagsprediger oder verstaubter Philosophieprofesser, sondern das Muster eines Beamten, Gentleman und Gatten.

Und sie?

Sie läßt es eben geschehen. Sie hat es nie besser gekannt, und es ist ja auch, wie es ist, gut. Alle Welt liebt sie, und sie liebt alle Welt, und sucht die Welt – die kleine Welt, in der sie sich bewegt – so glücklich zu machen, wie sie kann. Und »sucht« ist eigentlich ein falscher Ausdruck; sie ist sich dabei, Gott weiß es, keiner Absicht bewußt. Wie die Sonne Licht spendet, weil sie licht ist, so spendet sie Liebe, weil sie liebevoll ist; und sieht sich die Menschen, denen sie Gutes und Liebes erweist, so wenig darauf an, ob sie's etwa verdienen, wie die Sonne, die gleicherweise über Gerechte und Ungerechte scheint. Die Menschen nur? ach, wenn sie könnte, sie würde den Tauben, denen die Köchin eben den Garaus gemacht, die Köpfe wieder aufsetzen und sie, händeklatschend, zum offenen Fenster hinauf schicken in die sonnige Morgenluft; und die Hühner, die morgen geschlachtet werden sollen, heute wenigstens noch mit Makronen füttern. Freilich, wenn ihr aus einem Menschenantlitz die Freude, die sie bereitet, zurück strahlt, so ist es doppelt Freude. Da giebt sie denn dem Träger, der fünfzig Pfennige fordert, lieber eine Mark; verzieht ihre Dienstboten; spielt und jubelt mit ihren Kindern, und ist ihres Gatten Eichkätzchen und Singvögelchen, weil es scheint, daß es ihn glücklich macht, wenn er an ihr ein Eichkätzchen und 306 ein Singvögelchen hat. Die Freundinnen und Freunde, die ins Haus kommen, haben es darum nicht schlechter. Besonders der gute Doktor, der so krank und oft so melancholisch ist, und dem man offenbar noch einige Extrarosen auf seinen dunklen Lebensweg streuen muß. Liebt sie den Doktor, was man in der Welt so nennt? Vielleicht, vielleicht auch nicht; sie hat nie darüber nachgedacht. Am Ende liebt sie auch nicht ihren Mann? O doch, gewiß! aber vielleicht nicht mehr als den anderen, oder nur deshalb mehr, weil er »der Nächste dazu« ist. Aber ist denn diese Frau eine Idiotin? oder allerhöchstens eine spielfrohe, seelenlose Undine? Nun, den Verstand der Verständigen hat sie sicher nicht, und was die Seele betrifft: wenn sie keine hat, – durch die Liebe kann ihr keine werden, denn ihr ganz eigentliches Element, in dem sie lebt und webt, ist die Liebe. Aber sie hat eine Seele, eine hochgespannte, anspruchsvolle Seele, und ein furchtbarer Tag wird kommen, wo sie sich zu ihrem Entsetzen dieser Seele bewußt wird.

Gottes Mühlen mahlen langsam. Hier werden sie sieben Jahre brauchen, sieben Jahre, in denen das gute Kind das Geheimnis der großen That ihrer Liebe – der einzigen Liebesthat, auf die sie stolz ist – gehütet hat wie ihren Augapfel. Tausendmal hat es ihr auf den lächelnden und doch leise zuckenden Lippen gelegen; zehntausendmal hat's in ihrem liebevollen und doch ängstlichen Auge gestanden – eine kleine Frage, ein verständnisinniger Blick nur – und das Geheimnis wäre heraus gewesen! Aber er hatte gerade immer in seinen Akten zu lesen, oder er mußte mit dem Eichkätzchen tändeln und hat's nie gesehen, nie geahnt. Darüber war sie alles in allem sehr froh. Ein bißchen gescholten hätte er vielleicht doch – wie eine Mutter ihr Kind schilt, das, um die Erwartete ein wenig früher zu sehen, mit dem Kopf durch die Fensterscheibe fährt. Und dann, wo blieb der große Trumpf, den sie für das Spiel ihrer Liebe und 307 ihres Lebens – zwei Dinge, die für sie identisch sind – in der Hand behalten wollte, wenn Eichkätzchen und Singvögelchen, die kleinen Atouts, von dem bösen Gegner Zeit mitleidslos weggestochen waren!

