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IV.
Ein »humoristischer« Roman.

(Theodor Wischers »Auch Einer«.)

(1879.)

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Mir war gesagt worden, es sei ein »humoristischer« Roman.

Ich gestehe, ich habe eine tiefe Abneigung gegen Werke, die sich so ankündigen oder, in diesem Falle, so angekündigt werden.

Denn auf dem Titel stand nichts davon. Aber selbst der Titel, wie er dastand, mißfiel mir: »Auch Einer«. Was sollte das heißen? Ich verlange gewiß nicht das Unmögliche, daß der Titel alles sage – wozu wäre dann noch das Buch? – aber etwas muß er doch sagen, gleichsam in die Richtung des Weges deuten, welchen der Verfasser den Leser zu führen gedenkt. Und dieser Titel schien weniger ein Wegweiser als ein Irrlicht, vortrefflich geeignet, den Rater und Sucher an der Nase zu führen. Wer opfert die seinige gern zu einem solchen Experimente? Ich fühlte zu meinem Schrecken, daß ich bereits ein Opfer war; ich zermarterte mein Gehirn tagelang, die Species zu entdecken, zu welcher »Auch Einer« gehöre oder sich rechne. Der Möglichkeiten waren gar zu viele. Es konnte »Auch Einer« sein, »dems zu Herzen ging, daß ihm der Zopf nach hinten hing«; oder Einer, dem »es genügte, ein Mensch zu sein«; oder – ja, was konnte es eben nicht sein? Der Zusatztitel: »Eine Reisebekanntschaft«, machte die Sache nicht besser, eher schlimmer; denn derselbe fand sich an der Stelle, wo sonst die Flagge aufgezogen zu sein pflegt, unter der das Fahrzeug segelt, und welche die Ware deckt, mit der das Fahrzeug befrachtet ist. Dies schmeckte stark nach Piraterie. Wenns »ein Roman« sein sollte, weshalb es nicht ehrlich sagen? wollte sich der Verfasser dem zuständigen Gerichtshof entziehen? Eine solche Umgehung des Gesetzes durfte man dem 104 großen Gesetzgeber in Sachen der Aesthetik am wenigsten zumuten. Oder wäre ihm gar das Sonderbare passiert, daß er sich mit dem Haupttitel »Auch Einer« (der dann eine freie Uebersetzung von Anch' io gewesen wäre) kühn zu der Gilde bekannt und dies Bekenntnis in dem farblosen Zusatztitel verschämt zurückgenommen hätte? Unmöglich! der Mann, der Zeit seines Lebens zur Fahne gestanden, der noch unlängst den Löwenmut gehabt hatte, der Mode-Narrenwelt den Handschuh hinzuwerfen – er würde immer nicht nur der Thäter seiner Thaten sein, sondern sich ganz gewiß auch frank und frei zu seinen Thaten bekennen.

Er hat das nun, wie von vornherein anzunehmen, auch in diesem Falle gethan, wenn auch freilich nicht auf dem Titel, sondern innerhalb des Werkes selbst, nach dem Beispiele so vieler, ja, der meisten Romandichter.

Fast in jedem, vorzüglich jedem langatmigen Roman finden wir nämlich eine kurze Hindeutung und oft eine ausführliche Analyse der Absicht, welche der Autor verfolgte, sei es, daß er die betreffende Aeußerung (unschicklicherweise) in eigener Person thut, oder sie (schicklicherweise) einer seiner Personen in den Mund legt; und manchmal bezieht sich diese wohlerwogene Mitteilung nicht bloß auf den Inhalt, sondern auch auf die Form des Werkes. So ist mir nach beiden Seiten immer im Don Quijote eine Stelle sehr merkwürdig gewesen. Dieselbe ist zu lang, als daß ich sie ganz ausschreiben könnte; ich bitte deshalb den Leser, sie in dem Buche selbst nachzulesen Tiecksche Uebersetzung in der Ausgabe von A. Hoffmann. Berlin 1880. I, S. 442 ff.. Um nur die Quintessenz zu geben: dem Dichter schwebt die Möglichkeit vor und er hält es für eine schöne Aufgabe, »ein Ritterbuch zu schreiben, in welchem die Erzählung mit allen ihren Gliedern einen Körper bildet, so daß die Mitte zum Anfang und das Ende zum Anfang und der Mitte stimmt«, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Ritterbüchern, die 105 »aus so vielen Gliedern zusammengesetzt sind, daß sie mehr die Absicht zu haben scheinen, eine Chimäre oder ein Ungeheuer hervorzubringen, als eine verhältnisvolle Gestalt zu bilden; außerdem im Stile hart sind, in den Thaten unmöglich, in der Liebe unzüchtig, in den Artigkeiten ungezogen, in den Reden thöricht, in den Reisen unsinnig, und, kurz, durchaus einem verständigen Kunstwerke entgegengesetzt, und deshalb würdig, als heilloses Gesindel aus einem christlichen Staate verbannt zu werden.«

Alles in allem, werden wir sagen müssen, »ein verbessertes Ritterbuch«, bei dem es, wie es weiter unten heißt, »keiner Ueberwindung bedürfe, es vom Anfange bis zum Ende durchzulesen«, was dem Sprecher bei jenen Monstris, nach seinem Geständnis, »niemals möglich gewesen war.«

Dies alles sagt selbstverständlich der Dichter des Don Quijote nicht in eigener Person, er legt es vielmehr dem »Kanonikus« in den Mund; aber das ist für unsern Fall irrelevant. Niemand zweifelt daran: wir haben hier des Dichters allereigenste Gedanken vernommen.

Und ebensowenig fürchte ich auf Widerspruch bei dem Leser von »Auch Einer« zu stoßen, wenn ich zu behaupten wage, daß der Verfasser seine allereigenste Intention bei der Abfassung des Werkes in einer Stelle ausspricht, die sich in dem »Tagebuche« des Helden findet »Auch Einer« II, S. 340. Ich citiere durchweg nach der ersten Auflage des Werkes..

Die Stelle aber lautet:

»Goethe hat gesagt, der Humor sei zwar ein Element des Genies, aber, sobald er vorwalte, begleite er die abnehmende Kunst, zerstöre und vernichte sie zuletzt. Dies ist doch nur wahr, wenn man unter ›Vorwalten‹ außer dem Ueberhandnehmen besonders versteht eine Einmischung in das Dichtwerk auf Kosten der Objektivität. Belehrend ist hierin Jean Paul; das humo 106ristische Ich des Dichters drängt sich zersprengend in das Bild, das er geben soll. Er verwechselt Dichter und Gedicht. Er will Narren oder seltsame Begebenheiten vorführen, und statt dessen führt er seltsam und närrisch vor. So wird der reiche, herrliche Geist ungenießbar und niemand liest ihn mehr – leider! Sollte es aber nicht eine schöne Aufgabe sein, zu zeigen, daß es auch einen Humor giebt, der dieser Versuchung widersteht und ein Bild des Närrischen mit der Objektivität des Künstlers entwirft und durchführt? Zweite verbesserte Auflage J. Pauls, der mit Unrecht zu den Toten geworfen ist? Auferstandener, genießbar gewordener J. Paul?« Die Worte sind in dem Text nicht gesperrt. Es ist das hier nur geschehen, um dieselben der Aufmerksamkeit des Lesers besonders zu empfehlen.

