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VI.
Novelle oder Roman?

(Gelegentlich der Novellen von Marie v. Olfers.)

(1876.)

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Der Unterschied zwischen Novelle und Roman hat den Aesthetikern schon viel Kopfzerbrechen verursacht. Indessen, man hat sich im ganzen und großen doch geeinigt und braucht keinen erheblichen Widerspruch zu fürchten, wenn man jenen Unterschied ungefähr so charakterisiert: die Novelle hat es mit fertigen Charakteren zu thun, die, durch eine besondere Verkettung der Umstände und Verhältnisse, in einen interessanten Konflikt gebracht werden, wodurch sie gezwungen sind, sich in ihrer allereigensten Natur zu offenbaren, also, daß der Konflikt, der sonst Gott weiß wie hätte verlaufen können, gerade diesen, durch die Eigentümlichkeit der engagierten Charaktere bedingten und schlechterdings keinen anderen Ausgang nehmen kann und muß. Fügen wir noch hinzu, daß in der älteren Novelle »die besondere Verkettung der Umstände und Verhältnisse« präponderiert, in der neueren dagegen, der modernen Empfindung gemäß, der Hauptaccent auf die »Eigentümlichkeit der engagierten Charaktere« fällt, so haben wir, glaube ich, so ziemlich beisammen, was die Novelle hinreichend scharf von dem Romane scheidet. Der Roman hat es weniger auf eine möglichst interessante Handlung abgesehen, als auf eine möglichst vollkommene Uebersicht der Breite und Weite des Menschenlebens. Er braucht deshalb – und gerade zu seinen Hauptpersonen – nicht Menschen, die schon fertig sind, und, weil sie es sind, wo immer sie eingreifen, die Situation zu einem raschen Abschluß bringen, sondern solche Individuen, die noch in der Entwicklung stehen, infolgedessen eine bestimmende Wirkung nicht wohl ausüben können, vielmehr selbst 246 durch die Verhältnisse, durch die Menschen ihrer Umgebung in ihrer Bildung, Entwicklung bestimmt werden, und so dem Dichter Gelegenheit geben, ja ihn nötigen, den Leser auf großen, weiten (allerdings möglichst blumenreichen) Umwegen zu seinem Ziele zu führen.

Natürlich ist dieses Ziel für den Novellisten und Romandichter im Grunde dasselbe: die Einsicht in die Tiefen der Menschenseele; aber da jener sich schon mit einer partiellen Deutung des Sphinx-Rätsels begnügt, dieser eine finale Lösung wenigstens anstrebt, so ist mit der verschiedenen Höhe und Distance der Ziele auch die entsprechende Verschiedenheit in der Behandlung der künstlerischen Mittel gesetzt. Der Novellist, wie er weniger Personen auf die Leinwand zu bringen hat, und eigentlich alles bei ihm auf dem ersten Plane vor sich geht, hat auch weniger Farben auf der Palette, dafür aber desto bestimmtere, und er malt in kecken, festen Strichen, gleichsam prima; der Romandichter, der viele Personen in Scene setzen und auf Vordergrund, Hinter- und Mittelgrund schicklich verteilen soll, braucht einen möglichst großen Rahmen und kann eigentlich gar nicht genug Farben zur Verfügung haben; muß bald mit einem feinen Pinsel, bald mit einem breiten, hier ein Kabinettsstück, dort beinahe al fresco malen. So gleicht die Novelle einem Multiplikationsexempel, in welchem mit wenigen Faktoren rasch ein sicheres Produkt herausgerechnet wird; der Roman einer Addition, deren Summe zu gewinnen, wegen der langen Reihe und der verschiedenen Größe der Summanden, umständlich und im ganzen etwas unsicher ist. Deshalb hat auch die Novelle sowohl in ihrem Endzweck als in ihrer künstlerischen Oekonomie eine entschiedene Aehnlichkeit mit dem Drama, während der Roman (und nichts ist vielleicht bezeichnender für den tiefen Unterschied zwischen Novelle und Roman) in jeder Beziehung des Stoffes, der Oekonomie, der Mittel, ja selbst, subjektiv, in Hinsicht der Qualität der poetischen Phan 247tasie und dichterischen Begabung, der volle Gegensatz des Dramas ist.

