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V.
Der Ich-Roman.

(1882.)

130

131

I.

Wir nennen in der Zunftsprache einen Roman, dessen Held als Selbsterzähler seiner Fata auftritt, einen Ich-Roman zum Unterschiede von den anderen Romanen, in welchen der Held eine dritte Person ist,, dessen Schicksale uns von dem Dichter erzählt werden.

Da nun in der Kunst wie in der Natur nichts bloße, gegen ihren Inhalt völlig gleichgültige Form ist, liegt die Vermutung nahe, daß dieser so definierte Ich-Roman innerhalb der Gattung eine Species darstellen werde, deren Exemplare allerdings auf eine nur geringe Zahl reduciert sind.

Und so verhält es sich in der That. Die genauere Betrachtung wird zeigen, daß die Ich-Form keineswegs ganz müßig ist; daß sie sich nicht jedem beliebigen Stoff gleich bequem anpaßt; auch der gefügige Stoff noch nach ihr gemodelt werden muß; folglich der Künstler, der sich ihrer bedient, zu gewissen Vorsichten, Rücksichten, Manipulationen, mit einem Worte: zu einer Modifikation der ihm sonst geläufigen, für die anderen Fälle berechneten und berechtigten Technik gezwungen ist.

Freilich scheint das Resultat einer auf diesen Punkt gerichteten Untersuchung nur dem Künstler zu gute zu kommen und die Untersuchung selbst nur für ihn von Interesse zu sein.

Aber auch der Laie dürfte seine Teilnahme der Erörterung einer Frage zuwenden, welche dabei nicht umgangen werden kann.

Der Frage nach der Natur und Beschaffenheit des Helden im Ich-Roman, eben jenes »Ich«, welches der Species den Namen giebt.

Und die Teilnahme dürfte wachsen, wenn sich dabei – wie 132 es wirklich der Fall – herausstellen sollte, daß jenes »Ich« – trotz gewisser äußerer und innerer Veränderungen, die er mit sich vorgenommen – der Dichter selber ist oder – in Anbetracht jener Veränderungen – ein Jemand, der dem Dichter so weit gleicht, als ein stark benutztes Modell dem nach ihm geschaffenen Bilde gleichen wird.

Müssen doch durch dies Ineinanderfließen oder durch diese approximative Kongruenz des Dichters und des Helden tiefste, instruktivste Blicke in die Dichterseele ermöglicht werden, welche andere Romane, in denen der Dichter sich klüglich streng von seinem Helden scheidet, nicht gewähren können! muß doch mithin das Interesse an einem solchen Roman – vorausgesetzt, daß das Dichter-Ich wahrhaft interessant und ausgiebig ist – geradezu ein doppeltes sein!

Freilich!

Nur daß leider jene Untersuchung nach der Natur des Helden im Ich-Roman in letzter Konsequenz zu einem gar sonderbaren Ergebnis führt.

Zu dem Ergebnis, daß im tiefsten Grunde in jedem modernen Roman, auch wenn er den Anschein der Objektivität und Ichlosigkeit noch so streng festzuhalten sucht, jene approximative Kongruenz von Dichter und Helden stattfindet; und daß, wenn bezüglich des Grades der Subjektivität und Ichmäßigkeit innerhalb des Gebietes des modernen Romans allerdings noch Unterschiede und bedeutende Unterschiede stattfinden, verglichen mit der Objektivität und Ichlosigkeit der homerischen Gedichte jeder moderne Roman subjektiv und ein Ich-Roman ist.

Der Beweis für diesen Satz, der uns auf seinem Gange in das innerste Wesen der epischen Dichtkunst führen wird, kann nicht angetreten werden ohne die Zuhülfenahme einiger allgemeiner Sätze, die man füglich als die Fundamentalsätze der Theorie der epischen Dichtkunst ansehen darf.

133 Der erste dieser Fundamentalsätze lautet, daß, in notwendiger Folge der der epischen Phantasie immanenten, ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher Ausdehnung des Horizontes, ihr Objekt nichts Geringeres als die Welt und somit das – gleichviel ob ihm bewußte oder unbewußte – Streben des epischen Dichters ist, ein Weltbild zu geben. »Ist der Umfang der epischen Dichtart durchaus unbegrenzt, so darf es einem Dichter oder einer Dichterschule dieser Gattung nur nicht an Raum und Zeit fehlen; und die stetige Erzählung wird nicht eher aufhören, als bis der Stoff erschöpft und eine ungefähr vollständige Ansicht der ganzen umgebenden Welt vollendet ist, etwa wie sie die homerische Poesie gewährt. (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. Wien 1846. III. S. 93.) – Von »Hermann und Dorothea« sagt Humboldt (Aesthetische Versuche, Kap. LXXX.): »So werden wir auf eine wahrhaft epische Weise auf den allgemeinen Standpunkt geführt, von dem wir alles, und alles mit gleich großem, parteilosen Interesse ansehen, und so schiebt sich, ohne daß wir selbst es merken, das ungeheure Bild der ganzen Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns handelnd erblicken.«

Der zweite, daß diese Natur der epischen Phantasie, welche über jede Grenze hinausstrebt, mit der Natur der Kunst, welche, sobald sie zum Werke schreitet, sich Grenzen ziehen muß und nur, indem sie diese Grenzen respektiert, ihr Werk zustande bringt, in einem fundamentalen Widerspruche steht. »Warum ist es (das homerische Epos) also kein vollständiges, in sich selbst schlechthin vollendetes poetisches Ganzes? Weil es nicht durchgängig in sich selber beschlossen und vollkommen begrenzt ist; weil hier jede Herleitung aller Fäden des Werks aus einem Anfangspunkte, die Hinleitung auf einen Endpunkt fehlt. Darum erscheint jedes homerische Epos zugleich als Fortsetzung und als Anfang.« (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. III. S. 89.) In demselben Sinne heißt es bei W. v. Humboldt (Aesthetische Versuche. Kap. LXXXIV.): »Die Einheit des epischen Dichters liegt mehr in seiner Absicht, als in der Sache selbst … Der Schluß seines Gedichtes ist nicht notwendig ein wirkliches Ende, über das hinaus sich nun nichts mehr hinzufügen ließe.«

Der dritte: daß dieser Widerspruch, weil er ein fundamentaler ist, niemals völlig, sondern immer nur annähernd gelöst werden kann; folglich die dramatische und lyrische Dichtkunst, 134 welche diesen Widerspruch nicht in sich tragen und mithin ihren Objekten völlig gerecht zu werden vermögen, in rein ästhetischer Beziehung vor der epischen Dichtkunst rangieren; oder, um es konkret auszudrücken, ein Produkt der epischen Dichtkunst, auch das höchste, an absolutem Kunstwert immer hinter den höchsten Produkten der beiden Schwesterkünste zurückbleiben muß. » So tief vielleicht auch der Künstler, welcher bloß aus seinem Gesichtspunkt streng würdigt, das homerische Epos unter die sophokleischen Werke setzen wird, so muß er doch anerkennen, daß man in jenem, auch ohne besonders ausgebildetes Kunstgefühl, eine alle Kräfte des menschlichen Geistes anregende und, ausbildende Unterhaltung erblicken kann; daß es eben darum, weil es ein kunstloses Naturgewächs ist, eigentümliche Vorzüge vor den höchsten Kunstbildungen voraus besitzt, und außer dem künstlerischen, auch hohen geschichtlichen und allgemeingeistigen Wert hat.« (Fr. v. Schlegels Ges. Werke. III S. 111.) Der beschönigende Zusatz hebt natürlich die mindere ästhetische Schätzung des Epos nicht auf.

Der vierte: daß das Mittel zur annähernden Lösung des Widerspruches für den epischen Dichter einzig und allein die möglichst vollkommene Anwendung der objektiven Darstellungsweise ist; mithin der ästhetische Wert epischer Produkte in dem Maße steigt und fallt, als diese Darstellungsweise bei ihnen zur Anwendung gekommen ist.

Dies die Sätze, welche vorauszuschicken und gewissermaßen als Leitsterne hinzustellen waren, damit wir, ohne Furcht vor Mißverständnissen auf Tritt und Schritt, in unserer Untersuchung fortfahren dürfen, die sich nun in erster Linie mit den Gründen zu beschäftigen haben wird, welche den homerischen Dichtern jenen hohen und im Vergleich zu den modernen epischen Produkten absoluten Grad von Objektivität ermöglichten.

Er wurde ihnen aber ermöglicht, weil die Gunst ihrer Lage in einer noch übersichtlichen und dabei doch reich genug gegliederten und wiederum schönen, in sich harmonischen Welt für sie von vornherein jenen Widerspruch zwischen den Ansprüchen 135 der epischen Phantasie, ein Weltbild geben zu wollen, und den limitierenden Grundbedingungen des Kunstwerkes auf das denkbar geringste Maß reduzierte.

Ich habe mich gerade über diesen Punkt wiederholt ausgesprochen, und so mag es hier genügen, nur eben wieder daran zu erinnern; eine eingehendere Schilderung erfordern gewisse andere Verhältnisse, welche die homerischen Dichter vorfanden, und die durchaus dazu angethan waren, ihnen die Lösung ihrer Aufgabe auf das herrlichste zu erleichtern.

Als ein solches überaus günstiges und förderndes Moment ist in erster Linie das Gesamtgefühl anzusehen, welches, hervorgegangen aus der Gleichförmigkeit der Gewohnheiten des häuslichen Lebens, der Solidarität der bürgerlichen Interessen, der Konformität des geistigen Horizontes aller Mitglieder der Gemeinde vom Könige bis zum Hirten, bei den homerischen Menschen mit völlig elementarischer Kraft wirkte. Wenn der Zug nach Troja, wie jetzt ja nicht mehr zu bezweifeln, wirklich stattgefunden, hat es sicherlich, um die griechischen Stämme zum Aufbruch zu bewegen, keiner großen Ueberredungskunst von feiten ihrer Führer oder gar des göttlichen Antriebes bedurft. Man wird sich versammelt haben und gen Troja aufgebrochen sein, wie zur Zeit des Herbstes Wandervögelscharen sich zusammenthun und nach dem Süden aufbrechen, getrieben und geleitet von einem geheimnisvollen, unwiderstehlichen Drange. Gab es in der That eine bestimmte Veranlassung, so spielte dieselbe sicher keine größere Rolle als für die Eruption einer längst vorbereiteten Krankheit jenes Etwas, das die Aerzte Gelegenheitsursache nennen. Wo in dieser von einer allgemeinen Empfindung beseelten und beherrschten Masse der Eigenwille sich regt, wird er entweder wie beim Thersites an den Pranger der allgemeinen Verachtung gestellt, respektive einfach in das Gemeingefühl zurückgeprügelt, oder wie beim Achill in tragischer Weise gebrochen. 136 Und auch in Achilleus' Fall ist wohl im Auge zu behalten, daß sein Zorn aufflammt, weil er sich durch die Wegnahme der Briseïs, seines Ehrengeschenkes, in den Augen der Uebrigen entehrt glaubt oder, wie man hier sagen muß, entehrt weiß, und im Vergleich zu diesem gewaltigen Pathos die Kränkung, die seinem liebenden Herzen angethan ist (s. Il. IX, 340 - 343), kaum ins Gewicht fällt. Später, als nach dem Tode des Patroklos ihm die Sühngeschenke gebracht werden, legt er selbst freilich in seinem wilden Schmerz nur einen geringen oder gar keinen Wert auf diese äußerliche Restitution seiner Ehre; von Agamemnon aber und den übrigen Helden wird die Notwendigkeit derselben durchaus gefühlt; und schließlich, was entscheidend ist: der Held sieht den Verlust des geliebten Freundes als eine wenn nicht direkte, so doch indirekte Götter-Strafe für den Zorn an, der ihm die klar vorgeschriebenen Pflichten gegen den Heerführer und gegen das Gemeinwohl so schwer verkennen ließ.

Wenn nun so bei den homerischen Menschen die individuelle Seele und die Volksseele in eins fließen, und Differenzen, wo sie auftreten, entweder schnell geschlichtet oder doch ganz gewiß zu Gunsten des Gemeingefühls entschieden werden, verdämmert für sie auch jene Grenze, welche für uns moderne, wissenschaftlich gebildete Epigonen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit haarscharf gezogen ist, entweder ins Ungewisse oder man geht mit einem flüchtigen und halb schalkhaften »wie jetzt die Sterblichen sind« leicht über sie weg. »Es sind zwei Welten, die in der homerischen Darstellung zusammenfließen: die wunderbare Vergangenheit, die aber doch dem Dichter noch sehr nahe und lebhaft vor Augen zu stehen scheint; und dann die lebendige Gegenwart und Wirklichkeit derjenigen Welt, welche den Dichter umgab. Diese Verschmelzung der Gegenwart und Vergangenheit, wodurch jene verschönert, diese anschaulicher gemacht wird, giebt vorzüglich den homerischen Gedichten den ihnen. so ganz eigenen Reiz,« (Fr. v. Schlegel. Ges. Werke. I. S. 26.) Ich habe diese Stelle ausgezogen weniger zur Erhärtung einer Thatsache, die auch sonst klar genug ist, als um ein Beispiel mehr dafür beizubringen, wie in voller Unabhängigkeit voneinander entstandene identische Ansichten sich in identischen oder fast identischen Ausdrücken darstellen müssen. So geboten die Glück 137lichen außer über die schöne natürliche Welt, in der sie geboren, noch über eine zweite, in ideale Ferne gerückte und zugleich, infolge einer unerschöpflich reichen und unendlich plastischen Tradition, , vollkommen gegenwärtige: die Welt der heroischen Ahnen. Und zu den zweien kam noch eine dritte: die ihrer Götter, welche sie – wie das nicht anders sein kann – nach ihrem Bilde in voller Naivetät und gutem Glauben geschaffen hatten, während ihre Dichter bereits den Mut gefunden zu jener eigentümlichen, halb ironischen, halb Glauben und Ehrfurcht atmenden und heischenden poetischen Behandlung und Verwertung derselben, ähnlich wie Shakespeare seine Hexen und Geister traktiert, an deren Realität er offenbar glaubt, indem er sie zugleich frei zu seinen idealen Zwecken verwendet.

Ich bin hier, wo ich nur von dem homerischen Menschen reden wollte, unwillkürlich auf den homerischen Dichter zu sprechen gekommen; aber freilich fallen beide: Mensch und Dichter, in dieser Periode auch noch mehr zusammen, als es sonst und überall der Fall; ja, es erweist sich eben diese innige Verschmelzung als die ganz eigentliche Ursache, warum die homerischen, von ganzen vollen Menschen erschaffenen Gesänge so ganz und völlig (bis auf den oben angedeuteten unvertilgbaren Rest) dichterisch und unter allen Umständen die denkbar vollkommensten Produkte epischer Poesie sind.

Ist doch auch die Stellung des homerischen Dichters völlig analog jener, in welcher sich der homerische Mensch ein für allemal befindet. Auch er – der Dichter – tritt sofort in eine Gesellschaft, in die er sich einzureihen gezwungen ist, wenn er überall als Dichter wirken will. Wie er die Welt nicht »nur von weitem« und nur an einem »Feiertag« sieht, sondern in ihr, 138 mit ihr, alle Tage seines Lebens feiernd, lebt, so ist er auch nun und niemals »in sein Museum gebannt«, sondern tritt mit dem ersten Schritt auf seiner Künstlerlaufbahn in ein ungeheures Atelier gleichsam, in welches von allen Seiten hell die Sonne des griechischen Lebens scheint und die griechische Welt durch alle Fenster formen- und farbenfroh hereinblickt. Und in diesem ungeheuren Atelier sind schon gar viele – Meister und Gesellen – an der Arbeit, die eben auch seine Arbeit werden soll, und bei der er weder nach dem Was? noch nach dem Wie? zu fragen hat, sondern das eine und das andere treulich überliefert bekommt.

Denn das Was ist die Heldengeschichte seines Volkes, die nach oben in den goldenen Wolken des Olymp verschwebt und sich nach unten unterschiedslos in das Alltagstreiben der Menschen »ï?ïé í?í å?óéí« fortsetzt.

Und das Wie ist die von einer Generation der anderen überlieferte Sangesweise mit der zu den künstlerischen Zwecken in jedem Sinne vorbereiteten und durchgearbeiteten Sprache; ja auch, in tieferem Verstande, die dichterische Methode: die Führung der Fabel, die Abmessung und Zusammenfügung der Teile zum Ganzen, der zweckmäßige Wechsel von Licht und Schatten, die Schönheit und Notwendigkeit des Kontrastes, die schickliche Form der Uebergänge, die Gesetze der Retardierungen, die Erfordernisse der Episoden und was denn sonst die epische Kunst, wenn sie ihre Absicht erreichen und ihr Bestes leisten will, als stets bereite und willige Mittel an der Hand haben muß.

Und nun ein Letztes, Höchstes, das die homerischen Sänger vor den modernen Dichtern voraus hatten, und um was sie diese wohl am meisten beneiden werden: das stolze Gefühl, nichts zu singen, als was ihr Publikum zu hören verlangte, was zu hören es nicht ermüden würde; die freudige Gewißheit, die ihnen innewohnen durfte, daß sie keine Saite anschlagen könnten, die nicht 139 in den Seelen der Hörer wiedertönte, und daß ihr Denken, Fühlen, Schauen das Denken, Fühlen und Schauen ihres Volkes war.

Deshalb war denn auch in ihrem Munde der Anruf der Muse beim Beginn ihres Gesanges und mitten im Gesange, wenn die Fülle des Stoffes sich überwältigend herzudrängte, keine Phrase, sondern der prägnante Ausdruck einer durchaus berechtigten, weil aus einer Thatsache resultierenden Empfindung: der Thatsache, daß sie, die einzelnen Sänger, aus einem Strome schöpften, dessen geheimnisvolle Quellen in für ihren Blick unermeßlicher Ferne hinter ihnen lagen; daß sie nur wiedergaben, was ihnen gegeben, von langer Hand vorbereitet war; daß eine Kraft in ihnen wirkte und waltete, für deren Macht und Fülle sie in der individuellen Begabung keine Erklärung fanden und finden konnten, und die sie deshalb wie alles Unerklärliche der direkten Einwirkung der Gottheit zuschrieben.

In diesem bescheidenen Zurücktreten des dichterischen Ich hinter den dichterischen Genius des Volkes, der es zu seinem Organ und Herold gemacht hat neben den anderen Organen und Herolden seiner Allmacht, liegt auch der Grund und die Möglichkeit jener völlig idealen, tendenzlosen Objektivität im ganzen und im einzelnen, die wir an den homerischen Gedichten bewundern und rühmen, und die für den modernen Dichter (aus Gründen, welche wir später zu erörtern haben werden) ewig unerreichbar ist. Man kann von einer »Idee« der homerischen Gedichte schlechterdings nicht anders sprechen als in dem Sinne, in welchem Rafael von seiner heiligen »Idea« sprach: jenem Urbilde, das er in seines Geistes Auge sah, und von welchem die Gestalt auf der Leinwand das unvollkommene Abbild war. Und jenes Urbild ist für den homerischen Dichter eben die Erfüllung der epischen Sehnsucht: die Welt in ihrer Totalität – das Treiben der Menschen und das Walten der Natur – beides durchmessen durch alle Breitengrade gleichsam, von einem Pole bis 140 zum anderen: von den höchsten Aeußerungen der Heldenkraft bis zu dem tiefsten Jammer, den eine antike Seele fassen konnte; von dem ewigen Sonnenglanze, der die Höhen des Olymp umfließt, bis zu der Nacht des Tartarus, in die nie ein Strahl des Helios dringt – alles »der Ordnung gemäß«, wie Polyphem seiner Herde wartet, und »nichts verlindert und nichts verwitzelt, nichts verzierlicht und nichts verkritzelt.« Kann überall von einer Tendenz bei den homerischen Gedichten die Rede sein, so wäre vielleicht die ungleiche Verteilung von Licht und Schatten zwischen den kämpfenden Parteien in der Ilias so zu nennen; die Beflissenheit, mit welcher die Trojaner als die Beleidiger und Herausforderer, die Griechen als die Provozierten und Rächer ihrer beleidigten Ehre dargestellt werden; die Vorliebe, mit welcher die Sänger die Großthaten ihrer Nationalhelden melden, während sie den Helden der Gegenpartei den verdienten Ruhm mit etwas kargerer Hand zumessen. Und dabei mag eine Bemerkung Platz finden, von der ich mich nicht erinnere, daß sie ein anderer bereits gemacht hätte, obgleich sie ein Faktum betrifft, das nicht wegzuleugnen ist und nicht bloß für den vorliegenden Fall eine Bedeutung hat, sondern tief in das Wesen der dichterischen Phantasie blicken läßt: der Mangel an Sympathie, mit welchem die hellenischen Sänger den Nationalfeind und seine Sache betrachten, setzt sich in einen ästhetischen Mangel um; die Gestalten der troischen Helden sind nicht mit der plastischen Kraft herausgearbeitet, stehen nicht in derselben satten und hellen Beleuchtung wie die griechischen. Selbst von Hektor, obgleich ihm noch entschieden die meiste Sorgfalt gewidmet ist, vermögen wir uns nicht das feste, wie von Hephäston selbst geschmiedete Bild zu machen, welches uns der Dichter von Achilleus in die Seele zu zaubern weiß; und die minderen Helden: Aeneas, Sarpedon, Glaukos, können sich mit den ihrem Range entsprechenden Gegnern auf der griechischen Seite, den Ajax, (besonders dem Telamonier), 141 Diomedes, Odysseus an ästhetischem Wert noch weniger messen. Ja, was mir seltsam bezeichnend scheint: auch der Situationsplan des Lagers bei den Schiffen ist viel anschaulicher gezeichnet als der von Troja, die uns immer nur die ummauerte Stadt bleibt. Ebenso wird uns das Treiben dort in dem Kommen und Gehen der Helden von Zelt zu Zelt, in den geheimen Beratungen der Führer, den öffentlichen Versammlungen u. s. w. auf das mannigfachste und deutlichste nahe gebracht, während uns innerhalb der troischen Mauern nur eben ein und der andere flüchtige Blick in das Gemach der Helena oder der Andromache, in die Vorhalle des Königspalastes, auf die Zinne des skäischen Thores gegönnt wird, und wir hinsichtlich der Zustände in der belagerten Stadt, die doch sicher so viel des Interessanten geboten hätten, auf unsere eigene Phantasie angewiesen sind, da uns dieselben auch nicht ein einziges Mal in einem konkreten bedeutenden Bilde vorgeführt und veranschaulicht werden. Warum denn kargte die Phantasie der griechischen Sänger mit ihren Gaben, sobald es sich um die Troer handelte, und spendete in so unerschöpflicher Fülle, wo es die eigene Nation galt? Weil auch in der Poesie wie in allen menschlichen Dingen Kopf und Herz zusammen arbeiten; weil die Liebe das innere Auge feit, die Gleichgültigkeit es stumpf macht, und der Haß es verdunkelt.

Aber für diese »Tendenz«, wenn wir sie anders so nennen können, sind die homerischen Sänger nicht zur Verantwortung zu ziehen: sie folgen eben hier wie überall willenlos dem großen nationalen Zuge und bringen nicht ihr eigenes Belieben und ihre individuelle Ansicht, sondern nur die Anschauung und das Gefühl ihres Volkes zum Ausdruck, für welches unter anderem der schnöde Götterverrat, dem der edle Hektor zum Opfer fällt, sicher nichts Beleidigendes hatte. Und wenn wir nun auch so unsere obige Behauptung, daß die homerischen Gedichte ein volles Weltbild geben, dahin werden einzuschränken haben, daß es ein Bild 142 der Welt, angeschaut durch das Griechenauge, so ist doch diese nationale Einseitigkeit himmelweit verschieden von jener individuellen, zu welcher der moderne epische Dichter ein für allemal verurteilt ist. –

Und weil es in der homerischen Zeit ein Selbst, ein dichterisches Individuum in unserm Sinne nicht giebt, giebt es auch kein Ich-Epos in dem Sinne, in welchem wir von einem Ich-Roman zu reden haben. Wir kennen vorläufig diesen Sinn nicht und sind deshalb nicht imstande, die Ich-Erzählung des Helden in der Odyssee daraufhin zu betrachten, sondern müssen uns hier begnügen, zu untersuchen, ob sie sich und wie weit sie sich etwa von den übrigen Partieen des Gedichtes unterscheidet.

Und da wird eben zu sagen sein, daß sie sich von denselben allerdings unterscheidet durch gewisse Eigenschaften, von denen an einer anderen Stelle die Rede sein muß, und die sich dort als solche herausstellen werden, welche jeder Ich-Erzählung inhärent sind. Aber selbst diese obligaten Eigentümlichkeiten treten hier weniger scharf hervor als in einer modernen Ich-Erzählung und würden schwerlich selbst von dem Auge des Kenners bemerkt werden, wenn es den Ordnern der odysseeischen Gedichte gefallen hätte, die betreffende Partie, welche sie zweifellos, wie sie jetzt ist, vorfanden, nachträglich in die übliche Form umzuschreiben, das heißt überall da, wo »Ich« steht, »Er« und das Ganze dann wohl an eine andere Stelle, nach dem Anfang zu, vielleicht als den Anfang des Ganzen zu setzen. Wohl uns, daß es ihnen nicht gefallen hat! daß wir die Odyssee so, als ein Wunderwerk auch der Komposition, überkommen haben! aber diese Betrachtungen gehören auf ein anderes Gebiet. Hier haben wir nur zu konstatieren, daß die rigorose Objektivität der homerischen Dichtungsweise sich auch in diesem Falle auf das vollkommenste bewährt. Die veränderte Form der Erzählung alteriert in nichts die absolute Sicherheit der Methode. Der Ich-Erzähler spricht von 143 sich genau wie von einer dritten Person, genau so, wie von ihm in den vorhergehenden Gesängen gesprochen war, in den folgenden gesprochen werden wird. In wie neuen wunderbaren Lagen er sich uns auch vorführt, einen tieferen Einblick in sein Wesen und seinen Charakter gewinnen wir nicht; er bleibt, der er war, der er sein wird: immer derselbe kühne, verschlagene, in Leiden erprobte, ausdauernde, durch seine Energie den Widerstand der Welt besiegende Held, der durch seine Thaten zu dem Hörer spricht, und dessen Gedanken und Empfindungen, soweit er sie äußert, stets der jeweiligen Situation, in welcher er sich befindet, angepaßt sind, vielmehr aus dieser Situation herauswachsen.

So ist denn auch das Bild der Welt, wie wir es durch seine Augen sehen, in nichts verschieden von dem bereits feststehenden Weltbilde, höchstens um ein paar neue, staunenswerte Wunder bereichert, im übrigen aber in demselben Stile gemalt, unter denselben Gesichtswinkel, in dieselbe Beleuchtung gerückt; und man muß deshalb von der Ich-Erzählung des Odysseus behaupten, daß sie sich nur durch ihre Länge und durch die einschneidende Wichtigkeit, welche sie in ästhetischer Hinsicht für die Komposition und Oekonomie des Ganzen der Odyssee hat, von der nicht kleinen Reihe der anderen Ich-Erzählungen unterscheidet, die durch den Text der homerischen Gedichte verstreut sind. Ueberall entspricht das »Ich«, wo es hervortritt, nur einem ästhetischen Bedürfnis und hat also nur eine formale Bedeutung; niemals wird es zum Vehikel subjektiver Laune und Willkür, die ein für allemal aus dieser Welt höchster Objektivität verbannt sind.

Um das Gesagte zusammenzufassen: bei dem Dichter der homerischen Zeit kann von einer Welt- und Lebensanschauung, die nur ihm eignete, nicht die Rede sein. Er ist, wie ich es an einer anderen Stelle ausgedrückt habe, nicht sowohl der dichterische Mund seines Volkes als der Mund seines dichterischen Volkes. Es bleibt ihm keine Wahl für den Stoff, welcher eben 144 der von langer Hand vor- und zubereitete Sagen- und Mythenstoff ist; es bleibt ihm keine Wahl für das Wie, welches eben die feststehende dichterische Methode und Sangesweise ist. Seine Helden sind nicht seine Ideale, sondern die representative men der Nation, in welchen sich das Wesen derselben auseinandergelegt hat, wie das Wesen der Gottheit in den verschiedenen nationalen Göttern. Er kann der einen und der anderen dieser repräsentativen Gestalten noch einen und den anderen Zug hinzufügen (und hat das gewiß gethan), aber von Grund aus verändern kann er sie nicht; er mag sich, je nach seiner Individualität und dichterischen Veranlagung, zu der einen dieser Gestalten mehr hingezogen gefühlt haben als zu einer anderen, aber darauf beschränkt sich seine subjektive Beteiligung. Im übrigen und für das übrige verschwindet sein Ich in dem Objekt, lehnt er für das Was und Wie seines Gesanges jede Verantwortung ab, ja weist die subjektive Kritik individueller Sympathie oder Antipathie auch bei dem Hörer als ungerechtfertigt und unpassend zurück. Seine Stellung zur Sache und sein Verhältnis zum Publikum wird genau fixiert und umschrieben in den Worten, die Telemach seiner Mutter zuruft, als diese den Femios von dem »Gesang des Jammers«, der »traurigen Heimfahrt, die den Achäern von Troja verhängte Pallas Athene«, abzustehen bittet:

Meine Mutter, was tadelst du doch, daß der liebliche Sänger
Uns erfreut, wie das Herz ihm entflammt wird? Nicht ja die Sänger
Dürfen wir, sondern allein Zeus schuldigen, welcher es eingiebt
Allen erfindsamen Menschen und so, wie er will, sie begeistert. Odyssee I, V. 347-350.