Also hätte, wie es die Absicht des Cervantes war, in dem Don Quichotte ein verbessertes Ritterbuch zu liefern, Vischers Bestreben darauf abgezielt, mit »Auch Einer« einen Roman zu produzieren, wie ihn Jean Paul infolge seiner vordringlichen humoristischen Subjektivität und seines Mangels an künstlerischer Objektivität hervorzubringen nicht imstande war.

Das Genus des Werkes wäre mithin fixiert: wir hätten es mit einem Roman, respektive mit einem »humoristischen« Roman zu thun, da Jean Pauls Romane denn doch für gewöhnlich mit diesem vieldeutigen Beiwort bezeichnet werden.

So weit war ich glücklich gekommen, als ich wieder stutzig wurde. Sollte der Verfasser vielleicht doch einen Roman nicht beabsichtigt haben? Es fiel mir eine andere Stelle ein, die ich wohl eine Parallelstelle der obigen nennen darf, und die, was ja für mich im übrigen sehr günstig war, sich nicht in dem Tagebuche von A. E. (lies nicht Alter Ego, sondern Albert Einhardt – Name des Helden des Werkes) findet, sondern in des Ver 107fassers berühmtem großen Werke. Auch diese Stelle muß ich wörtlich excerpieren:

»Dem Humor eines Jean Paul fehlt Objektivität im doppelten Sinne; er verfolgt wohl die geheimsten Irrgänge des Wahnsinns, der in den Widersprüchen der Subjektivität liegt, sofern sie in sich und in den Kreis des engeren socialen Lebens eingeschlossen lebt, aber den großen Wahnsinn des öffentlichen Lebens, der Geschichte, des Staates sieht er zwar, stellt ihn aber schroff und schrill neben die schöne Seele hin und geht auf dieser Seite zu keiner Versöhnung fort. Allerdings gehört dies größere Schauspiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeschichte des Subjekts, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantasie schafft sich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es ist noch ein anderer Mangel da: er kommt zu keiner gediegenen Form. Das humoristische Subjekt schiebt sich überall vor, man hat das Gefühl, es sei mit dem Erzählten eigentlich gar nicht Ernst, er beschreibt komisch, anstatt komisches zu beschreiben, der Gehalt der Persönlichkeit des dichtenden Subjekts geht nie ganz in Gestaltung über, sieht überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher ist es Pferdearbeit, einen Sterne, einen Jean Paul zu lesen.« Vischer, Aesthetik § 480.

Der gesperrte Passus Siehe oben! war es, der mein Bedenken hervorrief. Es war vorauszusehen, daß, wenn Jean Paul einmal verbessert werden sollte, es mit einer bloß formalen Korrektur nicht abgethan sein werde, sondern daß zu derselben auch die Erweiterung des Inhalts, die Vertiefung des Vorwurfs kommen müsse. Und da »dies größere Schauspiel nicht in einen Roman gehört«, so lag der Schluß unvermeidlich nahe, wir würden es eben hier nicht mit einem Roman zu thun haben, sondern mit einer neuen und dann auch gewiß, oder doch vielleicht, der rechten 108 Gattung, wie sie sich die »Phantasie für ihren größeren Horizont schafft.«

Ich habe hier das Epitheton, welches im Text zu Phantasie gefügt ist, nicht wiederholt, da dasselbe in diesem Zusammenhange eine ironische Färbung gewinnen könnte, ja annehmen müßte. Das aber wünschte ich zu vermeiden. Auch ein billig denkender Mann fordert im Uebereifer wohl einmal von einem anderen, er solle mit Feuerzungen reden; aber sobald er selbst ans Reden geht, merkt er sehr bald, daß er sich auf seine eigene Zunge verlassen und mit derselben auskommen muß; und ist ganz zufrieden, wenn er ohne stecken zu bleiben oder sonstigen Unfall seine Rede zu Ende bringt. Ueberdies habe ich an der Schaffung eines neuen poetischen Genus starke apriorische Zweifel, glaube vielmehr, daß, wie die Natur es definitiv aufgegeben zu haben scheint, sich diesen Luxus zu verstatten, so auch der menschliche Geist im Laufe der Jahrtausende den Kreis der Formen-Möglichkeiten aus dem Gebiete der Kunst ausgemessen hat. Auch ist es ja lange – über ein Menschenalter – her, daß der Verfasser den betreffenden Satz schrieb; er konnte ja mittlerweile anderer Ansicht geworden sein; und war es wohl sicher geworden, weshalb hätte er sonst, als er nun ans Werk ging, doch wieder zu der alten bekannten Form gegriffen, die ja auch in der That vermöge ihrer außerordentlichen Dehnbarkeit die größten Chancen eines glücklichen Gelingens bot. Denn schließlich – ich mochte das Welk betrachten, von welcher Seite ich wollte – ich konnte in ihm nichts anderes erblicken als einen Roman, d. h. also (nach W. v. Humboldts uns bekannter Definition der epischen Dichtgattung, von der ja der Roman nur eine Species ist): »Die dichterische Darstellung einer Handlung durch Erzählung, welche (nicht bestimmt, einseitig eine gewisse Empfindung zu erregen) unser Gemüt in den Zustand der lebendigsten und allgemeinsten Betrachtung versetzt.«

109 Dies also wäre der Paragraph des ästhetischen Codex, unter den wir den Fall zu subsumieren, nach dem wir ihn zu beurteilen oder zu verurteilen hätten.

Oder stände auch das noch erst zu erweisen? könnte der Verfasser den Einwand machen, daß das citierte Gesetz freilich für den idealisierenden Dichter und seinen Roman (sagen wir: Goethe und Wilhelm Meister) zu Recht bestehe, keineswegs aber für den humoristischen Dichter und seinen Roman? daß für den letzteren ein Ausnahmegesetz gelte, welches anders, ganz anders laute und lauten müsse, solle der Humor zu seinem speziellen Rechte kommen?