Es kommt der Tag, und es kommt die Stunde. O, des furchtbaren Tages! o, der furchtbaren Stunde! Sie that's »aus Liebe für ihn«, und er weiß es, muß es wissen; in dem Briefe, den der Verräter an ihn geschrieben, »steht alles drin« und »so schonend wie möglich«! Und stände es schonungslos da mit den mitleidslosen nackten Daten und Zahlen und Fakten – sie müßten ihm ja sagen, warum sie's that! Ja, er weiß alles, alles – und nun! Wenn er in seinem Herzen nur einen Funken jener Liebe hätte, die langmütig und freundlich ist und sich nicht ungebärdig stellt und nicht das Ihre sucht; wenn er nicht bis ins innerste Mark ein Betrüger wäre, der sich immer nur selbst am meisten, ja einzig und allein geliebt; seine Liebe zu ihr je etwas anderes gewesen wäre als eitel Lüge und schnöde Sinnlichkeit; wenn in sein eitles Herz je der Schimmer gefallen wäre der göttlichen welterlösenden Wahrheit, er je etwas angebetet hätte, als die nackteste Selbstgerechtigkeit – er müßte ihr bebend, schluchzend in die Arme sinken: Nora, Nora! armes, großherziges, geliebtes Kind!

Und er!

»Unglückselige – was hast du gethan? – eine Heuchlerin, eine Lügnerin – ja, noch Schlimmeres, Schlimmeres, – eine Verbrecherin! O, diese bodenlose Häßlichkeit, die darin liegt! Pfui, pfui!«

Ja, bei dem großen Gott der Liebe: diese bodenlose Häßlichkeit!

Der Wolf, der das Lamm zerreißt, er ist eben eine Bestie; der Henker, der das Opfer blutig geißelt, er ist ein gemeiner Kerl und hat sich nie für etwas anderes gegeben, und schließlich 308 gehorcht auch er noch irgend einem zwingenden Gesetz. Dieser – Gentleman zerreißt, zerfleischt das Weib, das an seinem Herzen gelegen, die Mutter seiner Kinder, die Frau, die es that, »weil sie ihn über alles in der Welt geliebt«; schlägt sie mit jedem seiner brutalen Worte wieder und wieder in das arme, zuckende Herz –

Armes Weib! den Liebsten durch, den Tod verlieren, von ihm verraten werden, – es ist ja bitter und schwer; aber das Bitterste, das Schwerste war dir vorbehalten: zu erkennen, daß du nie geliebt wurdest, – nicht einen Augenblick! daß der Mann deiner Liebe nie gewußt hat, was Liebe ist; daß deine eigene Liebe ein leerer Wahn; daß deine Kinder schlimmer sind als Bastarde: geboren sind in einer Ehe, die keine war. Und so ist dir deine Liebe geschändet, das Leben vergällt, die Welt zertrümmert. Durch seine Schuld? durch deine? Es ist eine schwere, schwere Abrechnung, und du warst immer eine schlechte Rechnerin. Auch kann jemandem, dem das Herz im Leibe zerrissen ist, der Kopf nicht eben klar sein. Vielleicht bringst du ihn in der Stille und Abgeschiedenheit wieder in Ordnung; vielleicht heilt auch dein zerrissenes Herz, aber freilich: ohne weniger als ein Wunder wird es wohl nimmer geschehen.

Und Nora geht.

»Natürlich! denn in dieser Nora ist kein Funke von Liebe mehr. Sie meint vielleicht, daß es großartig ist, was sie thut; es ist einfach unverzeihlich und abschreckend.«

Ich führe diesen Satz einer geistvollen Kritik in der »Gegenwart« nicht an, um ihn zu widerlegen. Entweder habe ich das mit dem, was ich oben gesagt, schon gethan oder bin es überhaupt nicht imstande. Ich wollte nur den Leser, den ich jetzt hoffentlich auf meiner Seite habe, in Erstaunen setzen durch die Tiefe und Weite der Kluft, die ihn und mich von unseren Gegnern trennt.

309 Ich verstehe darunter nicht solche Gegner, die mit uns schon im Princip differieren; die nicht mit uns dafür halten, daß es Beleidigungen giebt, die nie vergeben werden können, und vor denen keine Liebe standhält; daß eine Ehe, aus der die Liebe unwiederbringlich gewichen, keine Ehe mehr, sondern ein schimpfliches Konkubinat; und wie sie innerlich zerstört ist, auch äußerlich geschieden werden muß; und daß selbst die Existenz von Kindern kein absoluter Hinderungsgrund der Scheidung, denn sonst könnten überhaupt nur kinderlose Ehen geschieden werden.

Mit solchen Gegnern ist natürlich keine Verständigung möglich.

Aber vielleicht doch mit den konzilianten Geistern, welche der Ansicht sind, daß hier die Sachen so schlimm nicht liegen; daß es sich nur um ein immerhin schweres Mißverständnis zwischen den Gatten handele, welches aufgeklärt und beseitigt werden könne und müsse, ja bereits aufgeklärt und beseitigt sei; und mit demselben der Grund der Trennung einer Ehe, die sogar jetzt und jetzt erst recht die beste Anwartschaft dauernden, ungetrübten Glückes habe.

