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VII.
Roman oder Novelle?

(Gelegentlich Serge Panine par Georges Ohnet, Ouvrage couronné par l'Academie Française.)

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Der französische Romandichter hat es zum Teil leichter, als der deutsche, zum Teil macht er es sich leichter. Er hat es leichter, denn er braucht die vaterländische Welt, die er schildern soll und will, nicht erst mühsam zu konstruieren, nachdem er sie gleichsam aus allen Ecken und Winkeln zusammengesucht – er findet sie fix und fertig vor in seinem Paris, dem Centrum des französischen Lebens, in welchem von der Peripherie alle Radien zusammenlaufen; dem Schauplatz, auf welchem hergebrachter Weise das neue Stück spielen muß und auf dem er sich mit der völligen Sicherheit eines Komödianten bewegt, der jeden Ein- und Ausgang, jede Coulisse, jedes Versatzstück, jedes Möbel seiner Bühne aus langjähriger Praxis kennt. Und – was noch viel mehr heißen will – auch ganz genau sein Publikum kennt: was es zu sehen wünscht, worüber es weinen, worüber es lachen wird und – umgekehrt – worüber es sich empören und was es entschieden ablehnen würde, wenn – er unklug genug wäre, es ihm zu bieten. Aber er wird sich wohl hüten, so unklug zu sein, und eben dieses Uebermaß vorsichtiger Klugheit ist auch vielleicht seine Schwäche; ist es, was ihn verführt, es sich, wie ich oben sagte: leichter zu machen, als er von Rechts wegen dürfte: den schwierigeren Problemen aus dem Wege zu gehen, und lieber Staffeleibilder von bescheidenem Umfange mit minutiösem Pinsel zu malen, als Freskogemälde von beträchtlichen Dimensionen, denen die Wucht und Bedeutendheit des Vorwurfs und die Kühnheit der Ausführung entsprechen muß.

Mögen pedantische Beschränktheit und unpatriotische Liebe 262dienerei des Auslandes gegen den deutschen Roman einwenden, was sie wollen – sie werden die Thatsache nicht wegdisputieren können, daß unsere Dichter der epischen Aufgabe: Weltbilder aufzustellen, – oder, wenn man denn durchaus will: Bilder ihres Volkes und seiner Strebungen in einem gewissen Zeitabschnitt, – mit lobenswerter Einsicht, treuestem Willen und einem respektabeln Aufgebot von Energie, Erfindungskraft und Kunst nachzukommen sich bestrebt haben; und daß dieses Streben von einem Erfolge gekrönt ist, der sich den Erfolgen der anderen Kulturnationen auf dem analogen Gebiet nicht nur ebenbürtig an die Seite stellt, sondern dieselben, alles in allem, übertrifft. Oder was hätte denn England nach Thackerays Heimgang, wenn wir die eine George Eliot ausnehmen, produziert, was sich an Tiefe des Gehalts und Feinheit der Kunst mit den Romanen unserer G. Freytag, Auerbach messen könnte, ohne zu leicht befunden zu werden? Und selbst Thackeray, ja – ich wage es zu sagen – selbst Dickens – sie haften, mit der Geistes- und Gemütstiefe dieser unserer Dichter verglichen, an der Oberfläche des Lebens, haben einen banausischen Anstrich. Aber die Franzosen! ihr Victor Hugo mit seinen »Misérables«; ihr Daudet mit seinem »Fromont jeune«, seinem » Nabob«, seinem »Roi en exil« u. s. w. – nun, ich will die Verdienste dieser Männer und anderer um den zeitgenössischen Roman wahrlich nicht herabsetzen – ich will sogar die Bedeutung Zolas in seinen grau in grau gemalten Unsitten-Gemälden anerkennen. Aber ich müßte mich sehr täuschen, oder was die Werke dieser Dichter vor denen der unserigen in unsern Augen voraus zu haben scheinen, ist eben wirklich nur ein Schein: der Zauber des Fremden, der für das deutsche Gemüt unwiderstehlich zu sein pflegt. Und wo etwa ein wirklicher Vorzug zu konstatieren wäre, kommt er nicht auf das größere Genie oder die größere Kunst unserer überrheinischen Konkurrenten, sondern ist die Folge gewisser günstigerer Verhält 263nisse, unter denen sie arbeiten dürfen und die ich oben bereits angedeutet habe. Ist – um es mit einem Worte zu sagen – die Folge eben jener politisch-socialen Centralisation des französischen Lebens, an deren Vorteilen auch die Romandichter – und diese vor allen – participieren, und die ihnen verstattet, in einem scheinbar kleinen Ausschnitt doch gewissermaßen das in allen seinen am weitesten auseinander liegenden winzigsten Teilen von centripetaler Kraft energisch durchdrungene Ganze zu schildern.

Dieses eigentümliche Verhältnis dürfte denn auch der Grund sein, weshalb jene scharfe Scheidung zwischen Roman und Novelle, die bei uns im Princip wenigstens anerkannt ist und meistens auch in der Praxis beobachtet wird, bei den Franzosen weder principiell zu bestehen scheint, und ganz gewiß, falls sie besteht, nur eine laxe praktische Anwendung findet. Wenn Paul Heyse, wenn Gustav Freytag sich zum Schreiben setzen, wissen sie so sicher, ob das, was sie vorhaben, eine Novelle ist oder ein Roman, wie ein Baumeister, ob er das Fundament zu einem Palais oder einer Villa legt; ich zweifle daran, daß selbst die kunstverständigsten unter den französischen Dichtern in dem analogen Momente sich der entsprechenden klaren Einsicht in ihre eigenen Intentionen erfreuen. Nun mag aber der Dichter in gewissen zaghaften Stunden mit Schiller gern seine ganze Aesthetik für einen einzigen praktischen Hand- und Kunstgriff hingeben – die theoretische Schulung kommt dennoch der Kunstübung auf das herrlichste zu gute. Und so ist es gewiß kein Zufall, daß wir neben unserer eigentlichen Roman-Litteratur eine Novellen-Dichtung haben von einer Fülle und stilvollen Schönheit und Reinheit, mit der sich, was andere Nationen in diesem Genre erzeugen, auch nicht annähernd messen kann.

Umgekehrt entspricht in Frankreich der geringen Neigung, über die Grenze zwischen Roman und Novelle ästhetische Unter 264suchungensuchungen anzustellen, eine gewisse Laxheit in der poetischen Praxis, die, wie wir sehen werden, von den übelsten Folgen ist. Natürlich wird der Kundige auch dort eine lange Reihe von ganz eigentlichen Romanen zu verzeichnen haben und eine nicht geringe Anzahl von Produkten der erzählenden Muse, die nach Inhalt und Form als Novellen anzusprechen sind. In der ungeheuren Masse aber der Produktion gerade auf diesem Gebiete möchten jene Fälle, wie zahlreich immer, doch nur als Ausnahmen anzusehen sein, während die Regel durch das Vorherrschen eines ganz eigentümlichen Erzeugnisses konstituiert wird, dessen Art und Natur zu untersuchen und womöglich festzustellen die Aufgabe dieses Abschnittes ist.

Es wird kaum möglich sein, die charakteristischen Eigenschaften jener Produkte im Genaueren anzugeben, ohne zugleich die Gründe anzudeuten, aus denen ihre Entstehung herzuleiten sein möchte.

Ein guter Roman kann nicht wohl anders als einen gewissen, d. h. beträchtlichen Umfang haben. Dieser, aus dem Wesen der Kunstgattung resultierende Satz wird durch die Wirklichkeit der epischen Produktion durchaus bestätigt. Wie wäre es auch anders möglich? wie könnte der Dichter zu jener Breite und Weite der Weltübersicht gelangen, auf die es ihm in erster und letzter Linie ankommt, wollte man ihn im Stoff beschränken? Und wo bliebe der Dichter, der Künstler, ich meine: wie könnte er seine specifische Tugend dokumentieren, wollte er diesen weitschichtigen Stoff nicht bis in die kleinsten Einzelheiten formen, d. h. zur Darstellung bringen? Dieses Darstellen aber ist eben ein gar schwieriges Ding, das eine starke Phantasie, eine subtile Hand, vor allem eine nimmermüde Energie erfordert. Und ist ebenso ein sehr langwieriges, auf die nach- und mitschaffende Phantasie eines geduldigen Hörers oder Lesers rechnendes, wovon man sich in und an den Werken eines Homer, 265 eines Cervantes, eines Goethe und anderer Epiker ersten Ranges sattsam überzeugen kann.