Hier nun gerate ich dem großen Aesthetiker gegenüber in eine schlimme, ja verzweifelte Lage, ungefähr wie der arme Arthur in der Pfahldorf-Novelle, der in den Wald geht, ausgerüstet, einen starken, aber doch gleichartigen Gegner zu bekämpfen und auf den nun plötzlich ein Wisent losfährt. Was kann der Aermste zu seiner Rettung thun? Sein Schwert ist eine unmächtige Waffe gegen das Ungetüm; er kann ihm nur »durch Zickzackbewegungen zu entfliehen suchen, ein Mittel, das auch nur vorhält, solange ihm die Geistesgegenwart bleibt; aber kein Augenzeuge der verzweifelten Hetze könnte das hoffen.« Indessen, es giebt eben für den Zwerg im Kampf mit dem Riesen kein anderes Mittel. Also: die Schenkel gerührt! Zickzackbewegungen auf Tod und Leben! und deinerseits, lieber Leser, Verzeihung, in dieser ernsthaften Abhandlung über einen »humoristischen« Roman, der zu einem guten Teil aus Aphorismen besteht, für folgendes kleine »Humoristisch-aphoristisches Intermezzo!«

– Der alte Meister hat in seinem handwerksmäßig naiven Ausspruch: der Humor sei zwar ein Element des Genies, aber u. s. w. wörtlich und buchstäblich Recht.

– A. E.s Versuch, den Ausspruch zu interpretieren, zu amendieren und amplifizieren ist als völlig verfehlt zu betrachten.

– Die bewußte schöne Aufgabe: zu zeigen, daß es einen 110 Humor giebt, der ein Bild des Närrischen mit der Objektivität des Künstlers entwirft und durchführt, ist die reine Quadratur des Zirkels.

– Jene gewisse höchst komplizierte Stimmung eines Geistes, welcher sich zu der beseligenden Gewißheit durchgerungen, es behaupte sich die hochherrliche Idee auch in dem Armseligsten und Gemeinsten, ja, offenbare sich in diesem nur um so wundersamer, und doch, von dem Armseligen und Gemeinen entsetzt, zur Idee zurückflüchtet, und den einen Endpunkt der Bahn nur berührt, um sofort zu dem anderen Endpunkte zurückgetrieben zu werden – diese Seelenstimmung, welche mithin durchweg »aus einem inneren Widerspruch fließt« Vischer, Aesthetik § 481. und die wir Humor nennen, kann als solche so wenig objektivieren, d. h. künstlerisch schaffen, wie irgend eine andere Seelenstimmung, z. B. die religiöse Stimmung als solche.

– Von einem Sichselbstdarstellen kann bei der humoristischen Stimmung nur in dem Sinne die Rede sein wie bei der religiösen. Das Gebet, die Ekstase, die frommen Handlungen des religiös Gestimmten finden ihre Pendants in den Witzworten, der Uebertraurigkeit oder Ueberlustigkeit, den Possen des humoristisch Gestimmten. Auch der Anteil, den die Phantasie dabei hat, ist hier und dort ungefähr gleichgroß.

– Vischer wehrt sich mit Recht gegen den Ausdruck »philosophischer Dichter«, denn, sagt er: »Das Schöne entsteht nur durch Phantasie, sonst durch gar nichts.« Aesthetik § 398. So will er auch von dem »religiösen Dichter« nichts wissen, weil »specifisch auf Frömmigkeit gestelltes Pathos die Phantasie ausschließt« Aesthetik § 338.; mit demselben Fug und Recht sollte er aber auch den Ausdruck: »humoristischer Dichter« verbieten.

111 – Aurelie in Wilhelm Meister macht einmal die Bemerkung, daß die Bücher nur da zu sein schienen, um unseren Irrtümern einen Namen zu geben.

– Ich wollte, es läge in meiner Macht, den Deutschen zu verbieten, die Worte Humor und humoristisch zehn Jahre lang weder zu sprechen noch zu schreiben.

– Nichts hat in den Köpfen eine größere Verwirrung hervorgebracht als die Leichtfertigkeit, mit welcher selbst ausgezeichnete Aesthetiker die Worte Humor und künstlerische Phantasie promiscue gebrauchen.

– Nur die Phantasie des Künstlers ist imstande, ein vollkommenes Bild des Närrischen zu entwerfen und durchzuführen.

– Diese Aufgabe ist dann aber nur eine unter vielen anderen, denn die künstlerische Phantasie hat mehr zu thun, als das Närrische abzubilden. Sie soll die Welt abbilden, in welcher das Närrische nichts weiter als ein Moment ist.

– Deshalb kann auch der Humor nur ein Moment der dichterischen Phantasie sein, oder, wie der Meister es ausdrückt: »Der Humor ist ein Element des Genies« (unter vielen anderen).

– Oder es noch anders zu sagen: das dichterische Genie wird den Humor verstehen, wie es alles versteht, und ihn darzustellen wissen, wie es alles darzustellen weiß.

– Uebrigens hat es sich an die betreffende schöne Aufgabe schon zu wiederholten Malen gemacht und dieselbe in immerhin anerkennenswerter Weise gelöst, so, unter anderen, das Genie des Cervantes im Don Quijote.

– Wenn Jean Paul, Sterne u. a. die Aufgabe nicht gelöst haben, lag es nicht daran, daß sie zu große Humoristen, sondern zu kleine Dichter, daß sie subjektive Menschen waren, höchstens »fragmentarische Genies«, bei denen eines und das andere Element »vorwaltete«, und die infolge solcher »Geteiltheit und Punktualität ihrer Natur« nicht wahrhaft künstlerisch schaffen, d. h. 112 objektivieren konnten, nicht einmal ihr eigenes Wesen, geschweige denn die Menschheit. »Das Eigenste des Genies ist aber eben dies, daß es ein objektiver Mensch ist. Genie ist im Centrum und das Centrum; weil es in sich die reine Menschheit findet, durchschaut es auch das Innerste der Menschheit außer ihm.« Vischer, Aesthetik § 412.

– Jean Paul sagt: Der Sehende sieht den Blinden, aber nicht umgekehrt.

– Goethe sagt: Es ärgert die Menschen, daß die Wahrheit so einfach ist.

– Das Genie ist die Wahrheit, die einfache Wahrheit, nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit.

– Das letztere scheint nicht immer der Fall zu sein, aber scheint auch nur. Es ist dann ein Palimpsest mit zwei Schriften, einer offenen für jedermann und einer geheimen für den, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht.

– Durch die unselige Sucht geistreicher Menschen, die einfache Wahrheit in Abteilungen und Unterabteilungen zu zerstückeln, wird die Verwirrung in den gemeinen Köpfen nur vermehrt.

– Es giebt nur eine poetische Substanz.

– Das Tragische ist ein Attribut der poetischen Substanz, oder: die Substanz ist ein tragisches Ding.

Das Komische ist ein Attribut der poetischen Substanz, oder: die poetische Substanz ist ein komisches Ding.

– Die Daseinswesen (Affektionen, Erregungen) erscheinen uns nur tragisch oder komisch, je nachdem wir nur auf jenes oder dieses Attribut achten.