Wenn nichtsdestoweniger – trotz des tiefen theoretischen Unterschiedes zwischen Novelle und Roman – beide Species fortwährend nicht bloß in den Köpfen der Laien konfundiert werden, sondern auch in praxi so oft ineinander übergehen, so starke Uebergriffe eine in das Gebiet der andern machen, daß auch der gewiegte Aesthetiker manchmal in Verlegenheit gerät, ob er dies oder jenes Produkt hierhin oder dorthin klassifizieren soll, so ist dies eine Folge der Eigentümlichkeit der modernen Novelle, auf welche ich schon oben hingedeutet habe. Es ist uns modernen Menschen eben nicht mehr oder kaum noch möglich, so einfach zu sehen und infolgedessen so einfach-plastisch zu erzählen, wie etwa Boccaccio. Wo für sein Auge eine Fläche, sind für das unsre drei oder vier; wo für ihn nur eine Farbe, schimmern für uns die benachbarten und die komplementären mit durch. Wir haben die entschiedene Absicht, eine merkwürdige Begebenheit, die sich zwischen wenigen Personen abgespielt hat, rein aus der Masse der scheinbar gleichgültigen Umgebung herauszuarbeiten; und, ehe wir es uns versehen, finden wir, daß diese Umgebung doch sehr wesentlich zur Sache gehört; oder wir vertiefen uns so in die Genesis der Charaktere, die wir ursprünglich als bloße Faktoren behandeln wollten, daß im Handumdrehen aus der Multiplikation eine Addition, aus der Novelle ein Roman geworden ist.

Manchmal wirklich, oft freilich auch nur zum Schein. In den meisten Fällen entdeckt das kundige Auge, trotz des Ineinanderfließens der Grenzlinien, nicht nur, was ursprünglich beabsichtigt war, sondern vermag auch zu bestimmen, was denn nun schließlich, trotz alledem, aus der ursprünglichen Anlage geworden oder von derselben geblieben ist. Für mich sind die Wahlverwandtschaften, wenn ich das Werk nicht auf den Umfang hin ansehe, sondern auf den ursprünglichen Plan, auf die 248 Form der Charaktere (die sich nicht entwickeln, sondern auswickeln), auf die Führung selbst der Erzählung (besonders in dem ersten, für die Absicht des Dichters entscheidenden Teil) nicht mehr und nicht weniger, als eine über ihre natürlichen Grenzen hinaus getriebene, ja stellenweis aufgebauschte Novelle, während wiederum manche Dichtung von viel kleinerem Umfang, trotz desselben, trotz auch der von dem Autor selbst beliebten Klassifizierung, durchaus keine Novelle, sondern ganz entschieden für einen Roman, zum wenigsten für eine Romanskizze angesehen werden muß.

Marie von Olfers' Novellen sind mit sehr wenigen Ausnahmen, die aber auch die Form der Novelle nicht ganz rein bieten, solche kleine Romane, oder besser, solche Romanskizzen. Die Ausnahmen sind: »Die Verlobte« und: »Ob er wohl Fiekchen heiraten wird«. Ich bitte, hier von diesen beiden Erzählungen absehen zu wollen und das Folgende nur auf die übrigen sieben Piecen der beiden Bände zu beziehen.