Und die zur Begründung ihrer Ansicht den überaus peinlichen Eindruck anführen, welchen – nach unserem eigenen Geständnis – das Schauspiel auf jedes gesunde Gefühl mache und doch unmöglich machen könnte, wenn es in demselben mit rechten Dingen zuginge, nicht aus den Prämissen falsche Konsequenzen gezogen würden. Denn anderenfalls würde uns die Vorführung eines ja immerhin traurigen Geschickes mit der entsprechenden Trauer, dem entsprechenden Mitleid erfüllen, uns vielleicht bis in der Seele Grund erschüttern, nimmermehr aber peinlich berühren – eine Wirkung, die ein Werk echter Kunst niemals hervorbringe.

Was ist darauf zu erwidern?

Daß in der That »Nora« kein echtes Kunstwerk, kein in sich 310 abgeschlossenes, sich selbst erklärendes, an und für sich verständliches Drama ist, sondern einige in dialogische Form gebrachte Kapitel eines Romans, dessen Anfang weit vor dem Beginn des Dramas liegt, ebenso wie sein vermutliches Ende weit hinter den Schluß des Dramas fällt, – ein paar Kapitel, in welche sowohl aus dem Anfang als aus der Entwickelung des Romans alles Mögliche unwillkürlich hinein geraten, von dem Dichter absichtlich hinein gebracht ist, was uns – wie er hoffte – das Verständnis der schwierigen Situation, der rätselhaften Charaktere erleichtern sollte, in Wirklichkeit aber diese Situation verschleiert, diese Charaktere bis zur Unverständlichkeit entfremdet.

Und hier sehe ich eben das schlimme Verhängnis, welches über der modernen dramatischen Produktion waltet. Der Poet hat eine gesunde dramatische Idee, in diesem Falle – ich spreche von dem, was Ibsen gewollt hat, meinetwegen gewollt zu haben scheint – den Konflikt, der über kurz oder lang in der Ehe eines Bildungs-Pharisäers und einer Frau, die ganz Liebe ist, ausgetragen werden muß. Anstatt nun die Gelegenheitsursache frisch vom nächsten Zaun zu brechen, holt er sie ein paar Meilen weit aus einem dicken Wald und mutet uns zu, daß wir uns in demselben auf die paar Andeutungen hin, die er uns macht, ebensogut zurechtfinden wie er, der ihn nach allen Seiten die Kreuz und die Quer durchstrichen hat. Anstatt den Pharisäer von vornherein zu kennzeichnen, daß wir wissen oder doch wenigstens ahnen, welches Gelichters er ist und was wir uns von ihm zu versehen haben, hüllt er ihn in eine Maske, die so täuschend dem Ansehen eines exemplarischen Beamten, Gentleman und Gatten gleicht, daß, wie er – der Dichter – sie nun abreißt, wir umgekehrt das wahre Gesicht für eine Maske oder doch ganz momentane Verzerrung halten. Und vice versa müssen wir mit der liebenden Seele solange Makronen naschen und Eichkätzchen und Singvögelchen spielen, bis auch der Vertrauensvollste an der Echt 311heit des Cordeliascheins, der ihm plötzlich präsentiert wird, gerechten Zweifel hegt. So dichteten die Molière und Shakespeare nicht; so dichten nur unsere modernen Poeten, die, wenn sie ein Drama schreiben wollen, das sich in drei Stunden abspielt und auch in der Wirklichkeit nur drei Tage währt, vorher einen Roman zusammenspintisieren, der sieben und vermutlich noch mehr Jahre umfaßt und drei Bände stark ist, und in welchem denn freilich alles bestens exponiert, motiviert und ausgeführt sein würde oder doch sein könnte, was in dem Drama durcheinander wirrt und brodelt und quirlt wie – in einem Hexenkessel wäre zu hart, aber vielleicht: wie in der Retorte eines Alchymisten, der auf lauteres Gold operiert und es schließlich doch nur bis zu Kupfer bringt.