Ist aber Langwierigkeit und Umständlichkeit die unausrottbare Natur des epischen Geschäftes, so liegt von vornherein die Vermutung nahe, daß es für die rasch zum Ziele strebende Lebhaftigkeit des französischen Naturells im ganzen wenig geeignet ist. Ich meine, daß dieser Vermutung der Stand der französischen Romanlitteratur alles in allem entspricht. Und die Bestätigung würde noch viel evidenter sein, käme dem französischen Romandichter nicht die oben angedeutete Gunst der Verhältnisse, unter denen er arbeiten darf, so auffallend zu Hülfe; und erhöhte er diese Gunst nicht noch willkürlich dadurch, daß er es eben, wie ich es ausdrückte, mit seiner Aufgabe leicht nimmt, d. h. sich seine Ziele nicht hoch steckt, hartnäckig seine Menschen und Dinge nur von der einen Seite sieht und schildert, unbekümmert darum, ob er sich der epischen Todsünde schuldig macht und uns ein Advokaten-Plaidoyer giebt, anstatt eines objektiven richterlichen Resumé. Oder wollen wir anstatt Advokat »Staatsanwalt« sagen, so käme das freilich in der Sache auf dasselbe heraus, verstattete uns aber die Exemplifikation auf ein Musterexemplar für unsere Ansicht: auf Zola, der in dem ungeheuren Kampf der zerstörenden und der schaffend-erhaltenden Gewalten nur die ersteren in ihrer minierenden Thätigkeit zeigt – als ob die Welt durchaus Ahrimans sei, nachdem er endgültig über den herrlichen Ormuzd triumphiert; – und dessen Willensenergie und bedeutendes Können infolge dieser einseitigen Verwendung nur dazu dienen, die Grellheit und Schiefheit seines sogenannten Weltbildes bis zur Unerträglichkeit zu steigern. So würde denn Alphonse Daudet, trotzdem er wahrlich vor dem Reich der Schatten keine schwächliche Furcht hat, aber doch auch die Sterne liebt und gerne zu ihrem milden und versöhnenden Glanz aufschaut, seinem robusten Nebenbuhler alle Wege überlegen sein, wenn bei ihm 266 die Kunst zu komponieren mit dem eminenten Darstellungstalente gleichen Schritt hielte.

Aber einseitig, oder doch nicht immer zu reeller künstlerischer Höhe sich erhebend, wie das Wirken dieser beiden Schriftsteller ist – sie lassen weit hinter sich die zeitgenössischen landsmännischen Konkurrenten, die sich ihre Ziele so viel näher stecken und denen in der Erstrebung selbst dieser näheren Ziele noch oft genug der Atem ausgeht.

Das Charakteristische aller derer, welche in diese große Kategorie gehören, ist folgendes. Ihre Kraft reicht von vornherein nur zur Novelle aus, d. h. also zur Darstellung eines kleineren, scharf begrenzten Ausschnittes des großen Weltgetriebes. Daraus wäre ihnen ja nun gewiß kein Vorwurf zu machen, verbände sich damit die rechte Einsicht und vermöchten sie jenen Ausschnitt, zu dessen Darstellung das Maß ihrer Kraft ausreichte, auch wirklich scharf abzugrenzen. Das ist aber keineswegs der Fall. Es fehlt ihnen an jener Einsicht; es fehlt an dem ausgebildeten Gefühl und Takt für das Schickliche in den verschiedenen Genres der Kunst. Die französischen Romanciers nehmen durchschnittlich zu viel Stoff, legen ihre Bilder zu groß an, so groß, daß dieselben bei allseitiger konsequenter Durchführung – d. h. wenn der Dichter, wie es seine Künstlerpflicht ist, darstellen und nur darstellen wollte, – einen beträchtlichen Umfang gewinnen, d. h. einen Roman geben würden.

Aber eben dieser beträchtliche Umfang, den vorauszusehen er noch gerade Ueberlegung genug hat, geniert ihn aufs äußerste. Er weiß, daß er seinem immer nach Neuem gierigen, indolenten Publikum nicht viel, d. h. nicht mehr als höchstens einen mäßig starken Band zumuten darf. Vielleicht ist damit auch das Arbeitsquantum gegeben, welches er dem eigenen Fleiß, der eigenen Ausdauer aufzubürden wagt.

Wie hilft sich nun der geschickte Mann aus dieser üblen Lage?

267 Er teilt seinen »Roman« in zwei Teile: in eine Vorgeschichte und in die Geschichte, die er eigentlich erzählen will, d. h. auf die es ihm einzig und allein ankommt, weil er sich nur von ihr den nötigen Erfolg verspricht.

In jenem ersten Teil: der Vorgeschichte, werden die Lebensläufe der Hauptpersonen bis zu dem Momente, wo die eigentliche Geschichte anhebt, kursorisch erzählt; die Verhältnisse, in welchen sie zu einander stehen, in den springenden Punkten markiert. Alles in allem also ein Prolog, auf welchen dann das Stück folgt.

Natürlich ist das Stück aus einem ganz anderen Ton als der Prolog, wie man leicht erkennen wird, durch eine Vergleichung der folgenden Anfänge des ersten und zweiten Kapitels des Romans, dessen Titel ich in die Ueberschrift dieses Aufsatzes aufgenommen, weil er mir zunächst zu diesen Bemerkungen Veranlassung gegeben, und ich im Verlaufe der Untersuchung noch wiederholt auf denselben zurückzukommen gedenke.

Erstes Kapitel:

»In einem sehr alten und sehr weitschweifigen Hotel der Rue St. Dominique hat sich seit dem Jahre 1875 das Haus Desvarennes eingerichtet, eines der bekanntesten des Pariser Handels und der angesehensten der französischen Industrie. Die Bureaux nehmen die beiden Seitenflügel ein, die nach dem Hof gehen und ehemals als Kommuns dienten, als die edle Familie, deren Wappen über der Thorfahrt gemeißelt ist, noch Eigentümer des Grundstückes war. Madame Desvarennes bewohnt das Hotel, das sie prachtvoll hat restaurieren lassen und in dessen großen und hohen Räumen sie mit einem sehr sicheren Geschmack wahrhaft bewundernswerte Kunstgegenstände aufgehäuft hat. Ein gefährlicher Rivale der d'Harblay, der Groß-Müller von Frankreich, ist das Haus Desvarennes eine ökonomische und politische Macht. Verlangt in Paris Auskunft über seine Solidität – man wird euch sagen, daß man ohne Gefahr 20 Millionen 268 auf die Unterschrift des Chefs des Hauses vorschießen kann. Und der Chef des Hauses ist eine Frau.

Diese Frau ist merkwürdig u. s. w.«

Dies Und-so-weiter geht in unserm Falle bis S. 26 und zum Schluß des ersten Kapitels, uns die ganze Entstehungsgeschichte des kolossalen Desvarennes'schen Vermögens mitteilend: wie klein Herr und Frau Desvarennes angefangen haben, oder eigentlich nur die Frau, da der Mann eine Null gewesen; wie sie sich von einer einfachen Bäckerin zu der Lieferantin aufgeschwungen, die halb Paris mit Mehl versorgt; wie die Leutchen lange keine Kinder gehabt; ein verlassenes Kind angenommen; dann noch selbst mit einem Töchterchen beschenkt worden, das die Mutter (der Vater ist unterdessen gestorben) an einen jungen Schützling und Freund des Hauses verlobte, während die andre junge Dame hinter dem Rücken der Pflegemutter ein Verhältnis mit einem vagierenden polnischen Fürsten anknüpft – eben dem, nach welchem sich die Geschichte nennt: Serge Panine – und den sie dann auch in der Familie vorstellt. »So geschah es, daß unter dem unscheinbarsten Vorwande der Mann in das Haus trat, welcher dort eine so bedeutende Rolle spielen sollte.«

Ende des ersten Kapitels.

Zweites Kapitel:

»An einem Maienmorgen des Jahres 1879 stieg ein junger, sehr elegant gekleideter Herr aus einem trefflich gehaltenen Coupé vor der Thür des Hauses Desvarennes aus. Der junge Herr schritt lebhaft an dem uniformierten, mit einer Militärmedaille dekorierten Portier vorüber, der sich immer unmittelbar neben dem Eingang hielt, um die Leute, welche in die Bureaux wollten, zurecht zu weisen. Er drückte auf den geschickt verhüllten Knopf einer kleinen durch die Mauer gebrochenen Thür. Die Feder schnappte; und der sich öffnende Eichen-Flügel ließ den Besucher durch, der sich nun in einem Vorzimmer befand, auf 269 welches mehrere Gänge mündeten. Tief in einem großen Fauteuil saß ein Angestellter des Bureau, der ein Journal las und nicht einmal ein zerstreutes Ohr lieh den im leisen Tone geführten Unterhaltungen eines Dutzend von Leuten, die eine Audienz wünschten und ungeduldig darauf warteten, daß an sie die Reihe käme. Der Angestellte, als er den jungen Herrn durch die geheime Thür eintreten sah, ließ sein Journal auf das Fauteuil fallen, nahm schnell sein schwarzsammetnes Käppchen ab und machte zwei Schritte vorwärts mit dem Ansatz eines Lächelns auf den Lippen.

– Guten Tag, mein alter Felix, sagte der junge Herr mit einem freundschaftlichen Gruß zu dem Angestellten, ist meine Tante da?