In diesen aber handelt es sich nirgends um eine interessante Begebenheit im Sinne der älteren Novelle, oder, wie es die moderne verlangt, um eine bestimmte Handlung, die aus dem Zusammenstoß gewisser Personen mit Notwendigkeit resultiert, und in scharfer Gliederung der einzelnen Phasen bis zu dem mit dem Anfang gesetzten tragischen oder humoristischen Schluß mehr oder weniger schnell sich abspielt. Nicht die einzelne Welle, die plötzlich aufblinkt, rasch heranrollt, bis zur höchsten Höhe gipfelt, überschlägt, um donnernd an das Felsenufer zu branden, oder auf glattem Sande spielend zu verrinnen – nicht sie fesselt das Auge der Dichterin. Der ganze Strom des Lebens ist es, auf welchem ihr betrachtender Blick weilt: der ganze Strom, den sie verfolgen möchte hinauf bis zu seinen geheimnisvoll verborgenen Quellen, hinab bis dahin, wo Allvater Okeanos den Sehnenden wieder in seine ewigen Arme nimmt. So kann ihr denn ein 249 Lebensausschnitt nicht genügen, nur ein ganzes Leben, und manchmal kaum das: sie greift darüber hinaus in die folgende Generation; und wo es sich wirklich einmal um einen Lebensausschnitt zu handeln scheint, rahmt sie denselben wieder in ein volles, ganzes Menschenleben ein. So in der wundervollen Erzählung der »Jungfer Modeste«. Hier ist die Liebes- und Leidensgeschichte von Just und Dortchen der Ausschnitt, das Leben der »alten Kindermuhme« der Rahmen. Was steht in erster, was in zweiter Linie? Es ist schwer zu sagen. Während der Lektüre sind es vielleicht die beiden schönen jungen Menschen, die unser Interesse zumeist in Anspruch nehmen; wenn wir uns nach einiger Zeit auf die Einzelnheiten zurückbesinnen wollen, bemerken wir zu unserm Erstaunen, daß es die rührende Gestalt der Modeste ist, die goldigen Glanzes im Vordergrunde steht, während, die im Vordergrunde standen, als flüchtige Schatten im Hintergrunde zerflattern. – Aehnlich in der Erzählung: »Jeremias und die schöne Vincenzia«.

Jeremias erzählt; es kommt scheinbar auf ihn gar nicht an; er ist nur die melancholische Begleitung zu dem Allegro von Vincenzias glücklicher Jugend, dem rührenden Adagio ihres blinden Alters. Und wiederum, wenn diese reizenden Melodien mit dem letzten Hauch der Dulderin in Sehnsucht und Rosenduft verklungen sind, empfinden wir, daß, was Begleitung schien, eigentlich das Grundthema war, das in feierlicher Monotonie unaufhörlich weiter klingt: das uralte orphische Thema von dem verschuldet-unverschuldeten Leid der erdgebornen Menschen. Und, wohlbemerkt: episodisch, wie diese Einlage gleichsam sich zu dem Leben der eigentlichen Helden verhält, umfaßt sie doch für sich ebenfalls ein ganzes Menschenleben von der Wiege bis zur Bahre. Ja, dieses Leben setzt sich manchmal noch vor unsern Augen in dem Leben eines Kindes fort: wir sehen Jungfer Modeste zuletzt mit Dortchens Töchterchen in den Armen; oder umschließt 250 seinerseits wieder ein ganzes Menschenleben: der Sohn der schönen Vincenzia, dessen Geburt wir mitfeiern, stirbt vor unsern Augen als Mann in den Armen der Mutter.

Aber auch, wo die Form der objektiven Erzählung gewählt ist, ist der Lebensausschnitt, der in den Gesichtskreis fällt, von so bedeutender Größe, daß er, wie in »Der Herr des Hauses«, »Regine«, »Eigentum«, zu einem mehrbändigen Roman reichlich Stoff bietet, oder es ist wieder ein volles Maß Menschenschicksal, wie in »Frau Lochen« und »Frost in Blüten«. Wir sehen Frau Lochen das erste Mal als »ein kleines Mädchen, zart und dünn wie eine Mücke«, und scheiden von ihr, als »die Jungen alle heim kamen, große ungeschlachtete Kerle, grad wie der Vater«. – »Frost in Blüten« – nebenbei in jeder Beziehung vielleicht die vollendetste der sämtlichen Piecen – ist eine ganze große Familiengeschichte, wo Kinder geboren werden und sterben und in der Fremde weder Glück noch Stern haben, bis sie zum Elternhause zurückkehren, das gar nicht mehr das Elternhaus ist und wieder zum Elternhaus wird in dem Augenblick, wo der Vater, unter den Schicksalsschlägen zusammenbrechend, sterbend den alten zerrissenen Bund neu besiegelt mit der Gefährtin seines Lebens, die noch »als uraltes Mütterchen – – die Zeit zurückgeht, Andreas entschuldigend, die Stunden verlöschend, wo ihre Seelen geschieden waren.«