Was würde wohl der moderne Epiker, der Romandichter, darum geben, dürfte er einem absprechenden Kritiker so entgegentreten? Er darf es nie, und wäre er das größte Genie und hätte er sein Thema noch so weise gewählt, diesem Thema alle nur denkbar möglichen Seiten abgewonnen, und entspräche der Größe 145 und der Würde des Stoffes die Sorgsamkeit und Feinheit der Behandlung.

Warum auch dann darf er es nicht?

Versuchen wir, uns ein Bild seiner Lage inmitten der ihn umgebenden Menschheit zu verschaffen, wie wir oben die Stellung des homerischen Dichters inmitten seiner Welt zu fixieren suchten.

Selbstverständlich ist er, eben wie der homerische, der Sohn seiner Zeit und kann sich ihren Einflüssen sowenig entziehen wie jener. Aber eben wie diese Einflüsse jenem günstig waren, wie sie ihn in seinem Geschäft dergestalt förderten, daß ihm kaum ein persönliches Verdienst für die glorreiche Ausführung desselben bleibt, genau so sehr sieht sich der moderne Dichter durch die analogen Einwirkungen in der Erfüllung seiner Aufgabe gehemmt und gehindert. Der selbstgerechte Stolz, mit welchem er nun allerdings auf das trotz alledem Errungene und Gelungene als auf sein wohlerworbenes Verdienst und Eigentum blicken kann, entschädigt ihn nicht für die unendliche Mühe und Arbeit, die schließlich im besten Falle nur ein mangelhaftes Resultat zuwege brachten.

Hört doch auch der moderne Mensch im besten Falle damit auf, womit der homerische Mensch anfing: erfüllt zu sein von dem Gemeingefühl seines Volkes, von dem Pathos seiner Zeit! ist doch dieses höchste Ziel einer einsichtsvollen Familienerziehung, einer erleuchteten öffentlichen Bildung wiederum nur dem begabtesten und kraftvollsten Individuum erreichbar! Und wie oft sieht es sich, hat es dasselbe erreicht, betrogen! sieht oder glaubt zu sehen, daß jenes Gemeingefühl ein irriges, jenes Pathos ein falsches ist, welches korrigiert werden, durch ein anderes ersetzt werden muß; und daß es sein schauerliches Los, diese aus den Fugen gegangene Welt einrenken zu sollen! Und dabei sage man nicht, daß zu so mißlichen Resultaten, die ja schon in sich selbst einen vollkommenen Widerspruch zu enthalten scheinen und 146 auch enthalten, nur verdüsterte Hamletnaturen und unklare Dichterseelen gelangen können. Da sind andere, in deren Adern kein Tropfen vom Blute des melancholischen Dänenprinzen rollt, die man ihrem Wesen nach als die wahren Antipoden von Apollos Söhnen ansprechen muß, die ganz und gar auf die nüchternpraktische Erfassung des Lebens und auf das thatkräftige Wirken in diesem Leben gestellt sind. Unter ihnen giebt es exceptionelle Naturen, die in klarem Verständnis ihres Wesens ihr Denken, Sinnen, Trachten, ihre hohe Begabung, ihre stolze Kraft von früh an dem Gemeinwohl weihen und sich so zuletzt, indem sie dies Gemeinwohl unablässig zu fördern bemüht sind und vielleicht auch fördern und langgehegte Träume und Wünsche der Nation realisieren, als die Verkörperung des Nationalwillens fühlen und fühlen dürfen. Und ist es nun nicht wiederholt beobachtet worden, ja ist es nicht als Regel zu nehmen, daß diese hochbegünstigten, prädestinierten Menschen am Ende ihrer stolzen Laufbahn über den Mangel des Verständnisses klagen, den sie bei ihren Zeitgenossen auf Tritt und Schritt zu befahren hatten? daß sie von der unverständigen Gegenwart wieder und wieder an eine verständnisvollere Zukunft appellieren? und so vor eine Aufgabe geraten, welche eine bedenkliche Aehnlichkeit mit der Quadratur des Zirkels hat: das Gemeinwohl des Volkes gegen den Willen der Hälfte des Volkes schaffen zu sollen?

Cäsarenwahnsinn! zetert der Haß der einen, inkommensurables Genie! jauchzt die Gunst der anderen Partei. Auf welcher Seite ist das Recht? Entscheiden kann es von den Lebenden niemand, die ehrlichen Hasser sowenig wie die ehrlichen Bewunderer, und am wenigsten das Geschmeiß der Schmarotzer, welches in der allmächtigen Sonne sein elendes ephemeres Dasein fristet. Nur eines ist sicher, daß diese modernen Heroen inmitten ihrer Satellitenscharen zur tiefsten Einsamkeit verurteilt sind, die darum gewiß nicht weniger schmerzlich von ihnen empfunden wird, weil 147 die unersättliche Ruhmgier sich in den Mantel der Menschenverachtung hüllt.

Und nun, dem Manne der That gegenüber, der Denker, der wunschlos durch den Eitelkeitsmarkt des Lebens geht; der sich niemals Menschenhaß und Menschenverachtung aus der Fülle seiner Menschenliebe trank; der selbst von seinem Gott keine Gegenliebe beansprucht; in dessen reinem Munde die Versicherung, daß er von seinem Gott nichts als die Gnade erbitte, fort und fort nach Wahrheit streben zu dürfen, wiederum die lauterste Wahrheit – wird er nicht ebenso von der Rotte seiner Gegner und Feinde geschmäht, geflucht, verlästert und verketzert? Lichtet sich die Schar seiner Anhänger und Freunde nicht mit jedem seiner Schritte aufwärts auf dem steilen, dornenvollen Wege, bis er zuletzt allein und verlassen steht wie »die Mühle außerhalb des Dorfes, die zu niemandem kommt und zu der niemand kommt?« Ist nicht auch er gezwungen, in melancholischer Resignation von der Mitwelt, die für seine Ideale nicht reif war, an den weiseren Richter einer Zukunft zu appellieren, die er nach tausend, tausend Jahren schätzt?

Aber die außerordentlichen Menschen, wird man einwenden, standen allein zu jeder Zeit; auch Herakles hatte keinen Gefährten, und schon lange vor Horaz wird man gewußt haben, daß die höchsten Berge am leichtesten von den Blitzen getroffen werden. Behaglich sicher hat es sich von jeher nur in den Niederungen der Menschheit gewohnt und so wohnt sichs da heute, gerade wie in den Tagen, die von der Sonne Homers durchleuchtet waren.

Wirklich?

Ich für mein Teil zweifle daran; es scheint mir sogar nicht unmöglich, daß die Not der Zeit auf den Durchschnittsmenschen noch schwerer laste als auf jenen Auserwählten. Diesen wachsen Kraft und Mut mit den größeren Zwecken; und wenn sie in dem 148 Kampfe, den sie allein kämpfen mußten, gebrochen werden und unterliegen – sie wußten, wofür sie stritten, und daß doch der Tag erscheinen wird, an welchem die vermaledeite Narrenburg hinsinkt samt dem Narrenkönig und seinem Narrenvolk. Woher sollen dieser Mut und diese Zuversicht jenen ehrlichen Leuten kommen, die so gern das Rechte thun möchten, auch, wenn es sein muß, für das Rechte leiden würden, nur daß sie um alles in der Welt nicht wissen, ob es innerhalb oder außerhalb der Mauern zu finden ist? Hat die Schule recht oder das Leben, für das jene uns zu belehren vorgiebt, und das doch alle Augenblicke die Schulweisheit ad absurdum führt? Hat die Kirche recht, die behauptet, daß außer ihr kein Heil sei? oder die Skepsis des Philosophen, welche allen Offenbarungsglauben ironisch weglächelt? Hat die Familie recht, die uns mit tausend Banden fesseln möchte? oder der Staat, der mit rauher Hand in das trauliche Heim greift und den Widerwilligen hinausreißt auf den Exerzierplatz, auf das Schlachtfeld, in die Arena des Kampfes der politischen Parteien, von denen jede schwört, daß sie und sie allein im Besitze des summum arcanum der Volkswohlfahrt sei und folglich die Gegenpartei aus Betrügern und Betrogenen bestehe? Wahrlich, es wäre kein Wunder, wenn der Jüngling, der sich am Ufer dieses Meeres von Zweifeln sieht, gern auf die tausend Masten verzichtet und zagend nach einem Boote ausschaut, auf dem er sich in den Hafen einer sicheren Ueberzeugung retten kann.

Nun aber sei der Jüngling wiederum ein Auserwählter, von der Muse geküßter. Er hat den schnellen, scharfen und doch ruhig klaren Blick des geborenen Beobachters; er hat die Kombinationskraft, die das Fernste mit dem Nächsten leicht und sicher verknüpft; den tiefen, leidenschaftlichen Drang zur Natur; die innige Freude an dem Welttreiben; die nimmersatte Lust, den geheimen Wurzeln der Handlungen der Menschen in den Trieben, 149 Neigungen, Begierden, Leidenschaften nachzuspüren; die schöpferische Phantasie, die da eintritt, wo die Erfahrung aufhört (ach, und wie bald thut sie das!), und aus den verworrenen Anfängen, bei welchen es in dem überbürdeten Leben so oft sein Bewenden hat, die idealen Konsequenzen zu ziehen weiß. Er sei, mit einem Worte, zur epischen Poesie veranlagt und im höchsten Grade – ein Genie, wie es im Laufe der Jahrhunderte nur einmal ersteht, das sich an Kraft und Reichtum kühn mit dem ersten der Homeriden messen darf.

Was ist sein Los?

Ihm rauscht nicht das ewige Meer den geheimnisvollen Wiegengesang; er schaut als Knabe nicht von Uferklippen in die blaue, zu kühnen Abenteuern lockende Ferne; kein begeisterter Sänger kündet dem hochaufhorchenden Jüngling die Großthaten der Helden seines Volkes. Hat er überhaupt ein Volk? hat dieses Volk Helden? Einen vielleicht – gewiß! aber der Eine, Einzige schlägt seine Schlachten »hinten, weit –«; kein leisester verhallender Kanonendonner erschüttert je die schwüle Luft, in der sein junger glühender Bewunderer zu atmen verurteilt ist. Und so überläßt er nur zu gern der Straßen quetschende Enge dem banausischen Handel und pedantischen Wandel des biederen Bürgers und flieht aus der ehrwürdigen Nacht der Kirchen, in denen sein Gott nicht wohnt, hinaus in die Natur und »lullt sein empörtes Blut zur Ruhe« mit demselben Homer, durch den sich der macedonische Alexander zu seinen Siegeszügen begeistern ließ. Liegt träumend »am fallenden Bach« und betrachtet die »Gräschen und das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen« und ist »so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß seine Kraft darunter leidet.« Was soll er auch mit dieser seiner Kraft, wenn er »die Einschränkung« ansieht, »in welcher die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind?« sieht, »wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, 150 sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern«; und »daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt?« Ist es zu verwundern, daß ihn »das Alles« – dies Unbefriedigende, Zweck- und doch Ruhelose der Gegenwart, die ihm beschieden – »stumm macht?« dürfen wir ihn schelten, den Jüngling, wenn er sich mißmutig von einem Leben abwendet, welches ihn, wie die Fata Morgana den Wüstenwanderer, nur anzulocken schien, um ihn desto sicherer verschmachten zu lassen? und er im stolzen Bewußtsein des quellenden inneren Reichtums denkt und spricht: »Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt?«

Eine Welt, die er – denn er ist ein Dichter, ein epischer Dichter – nun wohl oder übel zu schildern gezwungen ist. Und wohl ihm, wenn diese Schilderung nicht ganz übel gerät! Schwer ist zu schildern, was, wie er selbst recht gut weiß, »mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft besteht«; und was bleibt ihm, wenn er wahrhaftig ist, wie es das wahre Genie immer ist, als: eben diese Ahnung zu schildern, eben diese dunkle Begier, die, genau betrachtet, nichts anderes ist als sein eigenstes Ich, das im Kampfe liegt mit der ganzen Welt, im Widerstreit mit sich selbst und sich in diesem Kampfe und Widerstreit selbst zerstört?

Zerstören würde, wenn er eben nicht ein Dichter, der große Dichter wäre, welchem, wo andere verstummen oder sich die Kugel durch das fiebernde Gehirn jagen, ein Gott zu sagen gab, was er leidet.

Wahrlich ein Gott; aber nicht der übermilde Spender, den der homerische Sänger anruft: ein karger Gott, dem er den Inhalt seiner Dichtung mit seinem Herzblute bezahlen mußte; der 151 ihm für die Form keine Muster gab, gültig für jeden in der Gilde: für den Meister wie für den Schüler; ihm vor allem keine Meister gab, die ihn die edle Kunst methodisch lehrten, und wie man den Stoff zu formen, einzuteilen und zu begrenzen und die Fabel zu führen und die Episoden einzuflechten und die Uebergänge schicklich einzurichten hat; – der ihm das alles selbst zu finden, zurechtzulegen, festzustellen, anzuwenden überließ; ihm nichts entgegenbrachte als eine »unüberwindliche Sprache«.

Und er überwindet alles, triumphiert über alles. Das Publikum sogar, dem es durchaus nicht ohne weiteres »Wonne, mit anzuhören den Sänger«, sondern eher eine Last, die es widerwillig auf sich nimmt, gern wieder abschüttelt; und das, wenn der Sänger wirklich »Wohllaut der Unsterblichen nachahmt«, sehr geneigt ist, die empfundene Wonne sich selbst als specielles Verdienst anzurechnen – diesmal läßt es sich aus seiner Gleichgültigkeit, seiner Blasiertheit aufrütteln. Eine tonlos vibrierende Saite seines Herzens hat vollen Klang gewonnen; es kann dem »Geist und Charakter« des Helden seine »Bewunderung und Liebe«, dem Schicksale desselben seine »Thränen nicht versagen«. Die Jünglinge kleiden sich in seine Tracht, schöpfen für eingebildete Schmerzen »Trost aus seinem Leiden«; junge Mädchen lesen in dem Büchlein, das »ihr Freund sein sollte, wenn sie keinen näheren finden konnten«, noch ein paar Seiten, bevor sie die unverstandene oder ungeteilte Glut ihres Herzens für immer in den Wassern eines Baches löschen. Weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus dringt diesmal (o Wunder!) der Ruf eines deutschen Buches, der Ruhm eines deutschen Autors; die Sonne homerischer Kunst scheint wieder einmal aufgegangen zu sein, aller Welt die Welt erklärend und verklärend.

Aller Welt?

Nein.

Zwar über die platten Witze hämischen Neides mag der glück 152liche Autor mitleidig lächeln; auch das Kopfschütteln gewisser wohlwollend würdiger Männer wird ihm nicht eben imponieren: sie haben, wie gewichtig auch sonst ihr Urteil im Rate der Gemeinde, doch in poetischen Dingen keine Stimme.

Aber da ist einer, dessen große Seele keine Gehässigkeit und keinen Neid kennt; dessen Witz stets scharf geschlissen und beschwingt und unfehlbar ist wie die Pfeile Apollos; von dessen Urteilen in Sachen der Kunst und Poesie man zur Zeit an keine höhere Instanz appellieren kann und kaum in Zukunft wird appellieren können. Und dieser Eine – legt bedächtig das ungeheure Gewicht seiner Stimme in die Gegenwage und hält dafür, daß kein antiker, das heißt kein wahrer, normaler Mensch wie der Held jenes Romanes gefühlt und gehandelt haben würde; daß der Autor denn doch, alles in allem, den Homer, welchen sein Held immer in den Händen hält, falsch gelesen; das sentimentale Zwielicht, in welchem er uns die Welt zeigt, mit nichten die klare Sonne Homers, und die Welt, die er uns schildert, nicht die Welt, sondern eben nur – seine Welt sei, – eine Welt, die nur für ihn existiere und auch nicht länger existieren werde, als bis er sich mit frischer Kraft auf einen höheren, freieren Standpunkt geschwungen, und »also, lieber Goethe, noch ein paar Kapitelchen zum Schlusse, und je cynischer je besser!«

Ich muß an dieser Stelle auf einen Einwurf gefaßt sein: der Nachweis (so weit derselbe überall geführt ist) des im Vergleich mit der Objektivität und schlechthinnigen Idealität der homerischen Gedichte durchaus subjektiven Charakters und mithin partiellen ästhetischen Wertes von Goethes Erstlingsroman beweise nichts für den Satz, den ich doch gerade beweisen wolle. Es liege hier ein ganz besonderer, in der gesamten Geschichte der Litteratur vielleicht einziger Fall vor, aus dem sich ein Rückschluß auf die Natur des modernen Romans im allgemeinen nicht machen lasse. Auch sei ja der Werther eben einer jener wenigen Ich-Romane, 153 die speciell dazu ausersehen schienen, der Subjektivität des Autors zu ihrer allseitigen Entfaltung den möglichst weiten Spielraum zu gewähren. Ueberdies stehe diesmal zufällig die Identität des Autors und seines Helden (und doch auch nur bis zu einem gewissen Punkte!) fest. Um eines zufällig bekannten und auch vielleicht sonst zufälligen Umstandes willen behaupten wollen, daß in jedem modernen Roman Autor und Held sich völlig oder auch nur bis zu einem gewissen Punkte deckten, jeder moderne Roman also, wenn kein offener, so doch verkappter Ich-Roman sei, hieße eine immerhin vorhandene, aber nicht unüberwindliche Schwierigkeit zum absoluten Hindernis und alles in allem eine Ausnahme zur Regel aufbauschen.

Was ist hierauf zu erwidern?

Allerdings muß der Fall des »Werther« für einen besonderen gelten, aber nur in dem Sinne, daß er ein besonders ausgeprägter ist. Bewiesen freilich wird durch unser Beispiel nichts und sollte auch nichts bewiesen werden, wie ja denn der einzelne Fall immer nur zur Bestätigung der Regel dienen kann, niemals dazu, aus ihm die Regel zu abstrahieren. Aber die Vermutung liegt doch wohl nahe, daß, wie das Wesen und Wirken des wahrhaft genialen Menschen überall typisch ist, so auch die Genesis des Erstlingsromans unseres größten modernen epischen Genies für die Entstehung moderner Romane ebenfalls typisch sein werde.

Diese Vermutung wird sich im Folgenden durchaus bestätigen.

II.

Wir erinnern uns, daß es die Tendenz der epischen Phantasie, ihren Horizont möglichst weit auszudehnen; daß es das Streben des epischen Dichters, ein Weltbild zu geben – ein Weltbild, dessen Material, wie wir hier, wo es gefordert wird, 154 hinzufügen müssen, durch unablässige, scharfe Beobachtung der realen Welt zusammengebracht wird. Ich sage Beobachtung und nicht, wie W. v. Humboldt, Betrachtung oder Beschauung und glaube, daß dadurch manche Dunkelheit aus dem Wege geräumt wird, welche sich in der Darstellung dieses bahnbrechenden Forschers von der Genesis der epischen Dichtungsart findet. Ihm ist bekanntlich »der Einteilungsgrund aller wesentlich verschiedenen Dichtungsarten die Natur der dichterischen Einbildungskraft und des allgemeinen Zustandes der Seele, den sie in jeder einzelnen bearbeitet« Aesthetische Versuche, Kap. LIII.; derjenige Seelenzustand aber, welchen die Einbildungskraft bearbeiten muß, damit als Produkt das Epos hervorgehe, eben die Betrachtung. Von den zwei Faktoren, der Einbildungskraft und dem betreffenden Seelenzustand, ist ihm der erstere eine konstante Größe, die reine Formthätigkeit: die Thätigkeit des Formens oder Bearbeitens eben des betreffenden Seelenzustandes – eine Centralsonne gleichsam, deren indifferentes Licht erst verschiedenfarbig gebrochen wird, je nachdem es auf diesen oder jenen Zustand der Seele trifft. Er kann deshalb immer nur von der Einbildungskraft oder Phantasie (welche Ausdrücke er durchaus promiscue gebraucht), niemals von einer epischen (respektive dramatischen oder lyrischen) Phantasie sprechen. Aber indem er nun den Zustand der Betrachtung (der einzige zweite ist ihm der der Empfindung, aus welcher er die lyrische Poesie herleitet, zu der er dann auch folgerichtig die dramatische zu rechnen gezwungen ist), ich sage: indem er diesen Zustand ausführlich schildert, vindiciert er ihm Eigenschaften, die nach meinem Dafürhalten nicht diesem, sondern der Phantasie zukommen, und verwickelt sich dadurch in Widersprüche mit seiner obersten These, welche in Sätzen wie der folgende (ich könnte eine ganze Reihe Parallelstellen anführen) offen zu Tage liegen: »Wo der 155 Dichter wirkt, ist es immer die Einbildungskraft, die allein geschäftig ist, welche die Stimmung seiner Seele hervorruft, die ihr selbst analog ist, die ihn höher hinaufführt oder auf einer niedrigeren Stufe verweilen läßt. Wenn wir im Vorigen bei Gelegenheit der Methode der Ableitung aller Dichtungsarten den Zustand der Seele im allgemeinen von derjenigen Modifikation absonderten, welche ihm die Einbildungskraft und die Kunst giebt, so darf man sich darum nicht vorstellen, daß dieselbe diesen Zustand schon vorfand und nur bearbeitete. Vielmehr ist sie es allein, welche ihn hervorbringt, aber freilich darin der individuellen Natur des Gemütes folgt, die eben dadurch auch die ihrige ist.« Ibd. Kap. LXX. und LXXI. Man sieht, hier ist der zweite konstituirende Faktor: der Zustand der Seele, der noch eben fast omnipotent war, wieder ganz in den ersten: die Einbildungskraft, resorbiert, und die Untersuchung müßte eigentlich von vorn beginnen, wenn wir nicht in dem Vorhergehenden bereits stillschweigend an Stelle des Hui überall das Huo gesetzt hätten. Und so wäre denn auch wohl die sich an die aristotelische der Tragödie anlehnende Definition des epischen Gedichtes, zu welcher Humboldt schließlich gelangt: »Das epische Gedicht ist eine dichterische Darstellung einer Handlung durch Erzählung, welche (nicht bestimmt, einseitig eine gewisse Empfindung zu erregen) unser Gemüt in den Zustand der lebendigsten und allgemeinsten sinnlichen Betrachtung versetzt« Ibd. Kap. LXII. (Definition der Epopöe.)) – abgesehen davon, daß wir so auch die in einer rein ästhetischen Angelegenheit immer mißliche Zweckbestimmung des eingeklammerten Zusatzes aus dem Wege räumen – kürzer und besser so zu formulieren: «Das epische Gedicht ist eine dichterische Darstellung einer Handlung durch Erzählung«, da ja offenbar der Begriff »dichterisch«, wenn er nicht völlig leer sein soll, die »unser Gemüt in den Zustand der lebendigsten und 156 allgemeinsten sinnlichen Betrachtung versetzende« Kraft ausdrückt. Ja, es ließe sich darüber streiten, ob nicht bereits das Epitheton »dichterisch« überflüssig ist und der Begriff »Darstellung«, in seiner Tiefe und Fülle gefaßt, alles nötige sagte.

Ich muß hier, um mich nicht zu weit von meinem eigentlichen Gegenstande zu entfernen, darauf verzichten, die Untersuchung nach dieser Seite weiter zu führen und mich vor allem mit Fr. Th. Vischer auseinanderzusetzen, bei dessen Methode der auf drei oder gar vier verschiedenen Principien basierten Teilung der Phantasie in Arten und Unterarten sich die Humboldtsche Centralsonne in eine Milchstraße aufzulösen droht. Ich muß diese Resignation umso mehr üben, als ich hier keineswegs darauf abziele, eine vollständige Theorie des Romans aufzustellen, sondern nur zu dieser Theorie einen Beitrag geben will, bei welchem das Raisonnement womöglich immer von der individuellen Erfahrung ausgeht und zu derselben zurückführt.

Und auf diese individuelle, aus der eigenen Kunstübung resultierende Erfahrung mich stützend, plaidiere ich eben für die Substituirung der Beobachtung an Stelle der Humboldt'schen Betrachtung oder Beschauung, als derjenigen Seelenthätigkeit, zu welcher die Anlage dem Epiker in besonderem Grade eingeboren sein muß, und die er fortwährend instinktiv übt und kräftigt, bevor er noch eine Ahnung von den künstlerischen Aufgaben hat, für welche er die sich immer vermehrende Masse der beobachteten Objekte dereinst verwenden wird. »Wenn ich die Augen ordentlich aufmache, so sehe ich so ziemlich alles, was zu sehen ist«, äußert Goethe einmal. Und daß der episch veranlagte Geist »so ziemlich alles« oder sagen wir: alles sieht, ist es eben, was seine Art zu beobachten von derjenigen anders veranlagter poetischer Geister unterscheidet.

Besonders der dramatischen.

Wir müssen einen Augenblick bei diesem Unterschied verweilen.

157 Wer Schiller nicht nur aus seinen Dichtwerken, sondern auch aus seinen Briefen kennt, besonders den aus seinen jüngeren Jahren, wo der Kontakt mit dem aktuellen Leben für ihn noch nicht durch seine Krankheit und obligate Vereinsamung vielfach unterbrochen wurde, weiß, welch ein eminent scharfer Beobachter er war; wie ihm oft ein einziger Zug genügt, sich daraus den ganzen Fall zu konstruieren, und wie er dabei fast immer mit genialer Sicherheit das Rechte trifft. Aber wie groß diese seine Begabung, sie ist und bleibt einseitig und mangelhaft, verglichen mit der Goethe'schen. Induktorisch beginnend, wie jede Beobachtung ihrer Natur nach muß, geht die Schiller'sche alsbald zur Synthese über, resolviert sich zu endgültig sein sollenden Schlössen. Goethe beobachtet ruhiger, besonnener, gelassener, bleibt streng induktiv, teilt lieber fürs erste einmal den Befund der Beobachtung mit, als daß er aus demselben einen Schluß zöge, und wenn er das letztere thut, geschieht es mit der Reservation, daß das Objekt bei genauerer Beobachtung auch noch andere Seiten offenbaren möchte, die, wenn sie zu Tage träten, selbstverständlich den Schluß entsprechend modifizieren würden. Bei Gelegenheit der Lektüre von Fichtes Naturrecht schreibt Goethe an Schiller: »Es geht mir hier, wie ich neulich von den Beobachtungen sagte: nur sämtliche Menschen erkennen die Natur, nur sämtliche Menschen leben das Menschliche.« (Briefwechsel II, S. 82.) Auch bei den geistreichsten, tiefsinnigsten Deduktionen des reifen Schiller wird man nur zu oft an das Wort Wallensteins erinnert: »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort«, während man bei Goethe immer die Gewißheit hat, daß er Thatsachen redet, vielmehr: daß er die Thatsachen reden läßt. Und eben diese Ruhe und Gelassenheit, diese strenge Methode machen es ihm möglich, einmal: den Kreis seiner Beobachtungen unendlich viel weiter zu ziehen, und zweitens, das gemeinschaftliche Objekt der Beobachtung viel genauer, an demselben eben alles zu sehen. Ich sage: gemeinschaftliche, 158 denn als Dichter haben sie nur eines, können sie nur eines haben: den Menschen. »Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch-pathologischen Zustandes des Menschen gegründet, und wer gesteht denn das jetzt wohl unter unseren fürtrefflichen Kennern und sogenannten Poeten?« (Goethe an Schiller. Briefwechsel I, S. 392.) Schiller aber sieht den Menschen so zu sagen abstrakt, untersucht ihn, taxiert ihn, klassifiziert ihn nur auf seinen geistigen Gehalt hin; Goethe ihn stets in dem Doppelverhältnis, in welchem er einerseits zu der physischen Natur steht, in die er hineingeboren ist, andererseits zu dem gesellschaftlich-socialen Milieu, in welchem er sich bewegt, und das ihn wie eine zweite Natur umgiebt, deren Einfluß ebenso wie der der wirklichen in Rechnung gebracht sein will, soll das aus der Beobachtung und Erwägung aller dieser Momente allmählich sich im Geiste komponierende Bild des Menschen oder, sagen wir: der Menschheit, die Wirklichkeit annähernd decken.

