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III.
Der Held im Roman.

Mit besonderer Beziehung auf
George Eliots Middlemarch.

(1874.)

Wenn ich in die Ueberschrift dieser Untersuchung, welche ein bereits in »Finder oder Erfinder« angeschlagenes Thema auszuführen bestimmt ist, den Titel eines der bedeutendsten englischen Romane der Neuzeit mit aufgenommen habe, so ist es, weil mir derselbe, indem er sich gegen gewisse epische Gesetze, die ich klar stellen möchte, in einer fast beispiellosen Weise auflehnt, zur Demonstration der Abwege, auf welche der Dichter bei der Nichtbeobachtung jener Gesetze gerät, ganz besonders geeignet scheint.

Ich habe in dem vorhergehenden Aufsatze (das Gebiet des Romans) nachzuweisen gesucht, daß es sich überall, wo die epische Phantasie waltet, schließlich gar nicht um den Menschen handelt, wie er sich als Individuum darstellt, in dieser oder jener besonderen Situation, erfüllt von diesem oder jenem Gefühl, oder in Konflikt mit einem andern Individuum als handelndes Wesen unter dem Druck dieser oder jener Leidenschaft, sondern vielmehr um die Menschheit, um den weitesten Ueberblick über die menschlichen Verhältnisse, um den tiefsten Einblick in die Gesetze, welche das Menschenleben regieren, welche das Menschentreiben zu einem Kosmos machen.

Nun giebt es zwei Wege, auf denen der Romandichter diesem Ziele – das ich mit einem Worte: die epische Totalität nennen möchte – entgegenstrebt.

Der eine ist, daß er in seiner Dichtung Gestalten über Gestalten vorführt, Ereignisse auf Ereignisse, Fakta auf Fakta häuft, Handlung in Handlung schlingt.

68 Der zweite, daß er, um die Sprünge zuzudecken, welche die konkrete Darstellung etwa läßt; um dem endlichen Faktum womöglich eine unendliche Bedeutung zu geben, und so den Leser, vielleicht auch nur sich selbst, scheinbar auf die höchste Höhe der betrachtenden Uebersicht zu heben, die Reflexion zu Hülfe nimmt, die er aus den im Roman von ihm geschilderten Zuständen, dem Charakter der dort auftretenden Personen, vielleicht auch nur aus seiner (des Dichters) individueller (von jenen Zuständen und Personen ganz abgesehener) Erfahrung hervorleitet; auch wohl diese Reflexion mit dem Ausdruck seiner individuellen Empfindung begleitet.

Diese beiden Mittel sind in ihrem innersten Wesen verschieden.

Das erste liegt seiner Natur nach nicht nur völlig innerhalb des Bereiches der epischen Kunst, sondern ist sogar das einzige, dessen sich der Romandichter, solange er Dichter sein will, bedienen darf. Der Fehler kann also nicht in der Qualität des Mittels, sondern nur in der falschen Anwendung, nicht in dem Gebrauch, sondern in dem Mißbrauch desselben bestehen.