– Ja, Herr Savinien, Madame Desvarennes ist in ihrem Bureau, aber u. s. w. u. s. w.«

Ich wiederhole: die Verschiedenheit des Tones der Mitteilung, dessen sich der Autor in dem ersten Kapitel bedient, und des andern, welchen er hier im zweiten Kapitel anschlägt, ist zu auffallend, um nicht auch von dem weniger geübten Ohre sofort bemerkt zu werden. Es ist der farblose, der pragmatischen Relation und der kolorierte der eigentlichen Darstellung, – viel weiter voneinander unterschieden, als etwa ein Oelgemälde von einem Stahlstich oder Holzschnitt, das denselben Gegenstand darstellt. Denn jene Mitteilung in Form der Relation stellt eben nicht dar, führt uns nicht das Objekt selber vor, sondern bezeichnet es nur; markiert die Verhältnisse, in welchen die Objekte zu einander stehen; und verhält sich daher zu der eigentlichen Darstellung, welche uns die Objekte selbst giebt, wie die topographische Karte einer Landschaft zu der Landschaft selbst, wie sie aus dem Pinsel des Malers hervorgeht. Nicht weniger offenbar ist der Grund, weshalb sich der Autor dort jener, hier dieser Mitteilungsmethode bedient. Dort – im ersten Kapitel – wollte 270 er im Fluge einen langen Weg durchmessen, hier will er uns Schritt für Schritt einen verhältnismäßig kurzen führen. Ein Festzug also gleichsam, welchem der vorsichtige Veranstalter eine Erklärung vorausschickt: was dasselbe im ganzen bedeutet, wie er zusammengesetzt ist, welches die einzelnen Abteilungen, welches die Hauptpersonen sein werden; woran man dieselbigen erkennen kann, und wodurch sie die ersten Stellen im Zuge verdienen: »Diese Mutter hatte für die späte Frucht ihres Leibes eine jener exklusiven glühenden tollen Leidenschaften, wie sie Tigerinnen für ihre Jungen haben … Diese Autokratin, die Widerspruch niemals hatte ertragen können, und vor der sich ihre Umgebung willig oder nicht willig beugte: wurde nun ihrerseits gegängelt. Die Bronze ihres Charakters wurde zu Wachs zwischen den rosigen Händchen ihres Töchterchens …«

Habt ihr wohl aufgepaßt? habt ihr verstanden? ahnt ihr bereits, was diese tolle Leidenschaft aus der Mutter machen wird, nachdem sie sich durch ihre wächserne Nachsicht zu irgend einer irreparabeln Thorheit hat verleiten lassen? Natürlich ahnt ihr es; nur daß ihr es, Gott sei Dank, nicht genau wißt; denn wozu wäre sonst der Festzug selbst? wozu die Mühe und Arbeit der noch restierenden vierhundert und einigen Seiten?

In der That, wozu wären sie, wenn der Autor in demselben Tone fortfahren wollte? Hatte er bisher zur Mitteilung eines Materials, das, wenn man es nach der Zeit messen will, ein volles Menschenalter mindestens umfaßt, 26 Seiten gebraucht, so könnte er für die nun folgenden Ereignisse, die sich innerhalb eines halben Jahres abspielen, ohne auch nur einen wichtigen Nebenumstand auszulassen, gut und gern mit einem halben Bogen auskommen. Das sollten sich doch jene klar machen, welche in jener kühlen, farblosen Mitteilungsmethode womöglich den Triumph der Objektivität bewundern. Sie sollten sich klar machen, daß dies die Objektivität des Historikers, des Sitten 271schilderers ist, aber nicht die des epischen Dichters; daß es gewiß eine Kunst ist, in jener Weise gut zu berichten, nur beileibe nicht die epische Kunst, überhaupt keine im ästhetischen Sinne; und daß sie, die jener Methode das Wort reden, die Schuld tragen, weshalb Schriftsteller, die über gar keine oder doch ganz ungenügende Darstellungsmittel verfügen, sich fort und fort in die Zunft der berufenen Romandichter drängen, ohne daß man sie hinausweisen, ihnen den Beweis ihrer Stümperhaftigkeit führen könnte. Sind sie ja – nach jenen Kritikern – in ihrem vollen Rechte, wenn sie in ihren sogenannten Romanen was sie darzustellen nicht die Kraft haben, berichten; und weil sie denn einmal ins Berichten gekommen, d. h. sich andauernd einer Form bedienen, die im ästhetischen Sinne gar keine ist, auch solche Dinge in ihren Bericht ziehen, die sich faktisch nicht mehr darstellen lassen: alles mögliche Wissenswürdige oder auch nicht Wissenswürdige, was sie gern an den Mann bringen möchten, und das – wenigstens wie es hier geboten wird – mit der Poesie nicht nur kein halbbrüderliches, sondern überhaupt gar kein verwandtschaftliches Verhältnis mehr hat. Darf man sich da wundern, wenn das Publikum ewig über das, was es von dem Roman fordern darf und muß, im Unklaren bleibt? und Leute, die sich schämen würden, in der Malerei oder Musik nicht das Bedeutende und Echte vom Flachen und Nachgeahmten, Anempfundenen unterscheiden zu können; die auch nicht auf die Kritik des nächsten Tages zu warten brauchen, um zu wissen, ob sie am Abend vorher ein gutes oder schlechtes Theaterstück gesehen haben, einem Roman gegenüber völlig ratlos sind; die Frage nach dem Kunstwert desselben, als außer ihrer Urteilssphäre liegend, entschieden ablehnen, und höchstens zu konstatieren wagen, ob sie das Buch mit Interesse gelesen haben oder nicht? …

Ich weiß sehr wohl, daß die durch und durch prosaischen Vorgeschichten, wie ich sie hier zu charakterisieren versucht habe, keineswegs ausschließlich eine fehlerhafte Eigentümlichkeit der französischen Romanschreiber sind – es würde leider nicht schwer halten, aus der deutschen Romanlitteratur (von der verwilderten englischen ganz zu schweigen) Beispiele der in Frage stehenden ästhetischen Versündigung in betrübend großer Zahl zusammen zu stellen. Aber ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß unsere Nachbarn in dem prickelnden Bestreben, möglichst schnell zu dem zu gelangen, was ihnen als die eigentliche Sache erscheint, und in ihrer ästhetischen Kurzsichtigkeit, die nicht bemerkt, daß jenes, was sie da vorher treiben, entweder nicht zur Sache gehört und dann wegzulassen ist; oder zur Sache gehört, und dann freilich nicht weggelassen werden darf, aber wohl: mit derselben verarbeitet werden muß – und ohne den von ihnen so gefürchteten Kraft- und Zeitaufwand nicht verarbeitet werden kann – ich sage: daß unsere Nachbarn aus Eitelkeit und Kurzsichtigkeit am häufigsten und schwersten in diesen Fehler verfallen. – Hat sich doch selbst der feinsinnige, meistens echt poetische Alphonse Daudet nicht von demselben frei zu halten gewußt, obgleich sein ästhetisches Gewissen sich dagegen sträubt, und er dann eine löbliche, aber erfolglose, oder doch nicht hinreichend erfolgreiche Anstrengung macht, sich auf dem engen Pfade ästhetischer Tugend zu erhalten. Sein berühmtester Roman »Fromont jeune« bietet dafür ein überaus charakteristisches Beispiel.

Man erinnert sich des ersten Kapitels: jener köstlichen Schilderung des Hochzeitsfestes vom braven Risler und der kleinen Chèbe. Das ist ein Leben, eine Bewegung von jenem rührenden: »Madame Chèbe … je suis content!« das der gute Mensch seiner Schwiegermutter beim Nachtisch zuflüstert, bis zu dem Moment, wo Sidonie in der Balkonthür ihres neuen glänzenden Heims steht und nach dem Mansardenfenster hinaufschaut: dem Fenster des Treppenflurs, an dem ihre Eltern wohnten …

»Das Flurfenster!

Wieviel Erinnerungen nur das Wort schon in ihr wach rief! Wieviel Stunden, wieviel Tage hatte sie da zugebracht, um nach der Fabrik hinüber und hinab zu blicken! Selbst in diesem Augenblick glaubte sie da oben das blasse Gesichtchen der kleinen Chèbe zu sehen, und innerhalb des Rahmens dieses Fensters der Armut zog ihre ganze Kindheit, die trübselige Jugend eines Pariser Mädchens aus dem Volke an ihrem inneren Blick vorüber.«

Der Kunstgriff ist bekannt. Der Autor bringt die betreffende Person in eine Situation, die sie einladet, jenes Stück Leben, das der Leser kennen muß und dessen Darstellung doch zu lange aufhalten würde, in der Erinnerung zu durchlaufen. Jede Kunst hat solche Hülfsmittel, gegen deren Anwendung nichts einzuwenden ist, da nicht künstlerische Willkür, sondern technische Nötigung sie geboren hat. Das entbindet freilich den Künstler nicht von der Pflicht, mit diesen Mitteln streng hauszuhalten, sie eben auch nur im Notfalle und selbst dann mit der nötigen Diskretion zu gebrauchen. Wir wissen wohl, daß der Dichter, wollte er nie »die Bescheidenheit der Natur« verletzen, schwerlich jemals mit seiner Aufgabe zu Ende käme. Er soll überall bis an die äußerste Grenze des Möglichen vordringen dürfen. Aber darüber darf er nicht hinausgehen, darf nichts gegen die Natur zu unternehmen wagen. Und so müssen jene Erinnerungen der betreffenden Person wenigstens natürlich zu kommen scheinen; sie darf nicht länger bei denselben verweilen, als es ihr Seelenzustand und die Situation erlauben. Auch wäre es gegen die psychologische Erfahrung, wenn die Erinnerungen allzu deutlich wären, wenn sie nicht wie dissolving views durch die Seele glitten: im Dämmerschein – selbst solche Momente, die in der Wirklichkeit nur allzu grell beleuchtet gewesen waren. Vor allem aber müssen es wahr und wahrhaftig die Erinnerungen der Person, dürfen es nicht 274 Dinge sein, die sie gar nicht wissen oder doch nicht so wissen kann.