Und eben diese Methode der Beobachtung, welche in ihrer Konsequenz von selbst zur möglichsten Vollständigkeit auch hinsichtlich des Materials führt, ist nicht bloß Goethes Art – sondern jedes – von den Gradunterschieden der Begabung abgesehen –, der für die epische Kunst veranlagt ist. Jedem Epiker erscheinen seine Menschen stets und unweigerlich in einem bestimmen socialen Milieu, auf einem bestimmten lokalen Hintergrunde, sei derselbe wie und was er sei: eine Landschaft, eine Straße, ein Zimmer – gleichviel: stets und unweigerlich sind sie ihm umwittert von einem doppelten Dunstkreis, aus dem er sie ein für allemal nicht lösen, außerhalb dessen er sie sich gar nicht vorstellen kann, und den er deshalb auch immer mit zur Darstellung bringt. Bei einem echten und rechten Epiker weiß man immer ganz genau, wo und wann die Scene spielt, bis in die Details des Lokals, bis zu den exaktesten Zeitbestimmungen, und ob die Sonne oder der Mond scheint oder nicht. Und zwar 159 bedarf es dazu für ihn gar keiner weitausholenden Schilderungen sondern einzelne Züge, Andeutungen, Striche genügen ihm; und diese kommen ihm wiederum ganz unwillkürlich, weil eben seine Menschen immer festen Boden unter den Füßen und die Hand am Steuer und die Augen auf bestimmte Sternbilder gerichtet haben. Ja, man darf sagen, daß der echte Epiker eigentlich nie in dem gewöhnlichen Sinne schildert, sondern die landschaftliche oder sonstige Umgebung nur gewissermaßen mitfließt, indem sich seine Menschen durch sie hindurch bewegen; um so leichter, ungezwungener fließt, in je lebhafterer, energischerer Bewegung, d. h. in je strafferer Aktion die Menschen sind; wie man umgekehrt – u. a. bei Scott fast in jedem Roman – die Beobachtung machen kann, daß der Dichter nur Zeit und Lust hat, den schwerfälligen Schilderungsapparat aufzubauen und mit demselben in mißverstandenem epischen Drange, unkünstlerisch genug, herum zu hantieren, bevor seine Menschen in die rechte Bewegung kommen. Siehe W. v. Humboldt, Aesthetische Versuche, Kap. XCII., wo der Verf. von der Sorgfalt spricht, mit welcher Goethe »Ort und Zeit« zu benutzen verstanden. »Der Dichter dachte sich die Handlung nie ohne das Lokal, und dieses nie ohne jene; daher zeigt er es immer zugleich mit ihr und beschreibt es nie und allein für sich.« Gewiß; nur daß Humboldt als ein besonderes Verdienst des Dichters rühmt, was Grundgesetz jeder echten epischen Darstellung ist.

Diese straffe Bindung des episch gesehenen und geschilderten Menschen an seine physische Umgebung – um von dem zweiten Moment des socialen Milieu abzusehen –, diese seine Abhängigkeit von Ort und Stunde ist nebenbei auch einer der Gründe, weshalb die dramatische Bearbeitung eines Romans so mißlich ist, und für niemand mißlicher, als für den Romandichter selbst. Wie viele Mühe er sich giebt, den dramatischen Kern der Handlung rein heraus zu arbeiten, überall haftet die epische Schale fest. Scenen, auf die er den höchsten Wert legt und legen muß, weil 160 in sie die Schwerpunkte der Handlung fallen, und die auch im Roman, wo er frei über das epische Drum und Dran kommandierte, vortrefflich waren, nehmen sich auf der Bühne, wenn sie nicht einfach unmöglich sind, dürftig oder läppisch aus trotz aller raffinierten Künste des heutigen Kulissenmeisters. Und dabei braucht man nicht etwa nur an solche Scenen zu denken, die sich in einer großartigen Natur abspielen oder im Kampfe der entfesselten Elemente – es können ganz harmlose idyllische Situationen sein: ein Mädchen, das des Liebsten harrt »im Kämmerlein, so nieder und klein, so rings bedeckt, der Sonne versteckt« – die Schauspielerin mag das noch so gut agieren, und der Regisseur ihr das Nestchen in seinem Sinne und Geschmack noch so traulich zubereitet haben – man sieht nicht, wie durch das epheubedeckte Fensterchen die Lichter mit den Schatten auf der Diele spielen; man hört nicht das Lispeln des säuselnden Windes in den Blättern, nicht das Knarren der Gartenthür, den leisen Schritt des Kommenden auf dem Kies, nicht das verräterische Bellen des Nachbarhundes – und, so oder so, der Duft, die Poesie sind weg von der harmlosen Scene; wir begreifen kaum noch, wie sie uns im Roman, in der Novelle so innig entzücken konnten.

Daß man sich nun diese straffe Bindung des epischen Menschen an seine Umgebung – das Wort wieder im weitern Sinne genommen – im Gegensatz zu der laxen Bindung des dramatischen Menschen an seine Umgebung nicht hinreichend klar macht und auf diesen Gegensatz das nötige Gewicht legt, ist, soviel ich sehen kann, die Veranlassung zu so manchen Schiefheiten und Halbwahrheiten, ja ganz offenbaren Irrtümern und Fehlschlüssen in unserer ästhetischen Kritik. Die Frage z. B., die wieder und immer wieder aufgeworfen wird: Warum sollte der historische Roman nicht ebenso berechtigt sein wie das historische Drama? läßt sich nur aus dem Verständnis jenes gegensätzlichen Verhält 161nisses beantworten und muß dahin beantwortet werden, daß eine absolute Gleichberechtigung entschieden nicht zu statuiren ist. Dem Dramatiker, dem es nur auf die Darstellung einer Handlung, und zwar auf ihre einfachste Formel zurückgeführt, ankommt, kann, ja muß es bis zu einem gewissen Punkte gleichgültig sein, wo und wann diese Handlung in Scene geht. Das Schiller'sche: »Was sich nie und nirgends hat begeben«, besteht nur für ihn in voller Geltung, nicht für den Epiker. Ist die dramatische Schlacht heiß genug entbrannt, kämpft's sich in den Lüften ebenso gut wie auf der Erde, und die Narrheit feiert ihre Triumphe in Wolkenkuckucksheim und in Schilda. Der Dramatiker hat schlechterdings nichts zu thun, als die Seelen seiner Menschen bloßzulegen, für den Körper sorgt der Schauspieler. Er steht ja leibhaftig vor uns, demonstriert uns ja seine Existenz ad oculos und ad aures, donnert sie, lispelt sie, lächelt sie, weint sie uns ins Herz. Und gehört wirklich noch ein bißchen Drum und Dran dazu – und wie wenig dazu gehört, das zeigen uns ein Rossi, ein Salvini –, so wird dafür der Kulissenmeister sorgen. Daher darf denn der Dramatiker auch seine Stoffe nehmen, wo er sie findet; einer ist ihm so willkommen wie der andere, vorausgesetzt, daß die tragische Flamme oder das komödische Sprühfeuer daraus entzündet werden kann. Ob er sie da, wo er sie findet: in der ursprünglichen geschichtlichen oder gesellschaftlichen Bestimmtheit, läßt oder ob er sie in eine andere Zeit, ein anderes Volk, eine andere sociale Atmosphäre verlegt und rückt, wird wesentlich durch Gründe der Zweckmäßigkeit entschieden werden. Meistens wird die Zweckmäßigkeit für das erstere entscheiden; oft aber auch ist eine Um- oder Uebersiedelung geboten oder erwünscht, und dann tummeln sich die Karlsschüler in den böhmischen Wäldern oder Virginius ersticht seine Tochter am Hofe des Prinzen von Guastalla. Das wahre Heim der dramatischen Handlung ist das menschliche Herz, das heute schlägt, wie es 162 vor Jahrtausenden schlug und nach Jahrtausenden noch schlagen wird. »Einen antiken Stoff dürfte der epische Dichter nicht leicht, so wie der tragische, wählen; dieser hat nur einen einzelnen Vorfall, eine einzige Leidenschaft zu schildern, der er, da sie durch alle Zeiten hin gleich menschlich bleibt, immer die Farbe der Wahrheit geben kann, und gewinnt nun einen, schon vor ihm in dem Geiste seiner Zuschauer poetisch gebildeten Stoff. Jenem aber, der das ganze Leben seiner Helden zugleich mit allem, was sie umgiebt, schildern soll, der bei weitem nicht mit der gleichen Willkür Züge aus seinem Bilde weglassen, oder andere hinzufügen darf, würde es auf diesem Boden immer an Natur und pragmatischer Wahrheit mangeln.« (W. v. Humboldt, Aesthet. Versuche, Kap. XCVI.) Ich darf diesen Satz wohl um so mehr für mich in Anspruch nehmen, als die Schwierigkeiten, mit welchen Humboldt den »epischen Dichter«, der einen antiken Stoff zu behandeln unternimmt, (sagen wir: Goethe in der »Achilleis«) im Kampfe sieht, offenbar weit geringer sind, als die, welche der »Romandichter« zu bewältigen hätte. Und daß, was hier vom »antiken« Stoffe gesagt ist, auch cum grano salis von jedem »historischen« gesagt werden muß, wird mir der denkende Leser bereitwillig zugeben.

Will ich mit dem allen nun sagen, daß der dramatische Dichter überhaupt die Wirklichkeit nicht zu beobachten, keine Erfahrung im realen Leben zu machen brauche? Gewiß nicht. Nur, daß er eben anders beobachtet, seine Erfahrungen auf einem anderen Gebiete liegen; und freilich auch, daß er in der That weniger zu beobachten braucht, und seine Erfahrungen schneller verwerten kann und darum verwerten darf als der Epiker. Auch der Dramatiker wird seine Modelle, d. h. die wirklichen Menschen, die er beobachten durfte, ausnutzen; aber er ist weitaus nicht so eng an dieselben gebunden, kann viel freier mit ihnen umspringen und zur Not ganz auf dieselben verzichten. Unzweifelhaft hat Shakespeare von den unzähligen Charakteren, die er uns alle mit der gleichen idealen Wahrheit vorführt, doch nur den kleinsten Bruchteil im realen Leben studieren können, während wohl in Goethes Romanen kaum eine Gestalt sein dürfte, zu der ihm nicht ein Lebender Modell gesessen hätte. Wie verhältnismäßig wenig 163 hatte Schiller von der Welt gesehen, als er seine drei großen Erstlingswerke schuf, und doch durfte er es bereits wagen, im Fiesco eine Haupt- und Staatsaktion zu traktieren, und zog sich, alles in allem, aus dem schwierigen Handel besser, als ein epischer Dichter von gleich großer Jugend und Unerfahrenheit, der denselben Stoff in seiner Weise hätte bearbeiten wollen, irgend imstande gewesen wäre. Dafür rangiert Kabale und Liebe, wo der Stoff dem Dichter bequemer lag, als dramatisches Kunstwerk weit vor dem Werther, als epischem Kunstwerk. »So sind die Romane in Briefen völlig dramatisch.« (Goethe an Schiller. Briefw. I, S. 411.) Und dieser Fall früher Meisterschaft in der dramatischen Kunst steht so wenig vereinzelt da, daß man fast geneigt wäre, daraus eine Regel zu abstrahieren. Unter allen Umständen eignet das »in holdem Wahnsinn rollende Auge« nur dem dramatischen Dichter; und es ist eine tiefsinnige Symbolik, die den Meister der epischen Meister als blinden Greis darstellt.

Jene laxere Bindung, die wir zwischen dem dramatischen Dichter und seinen Modellen einerseits und dem Stoffe andererseits konstatieren mußten, zeigt sich nun abermals, nur noch in evidenterer Weise, in dem speciellen Verhältnis, in welchem er zu seinem Helden steht. Ihm ist gewissermaßen jeder Held recht: Ajax oder Oedipus, Elektra oder Antigone, Othello oder Lear, Romeo oder Macbeth, Don Carlos oder Wallenstein, Fiesco oder Wilhelm Tell – je verschiedener im tiefsten Seelengrunde diese Helden sind, desto mehr Gelegenheit hat er, das dramatische Licht ausstrahlen und sich in den verschiedensten Farben brechen zu lassen. Es bedarf durchaus dieser Brechung, um sich von seiner Einerleiheit zu befreien. Denn im Grunde ist das tragische Thema immer dasselbe: der Kampf des Menschen mit dem großen gigantischen Schicksal, welches ihn zugleich zermalmt und erhebt. Nun aber kann dieser Kampf zur Zeit nur immer in 164 einem einzelnen Falle dargestellt werden, mit dem, wie mit jedem einzelnen Fall, die Regel nicht bewiesen, sondern eben zu der Regel nur ein Beispiel gegeben ist, so daß der Beweis von neuem versucht werden muß und zwar abermals durch ein Beispiel und so fort ins Unendliche. Ja, liegt doch, streng genommen, die Sache so, daß, wollte man aus dem einzelnen tragischen Fall eine Konklusion machen, ein Absurdum heraus käme, nämlich die Vernichtung der schönen Welt, die sich erst im erschütterten Busen des Zuschauers nachträglich wieder aufbaut. Immerhin ist für den Tragiker der jedesmalige Held nur der Exponent zur Lösung des Schicksalsrätsels und als solcher variabel und – im gemütlichen Sinne – gleichgültig. Der Dichter ist jeden Augenblick bereit, ihn mit einem anderen zu vertauschen, der zu dem tragischen Endzweck ebenso tauglich, vielleicht noch tauglicher ist. Diese gemütliche Kühle gegen seinen Helden kann bei dem tragischen Dichter sogar bis zur Abneigung gehen: man erinnere sich des unbehaglichen Verhältnisses, welches – mindestens im Anfang – zwischen Schiller und seinem Wallenstein bestand! Und darf er doch seine künstlerische Liebe eigentlich niemals auf einen Helden konzentrieren, da der tragische Gesang sich immer in der Form der Strophe und Antistrophe bewegt; immer zwei gegeneinander auftreten, als Vertreter der sittlich-unsittlichen Mächte, deren einseitiges Pathos und relatives Unrecht uns der Konflikt, in welchen sie geraten, aufdeckt: Kreon und Antigone, Wallenstein und Octavio, Karl und Franz Moor, Fiesco und Verrina, Carlos und Philipp, Maria und Elisabeth, Faust und Mephisto. So – infolge dieser lockereren Bindung des tragischen Dichters und seines, besser: seiner Helden – kommt es, daß ein Rückschluß aus der Natur dieser auf die Individualität jenes so seltsam schwierig und unsicher, wenn nicht ganz unmöglich ist – man denke an Shakespeare! – und mithin diejenige Dichtungsart, welche Humboldt auf den Seelenzustand der Empfindung basiert 165 und folglich als in dem Kern ihres Wesens lyrisch und subjektiv bezeichnen muß, sich als die weitaus objektivste von allen erweist.

Ist es diese strenge Selbstlosigkeit, welche es der tragischen Muse so schwer macht, in einem selbstischen Zeitalter ihre Stimme zu erheben? Zum Teil gewiß: sie, die keinem völlig recht giebt und geben kann, muß es eben mit allen verderben: mit den Vätern und den Töchtern, mit den Schwärmern und den Spöttern, mit den Tyrannen und den Republikanern. Mag doch des anderen Reich in Trümmer gehen – und je früher, je besser, und je vollständiger, je lieber –, wenn ich nur meines für immer stabilieren kann! Und hier langt eine gigantische Hand aus den Wolken und zertrümmert eines wie das andere! Da hört denn freilich jede Berechnung, hört alle Ordnung auf. Sind wir Pygmäen, so wollen wir uns wenigstens den Riesen vom Leibe halten und ihn mit tausend und abertausend Stricken auf den platten Sand der Alltäglichkeit festbinden!

Aber die Opposition der Jetztzeit gegen die Tragödie entstammt doch auch noch einem anderen, besseren und berechtigteren Motiv als dem der Zwergenfurcht. Einem demokratischen Prinzip, möchte ich sagen: dem Princip, daß, wie kläglich es auch um unsere Menschenexistenz bestellt sein mag, wir die Chancen und die Verantwortung auf uns nehmen müssen und uns jeden Gewaltseingriff verbitten und denselben, soweit es in unserer Macht ist, verhindern wollen, er komme nun von welcher Seite immer: von oben oder von unten. Ein moralisches Princip, das seinerseits auf einer Ueberzeugung beruht, welche sich den modernen Menschen als das Resultat zahlloser, scharfsinnig kombinierter Beobachtungen aufgedrängt hat, und welche die Wissenschaft dahin formuliert: daß »die absolute Idee auf keinem einzelnen Punkte der Zeit und des Raumes als solche zur Erscheinung kommt, sondern sich bloß in allen Räumen und im endlosen Ver 166laufe der Zeit durch einen beständig sich erneuernden Prozeß der Bewegung verwirklicht.« Fr. Th. Vischer: Aesthetik.

Ich muß fürchten; die Ungeduld des Lesers wachgerufen zu haben, während ich, im scheinbaren Widerspruch mit meiner Aufgabe, ihn so lange bei der Betrachtung der dramatischen Ich sollte eigentlich sagen: tragischen Kunst, und hätte so bereits überall vorher sagen sollen, da der Gegensatz, den ich mich heraus zu stellen bemühe, in seiner Vollkraft offenbar nur zwischen dieser und der epischen Kunst besteht; die Komödie in ihrem Verhältnis zur letzteren eine eigene Betrachtung erfordert, aus der sich eine ganze Reihe von Berührungspunkten zwischen beiden ergeben würden; und gar das Zwitterding, das heute unsere Bühne beherrscht und das wir »Schauspiel« nennen, so viel von dem epischen Wesen hat, von dem es herstammt, daß man es meistens ohne besondere Mühe auch der Form nach in jenes zurück verwandeln konnte. Siehe im Anhang den Aufsatz: Drama oder Roman. Kunst festhielt. Er wird mir verzeihen, wenn er wahrnimmt, daß wir inzwischen, anstatt uns von unserem eigentlichen Ziele zu entfernen, demselben unmerklich immer näher rückten und, um es zu erreichen, kaum noch etwas anderes zu thun haben, als alles, was wir vom Geist und Wesen jener aussagten, in das Gegenteil zu verkehren. Stehen wir doch bereits mit dem letzten Satze, welcher die Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst scheinbar unüberbrückbar macht, in Wahrheit hart an der Grenze des epischen Gebietes. Wird es sich doch zeigen, daß der Modus der Verwirklichung der absoluten Idee in dem Modus der Verwirklichung der epischen Idee ein seltsam treues Analogon findet; daß wir auch hier von einem »beständig sich erneuernden Prozeß« zu reden haben werden, und nur von ihm zu reden hätten, wenn nicht ein Moment hinzu träte, durch welches er sistiert wird, und nicht das, was erscheinen soll, die epische Idee, wirklich auf einem bestimmten Raume und in einem begrenzten Zeitverlaufe zur Erscheinung gebracht würde.

Dies Moment, von dessen dominierender Wirksamkeit wir 167 im dritten Kapitel ausführlich zu reden haben werden, ist natürlich die Phantasie. Daß es sich hier um einen Vorgang handelt, der sich in jeder Dichtungsart, ja in jeder Art jeder Kunst wiederholt, und unser Geschäft auch an dem betreffenden Orte nur darin bestehen kann, die Modifikation des Vorganges zu schildern, wie sie die epische Dichtungsart bedingt, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, mag aber, um allzu gespannte Erwartungen auf das richtige Maß zurück zu führen, gleich hier bemerkt werden.

Aber wohlverstanden: nur in der philosophischen Analyse des Wesens der epischen Poesie müssen wir diesem Moment eine besondere Stelle einräumen und dürfen es auch erst an einer bestimmten Stelle zur Sprache bringen. Grundfalsch wäre die Annahme, gegen die sich ja auch unsere ganze bisherige Darstellung wendet: daß es in der konkreten Wirklichkeit des Prozesses einen Punkt zu fixieren gäbe, wo die Phantasie, einem deus ex machina gleich, hervor und hinzu träte und mit einem Schlage aus dem Beobachter, den wir bis jetzt kennen, den epischen Künstler machte. »Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken«; – wäre nicht jenes Beobachten von vornherein ein anderes als das Beobachten desjenigen Menschen, der auf das praktische Leben gestellt oder für die Wissenschaft veranlagt ist (von dem Günstling der dramatischen Muse, dessen Sonderart uns nun schon bekannt ist, zu schweigen), so könnte keine noch so helle retrospektive Beleuchtung dem Jünger der epischen Kunst Dinge und Menschen zeigen, wie er sie, wenn er nun zum eigentlichen Kunstschaffen übergeht, braucht und in seinem treuen Gedächtnisse, zum Gebrauch völlig bequem, vorfindet. Es ist dies allerdings ein Zirkel: man kann nur epischer Künstler werden, weil man von vornherein so und nicht anders beobachtete, und man mußte wiederum so und nicht anders beobachten, weil man zum epischen Künstler prädestiniert war; oder kürzer: man wird epischer Künstler, weil man dazu geboren ist; 168 aber die Sache liegt einmal so, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Daß, bevor es zum Schaffen kommt, eine lange Reihe von Vorstadien zu durchlaufen ist, versteht sich eigentlich von selbst, und da ließe sich denn auch vielleicht jener Zustand der Betrachtung und Beschauung in dem Gemüte, aus welchem W. v. Humboldt in Verbindung mit der Phantasie die epische Kunst hervorgehen läßt, schicklich unterbringen, wenn man unter demselben etwa jenes Stadium begreift, wo der bis dahin rastlos umherschweifende Blick des Beobachters entschieden anfängt, sich nach innen zu richten, um sich aus dem Gewirr der Einzelheiten los zu lösen und zu der Kraft zu sammeln, die das Gesehene zu einem Gesicht verklärt.

Denn dies ist das Bezeichnende des epischen Verfahrens, daß es von Anfang an induktorisch ist und bis zum Ende induktorisch bleibt. Für den Tragiker hatte, wie wir sahen, seine intuitive Weltanschauung apriorische Gewißheit, und so durfte er seiner Weisheit letzten Schluß verhältnismäßig früh ziehen und des naiven Glaubens sein, daß sich die Richtigkeit dieses Schlusses in jedem einzelnen Falle bewähren müsse und an jedem einzelnen Falle demonstriert werden könne. Der Epiker kann, streng genommen, seinen letzten Schluß niemals ziehen, da derselbe immer auf der Uebereinstimmung aller möglichen Fälle beruhen müßte, und von diesen möglichen Fällen doch nur immer ein winziger Bruchteil in dem Kreise seines Beobachtungsfeldes liegt; kann niemals, streng genommen, mit seiner Weltanschauung so zu sagen abschließen, sondern muß stets gewärtig sein, daß sich sein Horizont erweitert, und stets bereit, seine Weltanschauung daraufhin zu modifizieren.

Ich habe in einem der vorhergehenden Aufsätze Der Held des Romans. das Eintreten dieser Erweiterung des Horizontes und folglichen notwen 169digen Modifikation der Weltanschauung in einem und demselben epischen Werke an ein paar eklatanten Beispielen nachzuweisen gesucht, und welche verhängnisvolle Folgen dies für das Werk haben kann, das unter Umständen darüber aus den Fugen geht. Aber ob nun der Dichter seinen Standpunkt innerhalb desselben Werkes verändert oder ob er – was doch die Regel – denselben festhält: wie er von diesem Standpunkt die Welt anschaut, das einheitliche Licht, das er von da über die bunte, vielgestaltige Welt strahlen läßt, so daß alles und jedes in diesem Lichte steht – dies und nichts anderes ist, was wir in einem epischen Werke einzig und allein die Idee nennen können und deshalb nennen müssen. Die Idee ist eben immer und kann nichts anderes sein als: das Bild, welches der Dichter von der Welt in seiner Seele trägt, und von welchem er in seinem Werke ein Abbild zu geben sucht.

Wie mißlich es nun um die Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit dieser Idee oder dieses Urbildes in der Seele des modernen Dichters bestellt ist, und wie fragmentarisch und nur relativ wahr und überzeugend auch im besten Falle (d. h. bei größtmöglicher Erfahrung und größtmöglicher Künstlerschaft) das Abbild ausfallen muß, liegt jetzt nach allem Gesagten ebenso auf der Hand, wie wir jetzt auch erst die (bis auf einen minimalen Rest) absolute Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit des homerischen Urbildes und folgliche Totalität und überzeugende Wahrheit des Abbildes völlig zu begreifen imstande sind. Streng gebunden an seine aus der unermüdlichen Beobachtung resultierende individuelle d. h. beschränkte Erfahrung, gegenüber einer schlechterdings unermeßlichen und unerschöpflichen Welt, die er nichtsdestoweniger abzubilden von einer unwiderstehlichen Gewalt getrieben wird – kann der moderne Epiker sich wundern, wenn er, der so viel Gelegenheit und Veranlassung dazu giebt, bei der Beurteilung seines Werkes auf Tritt und Schritt den seltsamsten 170 Mißverständnissen begegnet? wenn er niemals hoffen darf, es seinem ganzen Volke recht gemacht zu haben? ja froh sein muß, falls es ihm gelingt, mit seinem fragmentarischen Abbild wenigstens dem kleinen Fragment des Publikums ungefähr zu genügen, mit welchem er in annähernd demselben socialen Milieu, unter dem Einfluß annähernd derselben moralischen Bedingungen lebt und mit dem er sich deshalb in Geist und Gesinnung bis zu einem gewissen Punkte verbunden weiß?

Nein, wundern darf er sich nicht: er kann nur immer alles Talent, allen redlichen Fleiß, alle liebevolle Mühe dazu verwenden, die Welt zu schildern, wie er sie sieht. Aber dennoch, vielmehr: gerade deshalb sollte das ungenügsame Publikum seinen Romandichtern auch seinerseits etwas mehr Liebe und Fleiß entgegenbringen, als es gemeiniglich geschieht; sollte sich redlich Mühe geben, die ihm geschilderte Welt zu verstehen, auch wenn es nicht seine Welt ist. Und so sollte die Kritik vor allem endlich aufhören, einen mit mehr oder weniger Willkür aus dem Werke abstrahierten Gedanken oder gar irgend einen aus tausend anderen aufgegriffenen Satz als »Idee« des Werkes zu proklamieren und über diese sogenannte Idee im allgemeinen und das Verhältnis des Werkes zu dieser Idee im besonderen zu düfteln; sollte aufhören, den lebendigen Leib der Dichtung in das Prokrustesbett einer im voraus fertigen Kategorie zu zwängen und von politischen und socialen, Tendenz-, Schelmen- und Familien-, von Dichter-, Künstler-, Hauslehrer-, Gouvernanten- und – warum nicht? – Schneider- und Schusterromanen ein langes und breites zu reden. Denn woraus in aller Welt will man die ästhetische Berechtigung irgend einer dieser Kategorien herleiten? Bemerkt nicht schon Goethe, daß der kleine Kahn der Familie des Vicar of Wakefield »auf der reichen bewegten Woge des englischen Lebens schwimmt?« und wenn diese Woge anderswo weniger reich sein mag, bewegt sie sich darum nicht? hat nicht 171 der kleine Familienkahn, wo auch immer, »Wohl und Wehe, Schaden oder Hülfe von der ungeheuren Flotte zu erwarten, die um ihn her segelt?« Und wenn dies, wie unzweifelhaft, der Fall, wo hört der Familienroman auf und fängt der sociale an? giebt es einen socialen Roman, der nicht zugleich ein politischer wäre? und so in infinitum? Existiert doch selbst der Unterschied zwischen modernem und historischem Roman – zugegeben, daß Studium und inneres Schauen die Autopsie ersetzen und den Dichter befähigen können, eine Welt, die längst in Trümmer fiel, im epischen Sinne vollständig wieder aufzubauen Ich würde mit meiner Theorie in direkten Widerspruch geraten, wenn ich es im vollen Umfange zugäbe, und nicht vielmehr in bedingter Weise, und infolgedessen dem historischen Roman auch nur einen bedingten ästhetischen Wert einräumte. – existiert doch, sage ich, dieser scheinbar so tief schneidende Unterschied für die rein ästhetische Kritik nicht anders als im Sinne einer bloß äußerlichen Unterscheidung. Denn offenbar kann das Geschäft des Epikers dadurch nicht in seinem Wesen verändert werden, daß wir zeitlich oder räumlich von der Welt, die er uns schildern soll, getrennt sind. Unter allen Umständen muß er uns diese Welt als durchaus gegenwärtig in ihrer ganzen ursprünglichen individuellen Realität schildern, und das einzige Kriterium wird immer sein, ob er es kann oder nicht. Nein! man werfe alle jene Kategorien als rein äußerliche und willkürliche, wohin sie gehören: in die ästhetische Rumpelkammer! Sie nützen nicht nur nicht, sondern sind positiv schädlich. Sie begünstigen in bedenklichster Weise das öde Schematisieren, zu welchem die Kritik nur so schon allzusehr hinneigt, und erschweren ihr das auch ohnehin mühevolle und verantwortliche Geschäft. Das Geschäft, zu untersuchen und festzustellen, erstens: wie weit der Horizont des Menschentreibens ist, welches der Blick des Dichters umfaßt; zweitens: ob er diesen Kreis bis zu seiner Peripherie nach allen 172 Richtungen mit einer reichen, wohlgegliederten Fabel gleichsam bedeckt hat; drittens: ob er dies mit den legitimen epischen Mitteln zustande gebracht hat, d. h. dadurch, daß er uns nur handelnde Menschen vorführte in ihrer Bedingtheit durch ihre gesellschaftliche und physische Umgebung, welche letztere niemals in abstrakten Schilderungen und eingefügten Exkursen selbständig heraustreten durfte, sondern gleichsam von selbst mit in Bewegung geriet, weil die Menschen in Bewegung waren; viertens und letztens: wie weit mit dieser rein technischen und im engeren Sinne poetischen Objektivität die höhere Objektivität der nach allseitiger Billigkeit strebenden Darstellung Hand in Hand geht; oder anders ausgedrückt: ob der Dichter im schlimmen und gemeinen Sinne tendenziös ist, oder nur soweit jeder moderne Epiker es ist, weil er nichts anderes, als seine subjektive Auffassung zur Darstellung bringen kann. Ich bestätige damit einem unserer geistvollsten jüngeren Litteraturforscher, Otto Brahm, daß es, wie er (s. Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung v. 27. Nov. 1881) sich treffend ausdrückt, wenn nicht zwei Methoden der Darstellung so doch »zwei Arten der Objektivität giebt, eine der Form und eine der Sache.« – Ueberhaupt muß rühmend anerkannt werden, daß unsere heutige litterarische Kritik sich erfolgreich bemüht, ihres Amtes im Sinne der obigen Sätze zu walten. Und wenn der theoretischen Einsicht die Praxis nur langsam folgt, so ist das eben ein Beweis, wie steil und mühsam der Weg. Aber es giebt keinen andern, der zum Ziele führt; es giebt kein anderes Mittel, die edle Kunst des Romandichtens von dem Fluche zu erlösen, eine Halbkunst zu sein, in der jeder Stümper nach Belieben herumpfuschen kann.