Das zweite liegt völlig außerhalb des Bereiches der epischen Kunst; ja, ist dem Wesen derselben diametral entgegen. Ich kann mich nicht enthalten zur Feststellung dieses Kardinalpunktes, auf die Gefahr hin, dem Folgenden vorzugreifen, einen Gewährsmann zu citieren, dessen tiefe Einsicht in das epische Wesen, wie in das aller Poesie, noch immer nicht hinreichend geschätzt wird, und auf dessen Autorität ich mich in der Folge dieser Blätter noch oft berufen werde, ja, noch viel öfter berufen würde, wenn ich dadurch den Text nicht mit Noten zu überbürden fürchtete. Es ist dies Friedrich von Schlegel, und die betreffende Stelle findet sich in seiner »Geschichte der epischen Dichtkunst der Griechen« (Ges. Werke. 2. Original-Ausgabe. Wien 1840. I. 98) und lautet: »In einer Dichtart, wo alles Dargestellte nur möglich scheinen soll, wird sich natürlich vieles finden, welches durchaus ungeschickt ist, wirklich zu scheinen. Da nun jede Aeußerung eigener Empfindung oder eigentümlicher Beziehungen des Dichters in seiner Person ihrer Natur nach gegenwärtig und wirklich scheinen muß, so begreift sich's, warum in einem Epos … eine einzelne lyrische Betrachtung oder ein Hervortreten des Dichters eine so unangenehme Störung verursacht. Es entsteht dadurch ein Widerstreit in der epischen Darstellung; die kleinste lyrische Beimischung versetzt die Hörer in die Gegenwart, und macht, daß sie auch von allen übrigen Teilen des Gedichtes den Schein der lebendigen Wirklichkeit erwarten, und fordern, was sie nicht leisten können. Da sich nun jede auch noch so episch behandelte und ausgeführte persönliche Aeußerung des Dichters dem Lyrischen nähert, so ist es eine große Vortrefflichkeit des Epos, wenn das Werk auch nicht eine Spur von seinem Urheber enthält; wie es die Alten so häufig mit Erstaunen und Lob von den homerischen Gesängen bemerken.« – Es sollte mich freilich nicht wundern, wenn die epischen Dichterlinge nach dieser Probe auf das weitere Studium eines Schriftstellers verzichten, der sich so frank und frei zu Wahrheiten bekennt, welche auf sie wie der Anblick des Gorgonenhauptes wirken müssen.

69 Das durch und durch poetische homerische Epos macht ausschließlich von dem ersteren Gebrauch (in der Ilias allerdings mit einer Ausgiebigkeit, die manchmal zum Uebermaß und deshalb unkünstlerisch wird, ohne aber jemals unpoetisch zu sein); sonst ist mir auf dem Gebiete der Epik kein Produkt bekannt, das sich von dem zweiten gänzlich frei hielte.

Allerdings mit unendlicher Verschiedenheit des Grades, von welcher man im allgemeinen nur feststellen kann, daß d as epische Vermögen und die Reflexion für gewöhnlich in genauester Proportion stehen, so daß, wo das Maximum jenes, das Minimum dieser sich findet, und umgekehrt. Das mehr als sporadische Auftreten der Reflexion bei bedeutenden Dichtern ist deshalb ein sicheres Zeichen, daß ihre Kraft entweder nachgelassen hat, oder die vorliegende epische Aufgabe mindestens das Maß ihrer Kraft übersteigt; wo die Reflexion von vornherein wuchert, ist dagegen episches Unvermögen meistens auch von vornherein zu konstatieren. Sehr, sehr selten sind Fälle, wo ein wahrhaft bedeutender Dichter beide Mittel – das richtige und das falsche – mit derselben verhängnisvollen Energie in Anwendung bringt.

Ein solcher Fall liegt nun eben in George Eliots Middle 70march vor, und der Fall ist um so merkwürdiger, als jene Mittel, die sich infolge der Grundverschiedenheit ihrer Natur für gewöhnlich einander ausschließen, hier so durchaus zusammen- und aufeinander wirken, daß der schrankenlose Mißbrauch des einen gewissermaßen die entsprechende Schrankenlosigkeit nicht nur möglich macht, sondern geradezu hervorruft, und auf diese Weise ein vollständiger circulus vitiosus entsteht, der den sonderbarsten und interessantesten Beitrag zu dem giebt, was ich die Pathologie des Romans nennen möchte.

Bevor wir indessen auf den interessanten Fall näher eingehen können, müssen wir erst einmal festzustellen versuchen, worin der legitime Gebrauch des legitimen Mittels besteht; wie weit der Dichter mit der ausschließlichen Anwendung desselben möglicherweise kommen kann; und wo die verhängnisvolle Grenze liegt, an welcher er entweder Halt machen muß, oder doch nicht weiter zu kommen vermag, ohne Gefahr zu laufen, ins Grenzenlose zu geraten, d. h. das Kunstwerk zu zerstören.

Und hier ist es nun, wo in der Technik des Romans der Begriff und das Wesen des Helden bestimmend eingreift, aus dessen Lehre wir deshalb jetzt das Notwendige mitzuteilen haben: ob der Roman einen Helden haben muß? wer der Held ist? welches seine Würden und Bürden sind?