– Man kann von der epischen, dramatischen, lyrischen Poesie füglich als von eben so vielen Daseinswesen der poetischen Substanz sprechen.

– Wenn wir den Don Quijote nur auf die Narrheiten des 113 Helden hin lesen, ist er komisch; wenn wir uns klar machen, daß diese Narrheiten Verstrickungen der edelsten Seele in den Dornen dieser gemeinen Welt sind, tragisch. Eine Hamletnatur könnte, wenn die Verstrickungen nicht zu mißlichen, sondern lächerlichen Ausgängen führten, der Mittelpunkt einer ergötzlichen Komödie sein. Den komischen Stoff in Tell, in Othello hat »Auch Einer« mit herrlicher Schalkheit bloßgelegt.

– Ein Epos kann ebenso tragisch oder komisch sein wie ein Drama. Die Nibelungen, auch die Ilias, sind in diesem Sinne Tragödien; der Don Quijote ist in diesem Sinne eine Komödie. Es giebt auch tragische und komische lyrische Gedichte.

– Wenn man die Ausdrücke Tragödie, Komödie ausschließlich auf dramatische Werke anwendet, so hat dies einmal eine gewisse historische Berechtigung. Sodann zwingen in der dramatischen Dichtungsart der knappe Umfang, die gegebene Notwendigkeit, schnell zu Ende zu kommen, den Dichter zur einseitigen Betonung dieses oder jenes Attributes, oder lassen doch (für den Zuschauer) nicht beide gleich stark in die Erscheinung treten.

– Wem es auf mögliche Totalität ankommt, wird immer wohl thun, sich an die epische Daseinsweise der poetischen Substanz zu halten, welche in ihrem weiten Rahmen so ziemlich Raum für alles hat.

– Man muß den Raum nur auszunutzen verstehen.

– Ich kenne keine politischen, socialen, philosophischen, moralischen, humoristischen und sonstigen Romane, sondern nur gute und schlechte.

– Höchstens noch mittelmäßige.

– Unter guten verstehe ich solche, in welchen der Raum gut, unter schlechten solche, in denen er schlecht, unter mittelmäßigen solche, in denen er mittelmäßig ausgenutzt ist.

– Was die einzig legitime Methode der Ausnutzung betrifft, siehe W. v. Humboldt in der oben angeführten Stelle.

114 – Jean Paul giebt zum Schluß seiner Vorschule der Aesthetik angehenden Dichtern den Rat, nur recht herrliches Genie zu haben; sie könnten dann gar nicht wissen, wie weit sie es noch bringen würden.

– Ich halte (im Gegensatz zu Vischer) dafür, daß das »größere Schauspiel«, nämlich: eine Darstellung – nicht bloß des Wahnsinns, der in den Widersprüchen der Subjektivität liegt – sondern des Wahnsinns des öffentlichen Lebens, der Geschichte, des Staates, allerdings, und zwar recht eigentlich, auch in den Roman gehört; und weiter: daß diese schöne Aufgabe nur gelöst werden kann, wenn (was bei Jean Paul nie der Fall ist, aber bei dem verbesserten Jean Paul der Fall sein müßte) »das humoristische Ich des Dichters« oder »der Gehalt der Persönlichkeit des Dichters« (siehe A. E. und Vischer in den obigen Stellen) »ganz in Gestaltung übergeht«, d. h. (auf den einzig richtigen und zugleich kürzesten Ausdruck gebracht): wenn sie (die Aufgabe) ein Dichter in die Hand nimmt.

– Vischer sagt in seiner Aesthetik S 482: »Keine Zeit wußte so gut, was zu machen ist, als die jetzige, und keine kann es so wenig machen.«

– Ich unterschreibe den ersten Satz unbedingt.

– Ich halte dafür, daß der Verfasser der Aesthetik nicht der Verfasser von »Auch Einer« geworden sein würde, wäre ihm der zweite Satz unanfechtbar und unwiderleglich erschienen; daß er vielmehr, als er an das letztgenannte Werk ging, die bewußte schöne Aufgabe sich nicht nur durchaus klar gemacht hatte, sondern auch (wäre er sonst ans Werk gegangen?) sie zu lösen hoffte.

– Quaeritur: hat er sie gelöst?

*

115 Der Stoßseufzer: »I want a hero«, mit welchem Byron seinen Don Juan beginnt, ist natürlich nur ironisch zu verstehen. Wir haben das wichtige Kapitel vom Romanhelden bereits in den vorhergehenden Aufsätzen abgehandelt. Es wurde in »Finder oder Erfinder« festgestellt, daß in der epischen Phantasie die Gestalt des Helden zugleich mit der sogenannten Idee des Romans, d. h. dem Weltbilde, welches der Dichter objektivieren will, geboren wird. Es wurden in »der Held des Romans« weiter der ästhetische Wert und die Obliegenheiten des Helden untersucht: wie der Roman mit dem Helden steht und fällt; wie der Held gewissermaßen der Gesichtswinkel ist, unter welchem der Dichter sein Weltbild gerückt hat, unter dem er es betrachtet zu sehen wünscht; wie er den Maßstab abgiebt, mit welchem wir alles Einzelne auf dem Bilde messen, und der deshalb ein einheitlicher sein muß, weil sonst die richtige Proportion der Teile und mit derselben die Harmonie des Ganzen verloren geht; und wie schließlich auch die Dimension dieses Ganzen auf eben diesen Maßstab berechnet sein muß. Es ergab sich dabei für George Eliots »Middlemarch« der – auch sonst nicht seltene, dort aber besonders eklatante – Fall, daß sich der Dichter von vornherein in dem Maßstab vergriffen hatte, welcher sich im Verlauf als durchaus zu klein erwies für den Umfang, auf den er das Bild angelegt; daß er infolgedessen den ersten Maßstab mit einem zweiten, d. h. den ersten Helden mit einem zweiten vertauschte, der schließlich sogar noch einem dritten Platz machen mußte, wodurch dann der Roman in zwei oder drei Romane auseinander fiel und der Dichter, um das Unglück, das ihm begegnet war, zu vertuschen und die disjecta membra, wenigstens scheinbar zusammenzuhalten, zu dem schlechterdings prosaischen Mittel der Erklärung, Erläuterung, Reflexion griff – selbstverständlich ohne Erfolg. Ja, es ließ sich auf das eklatanteste beweisen, daß das Unglück nur infolge der Anwendung jenes Mittels so groß geworden 116 war, woraus sich dann wieder ein sicherer Schluß ziehen ließ auf die ästhetische Schädlichkeit des Mittels, ein um so sichererer, als hier der Wirkung des Giftes eine sonst kerngesunde, ja ungewöhnlich starke epische Natur nicht hatte widerstehen können.