Mit diesem letzteren Satze haben wir das Resultat unserer bisherigen Betrachtungen gezogen und die Behauptung unseres ersten Kapitels von dem Gegensatz, in welchem der subjektive moderne Roman zu dem objektiven antiken Epos steht, erhärtet. Wir wissen jetzt, warum die schwache, kaum merkliche Spur von Tendenz, besser: subjektiver Färbung, welche wir auch bei dem homerischen Epos konstatieren mußten, und die dort nicht den einzelnen Dichtern zur Last fiel, sondern schlechterdings auf Rechnung des ganzen Volkes kam, bei uns in jedem besonderen Falle offen 173 zu Tage liegt; und daß wir, soweit daran eine Schuld haftet, für diese den einzelnen Dichter verantwortlich zu machen haben, und nicht sein Volk, von dem der größte Teil ihn nicht einmal kennt, ein anderer, der ihn kennt, ihn ablehnt oder gar perhorresziert, und nur ein winziges Fragment ihn anerkennt und, so Gott will, verehrt und liebt.

Nun scheint freilich das Resultat sehr dürftig im Verhältnis zu der weiten Bahn, die wir durchmessen haben – um so dürftiger, als man schon von vornherein geneigt war, es auch ohne Beweis gelten zu lassen –, aber ich sehe nicht, wie wir einen anderen und kürzeren Weg hätten gehen können. Die unabweisbare und nur dem Grade nach verschiedene Subjektivität und Tendenzmäßigkeit jedes modernen Romans mußte erst aus dem Wesen der epischen Dichtungsart in Verbindung mit der relativ isolierten Stellung des modernen Dichters in seinem Volk und seinem Jahrhundert nachgewiesen werden, bevor wir den zweiten Teil unserer These in Angriff nehmen und es wagen durften, jene im allgemeinen konzedierte Subjektivität auf die Person, auf das Ich des Dichters selbst zuzuspitzen.

Eine Zuspitzung, die keineswegs künstlich und willkürlich, sondern nur die letzte Konsequenz ist jener straffen Bindung der epischen Phantasie an die beobachteten Objekte. Aber freilich tritt diese Konsequenz erst heraus und an den Dichter heran in dem Moment, wo er eigentlich und wirklich zum Dichter wird, d. h. daran geht, das innerlich Geschaute (wir nannten es oben »Idee«) auch andere schauen zu lassen dadurch, daß er es darstellt, an einer Person darstellt, die – wie käme sonst die »Idee« heraus? – dasselbe mit denselben Augen sieht, mit denen er selbst es gesehen; dieselben Erfahrungen macht, die er selbst gemacht; aus denselben Erfahrungen dieselben Schlüsse zieht, die er selbst gezogen. Die (dichterische) Darstellung aber, wie dies alles an und in einer Person vor sich geht und zustande kommt, ist der Ro 174man; jene Person selbst nennen wir den Helden desselben; und da jene Person eben, wie wir gesehen, in ihren Anschauungen, Ansichten und Erfahrungen dem Dichter ähneln, ja bis zu einem gewissen Punkte gleichen muß, ist der Dichter selbst, soweit diese notwendige Aehnlichkeit oder Gleichheit geht, der Held des Romans.

I was always of opinion – Ich war immer der Meinung – das ist der recht eigentliche Anfang für den modernen Roman. Der epische Dichter unserer Tage hat uns nichts zu sagen als: Ich habe diese Meinungen von Gott und den Menschen und so bin ich zu diesen Meinungen gekommen.

Aber – höre ich hier einwenden: die Folgerichtigkeit deiner Theorie zugegeben – in der Wirklichkeit stellt sich doch die Sache offenbar ganz anders; in der Wirklichkeit deckt von tausend Romanen nur einer das Schema völlig, die anderen weichen mehr oder weniger weit, manchmal himmelweit von demselben ab! was nützt eine Theorie, der die Wirklichkeit auf Tritt und Schritt widerspricht?

Nur daß dieser Einwand gegen jede theoretische Erörterung erhoben werden kann; nur daß die Theorie immer erst das reine Schema hinstellen muß und dann erst zu den Modifikationen übergehen darf, welche sich herausstellen und nötig werden, sobald das Princip in Aktualität tritt.

Auch wir werden von Modifikationen der verschiedensten Art zu melden haben, von solchen sogar, in welchen das Schema kaum noch wieder zu erkennen ist.

Vorher aber bitte ich den Leser, eingedenk sein zu wollen, daß ich selbstverständlich hier und überall nur von dem Genius und seinen Werken spreche, nicht von dem Talent, das dazu verurteilt ist, den Spuren des Genius zu folgen, soweit die Kraft eben reicht; oder gar von der Talentlosigkeit, welche keinen Beruf zur Kunst hat und keine Ahnung von den Schwierigkeiten der Kunst und deshalb alles wagen zu dürfen glaubt und unter dem Beifall der Menge alles wagt.

175 Der Genius kennt diese Schwierigkeiten und weiß, welche ungeheure Kraftanstrengung dazu gehört, dieselben zu überwinden. Deshalb geht er nur immer mit einem gewissen Zagen an sein Werk, trotzdem, – vielmehr: weil es ihm aus innerster Seele quillt; weil er weiß, daß er im Begriff ist, eine Beichte abzulegen; daß alle seine Werke zusammengenommen nichts weiter sind, als eine große Generalbeichte.

Hier nun wäre der epische Genius doppelt übel daran, wenn ihm, der diese Beichte in eigener Person ablegen soll, nicht seine Kunst freundlich zu Hülfe käme und ihm einen Weg zeigte, den er um so lieber betritt, als ihn derselbe nicht bloß aus seiner Verlegenheit heraus zu führen, sondern auch eben der zu sein scheint, auf welchem er zu den höchsten Gipfeln seiner Kunst gelangt.

Der erste Schritt auf diesem Wege aber ist die Verwandlung des naiven »Ich« in ein reflektiertes »Er«.

Wir werden sehen, daß dieser Schritt, wie andere erste Schritte auch, zugleich der schwierigste und entscheidende ist und die anderen nicht sowohl auf ihn als aus ihm folgen.

Wie aber kommt der Dichter dazu, diesen Schritt zu thun?

III.

Eine vollendete Kunstleistung ist immer der siegreiche Ausgang des Kampfes mit einer gewissen Gefahr, welche jeder speciellen Kunst aus ihrem Sonderwesen heraus erwächst.

So liegt – um nur von den redenden Künsten zu sprechen – in der lyrischen Kunst die entschiedenste Tendenz zur Einseitigkeit, zum Haftenbleiben an der Empfindung, zum Steckenbleiben in einem bestimmten Pathos; und die Kunst des Dichters zeigt sich eben gerade darin, daß er die seelische Gebundenheit lockert, die Gefühls-Dämmerung lichtet, das ursprünglich einfache 176 Thema durch seine mannigfachen Variationen führt, durch Bilder aus anderen Sphären, z. B. der Natur, illustriert und es so, aus seiner Monotonie erlöst, in die Sphäre des Schönen erhebt, welche von Enge und Bedürftigkeit ein- für allemal nichts wissen will.

Aehnlich so fanden wir in der tragischen Kunst (und hier tritt allerdings ihre Verwandtschaft mit der lyrischen offen zu Tage) eine ausgesprochene Neigung nicht nur zur Konzentration auf einen aus der Totalität der Möglichkeiten heraus gegriffenen Einzelfall, sondern auch weiter dazu, diesen Fall auf die einfachste Formel zu reducieren, ihn mit den mindesten Mitteln zur Darstellung zu bringen, den denkbar kürzesten Weg zum Ziele einzuschlagen und im atemlos raschen Tempo zurück zu legen. Wiederum also ein Mangel an Breite und Reichtum, der wiederum von dem Dichter mit ähnlichen Mitteln bekämpft wird, indem er die Leidenschaft, die jeden Augenblick explodieren will, sich in Worten ventilieren läßt; der Vollführung der That, auf die alles hindrängt, klug ersonnene Hindernisse, und beständen sie auch nur in Hamlet-Bedenken, entgegenstellt; vielleicht auch, wie Shakespeare so oft, in die erste Handlung eine zweite dergestalt einflicht, daß die eine die andere ergänzt, befruchtet und aus der Beschränktheit des einzelnen Menschenloses zur Allgemeinheit des Menschenschicksals erweitert oder doch zu erweitern scheint.

Wenn so in den beiden Schwesterkünsten die Gefahr, daß sie den Anforderungen aller Kunst nicht voll genügen, nur von der einen Seite droht, ist es die eigentümliche Natur der epischen, zwei Tendenzen in sich zu bergen, die beide dem Wesen der Kunst widerstreben und jede für sich, wenn man sie sich selbst überließe, das Kunstwerk unmöglich machen würden.

Die erste dieser beiden Tendenzen wurde in unseren Fundamentalsätzen bezeichnet als »das ruhelose Streben der epischen Phantasie nach größtmöglicher Ausdehnung ihres Horizontes«, 177 so daß ihr Objekt nichts Geringeres als die Welt ist, und somit das – gleichviel, ob ihm bewußte oder unbewußte – Trachten des epischen Dichters, ein Weltbild zu geben.

Die zweite konnten wir damals noch nicht formulieren, weil sie viel weniger klar zu Tage liegt wie die erste – so wenig klar, daß unsere Abhandlung bis hierher wesentlich dem Zwecke eben dieser Klarlegung dienen mußte.

Es ist die in dem vorigen Abschnitt bewiesene straffe Bindung der epischen Phantasie an die individuelle (und also auch partielle und zufällige) Beobachtung, welche Bindung in der für den Dichter vorliegenden Notwendigkeit gipfelte, mindestens in dem ersten Entwurf seiner Dichtung sich selbst als Helden zu setzen.

Ich sage: jede dieser beiden Tendenzen widerstrebt dem Wesen der Kunst; jede macht, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, das Kunstwerk unmöglich: jene, indem sie in ihrem ungezügelten Drange nach Totalität Märchen auf Märchen, Stoff auf Stoff, Handlung auf Handlung häufend, den Ueberblick zerstört; diese, indem sie, immer am Einzelnen der zufälligen partiellen Beobachtung und Erfahrung haftend, es nie zu einem Ueberblick bringt; für beide also das Weltbild, das zugleich total und total übersichtlich sein soll, nie zustande kommt.

Was nun aber bei der Ungefügigkeit der beiden Tendenzen für die eigentlichen Kunstzwecke die Schwierigkeit des Zustandekommens eines epischen Kunstwerks bis zur Unmöglichkeit zu steigern scheint, ist der Umstand, daß beide auch untereinander im Widerstreit liegen, solange die eine unersättlich nach immer neuem, weiterem, reicherem Stoff verlangt, die andere nur solchen als ihr rechtmäßiges Eigentum anerkennt, den sie sich selbst durch Beobachtung erworben hat.

Eine finale Ausgleichung des Gegensatzes in der That wäre offenbar nur möglich, wenn eine der beiden gegensätzlichen Ten 178denzen zu gunsten der anderen völlig auf ihr gutes Recht verzichtete. Da das aber keine vermag, weil jede auf einem Fundamentalprincip ruht, jede nur ein Etwas von ihrem natürlichen, unabänderlichen Wesen nachzulassen imstande ist, kann auch das aus einem solchen Kompromiß hervorgehende Endresultat die strengen Anforderungen der Kunst niemals ganz befriedigen.

Wir begegnen diesem Ausspruche hier nicht zum erstenmale. Er fand sich bereits als dritter unserer Fundamentalsätze in der Einleitung dieser Abhandlung, mit der Hinzufügung (die eigentlich nur ein Zusatz ist, ihrer Wichtigkeit wegen aber als besonderer Satz auftrat), daß das Mittel zur annähernden Lösung des Widerspruches einzig und allein die möglichst vollkommene Anwendung der objektiven Methode sei.

Unsere nächste Aufgabe wird also darin bestehen müssen, aufzuweisen, welchen Weg die Methode zunächst einschlägt und einschlagen muß, die in der Natur der epischen Aufgabe und der epischen Phantasie zugleich liegenden Schwierigkeiten soweit als möglich zu überwinden.

Und da müssen wir uns zuvörderst wieder jener beispiellosen Gunst der Verhältnisse erinnern, die den homerischen Sängern gestattete, ihre Produkte verhältnismäßig mühelos zu einer ästhetischen Höhe zu steigern, welche dieselben dem Bann, der auf den Produktionen des modernen epischen Dichters lastet, völlig zu entrücken scheint.

Wir haben in unserem ersten Kapitel diese Verhältnisse ausführlich geschildert und müssen hier noch, was damals nur eben angedeutet werden konnte, speciell hervorheben, wie die intime Abhängigkeit von seinen individuellen Beobachtungen und Erfahrungen, in der wir den modernen epischen Dichter finden, sich bei dem antiken, seiner Stellung als Mandatar und Herold eines dichterischen Volkes gemäß, notwendig zu der höheren Form der Abhängigkeit von den Beobachtungen und Erfahrungen der 179 Gesamtheit der Nation steigerte, so daß für die Entfaltung des individuellen epischen Ich, welches wir jetzt kennen, absolut kein Raum blieb als höchstens der beschränkte des Ordnens, Interpolierens, der Ausschmückung des Einzelnen in den Kampf- und sonstigen Scenen und etwa noch der Einfügung besonders frappanter, aus dem Alltags- und Naturleben geschöpfter Bilder. Von einer Verlockung auch nur zu dem Versuch, das erfahrungsmäßige Ich mit dem Helden der Dichtung zu identifizieren, konnte vollends keine Rede sein, da die Stelle des letzteren von vornherein durch die Nationalhelden occupiert war, unter denen immerhin der einzelne Dichter seine Wahl treffen und auf diese Weise seiner speciellen Sympathie und gemütlichen Wahlverwandtschaft einen bescheidenen Ausdruck geben mochte.

Es ist nötig, die fast sklavische Gefolgschaft, welche den antiken epischen Dichter an den überlieferten Stoff der Sage, an den traditionellen Helden (und nicht zum mindesten auch an die herkömmliche Sangesweise) fesselte, von dem nun gewonnenen Standpunkte unserer Einsicht in das epische Wesen noch einmal scharf ins Auge zu fassen, um die Lage des modernen Dichters recht begreifen zu können, wenn diese straffen Bande nun doch und völlig zerreißen. Denn ihm liegt nicht mehr die bescheidenere, aber immer noch lohnende »epische Epigonenarbeit der Zusammenfügung alter Lieder zu kunstrecht geordneten Liederkreisen« »Das Zeitalter der Novelle in Hellas«. Von Bernhard Erdmannsdörffer. Berlin, Georg Reimer, 1870. S. 18. – Ich verweise den Leser wiederholt dringendst auf diese ganz ausgezeichnete Monographie, welche in eines der dunkelsten Gebiete der Litteraturgeschichte ein helles Licht wirft und zugleich dem Aesthetiker der epischen Dichtungsart, indem sie ihm den bei allem Beharrungsvermögen rastlosen Wechsel des epischen Stoffes klarlegt (der ja dann auch wieder einen Wechsel der Form bedingt), ein überaus schätzbares Material liefert. der nachhomerischen Dichter ob; er hat nicht einmal mehr den Vorteil, kleine landläufige epische Stoffe, jene »naturwüchsigen No 180vellen, die immer, gleichwie das epische Lied, eine Vorgeschichte im Volksmunde haben« »Das Zeitalter der Novelle in Hellas«. S. 23., vorzufinden und, beim Ausgang des klassischen Altertums, zu milesischen Novellen, sybaritischen Erzählungen oder, im Mittelalter, zu Canterbury Tales, dem Dekamerone kunstvoll bearbeiten und sammeln; oder auch aus den wohlbekannten Sagenkreisen Karls des Großen, des Königs Artus u. s. w. langatmige Reimromane spinnen zu können – er hat nichts, gar nichts von dem allen mehr; ist inmitten und gegenüber einer unendlichen Welt einzig auf seine individuelle (d. h. beschränkte) Beobachtung und Erfahrung angewiesen; das heißt, er ist bei der Ausübung seiner Kunst (von der er nun einmal nicht lassen kann) völlig den eben dieser Kunst inhärierenden Schwierigkeiten, ja in derselben gesetzten Widersprüchen preisgegeben.

Der Weg, auf den er sich nun gewiesen sieht, diese Schwierigkeiten zu überwinden, diese Widersprüche auszugleichen, ergiebt sich von selbst.

Er muß versuchen, erstens: den unendlichen Gehalt seiner Welt und Zeit zusammenzufassen in dem möglichst reichen, aber durchaus übersichtlichen Bilde einer aus seinen eigenen Erlebnissen zusammengedichteten Fabel, durch welche er den Mangel der überlieferten Sage thunlich ersetzt.

Er muß zweitens versuchen: den Helden dieser Fabel (d. h. sich) von der individuellen Beschränktheit thunlich zu befreien, zu einem für die Zeit typischen, für die aktuelle Welt repräsentativen Menschen umzubilden, und ihn so zum Träger der Idee in dem von uns verstandenen Sinne geeignet zu machen.

Dem aufmerksamen Leser brauche ich kaum zu sagen, daß diese beiden Geschäfte, wenn wir sie auch theoretisch auseinander halten müssen, praktisch nur eines und dasselbe Geschäft sind. Einen Versuch der Darstellung des ganzen Prozesses findet der Leser in dem Aufsatz »Finder oder Erfinder«, nur daß ich dort den Fall, daß der Dichter selbst der Held seiner Erzählung, als einen »sehr häufig vorkommenden«, einen, mit dem »fast jeder anfängt«, nicht als einen aus dem Wesen der epischen Dichtungsart und der Lage des modernen Dichters mit Notwendigkeit resultierenden bezeichnet habe.

181 Die Natur dieses Geschäftes läßt sich vielleicht durch nichts besser veranschaulichen als durch eine Vergleichung desselben mit einem anderen, welchem es gerade unsere Darstellung so ähnlich gemacht hat, daß die, sowohl stofflich als formal, fundamentale Verschiedenheit beider sich erst wieder der tieferen Betrachtung ergiebt: mit der Autobiographie.

In gewissem Sinne wird auch die Autobiographie in ihrer höheren Form ein Kunstwerk sein, d. h. nicht ohne eine stärkere oder schwächere Beteiligung der Phantasie zustande kommen. Der Autobiograph mag und soll die Ereignisse seines Lebens zur bequemsten Uebersicht ordnen, sie sub specie seiner gereiften Lebensanschauung und Welterfahrung beleuchten und ihnen dadurch die realistische Schärfe nehmen, welche ja ohnedies durch die Zeitfernung wesentlich abgemildert ist.

Aber der Autobiograph ist bei alledem ein für allemal an seine individuellen Schicksale streng gebunden; er mag sie noch so geschickt gruppieren, er mag sie von einem noch so hohen Standpunkte überblicken – verändern darf er sie nicht, wenn er nicht die schlimmste aller autobiographischen Sünden begehen: wenn er nicht fälschen will.

Diese unbedingte Pflicht der Wahrhaftigkeit involviert aber, daß auch die völlig unpoetischen, weil völlig zufälligen Störungen, welche nun einmal jedes, auch das glücklichste und normalste, Menschenleben heimsuchen: plötzliche Krankheiten, Unfälle aller Art, das plumpe Eingreifen oder passive Imwegestehen im übrigen ganz indifferenter Menschen u. s. w., zur Sprache kommen müssen; und wir, die Leser, empfinden, wenn der Autobiograph 182 von solchen zufälligen Störungen spricht, dieselben als etwas, das freilich aus dem Leben des Betreffenden besser weggeblieben wäre, da es nun aber einmal nicht weggeblieben, auch erwähnt und geschildert sein will, weil sonst die Rechnung so zu sagen nicht stimmen würde; wir nicht begreifen würden, weshalb an diesem Punkte, wo doch kein Hindernis vorzuliegen scheint, die Entwickelung des Betreffenden ins Stocken gerät, an jenem anderen eine ganz unerwartete Wendung nimmt.

Zu den äußeren Störungen, die sich nach innen in Hemmnisse umsetzen, gesellen sich Trübungen des Gemütes, Temperamentsschwächen, die wiederum hemmend, bedingend und bestimmend in die Entwickelung eingreifen, vielleicht auch auf die Richtung des äußeren Lebensganges nicht ohne Einfluß sind; und deshalb ebenfalls von dem wahrhaftigen Autobiographen besprochen, zum mindesten angedeutet sein wollen.

Ich sage: besprochen und angedeutet, nicht dargestellt; und dies ist der tiefe, durch die Differenz des Stoffes hervor gebrachte formale Unterschied zwischen Autobiographie und Roman. Jene ungeheure Masse rein zufälligen, durch das ganze Leben des Betreffenden zerstreuten Details und ebenso jene inneren Trübungen entziehen sich mehr oder minder der Darstellung, sind kein oder doch kein günstiges Objekt für die Phantasie, die nur in bestimmt begrenzten Bildern, in klar umschriebenen, sich durch sich selbst erklärenden Handlungen ihr Genüge findet; sind schlechterdings nur ein Gegenstand für die Reflexion, welche hier die für die Phantasie unübersehbaren Einzelheiten in ihrer Gesamtwirkung übersichtlich zusammenfaßt, dort wieder einen Unterstrom, der niemals an die Oberfläche trat und doch auf die Dauer für den Lebenslauf richtunggebend wurde, berechnet und mißt – das alles in der Form von philosophischen, moralischen, ästhetischen, humoristischen Exkursen, die deshalb für eine Autobiographie ebenso notwendig und unter Umständen schmuckhaft wie für 183 einen Roman unter allen Umständen unstatthaft und entstellend sind.

Man sieht nun auf den ersten Blick, welche Veränderungen derjenige, welchen der eingeborene poetische Drang treibt, ein Spiegelbild der Welt in dem Umfange der Geschichte einer Einzelexistenz zu geben und (aus Gründen, die uns als bewiesen gelten) diese Einzelexistenz nur in seiner eigenen findet, mit derselben vorzunehmen hat. Damit sich das Unendliche in dem Endlichen widerspiegele, muß das letztere in jedem einzelnen Moment durch das Medium der Phantasie gegangen, auf diesem Wege von seiner Zufälligkeit, Einseitigkeit, Halbheit befreit, vollkommen seiner eigensten Natur entsprechend, d. h. idealisch geworden sein. Wenn, nach dem Sprichwort, Gott seine Heiligen wunderbar führt, so beobachten wir diese wunderbare Führung auch in dem Leben des Romanhelden. Und zwar besteht das Wunder darin, daß ihm ausnahmslos das Rechte am rechten Orte und zur rechten Zeit begegnet; daß ihm alle Dinge zum besten, nämlich zu der bestmöglichen Entfaltung und Bethätigung seiner Qualitäten und Tugenden dienen; daß für ihn kein sinnloser Zufall, sondern nur ein sinnreicher existiert, der etwa die Gestalt eines Bettlers annimmt, in Wirklichkeit aber die Göttin der Weisheit selber ist, die ihren Liebling auf einem notwendigen Umwege zu dem voraus berechneten Ziele lenkt und leitet.

Soll aber der Betreffende diese Lenk- und Leitbarkeit haben – wie ein subtiler Mechanismus, der auf die leisesten Einwirkungen reagiert –, wird der Veränderung, welche die Welt gleichsam zu seinen Gunsten vornahm, eine Wandlung entsprechen müssen, zu der er sich für seine Person versteht. Die Tüchtigkeit des autobiographischen Helden wird unter zehn Fällen neunmal, man kann wohl sagen: immer in seiner Einseitigkeit bestanden haben: darin, daß gewisse Qualitäten in ihm präponderierten; daß er, zuerst unbewußt, später bewußt, diese Qualitäten kulti 184vierte, sublimierte, zur höchsten Perfektion brachte, indem er ablehnte, was dieser Kultur schädlich, mit Begierde ergriff, was ihr förderlich erschien; immer herrischer alle anderen Kräfte seiner Seele und seines Leibes in den Dienst, in die Sklaverei jener Qualitäten stellte; immer mehr seine Existenz mit der Betätigung derselben identifizierte; immer ausschließlicher das Leben auf die Möglichkeit hin ansah, welche es ihm für diese Betätigung gewährte. Es ist nicht anders, kann nicht anders sein, und wäre der betreffende autobiographische Held ein Goethe. Auch er, trotz seiner scheinbar unendlichen Vielseitigkeit und Versabilität, hat seine ruling passion, der er keineswegs stets hold und gewärtig, aber schließlich immer unterthan und dienstpflichtig ist. Da wird dann zu Nutz und Frommen dieser dominierenden Leidenschaft der Konziliante bis zur Grausamkeit schroff und ablehnend, zerreißt der Zärtliche die zartesten Bande, flieht das Weltkind in die tiefste Einsamkeit; will er, der »alles sehen könnte, so er die Augen ordentlich aufmacht«, gewisse Dinge nicht sehen, und geht durch gewisse Partieen des Lebens, über dessen Breite sonst sein Adlerblick nach allen Seiten schweift, mit halb geschlossenen, scheu abgewandten Augen.

Eben diese Einseitigkeit nun, die den großen Mann konstituiert und zu dem würdigen Helden einer Autobiographie qualifiziert, macht ihn zum Helden eines Romans nicht sowohl unwürdig als ungeschickt. Mußte jenes lästige und doch für den Autobiographen unabweisliche Detail der zufälligen aktuellen Erlebnisse von dem epischen Künstler gesichtet, respektive ausgeschieden werden, damit der Rest in die Phantasie eingehen und aus derselben geformt hervorgehen konnte, so muß sich jetzt jene angeborene persönliche und moralisch vielleicht unendlich wertvolle Einseitigkeit gefallen lassen, daß sie zur Vielseitigkeit, zur Allseitigkeit gebrochen und erweitert wird, weil sonst das Bild der Welt, welches sich in der Seele des Helden spiegeln soll, 185 wie vorhin der Idealität, so jetzt der Totalität ermangeln würde.

Es mag das auf den ersten Moment ein Spiel mit Worten scheinen. Man fragt vielleicht, was etwa dem Weltbilde, wie es uns »Wahrheit und Dichtung« widerspiegelt, an jener sogenannten Totalität fehle? oder welcher Roman uns diese Uebersicht der Welt – um ein weniger vornehmes Wort zu gebrauchen – in einem größeren Umfange biete? Aber abgesehen davon, daß wir es bei Goethes Autobiographie mit einem Musterexemplar der Species zu thun haben, wo die Leistungsfähigkeit derselben gewissermaßen über ihr gewöhnliches Maß gesteigert ist, so darf man eben niemals vergessen, daß jene Weite der Uebersicht denn doch nur zum Teil auf dem einzig legitimen Wege der dichterischen Darstellung, zum anderen Teil auf dem dichterisch völlig illegitimen jener oben besprochenen ästhetischen, philosophischen, moralischen u. s. w. Exkurse zustande kommt. Der Unterschied dieser Methoden wird freilich dem Laien wenig bedeutend erscheinen, da er von den Dutzend-Romanen her daran gewöhnt ist, daß die Verfasser, wo es mit der Darstellung hapert, d. h. auf Tritt und Schritt, unbedenklich die poetischen Lacunen mit jenem prosaischen Füllsel zustopfen, ja dasselbe womöglich noch als eine besondere Schönheit anpreisen und für diese Prätension auch immer Gläubige finden. Für die Aesthetik ist derselbe ein fundamentaler. Sie verlangt, daß ihr Gebiet: die Kunst, ein streng von den anderen Gebieten geistiger Thätigkeit gesondertes bleibe; daß ihre Zwecke auch nur mit ihren Mitteln erreicht werden, und will lieber ihre Ziele niedriger stecken, als auf einem Wege dahin gelangen, der nicht ihr Weg ist.