Da ist zum Beispiel der Doktor Rank. Ich hörte allgemein über diese abstoßende, ja widerwärtige Persönlichkeit, die sich noch dazu über ihre Notwendigkeit im Drama gar nicht legitimieren könne, bittere Klage führen. Ich räume ein, der arme Doktor spielt im Drama eine traurige Rolle, halb Brackenburg, halb Mephisto; halb Tugendspiegel, halb Bruder Lüderlich. Aber ich, der ich ihn aus dem Roman um so genauer kenne, als er ein Halbbruder von meinem Doktor im »Skelett im Hause« ist, kann versichern, daß er dort – im Roman – keineswegs als fünftes, häßlich knarrendes Rad nebenher läuft, im Gegenteil sehr kräftig in den komplizierten Mechanismus der Geschichte eingreift, die eigentlich erst durch ihn verständlich wird. Jetzt begreift man nicht, wie es möglich, daß Nora sich sieben Jahre lang über die geistige Oberflächlichkeit und Herzensleere ihres Gatten täuschen konnte. Man begreift es vollständig, wenn man in dem Roman sieht, wie der geistvolle, hochgebildete, bei all seiner scheinbaren Schroffheit, seiner satirischen Laune, seinem oft schneidenden Sarkasmus tief gemütvolle Doktor vom ersten Augenblick an zwischen ihr und dem Bildungs-Pharisäer von Gatten gestanden: er, der 312 Freund, der »täglich ins Haus kommt«; der Arzt, mit dem sie so manche bange Stunde am Bett eines und des anderen der erkrankten Kinder gesessen; der sie in guten Stunden (sie ahnt nicht, wie viele erst durch ihn gut wurden!) »so gern plaudern hört«, mit dem sie so gern plaudert; mit dem sie über so vieles sprechen kann, was sie vor der läppischen Eifersucht ihres Gatten verschweigen muß: über »ihre Lieben daheim«, über alles, alles, weil er für alles das herzlichste Verständnis hat, an allem, was sie betrifft, was sie trifft, den innigsten, gütigsten Anteil nimmt. So kann es, so muß geschehen, daß ihr die beiden so grundverschiedenen Gestalten wie in eine zusammen fließen, in der sie nicht mehr zu unterscheiden vermag, was auf den einen und was auf den anderen kommt, und dabei natürlich alle Ehrenqualitäten auf den schlechteren Mann häuft und ihn zu lieben und sich von ihm über alles geliebt glaubt, während sie mit dem anderen »nur gern zusammen sein möchte« und doch er es ist, der sie wahrhaft liebt und bei dem es keine Phrase, daß »er freudig für sie sein Leben hingeben würde«.

Das ist der Doktor Rank des Romans.

Aber auch die im Drama so unsympathischen und schwer verständlichen Gestalten der Frau Linden und Günthers zeigt uns der Roman in einem freundlicheren und vor allem klareren Lichte. Da – im ersten Teil, der von der Jugendgeschichte der Heldin handelt – bildet die ernste, schwermütige Freundin den wirksamsten Gegensatz zu dem heiteren Weltkinde. Ebenso kontrastiert der von Haus aus unglücklich veranlagte, durch unverschuldetes Mißgeschick früh verbitterte Günther trefflich mit Helmer, der vom Glück förmlich getragen, von den Frauen verhätschelt wird und den Haß des Jugendfreundes, dem er überall den Rang abläuft, überall im Wege steht, durch den Hochmut, mit welchem er auf ihn herab sieht und ihn mißhandelt, redlich verdient. Nicht minder erscheint uns, die wir ihr früheres Ver 313hältnis ganz genau kennen, die spätere, im Drama ganz unbegreiflich schnelle Verständigung Günthers und seiner Jugendgeliebten vollkommen begreiflich, ja notwendig.

Und die Kinder gar! Wie verletzen unser Ohr und unsere Empfindung ihrer unnatürlichen gequälten Stimmen von der Bühne herab, und wie herzerquickend klingt ihr harmloses Geplauder, ihr silbernes Lachen durch den Roman! Und nun werden die armen Geschöpfchen – in dem falschen Schluß – noch aus den warmen Bettchen gerissen, um die Mutter, die fliehen will, zu halten; oder bleiben – in dem richtigen – hülflos, verlassen im Kämmerlein zurück, weil das Drama doch einmal ein Ende nehmen muß und, wie die Sachen da liegen, auch gar kein anderes nehmen kann, während im Roman schon der nächste Tag alles besser macht und zwischen den für immer getrennten Gatten wenigstens über die Kinder eine Verständigung herbeiführt und sie ein Arrangement treffen läßt, wie es denn unter so traurigen Umständen getroffen zu werden pflegt.

Gut! aber was geht uns – ganz abgesehen davon, daß er nie geschrieben ist – der »Roman« Nora an?

Ganz und gar nichts!

Ich habe mit alledem nichts weiter gewollt, als erklären oder versuchen zu erklären, wie es möglich war und ist, daß die Urteile über das »Drama« Nora, das gar kein Drama, sondern ein paar dialogisierte Kapitel des dritten Bandes eines Romans, so weit auseinander gingen und immer auseinander gehen werden.

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