Das alles liegt auf der Hand – der Kinderverstand, scheint es, müßte es begreifen. Und doch hat Daudet in diesem Falle so ziemlich gegen alle von uns angeführten natürlichen Bedingungen gesündigt. Die Erinnerungen der einstigen »kleinen Chèbe«, jetzigen Madame Risler ainé, gehen durch vier Kapitel und 64 Seiten bis zum Ende des ersten Buches! Das ist zu viel, viel zu viel selbst für die rapideste Erinnerung! Die Geschichte kann der jungen Frau, die da in der offnen Balkonthür in die Nacht hinein, zu dem Mansardenfenster der elterlichen Wohnung emporstarrt, – und gewähren wir der poetischen Lizenz den freiesten Spielraum – nicht so, und zum Teil überhaupt nicht durch die Seele gehen. Diese Geschichte träumt nicht Sidonie Risler, geborene Chèbe – sie erzählt der sentimentale, der sarkastische, der gefühlvolle, der witzige Alphonse Daudet – erzählt sie in seiner Weise, in seinem Tone. Und er ist so bei der Sache, daß er der Person, aus deren erinnerndem Geiste heraus sich das doch alles gestalten soll, zeitweise völlig vergißt, und zuletzt (auf S. 80) nur mit einem »Et voilà il se fait que le soir de son mariage la jeune Mad Risler« – d. h. mit einem unkünstlerischen Salto mortale zu derselben zurück gelangen kann.

Alles in allem also, wenn auch ausgehend von einem vornehmeren Geiste und mit dem Versuch wenigstens, eine künstlerische Wendung zu nehmen, hier wiederum ein Beispiel jener leidigen Gepflogenheit der französischen Romanschreiber: der eigentlichen Geschichte eine andre vorangehen zu lassen, welche jener als Einleitung dienen, dem Autor (wie er meint) die Hände zu seinem Hauptgeschäft frei machen und ihm erlauben soll, dasselbe möglichst glatt und zugleich wirkungsvoll auszuführen.

Wenn das doch nur geschähe! wenn wir doch nun wenig 275stens aus der prosaischen Einleitung, die wir über uns ergehen lassen mußten, definitiv heraus wären; uns von jetzt an einer rein künstlerischen Darstellung erfreuen könnten!

Das ist aber leider keineswegs der Fall. Alle Augenblicke nimmt der Autor den Freibrief zurück, welchen er seinen Personen gegeben. Mögen sie immerhin versuchen wollen, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen, sich durch ihr Thun über sich selbst auszuweisen! Erscheint eine derselben in dieser löblichen Absicht auf dem Plan, flugs ist der diensteifrige Autor hinter ihr her, schildert sie uns vom Kopf bis zu den Füßen, giebt uns eine Analyse ihres Charakters, ihrer Denkungsart und eine längere oder kürzere Relation ihres Lebenslaufs bis zu dem gegenwärtigen Augenblick. Diese rohe, kläglich kindische Manier, durch die sich bei uns nur noch Stümper und Dilettanten der Erzählungskunst kennzeichnen, wird bei den Franzosen selbst von ihren besten Autoren nicht verschmäht, und wird in unserm »gekrönten« Roman ausgiebigst angewandt.

Hier ein Beispiel für viele. Serge Panine. p. 47.

Die Hauptperson, eben jene Madame Desvarennes, sitzt in ihrem Bureau und besorgt ihre Korrespondenz. Ihr Faktotum, ein gewisser Herr Maréchal, erscheint. Nun heißt es weiter:

»Hinter ihm kam ein starker, untersetzter, luxuriös gekleideter Mann, schwerfälligen Ansehens. Sein sehr braunes, mit einem groben Bart eingerahmtes Gesicht, seine von den buschigen Brauen überragten Augen gaben ihm für den ersten Augenblick etwas sehr Hartes, Strenges. Aber diesen Eindruck hob sein Mund sofort wieder auf. Seine fleischigen, sinnlichen Lippen verrieten wollüstige Neigungen. Hätte ein Adept Lavaters oder Galls seine Finger über die Schädel-Protuberanzen des neu Angekommenen gleiten lassen, würde er das Zeichen der Verliebtheit 276 außerordentlich entwickelt gefunden haben. Dieser Mann, einmal von Liebe erfaßt, mußte wahnsinnig lieben.

– Guten Tag, verehrte Frau, sagte er in vertraulichem Tone, indem er auf Madame Desvarennes zutrat.

Die Frau hob lebhaft den Kopf und sagte mit freundschaftlicher Stimme:

Ach! Sie sind's, Cayrol! Das trifft sich gut; ich wollte gerade nach Ihnen schicken.

Jean Cayrol, aus dem Cantal gebürtig, war in den rauhen Bergen der Auvergne aufgewachsen. Sein Vater – – –«

Folgt nun das curriculum vitae des Mannes nebst eingeflochtener specieller Analyse seiner physischen, moralischen, intellektuellen Eigenschaften. Wir erfahren, daß er stark ist »wie ein Stier«, »sehr intelligent«, »ein ausgezeichneter Financier«, »gierig nach Reichtümern«, aber entschlossen, »lieber zu sterben, als sich durch unehrliche Mittel zu bereichern.«

Wenn der Leser den Mann jetzt noch nicht kennt, so ist es gewiß nicht Schuld des Autors!

Und das alles wird uns auf mehreren Seiten mitgeteilt, während die betreffenden Personen in der angedeuteten Situation verharren müssen, und ihre eingefädelte Unterhaltung nicht um eine Linie aus der Stelle rückt!

Nicht genug damit. Es handelt sich in diesem Augenblick hauptsächlich um das Verhältnis des »Ankömmlings« zu Serge Panine, dem Titelhelden; und da der Autor nach dieser Seite nicht hinreichend vorgesorgt hat oder zu haben glaubt, läßt er lieber Frau Desvarennes und Herrn Cayrol noch ein paar Seiten länger in der Schwebe, als daß er jenes Geschäft nicht zuvor besorgte, wobei es denn natürlich an einem Porträt des »schönen Serge« und anderen Indiskretionen nicht fehlen wird.

»Er war wirklich bewunderungswürdig, dieser Panine, mit seinen Augen, deren Blau so rein war, wie bei einem jungen Mädchen, und seinem langen blonden Schnurrbart, der zu beiden Seiten seines rosigen Mundes herab hing. Dabei eine wahrhaft königliche Haltung, den Abkömmling eines altadligen Geschlechts verkündigend. Eine allerliebste Hand u. s. w.

Seine Geschichte war in Paris sehr bekannt. Er war geboren in jener Provinz Posen, welche Preußen, dieser Haifisch Europas, gewaltsam annektiert hatte u. s. w. u. s. w.«

Noch immer ist das Vertrauen des Autors auf die Geduld des Lesers nicht erschöpft. Es fällt ihm ein, während derselbe (und das vorgeführte Paar) begierig auf Fortsetzung jener angefangenen Unterredung warten, daß eben dieselben Personen vor längerer Zeit über dasselbe Thema, das sie jetzt (vermeintlich) beschäftigen wird, eine Unterredung gehabt haben. So wird denn in die unterbrochene Unterredung jene vorhergegangene wörtlich eingeschoben. Endlich nach vollen elf Seiten, sind alle Regisseurgeschäfte erledigt, und die jäh sistierte Scene kann weiter gespielt werden.

Hier nun drängen sich ein paar Fragen auf.

Hat der gekrönte Autor keine Ahnung davon, wie tief er in den Augen des Kenners herabsinkt, wenn er in einer Weise erzählt, die man selbst dem grünsten Anfänger nicht durchgehen lassen würde, und zu welcher (was das Beschämendste für ihn sein möchte) ein wirkliches Talent niemals greift, auch nicht bei seinen ersten Versuchen?

Oder: wenn er eine Ahnung davon hat, und es also nur die Not sein kann, die ihn zu so kläglichen Mitteln greifen läßt, ist diese Not vorhanden? oder, anders ausgedrückt: war die Einleitung nicht vollständig genug, so daß er hier (in der nun ernsthaft begonnenen Aktion) in jenes Vorstadium zurückgreifen mußte?

Auf die erste Frage ist zu antworten: schwerlich hat er eine Ahnung von der ästhetischen Erbärmlichkeit seiner Technik, so 278 wenig wie das Publikum von Fehlern, die so groß und häßlich sind, daß sie, wenn man sie ins Musikalische oder Malerische übersetzte, das damit behaftete Musikstück oder Gemälde unweigerlich von einem Konzertsaal, von einer Ausstellung ausschließen würden.