In dem sehnsüchtigen Streben nun nach dem epischen Ziel und Zweck: der Totalität des Weltbildes, giebt also der Romandichter dem Helden, den er in seiner natürlichen, relativ schwerfälligen Gebundenheit und Beschränktheit vorfand, die leichteste 186 Beweglichkeit, die größtmögliche Eindrucksfähigkeit und Empfänglichkeit, wodurch derselbe zu der vielseitigsten Berührung mit der Außenwelt besonders geschickt gemacht, ja gedrängt wird, diese Berührung überall zu suchen, so daß, indem er sich rastlos durch die Welt bewegt, sich ihm (und uns, den Lesern) die Welt von allen Seiten aufthut und offenbart. Dies und dies allein ist der Grund jener bis zur Verschwommenheit versabilen Physiognomie, welche den Romanhelden eigen ist, in wie verschiedenen Zeiten und wie weit auseinander gelegenen Ländern sie auch geboren wurden und sie alle wie die Glieder einer Familie sich ähneln läßt. Und was diese Aehnlichkeit noch erhöht, ist der Umstand, daß sie meistens, eben zur möglichsten Erhöhung der Eindrucksfähigkeit und Versabilität, in jugendlichen Jahren vor uns erscheinen – in einer Reihe vorzüglichster Romane schon als Kinder von der Wiege an – und der Vorhang über ihrer Geschichte in dem Augenblicke fällt, wo der reifere Mensch seine Geschicke selbst in die Hand nimmt mit jener Konzentration der Energie und einseitigen Bethätigung seiner Kraft, die den Erfolg verbürgen, aber ihm für den Rest seines Lebens die romanheldenhafte anmutige Schmiegsamkeit und Biegsamkeit rauben.

Die Gefahr, welche auf diesem Wege liegt, ist in der obigen Darstellung bereits angedeutet. Sie besteht eben darin, daß, um der Wirkung doch ja sicher zu sein, das Mittel übertrieben wird: der Dichter dem Charakter seines Helden eine Geschmeidigkeit verleiht, die von der Charakterlosigkeit nicht mehr zu unterscheiden ist; um ihn für die Fälle der verschiedenartigsten Lagen, in die er ihn bringt, geeignet erscheinen zu lassen, Qualitäten auf ihn kumuliert, welche, weil sie einander widersprechen, sich nie in einem Menschen der Wirklichkeit vereinigt finden. Oft werden beide Mißgriffe zugleich gemacht; aber auch, wo der Dichter sich glücklich vor dem ersten hütet und wohl gar, um ganz vor der Gefahr sicher zu sein, die vorgefundene Einseitigkeit bis 187 zur ausschließenden Schroffheit zuspitzt, verfällt er nur zu leicht in den anderen und steigert die Virtuosität der Leistungsfähigkeit auf den verschiedensten Gebieten bis zu einer die Bescheidenheit der Natur verletzenden Höhe. Erfahrene Romanleser werden ohne Mühe für jede der bezeichneten Modifikationen die betreffenden Beispiele finden.

Durch alle diese scheinbar so tief schneidenden Veränderungen, welche der Dichter mit seinem erfahrungsmäßigen Ich vornimmt, um es zu dem Berufe des Romanhelden zu qualifizieren, wird nun begreiflicherweise die wirkliche Genesis der letzteren oft bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt, manchmal in den Augen des Dichters selbst. Aber eine andere Beobachtung, welche sich an jene obige anreiht, leitet uns wieder zu dem Ursprung des ganzen komplizierten Prozesses zurück. Ich meine die Aehnlichkeit, die, wie sie zwischen den diversen Helden der diversen Romandichter, so zwischen den diversen Helden der diversen Romane eines und desselben Dichters besteht, und welche das kundige Auge ebenfalls trotz der vielleicht völligen Verschiedenheit der äußeren Verhältnisse: der Lebensstellung, des socialen Milieu, auch wohl der Zeit und des Lokals, unschwer konstatiert. Man denke an Arthur Pendennis, Clive Newcome, Henri Esmond (Thackeray)! an Oliver Twist, Niclas Nickleby, David Copperfield (Dickens)! an Edward Waverley, Harry Bertram, Ivanhoe, Quentin Durward (W. Scott)! Die Aehnlichkeit dieser und so vieler anderer Mitglieder von Romanhelden-Serien könnte nicht so handgreiflich sein, wäre nicht der Dichter immer von demselben Modell ausgegangen, gewiß manchmal mit dem heimlichen Selbstvorwurf, daß dies einen Mangel an Erfindung verrate, dessen er sich zu schämen habe, um schließlich doch dem gegebenen Repräsentanten seiner Weltanschauung, das heißt dem nach seinem eigenen Bilde geformten, vielmehr umgeformten und ad hoc modifizierten, mit dieser oder jener neuen Qualität ausgestatteten 188 Helden, die Bahn frei lassen zu müssen. Die Sache ist nämlich, daß die neu zu durchmessende Bahn sich, genau betrachtet, in gar vielen Punkten mit den früheren Bahnen berührt und schneidet, ja auf ganze Strecken völlig mit denselben zusammen fällt, oder, ohne Bild zu sprechen: daß in den relativ kurzen Zeitintervallen zwischen den einzelnen Romanen die Welt sich für den betrachtenden Dichter nicht wesentlich verändert hat und haben kann, er ihr nur durch eine Verrückung seines Betrachtungspunktes eine und die andere neue Seite abzugewinnen sucht, was, wenn es auch gelingt, das Gesamtresultat des Weltbildes wenig verändert, so wenig, daß man den neuen Roman getrost als eine Fortsetzung des früheren oder der früheren ansehen darf. Folgt doch der Dichter, indem er dem einen Roman, in welchem er sein Alles gegeben und gesagt zu haben glaubt, einen zweiten anreiht, in welchem er sein Letztes zu geben und zu sagen gedenkt, der wieder einen dritten und vierten u. s. w. notwendig macht, weil das Allerletzte noch immer nicht gegeben und gesagt ist – folgt doch, sage ich, der Dichter damit notgedrungen nur jener »der epischen Phantasie immanenten ruhelosen Tendenz nach größtmöglicher Ausdehnung des Horizontes«, genau so, wie die antike Epik diesem Drange folgt, wenn sie die Peripherie eines Sagenkreises dehnt und dehnt, bis dieselbe die eines anderen berührt, sich mit derselben verschlingt, und so weiter in das Unendliche, das glücklicherweise für sie noch ein relativ Endliches war, wie es leider für den auf sich selbst gestellten modernen Dichter ein Unendliches ist und bleibt.

Auch in dem Falle, daß man – wozu ja in der That die Berechtigung vorliegt – um zu der Totalität des Weltbildes zu gelangen, wie es die moderne Epik giebt oder zu geben versucht, die Romane nicht des einzelnen Dichters, sondern aller Dichter summierte, welche in annähernd derselben Zeitperiode, also auch annähernd dasselbe Urbild der Welt vor Augen, und in dem 189 durch ihre Kunst gesetzten identischen Streben, von diesem Urbild ein Abbild zu geben, geschrieben haben – auch dann würde für die Nachwelt (von der Mitwelt ganz zu schweigen) schwerlich das Resultat sich so günstig gestalten, wie es sich für uns gestaltet, wenn wir die Summe aus den homerischen Epen und den erhaltenen Fragmenten der kyklischen Dichter ziehen und uns danach ein Bild der antiken Welt in einer bestimmten Zeitperiode konstruieren. Aber, wie gesagt, der Gedanke hat seine Berechtigung, und wir könnten dann nicht nur, sondern wir müßten auf einer solchen Uebersichtskarte die Romane gleichzeitiger und gleichgesinnter Dichter mit ihrem trotz aller Verschiedenheiten identischen Helden zu einem Sternbilde gleichsam zusammenfassen, wie wir die Epen zusammenfassen, die sich um einen einzelnen Heros gruppiert haben.

Daß das Publikum, ohne sich natürlich des tieferen Grundes bewußt zu werden, die Sache so nimmt und die Identität des Weltbildes, wie es dem einzelnen Dichter vorschwebt (trotz seiner in den verschiedenen Romanen wiederholten Versuche, demselben andere und neue Seiten abzugewinnen), und mit der Identität des Weltbildes die Identität des Helden (trotz der verschiedenen Zeit- und sonstigen Kostüme, in die ihn der Dichter in den verschiedenen Romanen steckt) sehr wohl herausfindet, beweist es auf das entschiedenste durch eine sonderbare Neigung, die sich anderweitig gar nicht erklären läßt.

Durch die Neigung nämlich, vielmehr durch die Vorliebe und manchmal ausschließliche Liebe, welche es dem ersten Romane des Dichters oder – was hier auf dasselbe hinauskommt – dem ersten seiner Romane, der »durchschlug«, treu bewahrt; und mit dem Romane auch dem Helden, selbst wenn derselbe im gewöhnlichen Sinne gar nicht besonders liebenswert sein sollte. Der Dichter mag noch ein Dutzend Romane geschrieben haben, die alle von der inzwischen erklommenen bedeutenderen Hö 190he seines Standpunktes, der Vertiefung seines Einblickes in das Weltgetriebe, der immer sichereren Beherrschung der Kunstmittel das beredteste Zeugnis ablegen – es hilft ihm alles nichts: er bleibt dem Publikum der Verfasser des »Waverley«, der Dichter der »Dorfgeschichten«, der Autor von »Soll und Haben« und muß so, wie sehr er sich dagegen sträuben mag, das Mephistophelische: »Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken« – mit der vernichtenden Konklusion geduldig über sich ergehen lassen.

In dasselbe Kapitel gehört die eigentümliche Kühle, mit welcher das Publikum die »Fortsetzung« eines Romans aufzunehmen pflegt, auch wenn eine solche ästhetisch noch so sehr berechtigt war; gehört die Beobachtung, welche besonders häufig bei schriftstellernden Frauen gemacht wird: daß einem ersten vielversprechenden Werke wohl andere folgen, in der That aber keines, das auch in den Augen des vorurteilsfreien Kritikers den Vergleich mit jenem im entferntesten aushielte – ein Beweis also, daß die betreffenden dem »Roman ihres Lebens« trotz aller Mühe keine neue Seite abzugewinnen vermochten; gehört schließlich der allerdings aus uns nun völlig geläufigen Gründen seltene Fall, wo ein besonders sinniger und bescheidener Autor es bei dem ersten, vielleicht durchaus gelungenen Versuche, in dem Bilde seines Lebens ein Abbild der Welt zu geben, bewenden und seine Bewunderer für immer auf das warten ließ, was in seinen bescheidenen Augen doch nur »eine Fortsetzung« gewesen sein würde, auch wenn er das Faktum hinter einem neuen berückenden Titel verborgen hätte.

Hier nun wirft der Leser, den die Gründe, welche ich aus dem Wesen der Sache und aus der Wirklichkeit der Litteratur schöpfen durfte, von der Richtigkeit meiner Theorie einigermaßen überzeugt haben, vielleicht die Frage auf, weshalb ich einen Weg verschmähte, der doch so naheliegend und so vielversprechend 191 scheint, nämlich: aus dem Vergleich der Biographieen oder Autobiographien der Dichter mit ihren Werken den Nachweis zu liefern, daß sie, respektive wie weit sie ihre wirklichen Beobachtungen, Erlebnisse und Erfahrungen in ihren Romanen verwertet; die Weltanschauung, zu welcher sie auf Grund dieser Beobachtungen u. s. w. mit Notwendigkeit kommen mußten, in ihren Werken vertreten und den, respektive die Helden – mit gewissen, scheinbar totalen und doch, genau betrachtet, den Kern der Persönlichkeit nicht berührenden Veränderungen – nach ihrem Bilde geschaffen haben?

Ich habe diese Frage längst erwartet; und in der That werden wir in einem späteren Stadium unserer Untersuchung den hier angedeuteten Weg auf eine kurze Strecke betreten müssen. Aber bereits hier soll gesagt werden, daß man auf demselben überall nicht weit gelangt, weil das wirkliche Verhältnis zwischen dem Romandichter und seinem oder seinen diversen Helden viel zu subtil, viel zu intim ist, als daß es bis in seine Wurzel, klargelegt werden könnte von uns, den Draußenstehenden, und hätten wir auch das ausführlichste, authentischste biographische Material zur Verfügung. Das erste Erfordernis zur Lösung des Rätsels wäre, daß sich ein Dichter entschlösse, mit treuer Wahrhaftigkeit die Geschichte seines Lebens zu schreiben in strengem Bezug auf seine Romane. Nur er könnte wenigstens mit einem gewissen Grad von Deutlichkeit angeben, wie der erste mit dem betreffenden Helden in ihm entstand; welche Metamorphosen bereits das aus der Tiefe seiner Seele auftauchende Urbild dieses ersten Helden bis zur romanhaften Ausgestaltung durchmachen mußte; was in der Seele zurück blieb, nachdem sie in dem ersten Roman sich erschöpft zu haben glaubte; wie dies Zurückgebliebene ebenfalls ungeduldig nach Objektivierung verlangte und sich doch gedulden mußte, bis neue Eindrücke, neue Erfahrungen hinzu traten und aus der Verschmelzung und Vermischung jenes Restes mit dem 192 neuen in kürzerer oder längerer Intervalle etwas entstand: ein zweiter Roman, der ein ganz anderer zu sein schien als der erste und es ja auch zweifellos in gewissem Sinne ist, ebenso wie ein zweites, drittes Kind zweifellos Individuen sind, aber ebenso sicher auch aus demselben Stoff wie ihr ältestes Geschwister und Fleisch und Bein vom Fleisch und Bein ihres Vaters.

Bis eine solche wahrhaftige, auf den ganz bestimmten Zweck gerichtete Autobiographie geschrieben ist, werden wir auf jenem angedeuteten Wege immer im Dunkeln tappen. Und wird sie jemals geschrieben werden? Wird sich ein Dichter finden, dem die Fackel der Selbsterkenntnis so hell brennt, daß ihr Licht bis in die geheimnisvollen Abgründe der Seele leuchtet? Wird er den Mut haben, uns alles zu sagen, was er da geschaut? Wird er – auf die Gefahr hin, daß der große Entdecker und Erfinder zu einem im besten Falle glücklichen Sammler und Finder zusammenschrumpft – die Entsagung haben, getreulich zu buchen, was ihm alles Interessantes und Merkwürdiges die Flut des Lebens an den Strand seiner Existenz trieb, daß er nur die Hand auszurecken brauchte, es aufzuheben? Und hätte er für sich selbst jenen Mut und jene Entsagung – es handelt sich ja bei diesen Konfessionen keineswegs bloß um ihn, sondern in bedenklichster Weise um die »Alberts« und »Lotten«, ohne deren passiven Beistand nun einmal keine »Werthers Leiden« und überhaupt keine Romane geschrieben werden können. Und die nun, wenn der Dichter die kühne Naivetät gehabt hat, sich allzu offen zu diesem Beistand zu bekennen, »das unschuldige Gemisch von Wahrheit und Lüge« durchaus nicht »rein an ihrem Herzen fühlen«, im Gegenteil dem Indiskreten ihre »Besorgnisse«, ihre »gravamina« haarklein klagen; und deren Unmut der Aermste vergebens mit der stolzen Versicherung zu beschwichtigen sucht: »Ihren (Lottens) Namen von tausend heiligen Lippen mit Ehrfurcht ausgesprochen zu wissen, sei doch ein Aequivalent gegen Besorgnisse, 193 die einen kaum ohne alles andere im gemeinen Leben, da man jeder Base ausgesetzt ist, lange verdrießen würden.« S. »Der junge Goethe«, v. Michael Bemays. 3. Bd., S. 40 u. 46. Und soll der Mann nun gar das Aeußerste thun und, anstatt den Zorn, die Aufregung der Verletzten oder sich verletzt Glaubenden durch gütiges Zureden zu beschwichtigen und dem Publikum gegenüber einfach in Abrede zu stellen, daß er überhaupt lebende Personen als Modelle benutzt habe, – soll er diese Personen in ihrer wirklichen Existenz schildern? die Beziehungen, in welchen er zu denselben gestanden, aufdecken und so das thörichte Gerede, das sich überdies schon an bedeutende Romane, die ihren Stoff aus der Gegenwart schöpfen, zu heften pflegt, eine authentische Substanz geben?

Es wird das schwerlich je geschehen in dem erschöpfenden Sinne, wie es nötig wäre, uns einen wirklichen Einblick in das Schaffen eines Romandichters zu ermöglichen. Der Romandichter als Autobiograph wird es meistens aus guten Gründen bei der detaillierten Schilderung seiner Knaben- und Jünglingsjahre bewenden lassen, die ja freilich in gewisser Hinsicht gerade für ihn die entscheidenden, aber doch immer nur die Vorhalle zu der Werkstatt sind, deren Thür er hinter sich zuzieht, sobald er eingetreten. Im übrigen und für das übrige, d. h. für das, was wir gerade für unseren Zweck wissen möchten, werden wir auf die Biographen und Ausleger angewiesen sein, welche, und wenn sie ein scheinbar noch so helles Licht über jeden Tag und jede Stunde ihres Helden gießen, das dichterische Schaffen seines geheimnisvollen Schleiers nicht berauben können.

Dieser Schleier ist um so geheimnisvoller, als der erste Roman, in welchem der Dichter alles Ernstes an seine Aufgabe geht, und der also nicht bloß für den Ruf des Dichters, sondern auch für unseren Zweck der Feststellung des Verhältnisses zwischen 194 dem Dichter und seinem Helden am schwersten ins Gewicht fällt, selten der erste ist. Es sind ihm sehr häufig bereits andere voraus gegangen, welche sich zu jenem kaum anders verhalten wie die Kopieen, an denen ein Kunstjünger nach den Werken bewährter Meister Hand und Auge zu seinem ersten Originalgemälde übt. Selten, sehr selten, daß der ungestüme Schaffensdrang einer völlig genialen Natur den kecken Griff, nach dem die begehrliche Hand instinktiv zuckt, auch wirklich thut und Freud und Leid, wie sie die junge Seele empfunden, auch wirklich in die Welt hinaus schreibt. In den meisten Fällen wird sich das zagende »Ich«, um sich auf den Markt der Litteratur und des Lebens hinaus zu wagen, in die erste beste Maske hüllen, welche es aus den Schaufenstern der beliebten Romandichter oder aus den großen Leihgeschäften der Historie in ihren verschiedenen Branchen genommen hat; wird sich in die Gedankensphäre von Leuten, mit denen es – und leider auch der Leser! – innerlich gar nichts zu schaffen hat, hinein zu versetzen, ihre Sprechweise, ihre Manieren nachzuahmen – mit einem Worte anfänglich alles zu thun versuchen, was dem »Ich« nicht natürlich ist. So kommt es denn, daß die Erstlingsprodukte der berufenen Romandichter oft eine so frappante Aehnlichkeit mit den Erzeugnissen jener Leute aufweisen, welche kein Ich einzusetzen und nichts zu berichten haben und deshalb dazu verdammt sind, aus dem einmaligen Maskenscherz des jugendlichen Genius ein ernsthaftes Metier fürs Leben zu machen.

Es brauchen auch nicht immer dergleichen Imitationen gewesen zu sein, an welchen das große epische Talent die scheue Kraft übte. Oft versucht es sich vorher in anderen Fächern der Litteratur: in der Lyrik, im Drama, besonders – was ihm ja auch am nächsten liegt – in der Form der mehr oder weniger novellistischen Skizze, wie fast alle vollsaftigen englischen Romandichter. Und hier und da macht es einer wie Gustave Flaubert 195 und bietet gleich in dem ersten Werke »die kunstvolle, fleißige und gelungene Arbeit des Meisters, dem man es anmerkt, daß er als Lehrbursch und Geselle in der Werkstatt gestanden; der im stillen ausgelernt, die Zeugnisse seiner Unfertigkeit weislich für sich behalten hat und einer der wenigen Dichter ist, die keine Jugendsünde zu bereuen haben.« Paul Lindau: »Aus dem litterarischen Frankreich«, S. 52. – Oeffentlich zu bereuen haben, wäre vielleicht richtiger; denn da ist wohl keiner, der nicht »Zeugnisse seiner Unfertigkeit« aufweisen könnte, wenn er wollte, oder auch nicht mehr aufweisen kann, weil sie längst ein Flammengrab gefunden.

Wie dem aber auch sein mag: ob das epische Talent sich in der Stille in seinem eigentlichen Metier geübt oder vorläufig einmal mit Versuchen auf anderen Gebieten öffentlich debütierte – wenn der Dichter dann endlich resolut an seine Aufgabe geht: von seinem Standpunkte aus ein Spiegelbild der Welt zu geben, – aus dem embryonischen Stadium, wo Held und Ich noch völlig eins waren, ist er längst heraus. Er hat das Ich längst darauf hin anzusehen gelernt, wie weit es sich wohl »zum Träger der Idee« eignet, und gefunden, daß es sich eben nur noch zum geringsten Teil dazu eignet; daß es verändert, erweitert werden muß, um den Inhalt der Zeit in sich aufzunehmen. Mit einem Worte: der lange und sorgsam vorbereitete, heimlich oft versuchte Schritt wird jetzt mit Sicherheit vor aller Welt gemacht; aus dem in subjektiven Unklarheiten verdämmernden zaghaften Ich ist ein in lauterer Objektivität schwelgendes resolutes Er geworden.

Nun glaubt er sich am Ziele. Hat er den größten, schwersten Sieg über sich selbst errungen, muß ihm ja alles andere von selbst zufallen; muß er doch annähernd sein Weltbild in jener Idealität und Totalität hinstellen können, welche die Schönheit 196 und Vollkommenheit des homerischen Weltbildes und der homerischen Gedichte sind!

Annähernd! nicht völlig! Aesthetische Studien und die Erfahrung auf anderen poetischen Gebieten haben ihn zu bescheiden gemacht, als daß er jenes Höchste für sich beanspruchen sollte. Er weiß zu wohl, daß, wenn die Sonne Homers auch uns, den Epigonen, leuchtet, sie keinesfalls noch ebenso hell leuchtet; weiß zu wohl, daß die Rosse, die den Helden in die Schlacht tragen sollen, heute wie damals von irgend einem Automedon (mit Hülfe von irgend einem Alkimos) in die Jochseile gefügt werden müssen; aber keine mehr aus dem »ruhmvollen Geschlecht der Podarge« sind, welche Thränen vergießen und unter Here's Beistand schicksalverkündende Sprache gewinnen. Er weiß, daß dem Helden noch immer die verzweifeltsten Aufgaben gestellt werden, aber auf dem Wege zur Circe ihm kein Hermes mehr das schützende Kraut in die Hand drückt; weiß, daß die göttlichen Augen auf immer geschlossen sind, welche das friedliche Treiben der Hippomolgen und den Graus des Schlachtfeldes zugleich überschauen, und daß er, der moderne Dichter, uns die Welt nur zeigen kann durch die Augen seiner Menschen, die bekanntlich nur sehen, was in ihren beschränkten Kreis fällt. Ich bitte den Leser, diese wenigen Andeutungen gelten lassen zu wollen für die weitere detaillierte Schilderung der objektiven Darstellungsmethode, auf welche er hier gerechnet haben dürfte. Zu oft habe ich bereits mehr oder minder ausführlich diese Darstellung versucht (am ausführlichsten in meinen »Vermischten Schriften« in dem Aufsatze: Ueber Objektivität im Roman), als daß ich nicht fürchten müßte, bei diesem Geschäfte in für meine Leser und mich gleich lästige Wiederholungen zu verfallen. Nur glaube ich, um einem doch möglichen Mißverständnisse vorzubeugen, gerade an diesem Punkte nochmals besonders hervorheben zu sollen, daß ich selbstverständlich nur eine legitime dichterische Methode, nämlich eben die objektive, d. h. darstellende, anerkenne, und die Er-Form, wie die Ich-Form, deren Eigentümlichkeiten wir im folgenden untersuchen und feststellen werden, nur Modifikationen der einen und einzigen Methode sind. Jedenfalls bitte ich den Leser, daran festhalten zu wollen, auch wenn ich, wie oben, den Schein erweckte, als ob es zwei Methoden gebe; oder wirklich einmal den Abweichungen von der Methode, d. h. den Fehlern, die Ehre anthäte, sie als Methode zu bezeichnen, wozu sie freilich kein Recht haben, wenn sie auch – der Himmel weiß es! – methodisch genug betrieben werden.

197 Er weiß das alles; weiß, daß die Methode für ihn so viel langsamer arbeitet, während sie doch, gerade um der Unendlichkeit seines Stoffes willen, um so viel schneller arbeiten müßte; und doch ist es wiederum eben das Bewußtsein der Unendlichkeit seines Stoffes, weshalb er sich mit solcher Zähigkeit an die Methode hält. Denn sie, die ihn zwingt, jedes einzelne Objekt, das er darstellen will, auch wirklich mit seinen inneren Augen zu sehen, die, weil er immer darstellen muß, ihm auch nur immer ein Objekt nach dem anderen vorzuführen erlaubt – sie und sie allein ist das Mittel zur annähernden Lösung des Widerspruchs, der in der epischen Aufgabe liegt, vielmehr, wie wir jetzt sagen müssen: der beiden ihr inhärierenden Widersprüche: sein poetischer Ariadnefaden durch das Labyrinth der prosaischen Thatsachen und zugleich sein sicherer Halt vor dem Schwindel der ihn dem Unendlichen gegenüber erfassen müßte.

Und dessen er, da er ein für allemal von der Methode nicht lassen kann und will, Herr zu werden hofft auf zweierlei Weise.

Einmal durch Beschränkung des Stoffes: indem er ganze große Partieen des ursprünglichen Planes mit gelassener Hand ausscheidet; bei anderen, die nicht auszuscheiden sind, es bei einer bloßen Umreißung und Skizzierung bewenden läßt.

Zweitens durch sorgfältigste Anwendung aller Mittel der Methode, und wäre es bis zum Uebermaß, indem er dem Charakter des Helden, wie wir bereits sahen, eine Versabilität giebt, die zur Charakterlosigkeit, eine Weichheit, die zur Verschwommenheit wird; indem er weiter die kräftig realistischen Farben, mit denen er anfangs Personen und Situationen gemalt, bis zur 198 Verbissenheit verdünnt; ebenso, um schneller vorwärts zu kommen, nur noch Konturen zeichnet, deren Ausfüllung er der Phantasie seines Lesers überläßt; zuletzt, – was ihm als Dichter gewiß am schwersten ankommt – um den tiefen Sinn, und Inhalt des Ganzen zu erschließen, der aus der über Gebühr gehäuften und komplizierten Handlung noch immer nicht mit hinreichender Klarheit resultieren will, zu Veranstaltungen seine Zuflucht nimmt (Geheimbünden, aus aufgefundenen Rollen abgelesenen Reflexionen u. s. w.), die nur den Schein der echten Handlung haben, in Wahrheit aber rein allegorischer und symbolischer Natur sind.

Was nun ist das Resultat der weisen Selbstbeherrschung des größten und zugleich besonnensten Dichtergeistes? des Aufgebots aller Darstellungsmittel der reichsten und zugleich zartesten epischen Phantasie?

Die Antwort giebt jener denkwürdige Brief vom 20. Oktober 1797, in welchem Schiller sein ästhetisches Endurteil über »Wilhelm Meister« zusammenfaßt »Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe.« 3. Aufl. I, S. 383 und 384.:

»Auch den Meister habe ich kürzlich wieder gelesen, und es ist mir noch nie so auffallend gewesen, was eine äußere Form doch bedeutet. Die Form des Meisters, wie überhaupt jede Romanform, ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und participiert auch an allen seinen Grenzen. Weil es aber ein echt poetischer Geist ist, der sich dieser Form bediente und in dieser Form die poetischsten Zustände ausdrückte, so entsteht ein sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung, für das ich keinen rechten «Namen weiß. Ich möchte sagen: es fehlt dem Meister (dem Roman nämlich) an einer gewissen poetischen Kühnheit, weil er, als Roman, es dem Ver 199stande immer recht machen will – und es fehlt ihm wieder an einer eigentlichen Nüchternheit (wofür er doch gewissermaßen die Forderung rege macht), weil er aus einem poetischen Geiste geflossen ist. Buchstabieren Sie das zusammen, wie Sie können, ich teile Ihnen bloß meine Empfindung mit. – Da Sie auf einem Punkte stehen, wo Sie das Höchste von sich fordern müssen und Objektives mit Subjektivem absolut in Eins verfließen muß, so ist es durchaus nötig, dafür zu sorgen, daß dasjenige, was Ihr Geist in ein Werk legen kann, immer auch die reinste Form ergreife und nichts davon in einem unreinen Medium verloren gehe. Wer fühlt nicht alles im Meister, was den Hermann so bezaubernd macht! Jenem fehlt nichts, gar nichts von Ihrem Geiste, er ergreift das Herz mit allen Kräften der Dichtkunst und gewährt einen immer sich erneuernden Genuß, und doch führt mich der Hermann (und zwar bloß durch seine rein poetische Form) in eine göttliche Dichterwelt, da mich der Meister aus einer wirklichen Welt nicht ganz heraus läßt. – Da ich doch einmal im Kritisieren bin, so will ich noch eine Bemerkung machen, die mir bei dem Lesen sich aufdrang. Es ist offenbar zu viel von der Tragödie im Meister; ich meine das Ahnungsvolle, das Unbegreifliche, das subjektiv Wunderbare, welches zwar mit der poetischen Tiefe und Dunkelheit, aber nicht mit der Klarheit sich verträgt, die im Roman herrschen muß und in diesem auch so vorzüglich herrscht. Es inkommodiert, auf diese Grundlosigkeiten zu geraten, da man überall festen Boden unter sich zu fühlen glaubt, und weil sich sonst alles so schön vor dem Verstande entwirrt, auf solche Rätsel zu geraten. Kurz mir deucht, Sie hätten sich hier eines Mittels bedient, zu dem der Geist des Werkes Sie nicht befugte. – Uebrigens kann ich Ihnen nicht genug sagen, wie mich der Meister auch bei diesem neuen Lesen bereichert, belebt und entzückt hat; es fließt mir darin eine Quelle, wo ich für jede Kraft der Seele und für diejenige besonders, 200 welche die vereinigte Wirkung von allen ist, Nahrung schöpfen kann.«

Ich habe mir den merkwürdigen Brief hier auszuschreiben erlaubt, weil ich für meine ketzerische Ansicht von dem ästhetischen Werte des Romans (gemessen an den höchsten Kunstforderungen) der weiteren Unterstützung einer Autorität bedurfte, die mir hier im vollsten Maße wird – in einem Uebermaße sogar, wie wir sehen werden.