Der aber hätte von dem Weben und Walten der epischen Phantasie keine Ahnung, welcher daran zweifelte, daß der Roman einen Helden haben muß, und zwar deshalb: weil der epische Dichter anders als Gestalten schaffend gar nicht gedacht werden kann; weil für ihn über einem Roman brüten und über Gestalten brüten, vollkommen dasselbe, ja, – wenn für so tief verborgene Dinge überhaupt noch bestimmte Bezeichnungen möglich und zulässig – weil der erste Keim des Romans und die erste dämmernde Ahnung einer bestimmten Gestalt absolut identisch sind. Die Entstehung eines Romans ohne diese Gestalt wäre für 71 den Aesthetiker, was für den Naturwissenschaftler die generatio aequivoca: ein Gedankending, dessen Vorkommen in der Wirklichkeit noch niemand nachgewiesen hat.

Ich habe von einer »ersten dämmernden Ahnung« dieser Gestalt gesprochen, und dadurch vielleicht der Vermutung Raum gegeben, als gleiche ihre Entstehung jedesmal dem zögernden, tastenden Aufdämmern des Morgenlichtes, aus dem nach und nach in der Horen Tanz sich der volle strahlende Tag entwickelt. Das ist aber keineswegs immer der Fall; für die kleine Welt, die der Dichter brütend in seinem Gehirne hält, kann auch ein plötzlicher Werde-Licht-Moment kommen, wie er nach der mosaischen Sage für die große kam. Aber ob allmählich, oder auf einmal geboren; ob in zerfließenden Umrissen, oder fast schon ausgerundet vor des Dichters inneres Auge tretend – die Gestalt, welche sich zuerst von den schwankenden, die sich zudrängen, loswindet und loslöst, ist der Held.

Allerdings vorläufig nur so zu sagen: de jure, nach dem Rechte der Erstgeburt.

Ob er es auch de facto bleiben, ob er sein Recht zu behaupten, seine Obliegenheiten, Funktionen und Pflichten zu erfüllen imstande sein wird, ist eine ganz andere Frage, die uns sofort beschäftigen soll. Vorläufig müssen wir feststellen, daß einen solchen Erstgeburts- oder De-jure-Helden jeder Roman hat, auch der schlechteste, auch der, in welchem die erste Person nachträglich ihre Machtvollkommenheiten an eine zweite, oder gar an mehrere Personen abtritt; auch der Roman, von welchem selbst der Autor behauptet: er habe keine derartige Person, er habe keinen Helden, wie z. B. Thackeray von »Vanity fair«. Wenn hier der Zusatz »without a hero« nicht, wie ich vermute, eine Malice des Autors war und soviel sagen sollte, als: glaubt nicht, daß ich es auf die arme Becky Sharp gemünzt habe! ich meine euch alle, alle! keiner von euch ist um ein Haar besser als Becky 72 Sharp! – im ästhetischen Sinne ist Becky Sharp die Heldin von Vanity fair und nicht bloß de jure, sondern auch de facto.

Was verstehe ich unter dem letzteren Ausdruck? oder: welche Obliegenheiten, Funktionen und Pflichten hat die erste Person zu übernehmen und zu erfüllen, um faktisch der Held – oder die Heldin, was ja natürlich ästhetisch gleichbedeutend ist – des Romans zu sein?

Hier lassen sich nun mit vollkommener Deutlichkeit zwei Seiten in der Stellung des Helden unterscheiden.

Die eine ist sein Verhältnis zum Dichter, ein Verhältnis, das ich, im Gegensatze zu dem zweiten, von dem wir sofort sprechen werden, ein rein persönliches nennen möchte. Ein rein persönliches Verhältnis und ein sehr inniges, das auch, wenn alles gut gehen soll, so bis zum Ausgang bleiben muß.