In dem Fall von »Auch Einer« liegt die Sache beinahe umgekehrt.

Hier hat der Dichter seinen Maßstab, d. h. seinen Helden von vornherein so groß genommen, daß für denselben nur ein Bild von den kolossalsten Dimensionen genügt hätte, welches auszumalen nur einer ganz eminenten epischen Kraft und Kunst gelingen konnte – einer Kraft und Kunst, mindestens ebenbürtig derjenigen, die wir bei dem Dichter des Don Quijote bewundern.

Ich sage Kraft und Kunst, obgleich beide nur begrifflich verschieden sind, in der dichterischen Praxis aber, wo die Kunst nicht das Kennen, sondern das Können ist, völlig zusammenfallen. Wollen wir aber doch unterscheiden, so würden wir unter Kraft jene eingeborene und ausgebildete Begabung verstehen, in Gestalten zu denken, wenn man mir den Ausdruck verstatten will, der in der That weniger gewagt ist, als es scheint. Jedenfalls hat der Dichter kein anderes Vehikel, seine Gedanken zu äußern, als durch seine Gestalten, die ihm deshalb, wenn er selbst viel zu äußern hat (da eine jede Gestalt nach ihrer Natur und Wesenheit doch nur ein aliquotes Quantum äußern kann), in Fülle zuströmen müssen und zuströmen werden. Die Kunst bestände nun darin, diese Gestalten, die ja, als lebendige, sich nur handelnd denken lassen, derart zu gruppieren, in einen solchen Kontakt miteinander und untereinander zu bringen, daß sie dadurch gleichsam zur größten Leistungsfähigkeit gereizt und angespornt werden, und so das möglich reichste und umfangreichste Welt- oder Menschheitsbild (auf das es dem Dichter in letzter Linie ankommt) entsteht. Wenn ich noch hinzufüge, daß uns der epische Dichter dieses Bild durch Erzählung vermittelt, i. e. indirekt giebt (wäh 117rend der dramatische Dichter uns die Gestalten direkt vorführt), hätten wir wohl so ziemlich alles beisammen, was sein Wesen konstituiert.

Nun brauche ich dem Leser nicht des weiteren auseinanderzusetzen, in welchem hohen Maße Cervantes im Don Quijote diese Wesenheit des epischen Dichters manifestiert hat; wie er uns, indem er nur die Thathandlungen eines armen hirnverbrannten Narren erzählen zu wollen scheint, ein herrlichstes, buntestes Bild Spaniens und des spanischen Lebens seiner Zeit, ja, im letzten Grunde, der Welt und des Menschenlebens vor unseren staunenden Augen entrollt. Der Ausdruck: erzählen zu wollen scheint, ist – im ästhetischen Sinne – ungenau und ungerecht; er thut wirklich nichts anderes: auf seinem armen lendenlahmen, spatigen Rosinante erobert der Ritter von der traurigen Gestalt Schritt für Schritt – und wir können ihm jeden nachmessen – eine Welt, größer und herrlicher und dauerhafter als die, durch welche den macedonischen Alexander sein Bucephalus trug.

Aber wie lassen sie es sich auch sauer werden, so Roß wie Reiter! Sie ertragen alles, sie dulden alles, sie wagen alles; sie sind auf den Beinen, respektive im Sattel, in Regen, Sturm, Hitze und Kälte, Tag und Nacht.

Sie wissen – oder vielmehr, sie wissen es nicht, die armen, vielgeplagten, ehrlichen Kreaturen, aber sie placken sich, als ob sie wüßten –: daß sie in Atem bleiben müssen, wenn der Leser in Atem bleiben soll; daß dieser anspruchsvolle phlegmatische Gesell einnickt, sobald sie sich verschnaufen; daß im Roman aus den Augen, aus dem Sinn ist, just wie in der wirklichen Welt, von welcher der Roman nur ein idealisiertes Abbild; daß der Held, wie im Leben, so im Roman, alles bar bezahlen und teurer bezahlen muß, als die gewöhnlichen Menschen; daß niemand ihm Kredit giebt auf Thathandlungen, die ihm von anderen 118 nachgerühmt werden, und wären diese anderen die glaubwürdigsten Personen; ja – es ist schmachvoll, aber es ist doch einmal so – man ihm nicht über den Weg traut, nur so lange traut, als man ihn autoptisch kontrollieren kann.

Gegen den sinnreichen Junker aus der Mancha ist noch niemand vorgegangen mit der Klage, er sei seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Jedermann giebt zu, er habe seine Zeche voll und ganz bezahlt. Ich für mein Teil bin sogar der Meinung, es sei ihm noch ein beträchtliches Teil zurückzuerstatten; ich würde ihm beinahe die ganze zweite Hälfte der Rechnung streichen, da für meine Ansprüche bereits die erste völlig genügt zu der Ueberzeugung, daß weder vor ihm noch nach ihm je ein so scharfsinnig-verrückter Edler gelebt, und für seine edel verrückte Scharfsinnigkeit soviel grobe Prügel von einer ganz gemeinen Welt empfangen hat.

Doch das ist eine individuelle Ansicht, auf die ich weiter kein Gewicht lege; ein kluger Autor muß den Durchschnittsdurst der Zecher berücksichtigen, der bekanntlich nach der Philosophie des Frosch in Auerbachs Keller abgeeicht ist.

Nun aber stelle man sich vor, jener höchst spendable spanische Wirt hätte seinen Kostgängern, zu denen fürder alle Gebildeten aller Zeiten gehören sollten, die Blume und Auslese des Manchaner Feuerweins in folgender Weise serviert und ausgeschänkt, oder – um endlich aus dem Bilde zu fallen – Cervantes hätte den Don Quijote so abgefaßt:

Er – Cervantes – macht die Bekanntschaft Don Quijotes auf einer Reise durch irgend eine der Sierren. Die Bekanntschaft erreicht schnell einen gewissen Grad der Intimität, trotzdem die Begegnungen nicht eben häufig sind und nicht eben lange währen, und Don Quijote durch eine schrullenhafte Reserve das mögliche thut, die Behaglichkeit eines freundschaftlich-vertraulichen Verkehres zu erschweren. Indessen es finden doch 119 einige längere Unterredungen statt, in welchen Don Quijote fast allein das Wort führt und sich sowohl durch die Behauptungen, die er aufstellt, die Ansichten, die er äußert, als auch durch die Form, in welche er diese Behauptungen und Ansichten kleidet, als einen jener Menschen ausweist, welche man höflicherweise Originale nennt. Cervantes ist ein höflicher Mann, mehr: er ist ein geistreicher Mann, der sich auf Originale versteht; noch mehr: er kann eine wahlverwandtschaftliche Hinneigung zu Originalen im allgemeinen und zu diesem Original im speciellen nicht verleugnen. Auch muß man zugeben, daß die Hin- und Zuneigung in dem vorliegenden Falle berechtigt ist. Der Zufall führt für Cervantes und Don Quijote gemeinschaftlich eine Reihe von Situationen herbei, die dem letzteren Gelegenheit geben, die höchst verehrungswürdigen Seiten einer bedeutenden, ja großartigen Natur hervorzukehren: Barmherzigkeit, Leutseligkeit, Tapferkeit, Opfermut. Cervantes ist auch Zeuge der Begegnung Don Quijotes und einer Dame, die in dem Leben jenes eine gewisse oder vielmehr vorläufig noch völlig ungewisse Rolle gespielt zu haben scheint, wie denn überhaupt über alle sonstigen Beziehungen des Mannes: seinen Namen, seine Stellung in der bürgerlichen Welt, Cervantes (und mit ihm der Leser) in völligem Dunkel zurückbleibt, als jener seinen Wanderstab (was nach wenigen Tagen geschieht) weiter setzt und über das Gebirgsjoch in die Ferne zieht.