Zwar gründet Schiller sein Urteil im wesentlichen auf eine subjektive Empfindung, welcher er dann auch einen vollendeten Ausdruck giebt, während er selbst einräumt, daß er in der eigentlichen Beweisführung sich in Widersprüchen bewege. Aber diese Widersprüche sind mehr scheinbar als wirklich. Zuerst wäre es unbillig, ihm zuzumuten, er habe alles Ernstes übersehen, daß man in der Kunst von einer äußeren Form nicht reden darf, und als sei seine Meinung: der Dichter hätte für sein Werk auch eine andere Form (also hier die rhythmische) wählen können, falls es ihm nur beliebt. Er will offenbar sagen: der »Meister«, der wie jeder Roman sich schlechterdings der Prosaform bedienen muß, weil er seinen Inhalt sonst nicht zum Ausdruck bringen könnte, ist schlechterdings unpoetisch, während aller (rein) poetische Inhalt in eine (rein) poetische Form muß aufgehen können und auch wirklich aufgeht, siehe: Hermann und Dorothea.

Diese Argumentation ist zweifellos stichhaltig unter einer Voraussetzung; nämlich: daß die rhythmische Form einzig und allein die rein poetische Form sei. Aber ist das der Fall? Goethe in seiner Antwort (vom 25. November) bekennt sich dazu und glaubt in dem Ausspruch: »Alles Poetische sollte rhythmisch behandelt werden«, noch weiter zu gehen als Schiller, ohne es zu thun, denn dies Postulat hat dieser ja bereits, wenigstens implicite, aufgestellt.

Aber ist die Voraussetzung richtig? Ich glaube es, wie 201 anmaßlich das auch der vereinigten Autorität unserer beiden Dioskuren gegenüber klingen mag, verneinen zu müssen. Die einzige wahrhaft so zu nennende episch-poetische Form ist die dem Objekte adäquate Darstellung, zu welcher der Rhythmus als ein willkommener Schmuck hinzu treten mag, oder vielmehr soll, überall da, wo er möglich ist. Er wird aber überall möglich sein, wo der Stoff einmal einen gewissen Umfang nicht überschreitet und zweitens seiner einfacheren Natur nach für die Darstellung der Details bis zu einem gewissen Grade entraten kann. Dies wird unter anderem bei den meisten Novellen-Stoffen (wie Hermann und Dorothea einer ist) zutreffen, wo es sich niemals um ein Weltbild, sondern um einen ganz bestimmten, scharf abgegrenzten Ausschnitt aus diesem Bilde handelt Wir können an dieser Stelle ebensowenig wie sonst in dieser Abhandlung tiefer auf das Wesen der Novelle eingehen, deren Stellung innerhalb des epischen Gebietes und specielles Verhältnis zum Roman eine eigene Untersuchung erheischt., ebenso wie die antike Welt in ihrer Uebersichtlichkeit und Einfachheit eine Darstellung mit Hinzuziehung des rhythmischen Schmuckes zuließ, d. h. forderte.

Vermöchte nun also der Roman seinen Stoff nur vollkommen zu formen, d. h. darzustellen, so würde er darum, weil er etwa infolge des übermächtig andrängenden Details für diese Darstellung auf den rhythmischen Schmuck zu verzichten gezwungen wäre, doch noch immer schlechterdings poetisch sein.

Wie aber steht es mit ihm in diesem Kardinalpunkte?

Für uns ist die Antwort nicht zweifelhaft. Wir wissen, daß er seine Idee, d. i. sein Urbild: die moderne Welt, niemals vollkommen zum Abbild bringen kann, weil die objektive Methode, wie wir sie bis jetzt kennen, auch wenn sie kunstvoll zu ihrer höchsten Leistungsfähigkeit gesteigert wird, an dem unerschöpflichen Reichtum des aktuellen modernen Lebens erlahmt, denselben, so 202 zu sagen, nicht ausmessen kann, sondern immer einen Rest läßt, der in der Darstellung nicht aufgeht. Eigentlich einen zweifachen Rest: einen gewissermaßen materiellen nach Seiten des (nicht erschöpften) Inhalts, der sozusagen an das Ende des Werkes fällt, wenigstens sich meistens erst da deutlich herausstellen wird; und einen anderen, rein ästhetischen, der sich durch das ganze Werk in der Behandlung des Einzelnen fühlbar macht, welches (in der Furcht des Autors, das heißersehnte Ziel auf dem langen Wege nicht zu erreichen) nur zu oft mitleidslos übers Knie gebrochen, allzu knapp und dürftig dargestellt, oder vielleicht in der Eile auch gar nicht mehr dargestellt, sondern nur noch (rein prosaisch) bezeichnet wird.

Dies und dies allein, wie wir es in dem Vorhergehenden ausführlich zu entwickeln gesucht haben, ist der wahre innere Grund, warum der Roman nicht, wie Schiller behauptet, schlechterdings unpoetisch, sondern nur nicht völlig poetisch, den höchsten Kunstforderungen völlig entsprechend ist; und ich glaube, daß es keinem meiner Leser jetzt noch schwer fallen wird, sich die sonstigen scheinbar so widersprechenden Aeußerungen Schillers über den Wilhelm Meister »zusammen zu reimen«.

Und da wir nun dem Verdikte Schillers nur bis zu einem gewissen Punkte recht geben, so dürfen wir uns von ihm auch nicht zu den Konsequenzen drängen lassen, zu welchen er den großen Freund drängen möchte Und zu denen sich doch auch dieser für die Folge nicht verstehen mochte, oder er hätte den Lehrjahren nicht die Wanderjahre folgen lassen und die Wahlverwandtschaften nicht geschrieben – Werke, die Schillern noch ein weit reicheres Material zur Substanzierung seiner Verurteilung des Romans geboten haben würden als die wundervollen Lehrjahre, in denen bis auf einen Minimalrest alles Darstellung in unserem Sinne ist., sondern wollen lieber untersuchen, ob denn wirklich in derjenigen Form der Darstellung, die wir zuletzt betrachteten, alle Darstellungsmittel erschöpft sind, oder ob es nicht vielleicht eine andere Form 203 giebt, die allerdings, da sie eine prosaische bleibt, von Schiller noch immer keine »reine« genannt werden würde, aber doch vielleicht ein Medium, in welchem aus gewissen Gründen weniger »von dem Geiste des Dichters verloren geht« und »Objektives mit Subjektivem« wenn nicht »absolut in Eins«, so doch inniger ineinander verfließen.

Nun giebt es in der That eine solche Form, die, wie der Leser bereits ahnt, in nichts anderem besteht als in dem Rückgreifen auf die erste Conception des epischen Geistes von dem Weltbilde, wo der Dichter, wie wir uns erinnern, als naturgemäßen Mittelpunkt desselben, oder, wenn man will, als Träger der Idee sich selbst vorfand: sein Ich, das er, weil es zu dem Zwecke nicht ausreichte, in ein Er verwandelte.

Verwandelt sich nun das Er wieder zurück in ein Ich, so ist es, so kann es selbstverständlich das alte, erfahrungsmäßige, naive, enge und beschränkte Ich nicht mehr; so muß es ein neues, künstlich seiner Beschränkung enthobenes, reflektiertes sein, dessen genauer Betrachtung und Analyse wir unser letztes Kapitel zu widmen haben.

IV.

Das neugewonnene Ich unterscheidet sich in nichts als in der Form von dem uns vertrauten Er, wie es sich denn auf dieselbe Weise wie jenes aus dem aktuellen Ich des Dichters metamorphosiert hat. Es ist – ebenso wie das Er – vielleicht von demselben nur durch leichte Veränderungen geschieden; es kann aber auch so weit abweichen, als es überhaupt möglich ist, ohne das geistige Band zu zerreißen, was nimmermehr geschehen darf; d. h. bei wirklichen Dichtern niemals geschieht. Die Veränderungen werden (wie in dem Er-Falle auch) ebenso den Kern 204 des Charakters, die Denk-, Sinnes- und Empfindungsweise des empirischen Ich betreffen, wie die äußeren Verhältnisse und wirklichen Erfahrungen.

Betrachten wir darauf hin zuerst die innere Aehnlichkeit, welche zwischen dem Dichter und seinem Ich-Helden besteht. Daß der Verfasser des »Simplicissimus« sich in dem Helden des Romans selber schildern wollte, ist dem Kommentator, der ihn ohne allen Zweifel genau kannte, ebenso selbstverständlich Simplicianische Schriften. Herausgegeben von H. Kurz. I, Einleitung S. XII ff., wie wir in »Tristram Shandys« Humor, trotz Thackerays liebloser Analyse Thackeray: The English Humorists of the XVIII Century. Lecture VI., den tiefen Sinn, den reichen Geist, das weiche Gemüt Lorenz Sternes widergespiegelt sehen. – Ein bedeutend größerer Unterschied besteht ohne Zweifel zwischen dem leichtblütigen, leichtlebigen und leichtsinnigen Wesen des wirklichen Oliver Goldsmith und dem bis zur Starrheit charaktervollen Helden des »Vicar of Wakefield«, Mr. Primrose; aber wenn der würdige Pfarrer nicht des Dichters eigen Bild war, so war es dafür das seines Vaters, dem er in der Hauptsache, der unendlichen Herzensgüte, durchaus geglichen zu haben scheint, und jetzt nur noch die eigene liebenswürdige Schalkhaftigkeit (die auch vielleicht dem Vater nicht gefehlt hat, obgleich sie nicht ausdrücklich bezeugt wird) zu geben brauchte, um die Aehnlichkeit zwischen seinem Helden und sich völlig zu machen. Ebend. – Wie einseitig freilich die Aehnlichkeit zwischen »Werther« und seinem Dichter ist, empfindet man deutlich erst, wenn man das jugendliche Selbstporträt in »Wahrheit und Dichtung« mit Hülfe der gleichzeitigen Briefe an Kestner und Lotte und die anderen Freunde stark retouchiert hat; dagegen müßte ich mich sehr irren, oder Gottfried Keller hat in 205 seiner Dichtung vom »Grünen Heinrich« bereits so viel Wahrheit aus seinem Seelenleben gegeben, daß uns selbst eine treueste Autobiographie nach dieser Seite nicht viel neue Aufschlüsse bringen könnte. Ebenso läge die Geringfügigkeit der Charakterdifferenzen zwischen »David Copperfield« und Charles Dickens auf der Hand, wenn J. Forster es in seiner Biographie des Dichters nicht überzeugend für alle Welt nachgewiesen hatte The Life of Charles Dickens by J. Foster. Tauchn. Ed. I, p. 30 ff.; während allerdings ein gewaltiger Abstand den feinen, gehaltenen, rücksichtsvollen Thackeray von dem durchfahrenden cynischen »Barry Lyndon« des gleichnamigen Romans zu trennen scheint, wofür denn aber aus »Charles Vellowplusch« dummschlauen Bedientengesicht hell und scharf die satirischen Augen des Verfassers des »Book of Snobs« blicken und »Mr. Samuel Titmarch« voll die Züge des jungen, wie »Henri Esmond« die des gereiften Dichters zeigt. – Auch die Treue, mit welcher Alphonse Daudet in seinem charmanten Ich-Roman »Le Petit Chose« sein jugendliches Selbstporträt gezeichnet hat, kann nicht minder groß sein, oder Daniel Eyssette, der Held des Romans, hätte nicht, ohne aus dem Charakter zu fallen, mit denselben Gedichten im Privatkreise debütieren dürfen, mit welchen der Autor selbst in dem ersten Stadium seiner öffentlichen Laufbahn die Herzen aller rührte, die in Frankreich noch an die »Blaue Blume« der Romantik glauben und sich in dem süßen Duft derselben Erquickung saugen von dem Herzweh, das ihnen der moderne naturalistische Roman mit brutaler Grausamkeit geflissentlich bereitet. A. Daudet: Le Petit Chose. II. Partie. VII: »Une Lecture au Passage du Saumon.« – Sehr weit auseinander zu gehen scheinen die Charaktere der Helden in Auerbachs Ich-Roman »Waldfried« und des Dichters; aber nur auf den ersten Blick. Sieht man genauer zu, wird die Aehnlichkeit zwischen beiden eine frappante: dieselbe Empfänglich 206keit eines Geistes, der stets bemüht ist, sich in das Rechte hinein zu denken; dieselbe Bestimmbarkeit eines Gemütes, das allen wohl will und wünscht, daß allen wohl sein möchte; dieselbe optimistische Anschauung der menschlichen Dinge im allgemeinen; im speciellen der unerschütterliche Glaube an des Vaterlandes durch Kampf und Not zu erringende Macht und Herrlichkeit; derselbe Jubel des »Wieder Unser!«, in welchem sich das angstbeklemmte Herz nach errungenem Siege Luft macht.

Man sieht, die innere Aehnlichkeit zwischen dem Dichter und seinem Helden oscilliert im Ich-Roman kaum weniger zwischen den Punkten möglichster Annäherung und weitester Entfernung als in dem Er-Roman, nur daß sie vielleicht doch noch ein wenig mehr nach jenem als nach diesem gravitiert; und so verhält es sich auch mit dem hier größeren, dort geringeren Grade, in welchem der Dichter seine individuellen Erfahrungen, Erlebnisse, Lebensumstände für den Romanzweck verwendet. Wenn Goethe bis zu der tragischen Peripetie im »Werther« seine wirkliche Relation zu der Geliebten und ihrem Verlobten annähernd treu geschildert haben wird und nun aus dem Schicksal des jungen Jerusalem den Mut nimmt, für Werthers Herzensschmerzen die Konsequenz zu ziehen, welche sein eigenes Liebesleid aus guten Gründen nicht haben konnte, so wird dieser psychologisch-ästhetische Vorgang im großen und ganzen typisch zu nennen sein für die analogen Vorgänge, die wir in einer langen Reihe von Ich-Romanen beobachten und konstatieren könnten, wenn uns die betreffenden Beweisstücke überall so ausführlich zu Gebote ständen wie in diesem Falle. Ist doch die Poesie überall darauf angewiesen, ja muß man es als ihre ganz eigentliche Aufgabe bezeichnen, daß sie aus den gegebenen Verhältnissen die idealen Konsequenzen zieht, welche das mit unzähligen gleichzeitigen Verpflichtungen überbürdete Leben nicht ziehen kann. Und auch hier unterscheidet sich der Ich-Roman nicht wesentlich von dem anderen 207 Genre; nur daß wiederum die Annäherung an die gegebenen Verhältnisse besonders in den Anfängen in den meisten Fällen eine größere sein wird, als es wohl sonst der Brauch. In die Knabengeschichte Copperfields hat Dickens, wie Forster nachgewiesen, ganze Kapitel aus seiner angefangenen (und eben um Copperfields willen nicht weitergeführten) Autobiographie eingeschaltet; auch die weiteren Etappen auf der Lebensbahn seines Helden waren dem Dichter durch seine eigenen Erlebnisse als Parlamentsstenograph, Schriftsteller u. s. w. vorgezeichnet, wogegen denn freilich Davids Ehe mit dem »Child-Wife« reine Erfindung ist und die zweite mit Agnes ein dauerndes Glück in Aussicht stellt, zu welchem bekanntlich des Dichters eigene Ehe schließlich einen betrübenden Gegensatz bildete. – Im »Simplicissimus« dürften die aktuellen Erlebnisse des Dichters wohl nur bis zum Schluß des dritten Buches stark und oft gewiß mit photographischer Treue benutzt sein, während vom vierten Buche von der Fahrt nach Frankreich an, die Phantasie immer freier waltet, um schließlich zur völligen Phantastik auszuarten und die Grenzen nicht bloß der eigenen, sondern aller möglichen Erfahrung zu überschreiten, aus Gründen, von denen wir weiter unten zu sprechen haben werden. – Wie nahe sich Keller an die eigenen Fata hält, wüßte ich nicht zu sagen; es scheint indessen, daß auch er demselben Gesetz der idealen Konsequenz gefolgt ist, als er in der ersten Ausgabe des Romans den Helden aus dem Leben scheiden ließ, während derselbe in der neuen sich wieder mit dem Dichter bescheidentlich des Lichtes der Sonne freuen darf. – Eine totale Abweichung von den wirklichen Verhältnissen des Dichters findet auf den ersten Blick im »Vicar of Wakefield« statt; aber es ist damit wie mit der oben festgestellten Differenz zwischen dem bekannten Charakter des guten Oliver und dem, welchen er seinem Helden gegeben: das Leben in der Familie des braven Pfarrers – er hatte es selbst an dem elterlichen Herde 208 gelebt; die Scenerie von Wakefield ist die seines Heimatdorfes; und daß er selbst auf dem Bilde nicht fehle, dafür hat er durch die Gestalt des ältesten Sohnes George gesorgt, der in der »Geschichte eines philosophischen Vagabunden« ein klägliches Fragment (und noch nicht einmal das kläglichste!) aus der eigenen Lebensgeschichte des Dichters zum besten giebt. »Daß Goldsmith (im Vicar) vieles angebracht, was ihm selbst im wirklichen Leben begegnet war, wird allgemein zugegeben. Die Geschichte von George Primrose scheint eine genaue Kopie der Abenteuer und der täppischen Einfalt des Autors in seiner Jugend.« R. Chambers: Cyclopaedia of English Literature II, p. 140. – Eine fast völlige Unabhängigkeit nach dieser Seite beweist Auerbach in dem oben genannten Romane, dessen Helden er in Verhältnisse gebracht hat, die sich mit den aktuellen seines eigenen Lebens kaum irgendwo berühren; und er gleicht darin Thackeray, der die Erlebnisse der Helden seiner Ich-Romane fast durchweg mit völliger Freiheit erfindet, selbstverständlich in dem beschränkten Sinne, in welchem das überhaupt von dem epischen Dichter gesagt werden kann.

Aber endlich, wenn der Ich-Roman, wie es scheint, unter denselben beschränkenden Gesetzen steht wie der Er-Roman, wo bleibt der Vorteil, welchen sich der Dichter, versprach, als er das mühsam genug errungene Er in das ursprüngliche Ich zurück verwandelte?

Und dies nun ist der Vorteil und zugleich dasjenige Moment, welches den Ich-Roman zu einer besonderen Species in der Gattung macht: der Dichter als Ich-Held und Selbsterzähler seiner Fata gewinnt die Freiheit, welche ihm als Erzähler der Fata eines dritten versagt war: seine subjektiven Ansichten und Meinungen ausgiebig mit einfließen zu lassen, ohne dabei dem Helden in die Rolle zu fallen; ohne den Leser aus der Illusion zu reißen, daß er es immer nur mit der einen handelnden Person zu thun hat und nicht mit zweien: mit der handelnden Person 209 und dem Dichter, der außer der Handlung steht und mithin – im poetischen Sinne – gar keine Person ist und kein Recht hat, in dieselbe einzugreifen, wäre es auch nur in der Form von Reflexionen, mit denen er die Handlung begleitet und illustriert.

Auch der Dichter des Er-Romans darf sich ja in der Person seines Helden (oder einer anderen Person) dergleichen Reflexionen gestatten, aber wie beschränkt diese Freiheit ist, weiß jeder, der sich praktisch mit der Sache befaßt hat. Die Reflexion, die dem Helden (oder einer anderen Person) in den Mund gelegt wird oder auch nur durch den Kopf gehen soll, muß mit Notwendigkeit aus der jeweiligen Situation herauswachsen; selten wird die Situation derart sein, daß sie dem Handelnden zu langen Ueberlegungen und zum Ausspinnen seiner Gedanken und Empfindungen Zeit läßt; und wenn es schon um die Monologe auf dem Theater ein mißliches Ding ist, wo wir doch den Betreffenden vor uns sehen und ihn sprechen hören, so ist das Experiment doppelt und dreifach gewagt im Roman und erfordert eine ganz exquisite Kunst des erzählenden Dichters, soll es nicht mißlingen und sich als bare Unnatur prostituieren.

Dem Ich-Helden hingegen stehen solche Reflexionen gut, weil sie ihm natürlich zu kommen scheinen. Er ist in Aktion und ist es auch wieder nicht, d. h. er ist ja nur der, dem das alles einmal passierte, der inzwischen reichlich Zeit gehabt hat, sich die seltsamen Fata zurecht zu legen, sie mit voller Objektivität nicht bloß auf ihr Wie? und Was? zu betrachten, sondern auch auf ihr Warum? – warum das so kam und kommen mußte unter den gegebenen äußeren und inneren Verhältnissen und Zuständen, die ihm damals ein Rätsel waren, ihm aber mittlerweile den geheimen Zusammenhang offenbarten.

Und eben, weil der Held aus der Kenntnis dieses geheimen Zusammenhanges heraus und mit dem Ueberblick über alles, was ihm von Anfang an bis zu dem gegenwärtigen Augenblicke 210 begegnete, seine Fata berichtet, muß dieser Bericht eine ganz andere Färbung annehmen als die Erzählung des Dichters von den Schicksalen eines Dritten. Dürfen wir doch im letzteren Falle, soll nicht alle Spannung verloren gehen oder mindestens unser Interesse eine wesentliche Einbuße erleiden, gar nicht einmal von vornherein wissen, wie diese Schicksale verlaufen und ob wir auf der letzten Seite den Helden an die Schwelle des ehelichen Gemaches oder an das Grab geleiten werden! Bei dem Ich-Erzähler haben wir, auch wenn er nicht wie Odysseus leibhaftig vor den horchenden Phäaken, d. h. vor uns steht, die freundliche Gewißheit, daß der Betreffende allen Gefahren, die wir mit ihm werden durchkämpfen müssen, glücklich entronnen ist. Nun kann ja freilich, wie von Goethe im »Werther« die Form beliebt werden, daß der Dichter sich als Berichterstatter introduziert: als der, welcher, »was er von der Geschichte des armen X. X. habe auffinden können, mit Fleiß gesammelt und wissend, daß wir's ihm danken werden, uns nun vorlege«; wo er dann freilich an einem bestimmten Punkte genötigt sein wird, sich »als Herausgeber an den Leser zu wenden« und die Mitteilung der Briefe, aus denen er bis dahin schöpfte, »durch Erzählung zu unterbrechen.« Aber, wenn uns so von dem Dichter der Ich-Roman gleichsam in einem schwarzen objektiven Rahmen präsentiert wird, ruht doch auf dem Gemälde selbst, ausstrahlend von dem bewegten Herzen, dem abgeklärten Geiste des Ich-Helden, ein seltsam warmes, seltsam reizvolles Clairobscur, höchst verschieden in seiner anheimelnden Wirkung von der unbarmherzigen Helligkeit, in welcher der völlig objektive Dichter seine Gestalten und Situationen hinstellen mußte und dadurch selbst einen Schiller zu dem Fehlschluß verleitete, daß das Werk »nur im Gebiete des Verstandes liege, unter allen Forderungen des Verstandes stehe und auch an allen seinen Grenzen participiere.«

Gerade aber die Härte und Schärfe der Konturen, zu wel 211cher den rein objektiven Dichter die Methode nötigt, und die ihn so leicht in den Verdacht bringt, daß er nur für den Verstand gearbeitet habe, mildert und verwischt jenes schimmernde, flimmernde Helldunkel, aus welchem die Gestalten jetzt klar hervortreten, um dann wieder in demselben zu verdämmern; und jetzt diese, dann wieder eine andere Seite zeigen in der ahnungsvoll vorausschauenden oder schwermütig retrospektiven Beleuchtung, welche der Selbsterzähler scheinbar nach seiner subjektiven Laune und Willkür, in Wahrheit aber nach dem strengen Bedürfnis seiner künstlerischen Zwecke auf sie fallen läßt.

Wir werden später ausführlich diesen letzteren Punkt zu erörtern haben; vorläufig müssen wir daran festhalten und uns klar machen, daß es immerhin das Einmischen des dichterischen Subjekts ist, welches seiner Darstellung das eigentümliche Gepräge giebt.

Oder Einmischen ist vielleicht der rechte Ausdruck nicht, weil er das Subtile der Wirkung nicht wiedergiebt, die wohl dadurch hervorgebracht werden und darin bestehen möchte, daß, während in dem rein objektiven Roman auch freilich alles durch das Medium der Dichterphantasie gehen muß, aber, ohne daß wir es ahnen, ohne daß es uns zum Bewußtsein kommt, wir in dem Ich-Roman diesem Durchgang beiwohnen und denselben beobachten dürfen. In dem rein objektiven Roman ist die Phantasie gleichsam zu dem völlig stillen, völlig durchsichtigen Wasser abgeklärt, durch welches wir die Objekte nur einmal sehen in bestimmten Umrissen und Proportionen an einer bestimmten Stelle (welche bekanntlich nicht die wirkliche, sondern so zu sagen eine ideale ist); in dem Ich-Roman gleicht die Phantasie dem leise bewegten Wasser, in welchem die Objekte ihre Stellung, ihre Umrisse und Proportionen je nach der Bewegung zu verändern scheinen, keineswegs wirklich verändern! Im Gegenteil! wir speisen in dem rein objektiven und in dem Ich-Roman genau dieselben Gerichte, nur 212 daß sie uns dort von stummen Dienern serviert werden, hier sie uns der Hausherr selber reicht mit der freundlichen Bitte, zuzugreifen, es uns schmecken zu lassen, mit bescheidenem Anpreisen der guten Dinge oder schalkhaften Warnungen, uns vor diesem oder jenem eventuell in acht zu nehmen, mit beigefügten Erläuterungen und Anekdoten, wie er zu diesem Wildbret, zu jenem Wein gekommen sei, und uns so in eine Stimmung versetzt, welche die ungläubigsten Geschmacksnerven unmerklich aber sicher beeinflußt.

Der Kundige wird wissen, was ich in diesen Bildern ausdrücken will, aber auch ihm wird es vielleicht nicht unwillkommen sein, wenn ich durch ein paar Beispiele die Veränderung zu illustrieren versuche, welche mit dem Objekt vorzugehen scheint, sobald wir es durch das Medium der Phantasie des Selbsterzählers sehen.

Man vergleiche das Proömium der Odyssee mit den Versen, in denen Odysseus dasselbe Thema den horchenden Phäaken ankündigt:

Melde den Mann mir, Muse, den vielgewandten, der vielfach
Umgeirrt, als Troja, die heilige Stadt, er zerstöret;
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat,
Auch im Meere so viel herzkränkende Leiden erduldet –

Und nun der Held selbst:

Meine Bedrängnisse selbst, die jammervollen, zu hören
Wünschest du; daß ich noch mehr in Gram und Kummer versinke.
Was doch soll ich zuerst und was zuletzt dir erzählen?
Weil ja der Leiden mir viele gesandt die himmlischen Götter!

Wer empfände nicht die tiefere Resonanz, welche die gesperrten Worte der scheinbar identischen Musik verleihen! ja, müßte doch eigentlich jedes Wort gesperrt werden, da jedes, wie unmerklich immer, zu dieser Vertiefung beiträgt!

Und wenn Athene die Sehnsucht des Helden aus den Armen der Kalypso nach der Heimat noch so warm und herzlich schildert:

213 Dessen Tochter verweilt den ängstlich harrenden Dulder;
Und beständig mit holden und sanft einnehmenden Worten
Schmeichelt sie, daß er vergesse der Ithaka. Aber Odysseus
Sehnsuchtsvoll nur den Rauch von fern aufsteigen zu sehen
Seines Lands, ja zu sterben begehret er! –

wie so viel rührender ertönt die Heimwehklage von den Lippen des Dulders selbst:

Siehe, mich weilete zwar die herrliche Göttin Kalypso
In der gewölbeten Grotte, mich ihr zum Gemahle begehrend;
So auch weilete mich die Aeäerin Kirke voll Arglist
Dort in ihrem Palaste, mich ihr zum Gemahle begehrend:
Dennoch konnten sie nie mein Herz im Busen bewegen.
So ist nichts doch süßer denn Vaterland und Erzeuger
Jeglichem, wer auch entfernt ein Haus voll köstlichen Gutes
Wo im Fremdlingslande bewohnt, von den Seinen gesondert. –

obgleich hier das Rührende mehr in der Fülle der Klage liegt, die sich in Worten nicht ersättigen zu können scheint, als in der Prägnanz des Ausdrucks, welche in Athenes Bilde von dem aufsteigenden Rauch als verflatterndem Symbol des festgegründeten heimischen Herdes eine wahrhaft göttliche dichterische Höhe erreicht.

Aber, wenn so bereits im antiken Epos das Ich nach Licht und Luft ringt, wie zart und keusch lauscht es aus seiner objektiven Hülle hervor! so zart und keusch, daß ich mit Recht in dem ersten Kapitel unserer Abhandlung behaupten durfte, es gebe im klassischen Altertum kein Ich-Epos und könne keins geben in dem Sinne, in welchem wir von einem Ich-Roman zu reden haben würden. Es mußte dazu das dichterische Subjekt erst jene Hülle lockern und sprengen, indem es sich mit prometheischem Trotz auf sich selbst besann, und daß es keinem Gott und keiner Göttin seine poetische Hütte verdanke und seinen Künstlerherd, dessen Feuer doch nur die Glut des eigenen Herzens ist, die jetzt in dunkelroter Lohe der Leidenschaft aufflammt, jetzt in satirischen Garben und Funken sprüht oder ein humoristisches Wechsellicht über die Welt flackern läßt.