Der Held ist nämlich gewissermaßen das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht, in diesem Roman wenigstens, in diesem Stadium seiner Entwicklung wenigstens; und, wenn das zu viel gesagt ist – meistens wird es nicht zu viel sein –, so ist der Held doch ganz sicher der Gesichtswinkel, unter welchen uns der Autor das Stück Menschentreiben, das er aus dem Ganzen ausschneidet, gerückt hat, unter dem er wünscht, daß wir es betrachten möchten.

Außerdem aber – und das ist noch viel wichtiger und damit beginnt seine offizielle Mission – der Held ist der Maßstab, welchen der Zeichner auf seiner Karte notiert; die Staffage, die der Maler in seiner Landschaft anbringt, damit man an ihr die Bäume im Vordergrunde und an den Bäumen im Vordergrunde die Hügel des Mittelgrundes und an diesen wieder die Berge messe, welche den Horizont abschließen. Ob dieser Maßstab ein Zoll oder eine Linie, ob diese Staffage ein Mammut oder eine Maus – das ist völlig gleichgültig; aber es muß oben und unten und rechts und links und vorn und hinten dieselbe 73 Relation stattfinden. Durch die ganze Odyssee wandelt der Sohn des Laertes, und Gefährten, Lotophagen und Zyklopen, ja die ewigen Götter selbst – man mißt sie, man wägt sie, man schätzt sie nach dieser unveränderlichen Gestalt; – durch die ganze Ilias, durch allen Staub des Blachfeldes, durch den heißen Tag und die ambrosische Nacht immer und immer schauen wir des Achilleus mächtiges Bild, schauen es selbst noch dann, wann er ganze Gesänge hindurch hinter den Falten seines Zeltes verschwunden ist, und wissen jeden Augenblick, daß ihm der Telamonier Ajas bis an die Augen und Odysseus bis an die Schulter und Patroklos bis ans Herz reicht.

Diese Einheit des Maßstabes bedingt die Kongruenz der Teile und damit die Harmonie des Ganzen. Man denke sich, wenn das möglich wäre, Achilleus in der Odyssee nicht als Schemen, sondern handelnd auftreten, – es wäre, wie der Gott, der, sich erhebend, das Gewölbe des Tempels sprengt.

Aber der Held – und darin besteht der schwierigste und zugleich wichtigste Teil seiner offiziellen Aufgabe, an welchem er dann nur zu oft scheitert – der Held ist auch, wie die Grenze der ins Weite und Breite strebenden epischen Kraft so auch die Schranke gegen das Hereinbrechen des Unorganischen, des Grenzenlosen d. h. er ist die Bedingung und Gewähr des Kunstwerks.

Und damit verhält es sich folgendermaßen:

Wenn wir es überhaupt als die Aufgabe des Romandichters bezeichnen können, das Leben so zu schildern, daß es uns als ein Kosmos erscheint, der nach gewissen großen ewigen Gesetzen in sich und auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt, so muß er, mit einer unwiderstehlich logischen und ästhetischen Notwendigkeit, aus diesen vielen Menschen einen aussondern, der gleichsam als der Repräsentant der ganzen Menschheit dasteht, und mit dessen Leben und Schicksalen er das Leben und die Schicksale anderer Menschen in eine Verbindung bringt, die in ihrer Innigkeit und 74 Unabweisbarkeit ein Abbild und Typus der Solidarität der Menschengeschicke im großen und ganzen ist.

Vielmehr sein soll, als solches gelten soll. Denn, da der einzelne Fall doch niemals die Regel konstituieren kann; ein Menschenleben aber, noch so trefflich herausgearbeitet, noch so folgerichtig mit dem Lauf der Welt in Verbindung gesetzt, mit den Geschicken der Nebenmenschen kombiniert, doch immer nur ein Einzelnes bleibt, an welchem immer nur ein aliquoter Teil des allgemeinen Menschenloses illustriert werden kann, so kann auch, so zu sagen, die Rechnung nicht ohne Rest aufgehen, der Beweis nicht ganz erbracht werden, das Abbild das Urbild nicht völlig decken.