Die zweite Frage ist nicht so einfach zu beantworten, da sich schwer nachweisen läßt, in wieviel ganz unnötige Not den Autor eben jener Mangel an Formgefühl und technischer Routine verwickelt, der ihn hier zu unerlaubten Mitteln greifen, dort erlaubte Mittel zu stark anwenden läßt; ein andermal wieder auf einem Umwege nach einem Ziele treibt, das ihm gar nicht entgehen könnte, wenn er ruhig seine Straße zöge.

So darf man behaupten, daß die »Einleitung«, wie sie durchweg unkünstlerisch, so auch zum Teil unnötig ist; daß vieles von dem, worüber der Autor uns aufklären zu sollen meint, aus dem Folgenden fraglos mit vollkommener Klarheit sich ergeben würde; vorausgesetzt, daß es ihm gefallen hätte, den Plan der eigentlichen Geschichte ein wenig zu erweitern; und freilich dann auch möglich gewesen wäre, dieselbe – ein wenig besser zu erzählen.

Wie er es angefangen, und bei dem Maße der Technik, über das er zu verfügen hat, muß man allerdings sagen: die Einleitung ist nicht zu lang, sondern: ist nicht lang, nicht ausführlich genug. Es mußte die Vorgeschichte des »schönen Serge« und so noch eine ganze Reihe von Vorgeschichten mit hinein gezogen werden, bevor der Autor wirklich seinen Zweck erreichen und die letzten Kapitel des Romans, dessen überreicher Stoff ihm soviel Mühe und Arbeit gemacht, ohne Unterbrechung glatt hintereinander weg erzählen konnte.

Denn dies ist der richtige Ausdruck für die Sache: diese Romane sind nur die letzten Kapitel von Romanen, deren übriger Stoff in Form der vielbesprochenen Einleitung und 279 jener eingestreuten ungeschickten Erklärungsepisoden wohl oder übel, d. h mehr übel, als wohl, wenn nicht bewältigt, so doch auf die Seite geschafft wird.

Aber, möchte hier jemand einwerfen, wäre da nicht die Bezeichnung »Novelle« als eine geläufigere und die Sache doch auch deckende besser?

Der Einwurf ist nicht ohne scheinbare Berechtigung und verdient deshalb eine ernstliche Prüfung.

Die Aehnlichkeit zwischen der in Frage stehenden Sorte von Romanen und der Novelle springt in die Augen. Da ist zuerst, – in den meisten dieser Romane wenigstens – nur eine geringe Anzahl von Hauptpersonen, die von einer womöglich noch geringeren Begleitschar von Nebenpersonen unterstützt wird – gerade wie es die Novelle liebt. Da brauchen wir nicht über das geheimnisvolle Wesen der Menschen lange zu grübeln: sie treten fix und fertig, so zu sagen, vor uns hin; ja der Hauptaccent des Interesses fällt nicht sowohl in das Wesen und den Charakter der Menschen, als in die Peripetien des Konfliktes, der aus dem Kontakt dieser fertigen Menschen resultiert, und auf dessen Katastrophe mit möglichster Kraft hinzuarbeiten, die einzige, jedenfalls die hauptsächlichste Aufgabe des Dichters scheint – alles genau so, wie wir es bei der Novelle zu fordern und zu finden gewohnt sind. Und daß die etwaige Länge eines derartigen spannenden Romanes die Bezeichnung Novelle unmöglich machte, kann man gewiß nicht behaupten, angesichts der modernen Novelle, welche die lakonisch-knappe Vortragsweise früherer Zeiten längst überwunden, sich längst auf die Darstellung der kompliziertesten Seelenzustände und Konflikte eingelassen hat, ja, dieselben mit Vorliebe aufsucht und zur Bewältigung dieser ihrer größeren Vorwürfe natürlich auch umfangreicherer Mittel, besonders eines größeren Raumes bedarf.

Um bei der Erwiderung dieser Einwürfe mit dem letzten 280 Punkte zu beginnen, so muß zugestanden werden, daß aus dem äußeren Umfang einer Erzählung in der That nur mit großer Unsicherheit auf die ästhetische Kategorie derselben geschlossen werden kann. Kommt es doch auch bei uns nicht selten vor, daß der Titel »Roman« wirklich nur eine Konzession an den Leser ist, der sich wundern möchte, eine ausgedehnte Geschichte als Novelle bezeichnet zu sehen, die man doch, rein ästhetisch genommen, so nennen müßte, weil sie alles in allem – trotz ihrer echt modernen psychologischen Akribie und Vertiefung in die Abgründe der Menschennatur, – der Goethe'schen Definition der Novelle entspricht, d. h. »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit« ist. Goethe bei Eckermann (Gespräche I, 220): »Was ist die Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.« Hat ja doch der Altmeister hier wieder einmal das Resultat einer langen ästhetischen Analyse auf die einfachste Formel gebracht; ist ja doch in der That die glaubwürdige Darstellung einer unerhörten d. h. höchst merkwürdigen Begebenheit die Aufgabe des Novellendichters. Eine Aufgabe, bei der alles andere, und wäre es an und für sich noch so interessant, dem einen Hauptzweck untergeordnet werden muß; die Charaktere der Betreffenden nur soweit in Betracht kommen, als die Möglichkeit und Wirklichkeit der Begebenheit darauf basiert; der Weltlauf – das Menschengetriebe im Großen – unbeachtet bleibt, oder doch nicht genauer beachtet wird, als es die Verständlichkeit jener Begebenheit unbedingt erfordert. Umgekehrt, wie der Romandichter gerade das Menschengetriebe, den Weltlauf erschöpfend darstellen möchte und sich nicht ohne Trauer und Wehmut bescheidet, wenn er sieht, daß er immer doch nur einen Teil seines Vorhabens auszuführen imstande ist. Und sich mithin, in Anbetracht der Verschiedenheit ihrer Aufgaben, Strebungen und Darstellungsmethoden, die Novelle und der Roman in der Dichtkunst voneinander unterscheiden möchten, wie etwa in der medizinischen Wissenschaft ein pa 281thologischer Einzelfall von der Pathologie des betreffenden Organs. Gewiß kann der Einzelfall ohne Kenntnis des Organs nicht begriffen werden und so weist auch jede Begebenheit – und je »unerhörter« desto eindringlicher – in das Ganze der Menschheit hinüber. Aber wie eine Monographie über einen besonders merkwürdigen pathologischen Einzelfall, ohne sich nur einen Schritt von ihrer Aufgabe zu entfernen – bei der strengsten Methode und knappsten Darstellung – den Umfang eines Lehrbuches erreichen oder gar übersteigen kann, das etwa das ganze betroffene Organ behandelt, – so wüßte ich in der That nicht, weshalb unter Umstanden eine Novelle aufhören sollte, Novelle zu sein, weil sie an Umfang es mit den landläufigen Romanen aufnimmt. Daß es nicht die Regel sein wird, gebe ich eben so willig zu, als ich bereit bin anzunehmen, es werden Lehrbücher ganzer Disciplinen gemeiniglich die Monographien über Specialfälle an Bogenzahl übertreffen. Eine erfreuliche Bestätigung der obigen Ansichten über die bedenkliche Unsicherheit des quantitativen Moments in der Unterscheidung von Roman und Novelle finde ich neuerdings in Fr. Th. Vischer's Altes und Neues III. Heft. S. 356, 357.

Ich hoffe nicht zu weit von unserm Thema abgeschweift zu sein. Es handelte sich um die Bestätigung der Richtigkeit des Einwurfs, daß die etwaige nach unsern Begriffen zu große Stärke jener Romane kein Hinderungsgrund sein würde, sie der Kategorie der Novelle beizuzählen, in welche sie ja auch andere wichtigere, aus ihrem Wesen geschöpfte Kennzeichen zu weisen scheinen: die geringe Anzahl ihrer Personen, der rapide auf die Katastrophe gespannte Lauf der Geschichte.

Indessen diese Kennzeichen sind in den von uns untersuchten Fällen nicht echt, weil die korrespondierenden Eigenschaften an einer ganz bestimmten Vorbedingung haften: an dem Vorhandensein jener »Einleitung«. Die Einleitung ist zum 282 Teil unnötig, wie wir sahen; ist zum Teil nur eine Folge des technischen Ungeschicks ihres Autors. Aber nehmt sie ganz weg, und die »unerhörte« Begebenheit wird zu einer unmöglichen d. h. zu einer, die wir nicht mehr verstehen; oder doch zu einer Monstruosität, die wir allenfalls noch verstehen, die uns aber in ihrer Auflehnung und Empörung gegen das ästhetische und moralische Gesetz so abscheulich dünkt, daß wir dem Autor dankbar gewesen wären, wenn er uns mit der Bekanntmachung derselben verschont hätte.