Es ist wohl ohne weiteres klar, daß es sich hier um Novellen in dem gewöhnlichen Sinne gar nicht handeln kann. Der Leser wird durchaus das Gefühl haben, als ob so bedeutende Themata, so weitschichtige Stoffe nur in der Form des Romanes abgehandelt und bewältigt werden könnten. Er wird sich sagen, daß, wenn so scheinbar rein äußerlich die Form der Novelle beibehalten ist, und trotz dieses Widerspruches des Inhaltes und der Form die Dichtungen einen erfreulichen und befriedigenden 251 Eindruck machen, dies auf dem Geheimnis einer ganz besonderen Kunst und Methode beruhen müsse.

Und so ist es in der That.

Diese Kunst und Methode beruht zuerst darin, daß die Dichterin immer nur ganz wenige Personen – meistens nur zwei, höchstens drei oder vier in den Vordergrund stellt. Auf diese nun konzentriert sie alles Licht so stark, daß die übrige Welt und mit derselben auch die noch etwa nötig werdenden Nebenfiguren tief in den Schatten treten. Es ist damit ungefähr so, wie wenn wir von einem erhöhten Standpunkte den Lauf eines Flusses verfolgen, dessen vom Wiederschein rosiger Wolken erglänzende Schlangenlinie sich durch eine im Abendgrau verdämmernde Ebene windet. Und wie diese Linie hier durch eine vorspringende Ecke des Ufers, dort durch einen Wolkenschatten unterbrochen ist, um ganz in weiter Ferne, wo wir ihre Spur schon verloren glaubten, noch einmal aufzublitzen – so müssen wir auch in diesen Geschichten uns daran gewöhnen, die Personen für eine Zeitlang aus dem Auge, zu verlieren, sie dann wieder auftauchen zu sehen, und, alles in allem, uns ihren Lebenslauf aus den Bruchstücken, die uns mitgeteilt werden, zusammenzusetzen. Das würde nun freilich ein Ding der Unmöglichkeit sein, wenn diese Bruchstücke nicht mit feinstem Kunstverstande so gewählt wären, daß ein sinniges Auge die unterbrochenen Linien mit Notwendigkeit bis zu dem Punkte führt, wo die Dichterin sie wieder aufnimmt. Christian in »Frau Evchen« geht auf fünf Jahre fort. »Fünf Jahre«, heißt es in der Geschichte selbst, »sind eine lange Zeit« – gewiß! aber wir können ihn ruhig ziehen lassen; wir sind sicher, ihn wieder zu erkennen, wenn er zurück kommt, und daß, wenn er zurück kommt, er sich erst einmal wieder unter den Hollunderbusch legen wird, wo wir ihn zu Anfang der Geschichte trafen. – So kommt und geht und geht und kommt Just in »Jungfer Modeste«; heute sonnt er sich am Strande des Mittelmeeres; morgen schwärmt 252 er in den Palästen der Großen; der junge Mensch muß während der Zeit viele Romane erlebt haben; aber wir verlangen sie nicht zu kennen; wir wissen, daß er ein für allemal das glänzende Irrlicht ist, aus dem sich kein Herdfeuer entflammen läßt. Wird zum Schluß dieser Versuch doch gemacht, so scheint mir das eine psychologische Inkonsequenz der gerade durch ihr poetisches Gerechtigkeitsgefühl ausgezeichneten Dichterin.