Diese unvermeidliche Differenz zwischen dem epischen Mittel und dem epischen Ziel mit Genauigkeit zu bestimmen, und zu untersuchen, ob in der Kunst nicht selbst eine Möglichkeit geboten ist, der Gefahr zu begegnen und wie weit dies etwa gelingen möchte – dazu gehört eine sehr schwierige und sehr umfangreiche Untersuchung, welche in einem folgenden Aufsatz unternommen werden soll.

Indessen wird man, ohne jener Untersuchung vorgreifen zu wollen, aus der ersten Betrachtung heraus sich leicht über zweierlei verständigen.

Erstens: soll jener Rest auf den möglich kleinsten Ausdruck gebracht werden; der einzelne Fall thunlich viel beweisen; das Abbild dem Urbild möglichst entsprechen, muß es der Natur dieses nachzukommen suchen, d. h. in jedem Punkte Energie, Thätigkeit, oder, da es sich in der Poesie doch nur um Menschen handelt: Handlung sein.

Zweitens: wie wir im wirklichen Leben an die Folgerichtigkeit der Handlungen von Personen nicht glauben, die nicht mit sich selbst übereinstimmen, sich selbst nicht treu sind, so wird in der Dichtung die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Per 75sonen dadurch bedingt, daß ihr Schöpfer, der Autor, ihnen treu bleibt, d. h. nicht nachträglich etwas anderes von ihnen verlangt, als wozu er sie ursprünglich geschaffen hat, und sie mithin – in Folge dieser ihrer ursprünglichen, und eigentlichen Natur – zu leisten imstande sind.

Das gilt nun von allen Personen, zumal aber von der Person der Personen, dem Helden, der mit dem Roman geboren wurde, durch dessen Augen der Dichter den ersten Blick in seine fingierte Welt warf, dessen Hand er nicht aus der Hand lassen, dem er sich nun und nimmer seelisch entfremden darf, oder aber – er thäte besser, sich ein und für allemal von ihm zu trennen und – einen neuen Roman anzufangen.

Denn thut er es nicht, mutet er dem Helden die Fortsetzung seiner offiziellen Pflichten zu, nachdem sich das persönliche Verhältnis zwischen demselben und ihm (dem Dichter) gelöst hat, so entstehen daraus für den Roman die unliebsamsten Folgen.

Zuerst, daß der Held schließlich ganz wo anders hingelangt, als er – und mit ihm der Leser – ursprünglich gewollt, weil sein Ziel infolge der Wandlung, die mit dem Dichter vor sich gegangen, mittlerweile ein ganz anderes geworden ist, wenn er überhaupt noch ein Ziel hat.

Oder konnte der Preis und die Zier aller edlen Ritter, als er an jenem ewig denkwürdigen Julimorgen, »durch eine kleine Thür des Hinterhofes aufs Feld hinaus« zog, den übelgemachten Helm auf dem Kopfe und in dem Kopfe alle die Abenteuer und großen Thaten, zu welchen ihn die Vorsehung erlesen – konnte er ahnen, daß er einst »ruhig und christlich auf seinem Bette« sterben würde, »nachdem er alle Sakramente empfangen und mit vielen und nachdrücklichen Reden die Ritterbücher verwünscht?« Wohl uns, daß er es nicht konnte! Und wohl uns, daß Simplicius Simplicissimus erst im 24. Kapitel des 76 V. Buches die Welt verläßt und verflucht, in die er seiner Zeit eintrat »von Natur geneigt, das Junkernhandwerk zu treiben, wann er nur den Verlag und das Werkzeug dazu hätte!« Und daß der feurige Liebhaber Mariannens und phantastische Theaterschwärmer in seinem Blut noch keinen Tropfen spürte von dem steifstelligen Verehrer Makariens und kosmopolitischen Auswanderungsagenten!

Das ist das eine Schlimme; schlimmer aber ist, daß mit dem Helden der Roman selbst, so zu sagen aus den Fugen geht.