Der Autor hat uns für diese Behauptungen einen vortrefflichen Beweis in die Hand gespielt: er hat aus eben jenem Rest ein Drama gemacht. Wäre ihm nun diese Operation gelungen, d. h. das aus jenem Rest (ohne Hinzunahme weiteren Stoffes) geschöpfte Drama ein gutes, in sich selbst ruhendes, sich aus sich selbst erklärendes geworden, so würden wir den Rückschluß nicht nur machen können, sondern machen müssen, daß jener Rest allerdings eine Novelle ist; ebenso wie im anderen Falle (dem der nicht gelungenen Operation) die Beschaffenheit des Restes als eines Romans, respektive Romanfragmentes klar hervorträte.

Versuchen wir diese Sätze und den aus denselben gezogenen Schluß im einzelnen zu begründen und zu rechtfertigen.

Bekanntlich entgeht in Frankreich kaum noch ein bedeutenderes episches »ouvrage« d. h. eines, das eine bedeutendere Sensation gemacht hat, der Umwandlung in ein Drama. Und es ist charakteristisch, daß die Operation meistens von dem Dichter selbst vorgenommen wird, als sei es ein restierender Teil seines Geschäftes, welches von vornherein auf diesen Abschluß hin angelegt war. Oft kann man sich des Eindrucks, daß dies wirklich der Fall, kaum erwehren.

Ich habe bereits, indem ich die Erzählungsmethode in unserm Roman (und tausend anderen französischen Romanen) zu schildern versuchte, das beständige Eingreifen des Dichters in den 283 natur- und kunstgemäßen Fortschritt der Geschichte und seine umständlichen Erläuterungen der Verhältnisse der Personen untereinander, seine detaillierten Analysen ihrer Charaktere u. s. w. – als »Regisseurarbeit« bezeichnet. Und glauben wir, wenn wir ihn so hantieren sehen, nicht in der That einen eifrigen Regisseur bei seiner Arbeit zu belauschen: wie er einem Mimen, dem er die rechte Phantasie und Fassungskraft nicht zutraut, die Rolle auszudeuten und anzupassen sucht: »Sehen Sie, Herr, (oder Dame) so und so muß Ihre Maske, so Ihre Miene, Ihre Geste sein, damit das Publikum, sobald Sie hier rechts aus der Coulisse treten, weiß, daß Sie ein Erzhalunke (respektive ein kompletter Engel) sind. Wie Sie das anfangen, und die Leute erst allmählich durch Ihr Thun, Ihr Reden in das Verständnis Ihres Charakters einführen wollen – es scheint, Sie sind ein denkender Künstler – alle Achtung! aber wir können das nicht brauchen; bei uns muß das schnell gehen; sonst langweilen sich die Leute, oder glauben, wenn Sie ihnen nicht von vornherein den rechten point de vue geben, sich von Ihnen an der Nase geführt, und wir haben den Schaden.« – Wiederum gleicht es nicht der Arbeit eines Coulissenmeisters, wenn uns der Autor, so oft seine Personen den Schauplatz wechseln, erst die Scene aufbaut in Form oft seitenlanger Beschreibungen Siehe z. B. in unserm Roman die Beschreibung des Desvarennes'schen Stadthauses S. 99, und die Schilderung des Schlosses Cernay S. 157., in denen uns kein Detail geschenkt wird bis zu den Möbelstoffen, von Räumen selbst, die wir im Laufe der Geschichte nicht ein einziges Mal betreten werden, und die der eifrige Mann (der hier vom Coulissenmeister zu einem Kastellan oder Tapezierer herabsteigt) uns nur bei dieser Gelegenheit (welche er sich selber macht) aufschließt, um sich an unserm blöden Staunen ob all der Pracht und Herrlichkeit zu ergötzen? Diesem Deskriptions-Luxus im schlechten epischen, von Lessing im Laokoon gebrandmarkten Stil der Be 284schreibung des Schildes, welchen Venus dem Aeneas bringt, entspricht genau die wiederum völlig unepische (aber echt dramatische) Dürftigkeit, mit welcher an anderen Stellen das Lokal (im weiteren Sinne) behandelt wird. Nachdem der Autor es einmal in der eben definierten Weise, so zu sagen: rein mechanisch festgestellt, kommt er nicht wieder, oder doch kaum jemals darauf zurück. Und gewiß niemals mit der Liebe des Epikers, der seine Personen, er mag wollen oder nicht, immer vor dem Hintergrunde, inmitten der Natur- und sonstigen Umgebung sieht; der es gar nicht lassen kann und nicht müde wird, die feinen Beziehungen zu berühren, anzudeuten und aufzudecken, in welchen der Mensch zu dieser Umgebung steht.

Indessen es bleibe schwierig oder sei unmöglich, im Einzelfalle zu entscheiden, wie weit der Dichter hier und in seiner übrigen Art den epischen Stoff anzufassen und zu bearbeiten mit vollem Bewußtsein auf einen bestimmten Zweck hinarbeitet, oder nur dem unwiderstehlichen Zuge folgt, der von außen her durch die Anforderungen der Mode, das Uebergewicht des Theaters auf ihn ausgeübt wird – in der Sache kommt es auf dasselbe hinaus, darauf: daß er, soviel an ihm war, gethan hat, um den letzten Schritt, den Uebergang auf die Bühne möglichst leicht, möglichst bequem, man möchte sagen: unumgänglich zu machen.

Nun aber ist es ein bekanntes Gesetz, daß dieser Schritt der Uebertragung eines Motivs aus einer Kunstgattung oder Species in die andere, so leicht und bequem er scheint, nur dann mit Erfolg gemacht werden kann, wenn zwischen den betreffenden Kunstsphären eine Verwandtschaft herrscht, die man wohl eine der Wahl nennen darf, da sie sonst toto genere verschieden sein mögen. So sehnt sich das Lied nach innigster Verbindung mit der Musik, die ja ihrerseits wieder Lieder ohne Worte dichtet, während bereits die Ballade, besonders die ausgeführtere, ihres 285 epischen Beisatzes wegen sich spröder zeigt, und die eigentlich epische Poesie kaum die geringste Hinneigung zur Kunst der Töne verrät. Wiederum mag ein rein dramatisches Motiv den Musiker mächtig ergreifen, und er versuchen, es in seine Sprache zu übertragen. Dann: wie oft hat nicht schon der Anblick eines schönen landschaftlichen Bildes, eines Porträts sogar, den Dichter zu Strophen begeistert, aus deren Wohllaut die Stimmung, die Anmut, welche der Maler in sein Werk zu legen verstand, widerklangen? Aber derselbe Dichter, und beherrschte er sein Organ, die Sprache, völlig, würde Unmögliches versuchen, wollte er die mystischen Tiefen einer Beethoven'schen Symphonie mit dem Worte ermessen, ebenso wie die vielstimmige Musik für die Gedankenschwere Schiller'scher Reflexionspoesie keinen adäquaten Ausdruck hätte.

Von der langen Reihe derartiger, bald einseitiger, bald gegenseitiger Attraktionen und Repulsionen interessieren uns hier nur zwei Verhältnisse, die, in welchen Roman und Novelle zu dem Drama stehen.

Glücklicherweise gehören sie zu den ausgesprochensten, so daß man aus ihnen Regeln abstrahieren kann, die kaum eine Ausnahme zulassen. Diese Regeln lauten:

Kein Romanstoff ist auch zugleich ein Dramenstoff, folglich kann kein Roman in ein Drama umgedichtet werden.

Ein Novellenstoff ist fast immer zugleich dramatisch; folglich kann beinahe jede Novelle in ein Drama umgedichtet werden.

Freilich wolle man unter »Romanstoff« – »Novellenstoff« nicht etwa jedes beliebige Material verstehen, das unter anderem in einem Romane, einer Novelle verarbeitet werden mag, sondern die Idee, welche dem Romane, der Novelle zu Grunde liegt, in denselben zum vollkommenen Ausdruck gebracht ist und in der dramatischen »Umdichtung« zu einem ebenso vollkommenen Ausdruck gebracht werden müßte. Das ist beim Roman 286 unmöglich, denn hier ist die Idee von einem solchen Umfange, ist so verästelt und verzweigt in Geist, Herz und Gemüt der vielen Individuen, die alle zusammenwirken müssen, damit das vom Dichter beabsichtigte Bild der Menschheit herauskommt; treibt das Gefaser ihrer Wurzeln so weit umher und so tief in den schweren Boden ganz bestimmter historischer, socialer Verhältnisse, deren Darstellung nötig ist, um jenem Bilde einen Charakter zu geben – der Dramatiker, der thöricht genug ist, diesen reichen Stoff, diese fruchtbare Idee auf seine Weise, mit seinen Mitteln reproduzieren zu wollen, erlahmt auf halbem Wege. Er mag von Glück sagen, wenn er den Teil, den er herausgegriffen, – vielleicht nur die Episode, auf die er sich beschränkt, – ungefähr zum befriedigenden Ausdruck gebracht hat. Das ganze Unglück aber bricht über ihn herein, wenn er hartnäckig den eingeschlagenen Weg verfolgt und durch Dunkelheiten, in denen kein schärfstes Auge sich zu orientieren, über Abgründe, die keine schlagfertigste Phantasie zu überbrücken vermag, dem ihm unerreichbaren Ziele, der Darstellung einer epischen Idee in ihrer Totalität, zustrebt. Ich werde in dem folgenden Aufsatze an Ibsens »Nora« diese Kalamität in ihren Einzelheiten zu schildern versuchen. Indessen liegt dort der Fall für den Kritiker insofern nicht günstig, als der Roman, aus dem er das Drama herleitet, nicht existiert außer in seiner Phantasie. Günstiger für ihn Aber auch freilich günstiger für den Dramatiker, dessen Arbeit oft nur deshalb erträglich ist, weil das Publikum aus seiner Bekanntschaft mit dem Romane die Dunkelheiten aufklärt, die Risse und Sprünge überbrückt und schließlich für das, was ihm von der Bühne geboten wird, vielleicht noch dankbar ist, wie ein Leser für gute oder gutgemeinte Illustrationen eines ihm wohlbekannten und lieben Romantextes. liegen die unzähligen Fälle, wo der Roman, nach welchem der Dramatiker arbeitete, vorhanden ist und er also sein Verdikt durch den zwischen den beiden Objekten angestellten Vergleich in jedem Punkte substanziieren kann.