Wenn so durch die geringe Anzahl der Personen von vornherein bestens dafür gesorgt ist, daß ein Romanstoff möglichst in den knappen Umfang der Novelle hineinpasse, qualifizieren sich diese Personen selbst wieder durch eine besondere Eigenschaft zu ihrer Rolle. Sie sind nämlich fast ohne Ausnahme einfache, ungebrochene Charaktere, einfach selbst dann, wo sie gebrochen sind. Es ist mit ihnen allen wie mit Just: »Er führte den Pinsel, spielte die Geige, freilich immer dasselbe Lied.« Alle diese Menschen spielen »immer dasselbe Lied«, selbstverständlich jeder sein besonderes; und da dies Lied wieder in sich meistens sehr einfach ist, lernen wir es sofort auswendig und erkennen es wieder, wenn es auch, wie Alphorntöne, nach langer Unterbrechung aus weiter Ferne vergeistigt zu uns herüber klingt. Die »schöne Vincenzia«, die, alt, erblindet, mit der sterbenden Hand die Rosen zu fassen sucht, ist noch immer, als was sie dem Jeremias im Kinderkleidchen erschien: »wie ein Ding aus einer andern Welt, als brauche man ihr nur ein paar Flügel anzuheften.«

Ohne Frage muß mit dieser geringen Anzahl möglichst einfacher Personen, welche die Dichterin auf die Bühne bringt, die Ausstattung der Bühne harmonieren. Und so ist es nun auch in der That. Wenn sonst im Roman die Außenwelt als der Hintergrund, von dem sich die Gestalten plastisch abheben, eine bedeutende und berechtigte Geltung hat, so verdämmert sie hier wirklich wie die Flußebene in dem oben gebrauchten Bilde, oder erscheint doch nur in den wenigsten Umrissen als stets durchaus 253 passende, oft unendlich anmutige, immer aber einfachste Dekoration. – »Grad über dem Fluß lag ein Wäldchen; im Sommer war es lieblich dort zu sitzen« – »Ich wußte, er war zuletzt in einem Palast gewesen, einem reichen, edlen Haus« – »Auf einem reizenden Stückchen Erde ließ sich Florian mit seiner schönen jungen Frau nieder« – das muß genügen und genügt. Es fällt uns gar nicht ein, nach den Details zu fragen: Entfernungen – räumlich und zeitlich – Himmelsrichtungen – die Gegend, in welcher die Geschichte spielt, ob in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren – das ist alles von untergeordneter oder gar keiner Bedeutung. Nicht anders ist es mit dem Kommen und Gehen der Personen: »Am nächsten Tage ging der Bursch fort auf die Wanderschaft« – das klingt wie aus einem Märchen; und wirklich bekommen diese Geschichten infolge der anmutigen Unbestimmtheit alles Wo? und Wie? – das dem Romandichter sonst so centnerschwer auf den Händen liegt – etwas Märchenhaftes. Wer fragt danach, ob der »große, große Wald«, in welchem das verzauberte Schloß steht, Laubholz oder Nadelholz war? und in welchem Stil das Schloß gebaut ist?

Das geht nun freilich, solang es geht, d. h. solange die Geschichten – und sie sind das alle fast durchweg – Herzensgeschichten sind, die überall und nirgends sich begeben haben. Es geht aber nicht mehr, sobald die wirklichen, realen Verhältnisse als bestimmende Faktoren in die Herzensgeschichten hineinspielen. Und hier auch ist der Punkt, wo entweder überhaupt die Grenze dieses außerordentlichen Talentes liegt, oder doch ganz sicher die Grenze, bis zu welcher sie mit ihrer Methode auf dem von ihr eingeschlagenen Wege kommen kann.

Denn jenseits dieser Grenze liegt der eigentliche, ausgeführte, realistische Roman, der die aktuellen Verhältnisse nicht blos ernst nimmt, sondern mit ihnen Ernst macht, d. h. in ihnen nicht ein Versatzstück oder eine Coulisse sieht, ersprießlich und notwendig 254 für die Dekoration, sondern den unverrückbaren Grund und Boden, in welchem die thatkräftigen Menschen wurzeln, aus dem sie Nahrung und Lebensmark saugen, auf dem sie stehen oder fallen, je nachdem sie den specifischen Eigentümlichkeiten dieses Bodens gewachsen sind oder nicht. Hier aber reicht die feine, geistvolle Umrißlinie nicht mehr aus; hier will mit breitem festen Pinsel, in scharfen Konturen mit satten vollen Farben gemalt sein, soll nicht ein peinlicher Widerspruch sich herausstellen zwischen den schweren Dingen, die sich hart im Raume stoßen, und der Zartheit der Hand, die an ihnen nur herumtastet, ohne die Kraft zu haben, sie aus der Stelle zu rücken, oder ohne diese Kraft aufwenden zu wollen.