Wie bleich ist in Cervantes Buch die Sonne geworden, die dem Ausritt des Helden so strahlend leuchtete! wie hohl der Maskenscherz am Hofe des scherzhaften herzoglichen Paares! wie ist es am Ende so hohe Zeit, daß der Held das Zeitliche segnet! – Und wie heillos zerfasert sich bei Grimmelshausen, wenn Simplex nach Moskau zum »Knan« zieht, die bis dahin so prachtvolle Geschichte; wie verzerrt sich ihm die einst so kräftig-ständige Welt in dem allegorischen Hohlspiegel des Mummelseeabenteuers! und welch trübselig unverhofftes Ende, wenn der ci-devant »grüne Jäger« zuletzt in Verzweiflung den Spiegel samt der Welt zerstört und zerschlägt! – Und wenn Eckermann, was gar nicht anzunehmen, nicht geflunkert hat: welch sonderbares Bild, wie der brave Famulus ein Fascikel nachträglich aufgefundener Novellen in den letzten Teil der Wanderjahre hineinstopft, während der Meister lächelnd zusieht, wie ein Vater, wenn der Junge dem alten Drachen, mit dem er selbst schon gespielt hat, noch ein paar Ellen mehr an den Schweif bindet. Der Drache wird darum doch nicht in den Himmel steigen, und das Publikum wird es nicht merken und wenn auch! was liegt daran! was liegt in der That daran, ob das schattenhafte Treiben Wilhelms auf der Plattform der Observatorien oder in den Boudoirs verblaßter schöner Seelen durch eine Episode mehr oder weniger unterbrochen wird! was liegt überhaupt noch an Wil 77helm, der längst ein Name geworden, und was ist Name als »Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut!«

Ich habe diese Beispiele gewählt, weil alle drei Romane, jeder in seiner Art, klassisch sind, und weil sie für meine Auffassung der Stellung des Romanhelden zum Autor einer- und zum Roman andrerseits ein klassisches Zeugnis ablegen. In allen drei Romanen wächst der Autor aus dem Helden heraus, oder vielmehr über den Helden hinaus; und in demselben Maße – wie denn die beiden Verhältnisse in der genauesten Relation stehen – wird der Held für den Roman zu klein. Dann aber tritt ein Punkt ein, wo sich alle Verhältnisse in kaum noch definierbarer Weise verschieben, wo der Held aufgehört hat, von irgend einer wesentlichen Bedeutung für den Roman zu sein, wo aber auch der Roman selbst seine Bedeutung für den Autor verliert, weil derselbe in seiner notwendigen künstlerischen Begrenztheit keinen Raum mehr bietet für die Weltweite und Weltbreite, die das Auge des Autors überblickt, und die auszumessen, und, wo das nicht geht, wenigstens anzudeuten, jetzt sein wichtigstes, ja, schließlich einziges Geschäft ist.

Das heißt aber: es hat sich jener Widerspruch offenbart, von dem wir oben sprachen: der Widerspruch zwischen dem epischen Mittel der konkreten Darstellung und dem unausrottbaren Zuge der epischen Phantasie in das (künstlerisch) Grenzenlose.

Und hier ist auch der Punkt, wo selbst die schaffenskräftigsten Meister und geborenen Epiker nicht verschmähen, sich, um wenigstens annähernd zu ihrem Ziele zu gelangen, jener unkünstlerischen Mittel zu bedienen, die ich unter der Kollektivbezeichnung Reflexion zusammenfasse.

Doch darüber werden wir uns an einer andern Stelle zu verständigen haben.

Hier muß nur noch konstatiert werden, daß in dieser Metamorphose des Helden einerseits und der Verstellung und Ver 78rückung des ursprünglich gesetzten Zieles andrerseits eine zufällig ungewöhnlich lange Zeit, welche der Dichter auf die Abfassung des Romans verwandte, so daß inzwischen in ihm selbst eine bedeutende Wandlung vor sich gehen konnte oder mußte, keineswegs als bestimmender Faktor mitzuwirken braucht. Die verhängnisvolle Wandlung kann sich in dem Dichter auch vollziehen, oder aber: der Dichter kann den ursprünglich eingenommenen Standpunkt mit einem zweiten, vielleicht noch einem dritten vertauschen, während er an dem Roman nicht länger schrieb, als es zu geschehen pflegt. Nur daß es im letzteren Falle ein gut Teil schwerer ist, die einzelnen Stadien des Prozesses anzugeben, als in jenen Fällen, wo historisch feststehende Daten dem Aesthetiker sein Geschäft so wesentlich erleichtern. Die Kritik wird mit kühner Stirn docieren, wie und warum auf die »Lehrjahre« die »Wanderjahre« folgen mußten; und in Verlegenheit geraten, wenn man nach dem Warum und nach dem Wie fragt des Prozesses, der aus einem Romane der ursprünglich »Dorothea Brooke« hieß, oder doch hätte heißen müssen, einen andern machte, für den kaum ein anderer Titel als »Middlemarch« übrig blieb.