Dies erzählt Cervantes auf den 123 ersten Seiten des ersten Bandes.

Glücklicherweise hat Don Quijote dem Cervantes eine von ihm (Don Quijote) verfaßte Novelle zu schicken versprochen, über welche er auch sonst einige wenige Andeutungen gemacht. Zwei Monate später erfüllt er sein Versprechen. »Ein gewisses Gefühl von Bedürfnis der Abwechselung bestimmt den Cervantes, seinem ferneren Berichte den Abdruck der Novelle vorangehen 120 zu lassen.« Folgt die Novelle von Seite 127 bis 397. Das Ende derselben ist zugleich das Ende des ersten Bandes.

Leider hat Cervantes nicht viel mehr zu berichten. Er sieht den Don Quijote wohl noch einmal, aber so flüchtig, daß man es kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne nennen kann. Als er sich endlich aufmacht, denselben – er hat mittlerweile Namen und Wohnort entdeckt – zu besuchen, ist es zu spät: der wackere Don ist tot und begraben. Aus dem Munde der Haushälterin, aus dem der Freunde erfährt Cervantes an Ort und Stelle so viel, daß er (und mit ihm der Leser) sich von dem Lebensgang und Lebenswandel des Verstorbenen doch wenigstens ein ungefähres Bild entwerfen kann. Er kehrt zurück mit dem »Tagebuche«, welches Don Quijote ihm nebst seinen sonstigen Papieren zur eventuellen Veröffentlichung hinterlassen hat.

Dies erfahren wir auf den ersten 108 Seiten des zweiten Bandes.

Folgt nun das Tagebuch, in welchem Don Quijote auf 300 und einigen Seiten seine Gedanken über Gott, die Welt und einiges andere zu mehr oder weniger aphoristischem Ausdruck gebracht hat; zwischendurch auch mehr oder weniger flüchtig streifende Lichter auf seine sonstigen Schicksale und Herzenserlebnisse fallen läßt, so daß die Andeutungen nach dieser Seite, mit denen wir uns bis dahin begnügen mußten, doch einigermaßen vervollständigt werden.

Der Schluß des Tagebuchs ist zugleich der des ganzen Werkes. –

Ich glaube, daß jeder Leser ohne weiteres zugeben wird: hätte Cervantes nach diesem oder einem ähnlichen Schema gearbeitet, würde nun und nimmer ein Roman von dem unerschöpflichen Reichtum, der unverwüstlichen Anmut des Don Quijote entstanden sein. Eine verblaßte schöne Seele mag man aus der Schilderung eines Reisebekannten und den Gesprächen, 121 die er mit ihr geführt, aus einer hinterlassenen Novelle, aus den Relationen von ein paar Leuten, die ihr nahe gestanden, solange sie noch in diesem Jammerthale weilte, endlich aus einem voluminösen Tagebuche kennen lernen; nimmermehr aber einen Ritter und Helden, dessen legitime Aufgabe es ist, auf die Eroberung von Königreichen auszuziehen und Esel zu finden; eine aus den Fugen gegangene Welt wieder einzurenken und dafür von dieser ungefügen Welt zerschunden, zerstoßen, zerprügelt, zertreten, zermahlen zu werden. Das ist keine Spiegelfechterei; das ist ein höchst reeller, höchst ungleicher, höchst tragischer, höchst komischer Kampf, in welchem so ungeheuerliche Dinge passieren, daß, sollen wir, die wir im Parterre sitzen, die Tragikomödie verstehen, notwendig die beiden Gegner in gleicher Wesenhaftigkeit auf der Bühne sehen müssen.

Und hierin hat es eben unser Dichter verfehlt. Er zeigt uns nur den einen – den abenteuerlichen Ritter –; den anderen – die tolle Welt – zeigt er uns »kaum durch ein Fernglas, nur von weitem«. Hatte er das Vermögen gehabt, beide in gleicher Kraft und Ständigkeit darzustellen und durch diese allseitig objektive Darstellung »unser Gemüt in den Zustand der lebendigsten und allgemeinsten Betrachtung zu versetzen«, welcher ja zum Verständnis eines so großen Schauspiels unbedingt erforderlich ist, anstatt, wie er es jetzt durch seine einseitig Darstellung thut, »unsere Empfindung einseitig zu erregen« (siehe Humboldt), so würde er die höchste epische Aufgabe im allgemeinen und vielleicht auch die höchste Aufgabe, welche sich das moderne Epos, der Roman, stellen kann, gelöst haben; so wäre der moderne Don Quijote fertig gewesen.

Der Leser wundert sich oder hält es vielleicht gar für Böswilligkeit, daß ich immer wieder auf Cervantes' Meisterwerk zurückkomme. An einen Autor aber, wie den unseren, er schreibe, was er schreibe, nicht die strengsten Anforderungen stellen, ihn 122 nicht mit dem größten Maßstab messen, heißt ihn beleidigen; und in diesem Falle wird der Vergleich geradezu herausgefordert. Der Held von »Auch Einer« ist wahr und wahrhaftig der moderne Don Quijote.