287 Wir sind nun in dieser Lage. Und da unser Autor selbst sein »ouvrage couronné« dramatisiert hat, so geht er auch der Wohlthat verlustig, die Unzulänglichkeiten des Dramas dem Bearbeiter in die Schuhe schieben zu können. Ueberdies muß ausdrücklich das große Geschick, welches er bei der Operation an den Tag legt, hervorgehoben werden. Er hat das Drama gerade so gut gemacht, wie eines sein kann, das aus einem »ouvrage« gemacht wird, welches ein Roman ist oder, wie wir gesehen haben, ein paar letzte Romankapitel.

Davon alsbald; nachdem wir uns durch einfache Umkehr aller jener Gründe, aus denen wir die totale Diskrepanz der Roman-Idee und der dramatischen Idee und die obligate Unmöglichkeit der Umdichtung jener in die dramatische Form nachwiesen, überzeugt haben, wie eng die Wahlverwandtschaft der Novellen-Idee und der dramatischen ist, und wie leicht deshalb eine Umwandlung aus der novellistischen Form in die dramatische stattfinden kann. Nicht stattfinden muß. Es mag ja sein, daß die »unerhörte Begebenheit« zu verzweigt ist, um dem Begriff und Wesen der »Handlung«, wie sie das Drama verlangt, völlig zu genügen; es mag ja sein, daß die »Begebenheit« zu straff an gewisse geschichtliche, kulturelle, lokale Bedingungen gebunden ist, welche der erzählende Dichter leicht mit anklingen und exponieren, der Dramatiker aber schwer zur Darstellung bringen kann. Aber in den weitaus meisten Fällen – man denke an die Unzahl der notorisch aus Novellen geschöpften vorzüglichen Dramen! – wird das Verhältnis ein durchaus günstiges sein: die »unerhörte Begebenheit« sich als »Handlung« im dramatischen Sinne ausweisen; die geringe Anzahl der Personen sich willig in den beschränkten Rahmen des Dramas fügen; die epische Gebundenheit an Ort und Zeit dem Dramatiker keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten.

Aber wohlgemerkt: die Entscheidung, ob ein novellistischer 288 Stoff sich für die dramatische Behandlung eigne, kann in gegebenem Falle irrtümlich sein; die Annahme, daß ein Roman-Stoff sich derselben willig fügen werde, ist es unter allen Umständen, selbst dann, wenn die Aehnlichkeit des letzteren mit dem ersteren eine noch so große ist.

In unserm Falle nun – und er ist deshalb ein besonders interessanter und lehrreicher – ist diese Aehnlichkeit in der That eine sehr große; eine so große, daß auf den ersten Blick der Roman-Stoff völlig einem Novellen- respektive Dramen-Stoff zu gleichen scheint.

Ein blutarmer junger polnischer Fürst heiratet ein junges tugendhaftes Mädchen, das einzige Kind einer bürgerlichen Witwe, die sich ihren ungeheuren Reichtum durch ungewöhnliche kaufmännische Intelligenz und eine immense Arbeitskraft selbst erworben hat. Der fürstliche Schwindler bricht die Ehe; vergeudet das ihm zugebrachte Vermögen; würde, wenn man ihn gewähren ließe, auch den Rest vergeuden; hat bereits, wie die Ehre der Familie, so die des Handlungshauses kompromittiert, und wird, da er sich weigert, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen, im Gegenteil droht, Tochter und Mutter in seinen unvermeidlichen moralischen und ökonomischen Ruin mit hinabzuziehen, von der letzteren erschossen.

Ist hier nicht die »unerhörte Begebenheit«, wie sie die Goethe'sche Definition in ihrer striktesten Anwendung nur verlangen kann? zugleich (und zwar in einer Evidenz, die uns für diesen Fall von dem weiteren Nachweis der Wahlverwandtschaft zwischen Novelle und Drama zu entbinden scheint) die »Handlung«, welche das Drama verlangt, um dieselbe in ihren Stadien bis zur Katastrophe und über diese hinaus in der Reaktion des Weltlaufs gegen die einseitige Energie des Thäters darzustellen?

Freilich! aber eben nur auf den ersten Blick. Sobald wir genauer zusehen, bemerken wir die weitverbreiteten Wurzeln, 289 mittelst welcher die von begleitenden und bedingenden Nebenumständen scheinbar völlig losgelöste Begebenheit (Handlung) aus dem tiefen Grunde der socialen Verhältnisse und der durch tausend Umstände bedingten Formation und Entwickelung der Charaktere ihre Lebenskraft saugt. Da repräsentiert denn fast jedes Beiwort in unsrer obigen zusammengedrängten Inhaltsangabe eine Geschichte für sich, die wir kennen müssen, soll in das Ganze ein Zusammenhang kommen, welcher unsern Verstand und unser sittliches Bewußtsein befriedigt. Wir müssen uns voll in die prekäre, ja verzweifelte Lage des jungen Fürsten versetzen können, sollen wir zum mindesten begreifen, wie er ein armes Mädchen, das er liebt (Jeanne), opfert, um ein reiches, das er nicht liebt (Micheline), zu heiraten. Und Michelinens Verrat an ihrem Verlobten (Pierre) wäre wiederum unbegreiflich, oder doch zu verächtlich, ohne Hinzurechnung des Zaubers, den auf das trotz ihres Reichtums einfach erzogene, bürgerliche, französische Mädchen der polnische Fürst, der Kämpfer für die Freiheit seines geknechteten Vaterlandes, der auf dem Schlachtfeld von Sadowa verwundete Held ausübt. Und wäre auch dies (und noch so mancher seltsame Zug in der Geschichte) zu verstehen auf die bloße Versicherung des Autors hin, – völlig unbegreiflich – und versicherte er es uns tausendmal und führte er es uns leibhaftig vor – ist und bleibt die Hauptsache, auf die alles abzielt: die That der Heldin. Denn die Heldin des sogenannten Romans (und ebenso des Dramas) ist und bleibt Madame Desvarennes, sowohl de jure als de facto. Und es ist ein trauriger Beweis von des Verfassers Unsicherheit in ästhetischen Dingen, wenn er an die Stelle dieser ersten Person eine andere setzt, die zu dem Beruf der ästhetischen Führerschaft nichts mitbringt, als – einen anziehenden ausländischen Namen. Wie? eine höchst ehrbare, durchaus gutgesinnte, streng rechtlich denkende Frau, bürgerlichen Standes, die jedenfalls Zeit ihres Lebens keine Pistole in der Hand gehabt, greift zur Mordwaffe und schießt einen 290 Menschen über den Haufen, der ihr (zugegeben) in verhängnisvoller Weise im Wege steht? Ja, wenn die Geschichte ein Jahrhundert früher spielte, und die Dame auf einem Throne geboren wäre, auf einem Throne säße, – eine selbstherrliche Katharina, die sich in der Eile zur Exekutorin eines Todesspruches macht, welchen sie übrigens jeden Augenblick dekretieren könnte – aber so! Gerade so, sagt der Autor; denn meine Madame Desvarennes, gewesene Bäckerfrau, wie sie ist, habe ich euch als eine selbstherrliche Natur geschildert, als eine Autokratin, die keinen Widerspruch duldet und zu dulden braucht, weil sie sich alles selbst verdankt: ihren unermeßlichen Reichtum, ihre Machtstellung in der Finanzwelt, das königliche Ansehen, dessen sie sich bei Hoch und Niedrig erfreut. Und ich habe euch erzählt, wie schmerzlich diese Frau lange Jahre des Kindes geharrt hat, das endlich zu ihrer unsäglichen Freude geboren wurde; das ihr einziges blieb; und auf das sie nun den unverbrauchten Schatz ihrer zärtlichen Gefühle häufte; und das sie liebte, anbetete mit einer Energie, die aus ihrem Charakter, mit einer Ausschließlichkeit, die aus ihren Verhältnissen verständlich ist – mit einer Tigerinnenliebe, um meine treffende Bezeichnung zu wiederholen …

Geschildert? erzählt? wo denn? ja so: in der Einleitung! – auf jenen 26 Seiten, welche den Leser in einer knappen, nicht völlig, aber so ziemlich übersichtlichen, zweckentsprechenden Weise mit allem bekannt und vertraut machen, womit er bekannt und vertraut sein muß, um das, was folgt, zu verstehen.