Hat die Hand unserer Dichterin diese Kraft?

Wenn ich, wie es meine Pflicht ist, eine ehrliche Antwort auf diese Frage geben soll, so muß ich sagen: ich glaube: nein; und glaube weiter, daß die Grenze ihres Talentes mit der Tragkraft ihrer Methode genau zusammenfällt und identisch ist.

Soll das ein Vorwurf sein?

Wahrhaftig nicht!

Die Kunst ist wie die Natur: auch in ihr schafft jeder Kern sich seine passende Schale; vielmehr: sind Kern und Schale eines. Wir sahen: es war die eigenste Art der Dichterin, sinnenden Blickes den Strom des Lebens hinauf bis zu seinen Quellen, hinab bis zu seiner Mündung zu verfolgen; und so war der Roman das Kunstgebiet, auf das sie gewiesen war. Aber dieselbe Natur, welche sie gebieterisch dazu trieb, sich an Romanproblemen zu versuchen, hatte ihr jene rastlose Pfadfinderader, jene schweifende Weidmannslaune, jene Fischer- und Vogelstellerschlauheit – mit einem Worte: jene derben und kecken Eigenschaften versagt, die den gebornen Romanschreiber befähigen, ja zwingen, den Strom des Lebens hinauf, hinab zu fahren, mit den gefährlichsten Strudeln 255 zu kämpfen, in die verstecktesten Buchten einzudringen. Die Natur – vielleicht auch die Macht der Verhältnisse, die dem Menschen ja oft eine Natur gegen seine Natur aufzwingt – gleichviel! so fand sich die Dichterin. Und indem nun dieses reiche, aber in bestimmte Grenzen gewiesene Talent nach einem Ausdruck suchte, mußte es mit Notwendigkeit auf diese Dichtart verfallen, die zwischen Roman und Novelle jene wunderliche Mitte hält, welche ich zu charakterisieren versucht, und die ich in dieser Originalität und Ausgeprägtheit nirgend sonst gefunden habe.

Und nun, da ich die »wechselnde Libelle« nach allen Regeln klassifiziert, sehe ich zu meinem Schrecken, wie ich mit meinen pedantisch-kritischen Händen den bunten Farbenschmelz von den zarten Flügeln gewischt und ein widerliches theoretisches Grau glücklich hergestellt habe. Wie gern böte ich jetzt die schärfste ästhetische Formel für ein paar einfach herzliche Worte, welche die Empfindung wiedergeben, mit der ich diese Bücher aus der Hand lege! Aber das läßt sich schwer in Worte bringen, die, man mag sie noch so geschickt setzen, immer wieder trennen und sondern. Und man ist des Trennens und Sonderns ja müde! zusammenfassen möchte man, wie die Natur in den durchgeistigten Zügen eines Menschengesichtes eine Welt von Anmut und Güte zusammenfaßt, um alles noch einmal in dem seelenvollen Blick des Auges zu konzentrieren. Ja, wahrlich! eine Welt von Anmut und Güte umschließen diese beiden bescheidenen Büchelchen! »Man schreibt Weltgeschichte; aber die eigentliche Geschichte der Menschen, die intime Geschichte der Seele liegt wie verhüllt; einer sucht sie dem andern zu verbergen und dann wundern sie sich, wenn sie fremd und kalt nebeneinander hergehen – fremd und kalt, als gingen sie sich nichts an. Hier und da lüftet sich der Schleier, dann schauen wir wie gebannt hin, als wärs unsre eigene Geschichte, die dort spielte, als wärs uns aus dem Herzen geschrieben; und wir merken, was wir nie vergessen sollten: daß 256 wir Brüder und Schwestern sind, blutsverwandt, seelenverwandt, in Leiden und Freuden uns nah.«