Ein selten edler, vielseitig gebildeter, grundguter Mensch, der, durch die Einwirkung eines beschwerlichen chronischen Uebels um die harmonische Empfindung eines normalen Daseins gebracht, den Widerspruch des reinsten ethischen Pathos, von dem seine Seele erfüllt ist, mit den Gebresten, die seinem Leibe anhaften, zum Weltwiderspruch erweitert; und der nun, wie seine individuelle Existenz in zwei völlig heterogene Teile geschieden scheint, diese Scheidung in der ganzen natura naturata, ja in der natura naturans selbst wiederzufinden glaubt und nachkonstruieren zu können wähnt. Ein Mensch, scharfsinnig genug, »die geheimsten Irrgänge des Wahnsinns, der in den Widersprüchen der Subjektivität liegt, zu verfolgen«, und auch, infolge seiner bürgerlichen Stellung, als einflußreicher höherer Beamter, keineswegs »in den Kreis des engeren socialen Lebens eingeschlossen«, vielmehr völlig in der Lage und vollauf befähigt, »den großen Wahnsinn des öffentlichen Lebens, der Geschichte, des Staates« zu sehen. Nicht bloß zu sehen, sondern, da er durchaus nicht eine bloß kontemplative, im Gegenteil sehr energische, ja überkräftige, gewaltsherrliche Natur, fortwährend durch das innere Ungestüm gedrängt wird, sich in den Kampf mit der Hydra einzulassen. Und der nun, anstatt seine stolze Kraft zu diesem Zweck zusammenzuhalten, dieselbe in dem Kleinkriege mit lauter Nichtigkeiten zersplittert und vergeudet, so daß er, wenn es und so oft es zu dem Kampfe kommt, jedesmal schimpflich unterliegt, um endlich – der mitleidige Leser preist das als eine wahre Barmherzigkeit des Schicksals – bei der Züchtigung eines Tierschinders totgestochen zu werden, nicht mit dem Schilde, aber doch auf dem Schilde der Humanität, das er immer hoch ge 123halten, heimkehrend »zu den Gefilden hoher Ahnen«. – Hatte ich unrecht, wenn ich oben von diesem Helden sagte, daß ihn der Dichter nach einem kolossalen Maßstabe entworfen habe? Und ist es nicht ein Jammer, daß der Dichter es bei dem Entwurf bewenden ließ, zum wenigsten, was er davon ausführt, ein verschwindendes Minimum ist im Verhältnis zu der großartig genialen Anlage?

Man wende nicht mit dem Verfasser der Aesthetik ein, das »größere Schauspiel«, welches der Dichter uns schuldig blieb, »gehöre nicht in den Roman, in die Bildungsgeschichte des Subjekts.« Der Beweis soll noch geführt werden, daß der Roman zu nichts weiter taugt! oder vielmehr ist der Beweis des Gegenteils nicht bereits geführt, nicht einmal, sondern, ich weiß nicht, wie oft? Ist der Don Quijote nur die Bildungsgeschichte eines Subjekts? ist es »Tom Jones«? ist es »Wilhelm Meister«? »Copperfield«? Und wie nun, wenn das Subjekt, um sich zu bilden, noch mehr als in den genannten Romanen durchaus des großen, öffentlichen Lebens bedarf? wenn man mithin die Geschichte seiner Bildung gar nicht schreiben kann, ohne auch jenes in seinen Höhen und Tiefen, seiner Ständigkeit und seinem Wahnsinn vorzuführen? Soll man die Geschichte deshalb ungeschrieben lassen, weil der Roman nicht das rechte Vehikel? Ich sage nein und tausendmal nein; ich sage: erst recht soll sie geschrieben werden, und nur in einem Roman kann sie geschrieben werden, denn der Roman ist und bleibt das rechte Vehikel, und die gewaltigste Phantasie wird finden, daß in demselben Raum genug ist für den größeren und für den größten Horizont, falls sie denselben nur auszunutzen versteht.

Der Autor von »Auch Einer« hat es leider, wie wir gesehen haben, nicht verstanden; ja, wenn wir noch genauer zusehen, bemerken wir, daß er sich mit Vorliebe derjenigen Methoden epischer Darstellung bedient hat, welche eine ausgebildetere Erzählungs 124kunst als wenig zweckmäßig und ausgiebig entweder ganz verwirft oder doch nur mit größter Vorsicht und im mäßigsten Umfange anwendet. Diejenige Methode wird nämlich stets die beste sein, welche uns das Objekt gleichsam aus erster Hand giebt; je mehr Hände sich in die Sache mischen, desto bedenklicher steht es um das Resultat. In »Auch Einer« haben wir alles oder so gut wie alles aus zweiter und manchmal aus dritter Hand: aus zweiter, wenn der Autor erzählt: nicht, was sich begeben hat (das ist die erste Hand), sondern was ihm begegnet ist; aus dritter, wenn er uns erzählt, was ihm andere erzählt haben. Und wenn Selbstbekenntnisse, wie man sie in einem Tagebuch niederlegt, scheinbar die allererste Hand sind, so ist es eben nur ein Schein. Aus einem zwiefachen Grunde: einmal, weil, wie's im Tasso heißt: der Mensch nach eigenem Maß sich oft zu klein und leider oft zu groß mißt – er mithin selbst beim besten Willen die Wahrheit (im objektiven Sinne) schwerlich wird sagen können; zweitens, weil er sie, wenn er's auch könnte, in einem Tagebuche nicht leicht sagen wird. Weshalb sollte er's? er für sein Teil weiß schon Bescheid, und er schreibt doch nur für sich, nicht für andere Leute. Und an gewisse Dinge rührt man selbst für sich nicht gern, ja so ungern, daß, wenn in den sogenannten Tagebüchern der Romane es dennoch geschieht, man zehn gegen eins wetten kann: es ist unmöglich, daß diese Dinge von den Personen, hätten sie wirklich gelebt, in ihren wirklichen Tagebüchern jemals aufgezeichnet wären, sondern dies nur von dem Dichter geschehen ist, in der berechtigten oder unberechtigten Furcht, er werde ohne dieses Hülfsmittel nicht einmal den Schatten seines Helden geben können, geschweige denn den Helden selbst. Aber das Hülfsmittel ist eben keines; ist nur ein trauriges Surrogat, keine gesunde epische Nahrung, die gesundes episches Fleisch erzeugt. So bleibt in dem »Tagebuche« die ganze skandinavische Geschichte mit der Goldrun schattenhaft, und das ist schlimm für den Helden. 125 Denn, wenn wir sein greuliches Thun verstehen (und verzeihen) sollen, muß nicht bloß er wissen, »wie weich ihre Arme sind und wie ihre Küsse brennen«, sondern wir müssen es ebenfalls. Desgleichen verschwebt die andere Geschichte mit Cordelia wie ein holder Schemen, und das ist schlimm für uns. Denn wir lieben sie und haben ein Recht dazu, und wenn A. E. auf uns eifersüchtig ist, hätte er die Gute, Schöne nicht aus ihrer Gruft in Assisi heraufbeschwören müssen an das Licht des Tages, das doch kein rechtes Licht wird, weil A. E. alle Läden keusch verschließt und selber kaum durch eine gelegentliche Ritze einen ehrfurchtsvollen Blick auf sein Heiligenbild wagt.