214 So sprühen die satirischen Funken und flackert das humoristische Licht in der Schilderung, welche Simplicissimus von der Hütte entwirft, an welche sich seine frühesten Erinnerungen knüpfen:

»Mein Knän (denn also nennet man die Vätter im Spessert) hatte einen eignen Pallast, sowol als ein andrer, ja so artlich, dergleichen ein jeder König, er mag auch mächtiger als der große Alexander selbst sein, mit eignen Händen zu bauen nicht vermag, sondern solches in alle Ewigkeit wohl unterwegen lassen wird; er war mit Laimen gemahlet, und an stat des unfruchtbaren Schiefers, kalten Bleyes und roten Kupffers mit Stro bedeckt, darauff das edel Getraid wächst; und damit er, mein Knän, mit seinem hochgeachteten und von Adam selbst herstammenden Adel und Reichthum recht prangen möchte, ließ er die Maur um sein Schloß nicht mit Maursteinen, die man am Weg findet, oder an unfruchtbaren Orten auß der Erde gräbet, vielweniger mit liederlichen gebackenen Steinen, die in geringer Zeit verfertigt und gekrönt werden können, wie andre große Herren zu thun pflegen, aufführen, sondern er nam Eichenholtz darzu, welcher nutzliche edle Baum, als worauff Bratwürste und fette Schuncken wachsen, biß zu seinem vollständigen Alter über 100 Jahre erfordert. Wo ist ein Monarch, der ihm dergleichen nachthut? Wo ist ein Potentat, der ein gleiches ins Werck zu richten begehret? Seine Zimmer, Säl und Gemächer hatte er inwendig vom Rauch gantz erschweren lassen, nur darum, weil diß die beständigste Farbe von der Welt ist und dergleichen Gemähld biß zu seiner Perfection mehr Zeit brauchet, als ein Kunstlicher Mahler zu seinen trefflichsten Kunststücken erheischet. Die Tapazereyen waren das zärteste Geweb auff dem gantzen Erdboden, denn diejenige machte uns solche, die sich vor Alters bemaß, mit der Minerva selbst um die Wette zu spinnen« u. s. w.

Man vergleiche mit dieser Schilderung die eines objektiven 215 Dichters, z. B. das Bild, welches W. Scott im »Waverley« (Kap. XI) von der Schenke macht, in die der Baron von Bradwardine seine Gäste geleitet. Da sind dieselben primitiven Zustände: derselbe schwarze Rauch, der in Ermangelung eines Schornsteins durch die Thür seinen Abzug nimmt, dieselben Spinnenwebe, »mit denen der schwere Deckbalken dick tapeziert war« u. s. w.; aber der Dichter zeigt uns das alles in einer bestimmten Beleuchtung, nur von einer Seite, wie uns ein wirkliches Bild seine Gegenstände zeigt, während wir im »Simplicissimus« dasselbe Objekt gewissermaßen zweimal sehen: die miserable Bauernwohnung, wie sie in Wirklichkeit ist, und wie sie in der Erinnerung eines Mannes erscheint, der inzwischen die große Welt kennen gelernt hat: doppelt miserabel und doch, verglichen mit dem hohlen Prunk der Paläste wirklicher Könige, nicht ohne idyllischen Reiz und eine in sich selbst ruhende Herrschermäßigkeit.

Ich gebe zu: der große Unterschied, der sich bei der Vergleichung dieser Schilderungen herausstellt, kommt zu einem nicht geringen Teil auf Rechnung des verschiedenen Zeitgeschmacks. Aber, schwindet gleich jener krause Humor mit dem siebzehnten Jahrhundert, die Methode bleibt dieselbe auch in der unendlich verfeinerten Anwendung eines Lorenz Sterne, wenn er uns zuerst den toten Esel auf der Landstraße zeigt als einen eklen Gegenstand, vor dem der Gaul des braven La Fleur Reißaus nimmt, und dann in der kummervollen Erinnerung des alten Mannes, der ihn verloren und nun weinend auf der Steinbank vor der Thür des Gasthauses mit dem Zaum in der Hand sitzt und klagt: »Ich fürchte, die doppelte Last meines Körpers und meiner Leiden sind zu viel für ihn gewesen – sie haben die Tage des armen Tieres verkürzt –« und der Dichter und Ich-Held die Moral der Geschichte hinzufügt: »Schande über die Welt! liebten wir nur einander wie diese arme Seele ihren Esel – es wäre etwas!«

216 Aber um die beabsichtigte Wirkung hervor zu bringen, bedarf es durchaus nicht jener ausdrücklichen zweimaligen Vorführung desselben Objekts, wie sie Sterne liebt, – sie ergiebt sich vielmehr von selbst aus der Darstellung, wenn der Darsteller, wie er es als Ich-Dichter thun muß, immer zugleich vorwärts und rückwärts schaut. Man lese darauf hin folgende Stelle aus Dickens »Copperfield«:

»Ich war ein nachgeborenes Kind. Meines Vaters Augen hatten sich bereits seit sechs Monaten für das Licht der Welt geschlossen, als die meinigen sich demselben öffneten. Selbst jetzt noch liegt etwas Seltsames für mich in dem Gedanken, daß er mich niemals sah; und noch etwas Seltsameres in der schattenhaften Erinnerung, die ich von meinen ersten kindischen Associationen mit seinem weißen Grabmal auf dem Kirchhof Der Kirchhof ist als unmittelbar an das Wohnhaus stoßend gedacht. habe, und von dem unendlichen Mitleid, das mich immer ergriff, so oft ich es da liegen sah – einsam in der dunklen Nacht, während unser kleines Wohnzimmer das Kaminfeuer und das Kerzenlicht mit Wärme und Helligkeit füllten, und unsere Hausthür – fast grausam schien's mir manchmal – für den da draußen zugeriegelt und verschlossen war.«

Wie ungezwungen begegnen sich hier die ernsten feierlichen Gedanken des gereiften Mannes, der »selbst jetzt noch« nicht verschmerzen kann, daß ihm der Vater gefehlt, mit den Empfindungen des Kindes, welches von der verhängnisvollen Schwere des Verlustes keine Ahnung hat und nur mitleidig von der Wärme und dem Licht, in dem es sich so wohlig fühlt, »dem da draußen« in der kalten finsteren Nacht etwas abgeben möchte!

Oft, ja meistens lassen sich die Ursachen der Wirkung, welche wir doch ganz deutlich fühlen, nicht in ihren Einzelheiten nachweisen, und wir müssen uns begnügen, daß die Eigentümlichkeit 217 eben in dem wohl faßbaren, aber nicht mehr erklärbaren Ton und Kolorit der Darstellung liegt. Ich schlage den »Vicar of Wakefield« auf gut Glück auf:

»Es würde fruchtlos sein, wollte ich mein Entzücken leugnen, wenn ich meine Kinder um mich sah; aber die Eitelkeit und die Selbstbefriedigung meiner Frau waren sogar noch größer als bei mir. Sagten unsere Nachbarn: Wahrhaftig, Mrs. Primrose, Sie haben doch die schönsten Kinder im ganzen Lande! antwortete sie: Ei nun, Nachbar, sie sind, wie sie der Himmel machte – schön genug, wenn sie gut genug sind; denn schön ist, wer schön handelt. – Und dann hieß sie ihre Töchter, die Köpfe hoch zu halten, die, um nichts zu verhehlen, zweifellos sehr schön waren. Die bloße Außenseite ist in meinen Augen ein so geringfügiger Umstand, daß ich schwerlich die Sache erwähnt haben würde, wäre sie nicht ein allgemeiner Unterhaltungsgegenstand in der ganzen Nachbarschaft gewesen. Olivia, jetzt ungefähr achtzehn, hatte jene überschwengliche Schönheit, mit welcher die Maler Hebe darzustellen pflegen: offen, ausdrucksvoll, gebieterisch; Sophiens Züge waren für den ersten Anblick nicht so frappant, aber wirkten oft um so sicherer; denn sie waren sanft, bescheiden und anziehend. Die eine eroberte mit einem Streich, die andere durch die Unwiderstehlichkeit des wiederholten Eindrucks.«

Wer fühlte nicht den unsagbaren Zauber, der auf einer solchen Stelle liegt, wie der zarte Hauch auf einer Pfirsich, den die leiseste Berührung zerstört: die noch selbst in der Erinnerung überquellende Lust des glücklichen Vaters beim Anblick seiner schönen Kinder, und wie er sich der Schwäche, die er bei seiner Frau persifliert, in demselben Atem doppelt und dreifach schuldig macht und, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, sein ganzes zärtlich schwaches Herz vor uns aufdeckt!

Ich habe, indem ich die Darstellungsweise des Ich-Romans 218 zu charakterisieren versuchte, mich wiederholt der Ausdrücke: satirisch und humoristisch bedienen müssen, und es ist hier die Frage aufzuwerfen, ob in dem Ich-Roman die Ingredienzen der Satire und des Humors obligatorisch sind, wie es ja denn kein Zweifel ist, daß die meisten derselben in die Kategorie der sogenannten satirischen und humoristischen Romane gehören.

Der Leser weiß, was ich von jenen willkürlichen Kategorien halte; in eben diesem Bande findet er die ausführliche Darlegung meiner Ansicht über den »humoristischen Roman« gelegentlich Fr. Th. Vischers »Auch Einer«. Ich habe dort die Verkehrtheit jener gang und gäben Ansicht klar zu legen versucht, welche die humoristische Seelenstimmung ohne weiteres mit der dichterischen identifiziert; habe mich bestrebt, nachzuweisen, daß die Phantasie sich jener Stimmung ebenso bemächtigen, dieselbe ebenso für den poetischen Zweck verarbeiten müsse, wie sie dies mit der religiösen auch muß; mithin der Humor als solcher ebensowenig imstande sei, poetische Gebilde zu schaffen, wie die Religion als solche.

Oder will man denn durchaus von humoristischen oder religiösen Kunstprodukten sprechen, so kann man es doch in keinem anderen Sinne, als in welchem man von Shakespeares »Romeo und Julie« sagt, daß die Liebe selbst das Stück diktiert habe. Denn was von der humoristischen und satirischen oder religiösen Seelenstimmung gilt, gilt von jeder Seelenstimmung in ihrer höheren Potenz, also auch von den Leidenschaften der Liebe, des Hasses, des Zornes u. s. w. In jeder derartig gesteigerten Seelenstimmung (und das giebt ja eben die Veranlassung zu der Verwechselung) spielt die Phantasie eine mehr oder weniger bedeutende Rolle, indem sie sich abmüht, die natürlichen Bedingungen des betreffenden Gegenstandes zu potenzieren, was ja die künstlerische Phantasie auch thut. Nur mit dem Unterschiede, daß sie ihren Gegenstand nicht eher los läßt, als bis sie ihm zwar größere, bedeutendere, aber völlig feste Formen gegeben, während die Lei 219denschaft, weil sie kein Maß halten, auch solche Formen nicht schaffen kann, im Gegenteil ihrem inneren Wesen nach maßlos und formlos ist.

Genau so, um auf unser Thema zurück zu kommen, verhält es sich nun mit der humoristischen, respektive satirischen Seelenstimmung. Auch in ihnen ist die Phantasie geschäftig: messend, vergleichend, die Proportionen verändernd, vor allem emsig kolorierend: die dunklen Farben vertiefend, die lichten noch mehr erhellend (wenngleich in der satirischen in anderer Weise als in der humoristischen); und durch eben dieses Mitwirken der Phantasie gewinnen ihre reinen Aeußerungen (gerade wie die der Leidenschaft) oft den Anschein künstlerischer Gebilde, niemals deren Wesen. So wenig das letztere, daß Goethe völlig recht hat, wenn er dem Humor nachsagt: er zerstöre zuletzt alle Kunst; gerade wie Schiller gelegentlich von der Leidenschaft äußert, daß die Hand, welche von ihr zittert, den Pinsel nicht führen könne.

Haben nun aber so Satire und Humor eine unleugbare innere Wahlverwandtschaft mit aller Poesie, derart, daß auch ihre Aeußerungen eine scheinbare, oft frappante Aehnlichkeit mit denen jener gewinnen und sich deshalb in allen Gebieten der letzteren einnisten können, ohne daß ihre parasitische Natur immer sofort entdeckt würde, so zeigen sie für keine Dichtungsart eine größere und verhängnisvollere Vorliebe als für den Roman. Und aus naheliegenden Gründen. Scheint doch die Tendenz der epischen Phantasie in die Breite und Weite der Welt ganz der des Humors zu entsprechen, welcher alles Feste auflösen und in Fluß bringen möchte; und scheint doch ebenso die Satire, die von dem beständigen Messen der kleinlich-kümmerlichen Welt an den großherrlichen (moralischen) Ideen lebt, sich auf das bequemste assimilieren, ja identifizieren zu können mit dem Roman, dessen beide Hauptmomente, wie wir uns erinnern, einmal die Idee der Welt war, wie sie in dem Dichterkopfe lebte, und das andere Mal die 220 unzulänglichen individuellen Erfahrungen, welche die Phantasie zu einem Spiegelbilde dieser (Welt-)Idee auszugestalten sich bemüht.

Nun erinnern wir uns, daß gerade der Ich-Roman die mißliche Aufgabe zu fördern versucht, indem er das Ich, in welchem die Idee virtualiter existiert, aktuell macht, es als berechtigte Potenz in den Roman einführt und ihm so für seine Gebundenheit in dem objektiven Roman eine viel größere, scheinbar ungemessene Freiheit giebt, sich zu rühren, zu entfalten, und dadurch der Idee, von der es sich belebt weiß, den vielfältigsten, scheinbar vollkommenen Ausdruck zu geben.

Kann es uns wundern, wenn Satire und Humor sich innerhalb des Romans, der ihnen ohnehin schon ein so bequemes Vehikel war, sich auf den Ich-Roman, als das allerbequemste, stürzen wie ein Eroberer auf eine reiche Provinz, die ihm die Kosten des Sommerfeldzuges bezahlen, die herrlichsten Quartiere für den Winter darbieten soll?

Gewiß nicht.

Und so sehen wir denn bei Sterne, Thümmel u. a. Humor und Satire ihren Einzug in die Provinz des Romans halten, es sich dort nach Möglichkeit bequem machen, ja förmliche Orgien feiern, unbekümmert, wie arg dabei das unglückliche Land geschädigt, ja ob es nicht völlig »zerstört« wird. Da sind ganze Kapitel, da sind – ich weiß nicht, wie viele Prozente des Ganzen, die in den genannten und anderen Ich-Romanen mit dem Roman, ja mit der Poesie schlechterdings nichts zu thun haben: rein humoristische oder satirische Ergüsse, welche in die »Papiere eines lachenden Philosophen« oder meinetwegen eines grämlichen, oder der Himmel weiß wohin gehören und dennoch – und das ist das Schlimmste an der Sache – als Aeußerungen des »Ich-Helden« den Schein einer Berechtigung und Zusammengehörigkeit mit dem Roman gewinnen.

221 Wie schnöde aber der Mißbrauch ist, den auf diese Weise Humor und Satire mit der ihnen von dem Ich-Roman gebotenen Gastfreundschaft treiben, erhellt am deutlichsten an dem herrlichen Resultat, welches der rechte Gebrauch zeitigt, und das da hervortritt, wo die Wahlverwandtschaft zwischen beiden und dem Roman durch den Segen der Phantasie zu einer wirklichen Verbrüderung wird. Zu einer Ehe, möchte man sagen, da es nur noch der genauesten Analyse gelingt, festzustellen, wer in diesem Bunde der empfangende, wer der gebende Teil ist; die Sache vielmehr so liegt, daß der Gebende zugleich empfängt, der Empfangende zugleich giebt.

Und innerhalb dieses Bundes besteht nun wiederum ein besonders zartes und inniges Verhältnis zwischen dem Roman und dem Humor.

Vermag nämlich die anders geartete dichterische Phantasie (die rein tragische, die lyrische vielfach) auch ohne den Humor ein mächtiges und fröhliches Leben zu entfalten, so kann die epische seiner freundlichen Mithülfe kaum entraten. Auch das rein objektive homerische Epos ist nicht ohne humoristische Züge; und die Wirkung des »Wilhelm Meister«, der in seiner idealisierenden Darstellungsweise homerische Objektivität mit so großem Erfolge anstrebt, wäre gewiß noch bedeutender, hätte der Dichter es über sich gewonnen, dem humoristischen Moment (man denke an die schalkische Philine, an den freilich zu trocken geratenen Werner, an den vielgewandten Serlo, an den kaustischen Laertes, an die »Anempfinderin« Frau Melina u. s w.) einen weniger untergeordneten Platz anzuweisen. Denn der geschäftige epische Geist, welcher den allmächtigen Geist der Welt begreifen will, ist darin eins mit dem Humor, der von der Sehnsucht nach der absoluten Idee nicht minder tief ergriffen und sich ebenso wenig wie jener an dem thatlosen Schwelgen in der Idee genügen läßt, sondern auf seine Weise zeigen will, »daß das Individuum, gemein, wie 222 es ist, dennoch teil hat an der ewigen Herrlichkeit der absoluten Idee; daß die absolute Idee leer wäre, wenn sie sich nicht in den besonderen Ideen auseinander legte, und daß die besonderen Ideen wohl durch das Ideal notdürftig repräsentiert werden, ihr eigentliches vollkräftiges Leben aber doch nur in der Gesamtmasse aller ihrer Individuen haben, mithin die absolute Idee so wenig ohne das Individuum wie das Individuum ohne die absolute Idee gedacht werden kann.« Siehe die Abhandlung: »Der Humor. Eine Uebergangsstufe« in »Vermischte Schriften« des Verfassers. I, p. 141 ff. – Ich würde mich noch heute voll zu meiner damaligen Auffassung und Darstellung bekennen, wenn es mir gelungen wäre, die Grenzlinie zwischen Humor und Kunst eben so scharf zu ziehen wie die zwischen Humor und Philosophie. Ich hatte auf das entscheidende Walten der Phantasie einen zu geringen Wert gelegt – ein schlimmer Fehler freilich, über welchen nachzudenken ich nun zweiundzwanzig Jahre Zeit gehabt, und den ich, wie seitdem schon wiederholt, so in dem Folgenden des obigen Textes zu verbessern mich bemüht habe. Im Uebrigen darf ich behaupten, daß meine Theorie des Humors von den hier und da aufgetauchten Gegnern nicht einmal verstanden, geschweige denn widerlegt ist.

Auf seine Weise will das der Humor zeigen; aber diese Weise ist, wie wir bereits oben feststellten und jetzt weiter ausführen müssen, keineswegs die des epischen Geistes, der, als ein poetischer Geist, schlechterdings kein anderes Organon als die Phantasie hat: die reine Formthätigkeit, die Thätigkeit des Formens und Bearbeitens des betreffenden Seelenzustandes, also auch des Humors, dessen oft nur rein gedankliche Resultate sie zu gestalten, das heißt in Personen, das heißt in Handlung umzuprägen hat, ebenso wie sie die Ansätze einer Form, die der Humor häufig macht, erst gleichsam mit ihrer Wärme bebrüten und zu organischen dichterischen Gebilden entwickeln und ausrunden muß.

Daß ein so großes Resultat auch ohne Zuhülfenahme des Ich, als Helden und Trägers der Idee, erreicht werden kann, dafür steht als leuchtendes Beispiel für alle Zeiten der Don Qui 223jote da, wo eine tiefsinnige und umfassende humoristische Weltanschauung auf rein objektivem Wege dargestellt, das heißt in Handlung umgesetzt ist.

Wie weit man auch mit jener Zuhülfenahme vom Ziele entfernt bleiben kann, das zeigten uns klärlich die Werke der Sterne, Thümmel u. s. w. Auch Vischer mit seinem »Auch Einer« würde hier zu nennen sein, wenn ihn die herrliche Weite seines Weltblickes und die ehrfurchtgebietende Tiefe seines sittlichen Pathos nicht weit über jene subalternen poetischen Geister erhöbe und er überdies an sehr vielen Stellen seines Romanes, zumal in der ganz köstlichen »Pfahldorfgeschichte«, unwiderleglich klar zeigte und bewiese, daß nicht der Humor ihn, sondern er, als rechter Dichter, den Humor voll in der Gewalt hat., auf die mit Recht jenes schneidende Schillersche Wort von dem Halbbruder des Dichters paßt, weil ihre Phantasie wie ein intermittierender Strom nur hier und da vollkräftig gestaltenschaffend zu Tage tritt, um sich dann wieder auf lange Strecken in den labyrinthischen Höhlengängen der blanken Satire und des abstrakten Humors zu verlieren.

Aber auch ganz echten Dichtern, wie Gottfried Keller in seinem »Grünen Heinrich«, mag der Versuch nicht voll gelingen, wenn sie zu fest an dem Ich und seinen individuellen Erfahrungen kleben bleiben und so aus der Prosa der pragmatischen Autobiographie nicht rein herauskommen, um dann, gleichsam zum Ersatz der fehlenden reicheren Erfindung, ästhetische oder philosophische Parabasen zu interpolieren, die, wie geistvoll und interessant immer, von dem Ich-Helden entweder gar niemals, oder wenigstens nicht auf seiner dermaligen Entwicklungsstufe ausgehen können.

So giebt es denn, soll der Ich-Roman seine wahre Bestimmung erfüllen, die doch darin besteht, daß er dem epischen Dichter seine Aufgabe erleichtert, nicht darin, daß er die Arbeit des Dichters unnötig macht und an Stelle des poetischen Weltbildes 224 ein prosaisch-humoristisches Surrogat schafft – so giebt es, sage ich, nur einen Weg, einen einzigen, der zum Ziele führt.

Eben den Weg, welchen der Dichter überall gehen muß: durch die Phantasie, welche jeden Erfahrungsstoff des Geistes und Gemütes, der in sie gelangt, zu Gestalten formt oder ihn, wo das nicht möglich ist, als ein vielleicht unendlich kostbares, aber für ihre Zwecke nicht brauchbares Material zurückweist.

Und da ist es denn zuerst der Ich-Held, welchem der Dichter – und steckte noch so viel von ihm selbst darin, und wäre er es selbst – völlig objektiv gegenüberstehen, den er wirklich und in jedem Augenblick sehen muß, als vor seinen Augen sich bewegenden und (in dem erschöpfenden ästhetischen Sinne des Wortes) handelnden Menschen.

Mit diesem Siege der Phantasie über ihren hartnäckigsten Gegner: die sich vordrängende, nach schrankenloser Entfaltung strebende Subjektivität, ist eigentlich der Prozeß entschieden. Hat sie das Ich so bewältigt, daß sie es wie ein Fremdes, Drittes behandeln kann, fallen ihr die wirklichen Dritten von selbst zu; wird sie auch von ihnen nichts verlangen, als was sie ihrer besonderen Individualität nach und zwar wiederum nur in der besonderen Stimmung, wie sie die besondere Situation bedingt, zu leisten imstande sind. Und das wird ihr um so leichter werden und sie wird in einen Irrtum kaum verfallen können, da sie diese Dritten (ebenso wie das zu einem Dritten gewordene Ich) niemals anders als in ganz bestimmten Situationen erblickt. Mit einem Worte: es ist die alte objektive Methode, bloß modifiziert, und zwar dergestalt, daß sie, mit der nötigen Vorsicht angewandt und von der nötigen Kraft getragen, an Handlichkeit und Wirksamkeit um ein Erkleckliches gewinnt, ohne an Sicherheit das mindeste einzubüßen.

Man versuche bei dem »Vicar of Wakefield« von dem unsäglichen Zauber zu abstrahieren, den die subjektive Färbung 225 darüber breitet, und von einigen anderen Eigentümlichkeiten abzusehen, welche jeder Ich-Erzählung eigentümlich sind und von denen weiter unten die Rede sein soll – was bleibt? Nichts als Bewegung, nichts als Handlung, nichts als das Abrollen der Geschicke einer in innigen Kontakt gebrachten Anzahl von Menschen, das so mit Notwendigkeit vor sich gehen muß, weil die Menschen eben diese und keine anderen sind und sich nicht anders bewegen, nicht anders handeln, in ihrem Kontakt mit den anderen zu keinem anderen Ende gelangen können. Der Ich-Dichter-Held stellt weder über sich selbst noch über irgend einen Dritten auch nur die kleinste Reflexion an, für deren Richtigkeit er nicht den vollgültigen Beweis lieferte, indem er die betreffende Person die Feuerprobe des Handelns durchmachen läßt; ja, er könnte, wenn es einzig auf das Verständnis der Charaktere und der Handlung ankommt, dieser Reflexionen sich enthalten (wie sich ihrer der objektive Dichter enthalten muß), nur daß sie dem Ich-Erzähler völlig natürlich kommen, nur daß wir uns wundern würden, wenn sie ihm bei der betreffenden Gelegenheit nicht kämen.

So, wenn der Vicar nach jener obigen Schilderung der Schönheit seiner beiden Töchter also fortfährt:

»Das Temperament einer Frau ist gewöhnlich nach dem Schnitt ihrer Gesichtszüge geformt. Olivia wünschte mehrere Anbeter, Sophie, den einen sich zu sichern. Olivia war oft affektiert aus zu großem Verlangen, Gefallen zu erregen; Sophie verschleierte sogar ihre ausgezeichneten Eigenschaften aus Furcht, Anstoß zu geben. Die Eine unterhielt mich mit ihrer Lebhaftigkeit, wenn ich heiter, die Andere mit ihrem Verstand, wenn ich ernst gestimmt war. Aber diese Eigenschaften wurden niemals bis zum Uebermaß gesteigert, und ich habe sie oft ihre Charaktere für einen ganzen Tag austauschen sehen. Ein Trauerkleid hat meine Kokette in eine Zurückhaltende verwandelt, und eine neue 226 Garnitur von Bändern ihrer jüngeren Schwester mehr als die ihr von Natur zugeteilte Lebendigkeit verliehen.«

Wie könnte der Mann anders schreiben, indem er jene friedlichen Tage ungetrübten Glückes in der Erinnerung zurückruft und zugleich der bitteren Stunden denkt, die jenen folgten und aus denen schließlich doch ein mäßiges Glück, wie es den Menschen beschieden ist, resultierte? Wollte der objektive Dichter so den Schleier von der Zukunft heben, würden wir uns diese Indiskretion mit Recht verbitten Gewisse direkte Prophezeiungen, wie sie vereinzelt in der Odyssee, häufiger in der Ilias vorkommen, finden, falls sie nicht spätere Interpolationen sind, wenn nicht ihre Rechtfertigung, so doch ihre Erklärung nur in dem Umstande, daß die Sänger nach dieser Seite dem Hörer nichts mitteilen konnten, was derselbe nicht schon ohnedies wußte und woran sie ihn folglich, zur Erhöhung der tragisch-feierlichen Stimmung, als an den dunklen Schicksalshintergrund, auf dem sich die Götter- und Heroengeschichten abspielten, von Zeit zu Zeit erinnern zu müssen oder zu dürfen glaubten., wie wir es für Affektion nehmen dürften, hielte der Ich-Dichter mit seinem besseren Wissen geheimniskrämerisch zurück.

Zu entscheiden, wie weit er dies Licht des besseren Wissens vor den Augen des Lesers in die Zukunft seiner Personen – den Ich-Helden eingeschlossen – fallen lassen soll, oder wo umgekehrt retrospektive Blicke in die Vergangenheit derselben besonders wirksam sind, dazu gehört für den Ich-Dichter der feine Takt der Phantasie und die Delikatesse des Herzens, von denen jene obige Stelle und noch so viele andere im »Vicar« diktiert sind. Aber wenn schon verhältnismäßig einfache Aufgaben ohne die Anwendung so seltener Eigenschaften nicht wohl gelingen würden, werden dieselben zu einer wahrhaften Zauberrute in den Händen des Dichters von »David Copperfield«.