Das, was folgt! d. h. jenen zweiten Teil, der, wenn es nicht eben jener Einleitung bedürfte, eine Novelle, die sich in ein Drama hätte umdichten lassen, sein würde, und, wie die Sache jetzt liegt, das Finale eines Romans ist, welches der Autor für eine Novelle hielt, die er, wie sie da ging und stand, in ein Drama verwandeln zu können meinte, dadurch, daß er sie (mit Weglassung 291 des bißchen epischen Beiwerks) von Seite 27 an Scene für Scene dialogisierte.

Ich muß den Leser bitten, auf dem von mir angedeuteten Wege weiter zu gehen, und sich zu überzeugen, welch ein – trotz der geschickten Mache – durch und durch unzulängliches brutales Stück Arbeit dieses sogenannte Drama ist. Deshalb ist, weil der Verfasser über die Natur seines Werkes durchaus im Unklaren war; die Notwendigkeit der »Einleitung« nicht begriff, oder doch nicht die Konsequenzen aus dieser Notwendigkeit zog, und sich sagte, daß, wenn die folgende Geschichte ohne dieselbe unverständlich blieb, ein Drama, das ausschließlich auf diese folgende Geschichte basiert war, ebenso unverständlich sein mußte. Oder wenn er glaubte, die Macht der dramatischen Gegenwart, der Reichtum der schauspielerischen Ausdrucksmittel im Gesten-und Mienenspiel würden ein Uebriges thun, d. h. dem Zuschauer, dem Hörer die »Einleitung« ersetzen und jene, ohne die Einleitung in der Handlung und in den Charakteren klaffenden ästhetischen Sprünge und Risse ausfüllen und verkleben, so bedachte er wiederum nicht, daß der Kunst selbst des guten Schauspielers nach dieser Seite doch sehr enge Grenzen gezogen sind und es eine Menge zarter und komplizierter Beziehungen und Verhältnisse giebt, die durch keine noch so ausdrucksvolle Geste, durch kein noch so reiches Spiel der Mienen allein verständlich gemacht werden können. So z. B. das Verhältnis zwischen Serge und Jeanne. Man vergleiche die korrespondierenden Scenen des Romans (S. 121 ff.) und des Dramas (I. 12). In dem Roman, wie im Drama droht Jeanne, ihrer Pflegemutter »Alles« zu sagen. Dort aber antwortet Serge: »Alles? Nun wahrlich, das wäre nicht viel«; und wir erfahren, daß, was bisher zwischen ihnen vorgefallen, auf eine immerhin recht lebhafte Liebelei hinausläuft. Hier hat Serge auf das drohende »Alles!« nichts zu erwidern; er interpretiert das fragwürdige Wort nicht; er wiederholt es nur – im verächtlichen Ton, begleitet mit einem Achselzucken, wollen wir annehmen, obgleich der Text es nicht vorschreibt – was gewinnen wir dadurch? sicher nicht die freundliche Gewißheit, daß dies alles eben – nichts ist: nichts Irreparables, Unwiederbringliches, Unlösliches. Aber in dem einen Falle ist der junge Mann ein Leichtsinniger, im andern ein Schurke. Und ähnlich so steht es mit Jeanne, die im Roman erst nach verzweifeltem Kampfe fällt, während das Drama sie uns bereits als ein Mädchen vorführt, das durch den nächsten Schritt – die Annahme der Hand Cayrols – den letzten Rest unsers Mitleids verscherzt.

292 An einen gewissen halsbrecherischen Sprung, der in der Handlung klafft, an einen Riß, der durch den Charakter der Hauptheldin geht und denselben völlig zerreißt, hat der Autor freilich im Roman so wenig wie im Drama gedacht. Das ist das Benehmen der Frau Desvarennes nach der That. Sie hat den jungen Mann erschossen. Die Umstände liegen so, daß der unmittelbar darauf erscheinende Polizeibeamte annehmen muß, der Unglückliche habe sich selbst das Leben genommen. Die Mörderin bestätigt es durch ihr Schweigen; ihr Vertrauter (der einen Blick mit der Patronin gewechselt und sofort »alles begreift«) bekräftigt durch eine ausdrücklich dahin zielende Versicherung die fälschliche Annahme. Also beide lügen, lügen gröblich, drehen der irdischen Gerechtigkeit eine fürchterliche Nase: der Vertraute aus Liebe zur Herrin; die Herrin aus – Furcht? – Das ist bei ihrem Charakter unmöglich – also aus derselben falschen Scham, welche ihr das Erscheinen ihres Schwiegersohnes auf der Angeklagtenbank als ein Unerträgliches erscheinen ließ, und sie jetzt den Schluß ziehen läßt, daß, was für den Schwiegersohn des Hauses Desvarennes unzulässig sei, es für die Herrin des Hauses doch doppelt und dreifach sein müsse. Welch brutaler Schlag in das Angesicht – nicht der Philistermoral, sondern – der wahren Sittlichkeit diese Sorte poetischer Gerechtigkeit ist – darüber nachzudenken hat der Autor sicherlich nicht eine Minute seiner kostbaren Zeit verloren. Bekanntlich hatte die Polizei in Berlin mehr Zeit. Sie überlegte sich den Fall und hielt dafür, daß es der Wirkung des Stückes nicht schaden werde, wenn Mad. Desvarennes sich zu ihrer That bekenne, – (nach meinem Vorschlag etwa mit den Worten: Nein, Herr Kommissar, glauben Sie ihm nicht! Ich habe den Fürsten getötet. Ich konnte nicht anders. Ob ich es durfte – darüber mögen die Richter entscheiden.); – jedenfalls bestand sie darauf, daß die pure nackte Lüge: »der Fürst hat sich selbst getötet« in ein vieldeutiges »der Fürst ist dem irdischen Richter entzogen« verwandelt werde. – Es ist gewiß nicht erfreulich, wenn sich die Polizei in ästhetische Angelegenheiten mischt; aber betrübend ist es, wenn sie dabei gegen Dichter, Theaterdirektor und Kritik recht behält. Ihm kam es nur auf einen 293 möglichst wirksamen Schluß seines Dramas an; er hielt diesen für den wirksamsten. Und daß er eben diesen Schluß auch für den Roman anticipierte, wo er doch frei über Zeit und Raum verfügte, und wohl gar aus dem nun folgenden Prozeß (mit der obligaten Freisprechung seitens der gerührten Geschworenen) ein wirksames Kapitel hätte machen können, – darin finde ich nur eine Bestätigung der gewaltsamen Tendenz des französischen Romans zum Drama, für welches wir die von uns nun im Detail geschilderte epische Form – vielmehr Unform – als Vorbereitungsstudium und Durchgangspunkt zu betrachten haben.

Dies Resultat unserer Untersuchung mag allzu geringfügig erscheinen im Verhältnis der Länge des Weges, der uns zum Ziele führte. Aber man möge wohl bedenken, daß es, wie in der Kunst selbst, so in der Wissenschaft der Kunst nichts Geringfügiges giebt. Und dies hier ist nicht einmal relativ geringfügig. Es ist im Gegenteil von der äußersten Wichtigkeit, die Gefahr zu erkennen, welche dem doch wahrlich ohnehin nur zu gefährdeten Roman aus diesem seinen Gravitieren nach dem Drama erwächst. Nicht bloß bei den Franzosen! auch bei uns! Auch bei uns sind die Fälle nicht selten und mehren sich zusehends, wo selbst geachtete und achtbare epische Dichter Wert und Würde ihrer Kunst aufs Spiel setzen, um durch den unepisch beschleunigten Gang der dargestellten Handlung, durch die Darstellung selbst in ihrer dramatisch-scenischen Lebendigkeit, das Vorherrschen des pointierten Dialogs u. s. w. eine erhöhte Wirkung auf das Publikum 294 zu erzielen, oder vielleicht auch nur der ihre Seele erfüllenden Leidenschaft Luft zu machen suchen.

Ist solches Streben doch ein sprechendes Zeichen – unter vielen ähnlichen und gleichen – der Zeit, in der wir leben; der Zeit, welche, wenn es gilt, den vielbegehrten Erfolg zu erringen, nicht mehr nach dem Preise fragt, und für die Leidenschaftlichkeit seines Wollens und Wünschens, die fieberhafte Regsamkeit seiner Phantasie und seines Denkens überall umher nach einem adäquaten Ausdruck sucht und tastet.

Das können und müssen wir begreifen, um uns gerade deshalb, gerade jetzt erst mit aller Energie an die unumstößlichen Gesetze zu klammern, welche das Leben und die Kunst bedingen und regieren.

In der Einsicht und Ueberzeugung, daß kein Erfolg dauerhaft ist, der mit ungesetzlichen Mitteln errungen wurde, und der Dichter niemals sicherer den Ausdruck seiner erregten Seele verfehlt, als wenn er die Grenzen mißachtet, die nicht Willkür, sondern die Natur der Kunst selbst zwischen ihren Gattungen gezogen hat.

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