Und wie mit diesen dämonischen und heiligen Gestalten und Geschichten ist es mit den närrischen. Wir wollen den untraitablen Bologneser aus dem Fenster fliegen sehen dem Ministerialrätchen unten auf der Straße an den Kopf (ich glaube nebenbei, mit diesem Wurf hätte der Roman anfangen müssen und es wäre ein zwiefach glücklicher gewesen); wir wollen den wackeren »Tetem« singen hören (es war gewiß ein »schmalziger« Tenor) – aber wir sehen, wir hören alles, alles nur so weit und so laut, als es uns A. E. sehen und hören lassen will – der böse A. E.!

Nur für eines: für die köstliche Pfahldorfgeschichte sind wir ihm zu vollem Dank ohne allen und jeden Abzug verpflichtet. Hier hat der zugeknöpfte Mann sich endlich einmal die Brust gelüftet und uns auch. Wir fühlen mit ihm, wie wohl ihm dabei ist, wie wohl es dem Dichter ist, der sich selbst vergißt, um nur in seinem Werke zu leben, der die Welt über seinem Werke vergißt und darum in seinem Werke eine Welt schafft.

Freilich, ganz so liegt die Sache nicht, soll sie auch schwerlich nach der Absicht des Autors liegen. Die Pfahldorfgeschichte ist ja nicht ein direktes Erzeugnis seiner Phantasie, ist ja ein Produkt der Phantasie A. E.s. Und A. E. ist eben kein Vollblut- 126Dichter, soll auch keiner sein. Er ist und bleibt ein humoristisches Subjekt mit poetischen Anflügen (wie sie dem Humor leicht kommen, ja die einen Teil seiner Wesenheit ausmachen, weshalb er auch von den weniger Tiefblickenden mit der dichterisch thätigen Phantasie schlechtweg verwechselt und identifiziert wird); – ein humoristisches Subjekt, »das sich seiner Natur nach überall vorschieben muß, dem es mit dem Erzählten eigentlich gar nicht ernst ist«. Und dies dadurch beweist, daß es seine Gestalten, wenn man diese Gebilde anders so nennen kann, sofort ironisch wieder auflöst, damit um Himmelswillen kein Mensch sie ernsthaft nimmt und darüber die Tendenz übersieht, die, wie alle Tendenz, nicht innerhalb, sondern außerhalb und hinter der Geschichte liegt, welche sozusagen nur der Weg ist, der zu dem einzig gewollten Ziele führt. Und nicht einmal der ganze Weg, nur ein Stück des Weges, da dem Humoristen natürlich die Geschichte zu lange dauert und er uns in den Siebenmeilenstiefeln von ein paar Parabasen schleunigst dahin expediert, wohin er uns haben will, während die ihrer ironisch-phantastischen Gewänder entkleidete Tendenz splitternackt nebenher läuft.

Ich glaube, daß sich die Sache so oder ungefähr so verhält, und die Pfahldorfgeschichte mithin für A. E.s Wesen überaus bezeichnend und insofern ein vollgültiger Beweis der Objektivierungskunst des Dichters von »Auch Einer« ist.

Welches die Tendenz der Satire »in der Pfahldorfgeschichte«?

Vielleicht drückt, besser als ich es vermöchte, meine desfallsige Ansicht und zugleich meine Hochschätzung des ästhetischen und kulturhistorischen Wertes der Novelle (inklusive meiner tiefen Bewunderung für den schalkischen A. E.) die Anzeige eines in demselben Verlage erschienenen gefeierten, seinen Stoff ebenfalls aus altehrwürdiger mumienhafter Vergangenheit nehmenden Romans aus, die ich mit den leisen Veränderungen, welche die Verschiedenheit des Objekts erfordert, deshalb hier zu reproduzieren mir 127 erlaube: »A. E., der Verfasser der Novelle: ›Der Besuch. Eine Pfahldorfgeschichte‹, hat bewiesen, daß er zu den Ausnahmen gehört, welche den Gelehrten und Dichter in sich vereinigen und einen spröden vorhistorischen Stoff mit dem Feuer des Genius in Fluß zu bringen vermögen … ›Der Besuch‹ ist eine bedeutende und in ihrer Art vollendete Leistung, der es weder an Mannigfaltigkeit der Personen noch an Lebensfülle und Abwechselung der Scenen fehlt und die dabei doch ein anschauliches und im ganzen treues Bild von einer fernen und – in Anbetracht der weiten Ferne – ungemein reichen Kulturepoche unter dem größten Druiden der Pfahldorfszeit giebt. Die Novelle ist ganz dazu angethan, in den weitesten Kreisen Eindruck zu machen, nur muß sie mit Verstand gelesen werden.« –

Und besagten Verstand wünsche ich von Herzen den Lesern von guten Büchern insgesamt und von »Auch Einer« im besonderen. Denn »Auch Einer« ist ein gutes Buch, trotzdem es kein guter Roman ist. Ich durfte das letztere nicht verschweigen, nachdem ich es einmal unternommen, mich über das Werk öffentlich auszusprechen; ich war es meinem Handwerk schuldig. Es pfuschen in ihm soviel täppische Gesellen, denen man auf die Finger sehen und auf die Finger klopfen muß und die, wenn man es mit der nötigen Derbheit thut, über Ungerechtigkeit schreien und sich auf Einen berufen, der es auch so gemacht habe und der leer ausgegangen sei. Sie irren sich, die Bönhasen. Der Verfasser von »Auch Einer« hat es nicht »auch so gemacht«. Er hat das Handwerk nicht wie sie geschändet. Er hat fleißig und redlich und solid gearbeitet, aber mit etwas stumpfen Werkzeugen und nach einer veralteten Methode und der Uebung ermangelnd, die nun einmal in jedwedem Handwerk den Meister macht. So ist sein fleißiges, redliches, solides Werk kein Meisterstück geworden. Das mußte gesagt werden.

Kein Meisterstück und doch welch ein Werk!

128 Ein Werk, an dem auch die Meister des Handwerks ihre helle Freude haben müssen, weil es, wenngleich in der Ausführung unbeholfen und vielleicht ungeschickt, doch so grandios concipiert ist, wie es eben nur ein weltweiter Kopf und ein weltweites Herz vermögen; ein Werk, das, trotz seiner Mängel, zu studieren und zu lesen »keine Pferdearbeit«, sondern ein höchster, schier unerschöpflicher Genuß; ein Werk, köstlich mundend wie ein edelster Wein, wenn auch der Kenner herausspürt, daß er noch nicht völlig flaschenreif; ein Werk, ganz durchglüht von Feuergeist und geniale Funken sprühend, wo man es nur berührt; ein Werk, auf das jede Litteratur der Welt stolz sein müßte und das, wie es da ist – mit seinen Schwächen und Mängeln, die, nimmt man alles in allem, so leicht wiegen, und seinen glänzenden Vorzügen und unvergeßlichen Schönheiten – doch nur ein Deutscher schreiben konnte.

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