Wie so jedes dieser holden Worte, mit denen »Jungfer Modeste« ihre Geschichte einleitet, auf alle diese Geschichten paßt! wie jener Aufschrei eines edlen Herzens in allen diesen Geschichten wiederklingt: »Da wuchs in mir allmächtig, überwältigend, alles in sich verschlingend, eine Sehnsucht nach der Liebe, die, weit wie der Himmel, alles im Arm umfängt und nichts ausschließt.«

Alles umfängt – nichts ausschließt! – »Als die Eltern starben, hatte ich eine große Familie. Schon ganz früh, ein kleines Ding, lief ich mit einem Stück Holz im Arm herum; küßte es, deckte es warm zu, hatte wirklich Mutterfreuden daran. Die Leute lachten mich aus; aber es war wohl ein Vorgefühl, denn bald, kaum daß ichs tragen konnte, lag statt des Stückes Holz eines nach dem andern, Schwesterchen oder Bruder mir am Herzen.«

So ist die ganze Menschheit der Dichterin eine große Familie, der die Eltern gestorben sind, über die sie nun zu wachen, für die sie nun zu sorgen, der sie von dem Ueberschwang ihrer Liebe zu geben und immer wieder zu geben, und wieder und wieder das Evangelium des Johannes zu verkündigen und zu deuten hat: Kinderchen, liebet euch untereinander!

»Ich machte auch keinen großen Unterschied, hatte eins so lieb wie das andre; wer meiner am meisten bedurfte, der hatte mich.«

So kommt denn her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen! Komm, du grämlicher alter Jeremias! da hast du die Liebe zur schönen Vincenzia: das ewige Lämpchen in der Nacht deiner Seele! – Komm, du junge, eigensinnige, verwöhnte, thörichte Frau: sieh dies arme mißhandelte Weib aus dem Volke, wie es trotz alledem und alledem fest an dem Manne ihrer Wahl hält, und beuge dich vor dem Herrn des Hauses, deinem edlen, nur allzunachsichtigen Gatten! – Und kleines Frau Evchen! es ist ja ein 257 ungeschlachter Gesell, dein Christian, aber das Herz hat er doch auf dem rechten Fleck in der breiten Brust; so lehne dich an die breite Brust und stelle das andre Gott anheim: er wird dirs tragen helfen! – Gute Veronika! Dein Johannes ist kein Genius, wie du einst träumtest; aber du bist vergnügt, denn »er versteht eine Kunst, geliebt zu werden.« – Brave Regine! Du hast recht: nimm die Liebe wieder an, mag sie Kummer oder Freude bringen. Du hasts am eignen Herzen erfahren: »Bitter ists, verachtet zu werden; aber das Bitterste von allem ist, Liebe zurückgewiesen zu haben.« – Heirate immer den bürgerlichen Jan, gutes Fiekchen, wenn darüber auch die Linie der alten Liliensterne ausstirbt! – Jawohl, Sibille, du unglückselige Märtyrerin deines Rechtssinnes: »wie anders urteilt man, wenn man das Ende weiß!« – Und Modeste, – nein, du schöne, goldige Seele, du brauchst nichts zu lernen, denn mit dir geboren ist die Liebe, und die Liebe ist die größte unter ihnen und ihr müssen alle Dinge zum besten dienen.

Im Leben, und wahrlich nicht weniger in der Kunst.

Auch da hilft alles Wissen nichts und alles Weissagen nichts, und ist und bleibt ein tönend Erz und eine klingende Schelle, wenn das Künstlerherz nicht heiliger Liebe voll ist. Dem liebevollen Herzen fällt alles von selbst zu: Kraft und Zartheit der Rede, Glanz und Lieblichkeit der Bilder, jener nicht zu lernende Takt, der kein Zuviel und kein Zuwenig kennt, jene wahre Vornehmheit, die, ohne sich etwas zu vergeben, ohne etwas zu verlieren, in die dumpfen Hütten moralischen und physischen Elends treten darf.

Das alles! und zu dem allen das Höchste, Beste: »Fast immer werden wir den lieb gewinnen, der sich uns zeigt, wie er sich Gott zeigt – wie sich die Kinder einem zeigen.« –

Fast immer?

Immer! bescheidene Modeste, immer!

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