Mit »David Copperfield« habe ich den besten Ich-Roman genannt, den ich kenne; der mir als ein möglich vollkommenes Beispiel der Species bei diesen theoretischen Erörterungen immer 227 vorgeschwebt hat, und zu dessen Zustandekommen wahrlich die günstigsten Sterne kulminieren mußten. Ein Beobachter par excellence, von, dem sein Biograph und vertrautester Freund erzählt: »Meine intime Kenntnis seines Wesens führte mich dahin, unbedingten Glauben in die Versicherung zu setzen, die er einmal wie immer von sich machte: daß er niemals Ursache gehabt, den Eindruck zu verbessern oder zu verändern, welchen er in seinen Knabenjahren von irgend jemandem empfangen, den er in späteren Jahren, als ein erfahrener Mann, daraufhin wieder prüfen durfte.« J. Foster: The Life of Charles Dickens. Tauchnitz ed. I, 42. Und bei dem sich, wie wir hinzufügen müssen, diese wunderbare Gabe schärfster Beobachtung nicht auf die Menschen, als ihr ausschließliches Objekt, richtet, sondern immer und unweigerlich auch das Milieu in seiner weitesten Bedeutung: das natürliche und gesellschaftliche Drum und Dran der Menschen mit in ihren Kreis zieht; der also die conditio sine qua non des epischen Poeten im höchsten Maße besitzt und mit dieser Grundbedingung in analogem Grade das, was ihn selbstverständlich erst zum Poeten macht: Phantasie. Und der diese aus dem beständig zuflutenden Stoff so exquisit scharfer und umfassender Beobachtung wie aus unerschöpflichen Quellen genährte Phantasie zuerst tastend an novellistischen Skizzen Auch die Pickwick-Papers kann man noch nicht anders bezeichnen., dann immer sicherer, zuversichtlicher an objektiven Romanen künstlerisch prüft und schult. Und der nun, in der vollsten Kraft der Mannheit, auf der höchsten Stufe seiner künstlerischen Entwicklung angelangt, sich zu einem neuen Werke zusammenrafft, einem Werke, das gleichsam die in den früheren Werken zerstreuten Teile der Idee, die er sich von der Welt gemacht, in einem allumfassenden Bilde eines Menschenlebens widerspiegeln soll. Und, um dies letzte zu erreichen, jetzt erst kühn und ganz thut, was er bisher nur zögernd und halb gethan: zu diesem für ihn einzig wahrhaft 228 typischen Menschen sich selbst, zu diesem die Welt, wie er sie versteht, widerspiegelnden Leben sein eigen Leben nimmt. Und sich doch auch hier wiederum nicht an die individuelle Erfahrung sklavisch bindet, sondern als freier Künstler über seinem Stoffe: sich selbst, steht und diesen Stoff nach rein ästhetischen Gesichtspunkten formt und erweitert, um zu der Idealität und Totalität des Weltbildes zu gelangen, soweit ein moderner epischer Dichter überhaupt dahin gelangen kann – hier haben wir Charles Dickens und seinen »Copperfield« – zugleich die wundervollste praktische Bestätigung unserer Theorie vom Roman im allgemeinen und vom Ich-Roman im besonderen.

So im besonderen, daß jede Seite einen Beleg bietet für die herrliche Freiheit, mit welcher sich der Dichter jener dem Ich-Roman eigentümlichen Methode der Darstellung bedient, kraft derer er die unergründliche Tiefe seiner subjektiven Empfindung allemal in die Dinge legen kann, ohne das wirkliche Wesen derselben anzutasten, d. h. ohne die Objektivität im mindesten zu beeinträchtigen.

Jede Seite! und dennoch muß ich mir erlauben, ein paar Stellen zu excerpieren, um noch einen Vorteil der Methode klar zu machen, von welchem wir bis jetzt kaum im Vorübergehen gesprochen haben.

Wir lesen im dritten Bande der Tauchnitz Edition p. 106. im Beginn des »Ein anderer Rückblick« überschriebenen Kapitels:

»Und wieder laßt mich verweilen bei einer denkwürdigen Periode meines Lebens. Laßt mich beiseite stehen, während in schattenhafter Prozession die Bilder jener Tage, die meinen eigenen Schatten begleiten, an mir vorüber ziehen.

Wochen, Monde, Jahreszeiten gleiten dahin. Sie scheinen wenig mehr zu sein als ein Sommertag oder ein Winterabend. 229 Jetzt ist die Gemeindewiese, auf der ich mit Dorn promeniere, allüberall in Blüten, ein Feld von eitel Gold; und jetzt liegt das Heidekraut unsichtbar in Klumpen und Büscheln unter einer Decke von Schnee. Im Nu glänzt der Fluß, der durch unseren Sonntagsspaziergang fließt, in der Sommersonne, furcht sich unter dem Winterwind oder verdickt sich mit treibenden Eisstücken. Schneller als jemals ein Fluß zum Meere rann, glänzt er auf, verdunkelt sich und rollt dahin. – –

Laßt mich nachdenken, was ich erreicht habe!

Ich habe das grause stenographische Myster bewältigt. Ich erziele damit ein ganz respektables Einkommen. Ich genieße eines hohen Rufes für alles, was zu der Kunst gehört, und bin einer von zwölf, die für eine Morgenzeitung die Parlamentsdebatten zu berichten haben. Nacht für Nacht protokolliere ich Voraussagungen, die sich nie erfüllen, Versprechen, die niemals gehalten werden, Erklärungen, welche die Sache nur verdunkeln sollen. Ich wälze mich in Worten. Ich bin so weit hinter den Coulissen, um den Wert des politischen Lebens taxieren zu können. Ich bin in dieser Beziehung ein völliger Ungläubiger und werde niemals bekehrt werden.

Ich habe mich noch auf einem anderen Wege ans Licht gewagt. Mit Furcht und Zittern bin ich unter die Schriftsteller gegangen. Ich schrieb heimlich irgend ein kleines Etwas und sandte es an ein Magazin, und es wurde in dem Magazin veröffentlicht. Seitdem habe ich mir ein Herz gefaßt und eine ganze Reihe Kleinigkeiten geschrieben. Jetzt werde ich regelmäßig dafür honoriert. Alles in allem bin ich wohl daran; wenn ich mein Einkommen an den Fingern meiner linken Hand zähle, komme ich über den dritten Finger hinaus bis zur Mitte des vierten.

Wir sind von Buckingham Street nach einem allerliebsten kleinen Cottage verzogen, nahe dem anderen, das ich im Auge hatte, als der Enthusiasmus zuerst über mich kam. Meine Tante 230 aber (die ihr Haus bei Dover gut verkauft hat) wird dort nicht bleiben, sondern beabsichtigt nach einem noch viel winzigeren Cottage in nächster Nähe überzusiedeln. Was bedeutet das? Meine Heirat? Ja!«

Ich würde dem Feingefühl des Lesers zu nahe treten, wollte ich ihn darauf aufmerksam machen, wie in dieser Darstellung durch die massigen Stämme der Thatsachen die ätherischsten subjektiven Lichter huschen, hier das Dunkel zu Tagesklarheit erhellend, dort ein wundervolles Clairobskur, überall ein zauberisches Leben schaffend; ich will ihn auch nicht an die Vista erinnern, die sich plötzlich bei den Worten: ich bin in dieser Beziehung ein völliger Ungläubiger u. s. w. weit in das Leben des Ich-Dichter-Helden aufthut so plötzlich, natürlich, gerade wie man in einem wirklichen Walde durch eine Schneise in die Ferne bis an den Horizont sieht – aber wie viel Seiten würde wohl der objektive Dichter beanspruchen, um uns zu erzählen, wozu dem Ich-Dichter die wenigen Zeilen genügen?

Wohl nur der objektive Dichter selbst ist imstande, voll das Gewicht dieser Frage zu ermessen. Er weiß, welch herrliche Zucht der Phantasie, aber auch welch grausame Fessel seine Methode ist: wie sie ihn zwingt, Schritt für Schritt vorwärts zu gehen; wie sie ihm jeden eigentlichen Sprung in der pragmatischen Darstellung zu einer ästhetischen Unmöglichkeit macht. Den Laien möchte ich an das unbehagliche Gefühl erinnern, das ihn beschleicht, wenn der Dichter denn doch diesen Sprung versucht. Auch versucht ihn keiner, außer in der äußersten Not – einer Not, die unweigerlich aus einem Fehler in der Komposition hervorgegangen ist, – und er wird seine ganze Kunst aufbieten, um den unästhetischen Hiatus, so gut es gehen will: etwa, durch Rekapitulationen, die eine der Personen aus diesem oder jenem Grunde anzustellen veranlaßt wird u. s. w., zu überbrücken. Die aus dem Inneren in das Innere arbeitende Phantasie duldet 231 ebensowenig eine Unterbrechung ihrer Formen wie die malerische oder plastische, und es ist deshalb auch die Zeit, die sie mit einem Anlauf durchmessen und ausfüllen kann, verhältnismäßig beschränkt, wie für jene der Raum. Die Zeit, welche die Ilias ausfüllt, sind nur wenige Tage, wenn wir die neun abziehen, während deren Apollos Geschosse das Griechenheer decimieren, und ein paar andere kürzere Unterbrechungen, die aber eigentlich keine sind, da uns getreulich berichtet wird, was während derselben geschieht; und so spielt sich auch die ganze Handlung der Odyssee während einer Frist ab, die eine Woche nicht viel übersteigen dürfte, abgerechnet selbstverständlich die Ich-Erzählung des Helden von seinen Faten auf der Irrfahrt bis zur Ankunft auf Scheria.

Nun aber diese Ich-Erzählung.

Dieselbe zerfällt bekanntlich in zwei Teile, den sehr kurzen: VII, 241 bis 297, in welchem (also in 56 Versen) Odysseus dem Alkinoos und der Arete seinen ganzen siebenjährigen Aufenthalt bei der Kalypso inklusive der Landung auf Scheria selbst und der Begegnung mit Nausikaa berichtet; und den langen: IX bis XII, mit Einschluß des so anmutigen kleinen Intermezzo des Gespräches zwischen dem Erzähler, der seinen Bericht abbrechen möchte, und seinen Wirten, welche ihn in demselben fortzufahren bitten. Vier Gesänge also, aber auch der Inhalt voller dreier Jahre, welcher darin erschöpft wird – Jahre, in denen der Held auf den Siebenmeilenstiefeln der Ich-Erzählung von Abenteuer zu Abenteuer die ganze bewohnte Erde durchstreift, ja über deren Grenzen hinaus bis in das geheimnisvolle Reich der Toten dringt und so, als die größte seiner Thaten, für einmal wenigstens die Sehnsucht der epischen Phantasie stillt, die eben nichts Geringeres begehrt, als ein Spiegelbild der Welt in ihrer Breite und Weite zu schaffen.

Freilich nur eine Illusion, und die nur den glücklichen Men 232schen eines primitiven Zeitalters vergönnt war, für welche das Wunder zu gutem ästhetischen Recht bestand, weil sie es auch im Denken nicht überwunden hatten. Schon der Simplicissimus, wenn er im sechsten Buche zu diesem Mittel greift, thut es »der Zärtlinge halber, die keine heilsame Pillulen können verschlucken, sie seien dann zuvor überzuckert und vergöldt« Simplicissimus VI. Buch, 1. Kap. Ausgabe von H. Kurz., ist also von seinem Dichterstuhl auf die satirische Kanzel gestiegen, um von dort mit phantastisch-allegorischen Träumen dieselbe Welt zu bessern und zu bekehren, die er vorher so meisterlich dargestellt, um sie freilich im letzten Kapitel des fünften Buches zuletzt so gründlich zu verfluchen.

Um so willkommener nun muß uns Modernen, die wir ein für allemal auf die freundliche Beihülfe des Wunders zur scheinbaren Erweiterung des Weltbildes zu verzichten haben, die wir ausschließlich auf Darstellung des Natürlichen angewiesen sind, jener Vorteil sein, welcher dem Ich-Erzähler aus der Freiheit erwächst, mit der er das Tempo seiner Erzählung je nach Bedürfnis verlangsamen oder beschleunigen kann.

Und er hat diese Freiheit, weil er einmal die Kontinuität der Geschichte (die nie aufgehoben werden darf) gleichsam durch sein Dasein fortwährend dokumentiert, auch wenn er nicht wie Odysseus in Person vor seinen Hörern steht, sondern aus den Blättern des Buches, die er ja selbst geschrieben, zu den Lesern spricht. Und das andere Mal, weil er, wie wir gesehen haben, als einer, der in Wirklichkeit bereits die ganze Bahn durchlaufen, nun, wo er sie in der Erinnerung nochmals durchläuft, wo er auch steht, immer im Mittelpunkte dieser Bahn steht und, da er dieselbe immer von einem Endpunkte bis zum anderen überblickt, dem Leser und Mitbeschauer stets zu dem rechten Point de vue verhelfen kann.

233 Wir haben oben an dem kleinen Excerpt aus dem »Copperfield« gesehen, wie d. h. mit wie kaum merkbar feinen Mitteln ein Meister der Erzählungskunst das zu bewirken imstande ist. Aber selbst das ehrliche »So lebten wir mehrere Jahre in einem Stande großen Glückes« des Vicar of Wakefield, wie viel ästhetischer ist es als der folgende Erzählungshiatus, den ich bei einem objektiven Erzähler finde, indem ich sein neuestes Buch Queen Titania. By Hjalmar H. Boyesen. New-York 1882. Mein verehrter transatlantischer Freund wird in dem Umstande, daß ich gerade auf ihn exemplifiziere, hoffentlich nur den Beweis sehen, wie eifrig ich seine reizenden jüngsten Novellen gelesen, und nicht etwa die Absicht, seine Erzählungskunst herabzusetzen. Es handelt sich hier eben nur um eine Vergleichung der Darstellungsweisen. aufschlage. Ich gebe die Stelle in extenso, nachdem ich mir erlaubt, behufs des nach allen Seiten hin lehrreichen Vergleichs, das oben begonnene Citat aus dem »Vicar« zu vervollständigen:

»So lebten wir mehrere Jahre in einem Stande großen Glückes; womit nicht gesagt sein soll, daß wir nicht manchmal jene kleinen Reibereien auszuhalten gehabt hätten, welche uns die Vorsehung schickt, um den Wert ihrer Gaben zu erhöhen. Mein Obstgarten wurde oft von den Schuljungen und die Milchsatten meiner Frau von den Katzen oder den Kindern geplündert. Der Squire konnte es nicht unterlassen, manchmal bei den pathetischsten Stellen meiner Predigt einzuschlafen und seine Frau ebenso, die Höflichkeiten meiner Frau in der Kirche mit der bloßen Andeutung eines Knixes zu erwidern. Aber wir überkamen bald das durch dergleichen Ereignisse verursachte unbehagliche Gefühl, und gewöhnlich wunderten wir uns nach drei oder vier Tagen, wie sie uns jemals hatten ärgern können.«

Nun der Er-Erzähler:

»Die ersten vier Jahre von Quintus Bodills Aufenthalt in dem Lande der Freiheit waren äußerst ereignislos. Seine 234 Zeit wurde hauptsächlich mit Abfassen von Geschäftsbriefen ausgefüllt und mit dem Sich-Amerikanisieren, welcher letztere Prozeß zweifellos keine bewußte Handlung ist, sondern eine langsame psychologische Fermentation, die allmählich unsere originale Alte-Welt-Substanz in etwas Reiches, Neues und Seltsames verwandelt. Auf alle Fälle war Quintus ganz damit einverstanden, daß sein verwandeltes Selbst nach dem Ablauf von vier Jahren ein feinerer und wertvollerer Artikel war als das primitive Nordlands-Selbst, welches er in der ›Melanesia‹ herübergebracht; und er sah mit souveränem Mitleid auf die naiven Ansichten herab, die er damals von der Welt gehabt.«

Also genau dieselbe Aufgabe: die Ueberbrückung von ein paar »ereignislosen« Jahren, aber wie verschieden gelöst! wie spielend leicht und anmutig von dem Ich-Dichter-Helden, der sein eigenes Gesicht mit milder Ironie im Spiegel der Erinnerung dieser Jahre betrachtet! wie mühsam und verhältnismäßig reizlos von dem objektiven Dichter, der die Reflexion zu Hülfe rufen und seinerseits dem Helden jenen ironischen Spiegel vorhalten muß!

Wie sehr nun diese Leichtigkeit der Fortbewegung das epische Geschäft fördert, liegt auf der Hand. Sie erlaubt dem Dichter, größere Zeiträume in verhältnismäßig kürzerer Frist zu durchmessen, indem er, wie Hermes über das unwirtliche Meer, über minder Wichtiges und Interessantes hinweg eilt, um da Fuß zu fassen, wo ihn Schönes und Bedeutendes zum Verweilen einladet. Und so bringen uns denn die meisten Ich-Romane das Leben ihrer Helden von der Geburt bis in die ersten Mannesjahre, während der objektive Roman fast durchgängig mit den Jünglingsjahren des Helden einsetzt, um an der obigen Grenze ebenfalls Halt zu machen. Daß es hier und da auch einem objektiven Dichter gelingt, dasselbe Pensum auf einem nicht größeren Raume abzuarbeiten, weiß ich sehr wohl; aber es handelt sich hier nicht 235 um die Möglichkeit der Lösung der Aufgabe, sondern um die relative Leichtigkeit derselben. Und dann ist noch immer die Frage, wie der Dichter zu seinem Ziele kam: ob mit mühsamen, aber kunstgerechten Rekapitulationen (man denke an Wilhelm Meisters Relation seiner Jugendgeschichte, über welcher Marianne einschläft!) oder in waghalsigen Sprüngen, von denen die Kunst nichts wissen will, trotzdem sie freilich der Muskelkraft und Schwindelfreiheit unsrer Romanleser in dieser Hinsicht das Aeußerste ungestraft zumuten darf und – zumutet.

Und hier ist nun endlich zu fragen, wie es doch geschehen mag, daß eine Methode der Erzählung, welche dem Dichter so große Vorteile gewährt – Vorteile, die fast die beispiellose Gunst der Verhältnisse und Bedingungen, unter denen der antike Epiker arbeitete, auszugleichen scheinen –, alles in allem so selten zur Anwendung kommt?

Man kann über die Antwort auf diese Frage nicht im Zweifel sein.

Die Ich-Methode wird darum so spärlich beliebt, weil ihre Anwendung zwei gewaltige Schwierigkeiten birgt.

Von der ersten dieser Schwierigkeiten haben wir bereits öfter sprechen müssen. Es ist die Gefahr des Mißbrauchs der dem Dichter-Subjekt durch den Ich-Roman gewährten Freiheit – eine Gefahr, welcher zwar die Epiker von Gottes Gnaden: die Goethe, Goldsmith, Dickens, entgehen; die mehr im allgemeinen geistreichen, als mit dichterischer, speciell epischer Phantasie begabten Autoren aber: die Sterne, Thümmel u. s. w., rettungslos unterliegen. Und der sich doch wiederum nur diese letzteren aussetzen dürfen, weil sie, in der Hauptschlacht geschlagen, dennoch aus dem auf eigene Faust angezettelten Nebengefecht als Sieger, sogar als glänzende Sieger hervorgehen können. Was bliebe aber für die, welche nicht einmal ein geistvolles »Ich«, das uns für die Unzulänglichkeiten des »Romans« durch seine 236 genialen Aperçus, durch seine brillanten satirischen, seine gemütreichen humoristischen Parabasen entschädigt, zu dem Entscheidungskampfe des Ich-Romans mitbrächten? Es ist schwer zu sagen, denn in Wirklichkeit hüten sie sich weislich, sich in solche Fährlichkeit zu begeben, sondern ziehen gemächlich mit in dem großen Haufen der Armen, von denen, da sie nichts sind und nichts können, es unrecht wäre, zu verlangen, daß sie etwas zur Förderung und zum Glanz der litterarischen Republik beitragen sollten.

Die zweite Schwierigkeit liegt in dem Stück Unnatur, das der Ich-Roman von vornherein in sich birgt, und hier kann keine höchste Kunst des Dichters völlige Abhülfe schaffen.

Es verhält sich aber damit folgendermaßen:

Wenn der Dichter des objektiven Romans seine Menschen, wo und wann es ihm gut dünkt, vor sich fordert und sie ihre tiefsten Geheimnisse offenbaren läßt, so finden wir das in der Ordnung, denn er ist allgegenwärtig und allwissend wie die Muse, welche der homerische Sänger anruft, ihm die Abenteuer und Leidenschaften seiner Helden zu sagen und zu singen. Es ist das eine Fiktion, aber eine völlig berechtigte, durch den Kunstgebrauch geheiligte, ja durch das Wesen der Kunst erforderte.

Auch der Ich-Roman kommt ohne die Allgegenwart und Allwissenheit des Dichters nicht zustande; aber – und dies ist der verhängnisvolle Unterschied – der Dichter, der zugleich der Held, d. h. ein Mensch ist und nicht an eine Gottheit oder abstrakte göttliche Kraft appellieren darf – muß diese seine Gegenwart, dieses sein Wissen in jedem einzelnen Falle legitimieren. Der Ich-Roman ist von Anfang bis zu Ende ein Kampf um diese Legitimation. Die Schwere des Kampfes zu ermessen, ist wohl nur dem möglich, der selbst auf dem Platze gestanden und sich erinnert, welche Welt von Mühe es ihn gekostet, zwischen dem Helden und einer anderen Person, die sich im gewöhnlichen Verlauf der Dinge 237 und nach Lage der Verhältnisse gar nicht hätten treffen können, trotz alledem ein Rendezvous zu arrangieren. Und wie er trotz seines gründlichsten Abscheus vor dem Lauschen an der Wand sich doch zu der widerwärtigen Rolle verstehen mußte, weil es sonst schlechterdings unmöglich war, hinter ein gewisses Geheimnis zu kommen, das eben nicht länger Geheimnis bleiben durfte. Und wie er mit einem: »Ich sehe sie heute nach dreißig Jahren so deutlich, wie ich sie damals sah!« oder: »Wie genau ich mich dieses Gespräches erinnere!« sich und den Leser darüber wegzutäuschen suchte, daß die betreffende Deutlichkeit in Wirklichkeit ein psychologisches Wunder wäre, und daß es jede Kraft des Gedächtnisses übersteigt, nach Verlauf von so und so vielen Jahren ein stundenlanges Gespräch Wort für Wort zu wiederholen.

Zu welchen verzweifelten Mitteln der geängstigte Dichter in solchen Verlegenheiten greift, dafür bietet uns die Ich-Erzählung des Odysseus ein klassisches Beispiel.

Er hat berichtet, wie die Gefährten die Rinder des Helios geschlachtet. Auch bei dieser Affaire ist er nicht Augen- und Ohrenzeuge gewesen, da er unterdessen durch die Insel schweifte und überdies geschlafen hat; aber er mochte ja leicht, was geschehen und wie es geschehen, hinterher erkennen und von den Genossen erfahren. Doch nun eilt Lampetia zu Helios und sagt's ihm an; Helios wieder hinauf zum Olymp und klagt es Zeus und den unsterblichen Göttern; Zeus verspricht dem Beleidigten ausgiebige Rache. Und der Ich-Erzähler, der denn doch merkt, daß dies alle menschenmögliche Glaubwürdigkeit einfach übersteigt, der Erzähler – mit welch ehrbarer Miene der Schalk das vorgebracht haben mag! – fährt feierlich fort:

Solches hört ich darauf von der schöngelockten Kalypso,
Die, wie sie sprach, von Hermeias, dem Thätigen, selbst es gehöret. Odyssee XII, v. 389. 290. Sollten die Verse, und dann auch wohl die vorhergehenden, von V. 376, wie ich fast glauben möchte, interpoliert sein, so würde dadurch die Beweiskraft des Falles für meinen Zweck nicht im mindesten alteriert werden.

238 Aber den armen Modernen kommt in solchen Nöten kein plaudersüchtiger Götterbote. Da ist es denn oft ergötzlich und manchmal betrübsam, anzusehen, wie sie sich abmühen, um aus der Schule schwatzen zu können, in der – sie nicht gewesen; oder aber umgekehrt, sich die Augen zuhalten müssen, um nicht zu sehen, was klar ist wie der Tag, sie aber nicht sehen dürfen, weil es sonst zu früh für sie tagen würde. Wieder ein andermal müssen sie sich an Händen und Füßen fesseln, um nicht zu thun, was jeder andere an ihrer Stelle unzweifelhaft gethan hätte. Man denke an die Starblindheit des guten Vicar gegenüber dem Mr. Burchell, dem doch der Baronet aus jeder Naht des fadenscheinigen Rockes sieht! an die übermenschliche, die Geduld des Lesers ermüdende Geduld Copperfields mit dem schurkischen Uriah Heep! an – aber weshalb die endlose Liste der Verlegenheiten fortsetzen, in welche der Kampf mit dem Stück Unnatur in seiner Aufgabe den Dichter des Ich-Romans auf Tritt und Schritt bringt! Der aufmerksame Leser mag sie aus seiner Lektüre mit Leichtigkeit ad libitum verlängern!

Dennoch möchte ich denen, welche zu der Aufgabe die beiden Hauptsachen mitbringen, nämlich ein Ich, das wirklich etwas erfahren hat, und die Phantasie, um das erfahrungsmäßige Ich zu einem idealen Ich empor zu läutern, raten, an derselben ihre Kunst zu versuchen. Es ist eine wundersame Schulung und zugleich ein unfehlbarer Prüfstein des Talentes. Hier oder nirgends können sie erfahren, ob die epische Muse sie in das Allerheiligste berufen hat, oder ob sie nur in die Vorhallen gehören, wo die Imitatoren, Kompilatoren und hoc genus omne ihr lärmendes Wesen treiben.

Ich bin zu Ende.

Der epische Prozeß ist vollständig durchlaufen. Er begann 239 mit dem modernen dichterischen Ich, das, im Stich gelassen von der heroischen Sage, ja von der traditionellen Stoffwelt der Novelle und des Romans, gebunden an die Beobachtung, wie es die epische Phantasie immer ist, seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse nahm und erzählte in einer Geschichte, deren Held und Träger der Idee (der Weltanschauung und Welteinsicht, wie sie sich bei ihm gebildet) es selbst war. (Werthers Leiden,)

Das dann zu der Einsicht der doppelten Unzulänglichkeit dieses Vorgehens kam, indem es einerseits Gefahr lief, in der Enge und Beschränktheit seiner individuellen Erfahrungen stecken zu bleiben, ohne die Idee (das Weltbild) auch nur annähernd darstellen zu können; andererseits, um die Idee dennoch herauszubringen, auf Darstellung verzichten zu müssen, die Idee abstrakt zu geben und so ins Grenzenlose, d. h. Unkünstlerische zu geraten.

Wie es nun diesen Gefahren zu entgehen suchte, indem es aus sich (dem gebundenen Ich) ein Er machte, dem es beliebige Erlebnisse andichten könne und dadurch eine größere Freiheit gewönne, die es indessen keineswegs mißbrauchen, im Gegenteil nur nach den Gesetzen der (objektiven) Darstellung gebrauchen wollte und so jener zweiten Gefahr zu entrinnen gedachte, die ihm aus der unkünstlerischen Grenzenlosigkeit der Idee entgegen drohte. (Wilhelm Meisters Lehrjahre.)

Wie es abermals erkennen mußte, daß auch dieser Weg nicht zum Ziele führe, da die erlangte Freiheit schließlich alles in allem nur ein Schein war, indem es trotz seiner Metamorphose in ein Er im wesentlichen an seine eigenen Erfahrungen gebunden blieb und so den Zirkel des Bildes nur um ein Geringes erweitern konnte, um ein so Geringeres, als die künstlerisch obligatorische (objektive) Darstellung in dieser Form trotz aller bis zum Uebermaß angewandten Mittel die Unendlichkeit der Idee nicht zu erschöpfen vermochte, im Gegenteil ein großer peinlicher Rest blieb, aus welchem die ästhetische Kritik die Fehlerhaftigkeit 240 der ganzen Rechnung deduzierte. (Schillers Urteil über Wilhelm Meister.)

Wie es nun auf ein Auskunftsmittel sann, diesen Rest, wenn nicht aufzuheben, so doch bis auf ein Minimum herabzumindern, indem es das Er wieder in ein Ich zurückverwandelte, das, als ein mit demselben Grad der Freiheit erfundenes und ausgestattetes wie das Er, sich derselben verhältnismäßigen Vorzüge wie jenes erfreute und überdies, als ein integrierendes Glied des Kunstwerks, das Recht und die Pflicht gewann, mitzusprechen, seine Meinungen und Einsichten zu äußern und dadurch wesentlich zur Herausstellung der Idee auf legitimem Wege beizutragen.

Wie sich nun schließlich dieses Auskunftsmittel als ein höchst gefährliches erwies in den Händen von solchen, die es zur Verfolgung ihrer von den dichterischen weit entfernten, meist humoristisch-satirischen Sonderzwecken mißbrauchen wollten, vielmehr infolge ihrer unpoetischen Natur mißbrauchen mußten (Sterne); um sich freilich, angewandt von echten epischen Dichtern, auf das herrlichste zu bewähren und einen Roman zu ermöglichen, in welchem der Dichter der einzig legitimen (objektiven) Darstellungsweise nicht das mindeste vergab und doch durch die angewandte Modifikation derselben seinen Standpunkt zu einer ästhetischen Höhe freiester humoristischer Weltübersicht steigern konnte, die das moderne epische Ideal zu verwirklichen scheint, wie die homerischen Gedichte das klassische verwirklichten. (Copperfield.)

Ich bin zu Ende, wie man mit einem Thema zu Ende sein kann, das nur ein kleiner Ausschnitt aus einem großen Ganzen ist, in welches es auf allen Punkten hinüber weist und hinüber strebt.

So mögen diese Versuche denn als ein Beitrag für den gelten, welcher es nach mir unternehmen wird, uns dieses Ganze in seinem Umfang und im Zusammenhang seiner Teile vorführen.

241 Es wäre möglich, daß wir dem Trefflichen nicht so bald begegneten. Er müßte immerhin drei Qualitäten vereinigen, von denen jede einzelne schon ihren Mann ziert: ausgebreitete intime Kenntnis der Litteratur, strenge philosophische Schulung, bewährte poetische Praxis.

Bis er kommt, reden wir eben vom Roman, so gut wir es verstehen: der Litterarhistoriker, der Philosoph und der Dichter; und halten wir es für kein Geringes, wenn wir uns untereinander über einen und den anderen Punkt verständigen können.

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