Wenn diejenige Gestalt, welche sich von den »zudrängenden« zuerst loslöst und in deutlichen Umrissen vor des Dichters inneres Auge tritt, im ideellen Sinne, und praktisch und faktisch der Held des Romanes ist, so ist Dorothea Brooke die Heldin des Eliotschen Romanes, und »Dorothea Brooke« oder »Miß Brooke« der ursprüngliche Titel des Buches gewesen. Ich glaube das mit solcher Bestimmtheit versichern zu können, als wäre alles in meinem Kopfe und nicht in dem von George Eliot vor sich gegangen. »Eines jener weiblichen Wesen, die, von dem Thatendrang der heiligen Theresa erfüllt, kein thatenreiches Leben fanden, in welchem ein fortwährendes Sichentfalten weitwirkender Thätigkeit für sie möglich war; vielleicht nur ein Leben voller 79 Irrungen fanden, das Produkt der schlimmen Verbindung einer gewissen Seelengröße und der Erbärmlichkeit der Verhältnisse; vielleicht ein tragisches Fiasko, dem kein geheiligter Sänger die nachträgliche Weihe gab und das so unbeweint in Vergessenheit sank« Middlemarch - Prelude. Ashers Collection. – ein solches Wesen zu schildern mit den trüben und traurigen, vielleicht tragischen Erfahrungen seines Lebens – das war der ursprüngliche Plan. Sollte jemand daran zweifeln: die obigen der Vorrede entnommenen Worte, die ganze Vorrede sagt es – eine merkwürdige Vorrede, die, wie sie dasteht, nicht, was sonst bei Vorreden der Fall zu sein pflegt, nachher, sondern wirklich vorher geschrieben scheint, und die auch zweifellos mit den Anlagen und dem Charakter der Heldin, wenn auch nicht mit ihrem endlichen Schicksal kongruiert, sich aber zu dem ganzen Werk, in welches sie uns doch einführen soll, verhält, wie ein Villa-Portikus, durch den wir in ein Labyrinth gelangen.

Denn nur in dem ersten Akt des Dramas, das uns verheißen ist, erscheint Dorothea als die wirkliche Heldin: als der Mittelpunkt der kleinen Welt, an die sie das Schicksal gekettet hat, wie den Prometheus an den Felsen – der kleinen, kleinlichen Welt einer Landstadt von Spießbürgern mit den obligaten benachbarten Gütern verbrauchter Lebemänner und beschränkter Junker und den Pfarreien sportliebender, frömmelnder, wunderlicher, pedantischer Rektors und Vikare. Diese Welt war der (ästhetisch) notwendige Hintergrund für die Gestalt der Heldin, der dumpfe, hölzerne Resonanzboden gleichsam, über welchem die zarten Saiten ihrer Seele doppelt schmerzlich erklingen mußten; und die Schilderung dieser Welt, an welcher sie zu Grunde gehen sollte, eine Aufgabe, der sich die Dichterin sowenig entziehen konnte, als der Schilderung der Heldin selbst.

Aber, wohlgemerkt: der Hintergrund mußte Hintergrund 80 bleiben, sollte nicht der Gesichtswinkel verschoben, die Perspektive verrückt, der Plan durchkreuzt, der Hintergrund schließlich zum Vordergrund, und die Gestalt der Heldin um ihre Würde und Bedeutung gebracht werden, und so anstatt eines organischen übersichtlichen Kunstwerkes ein Konglomerat entstehen, aus welchem nun der Kunstfreund die herrlichen disjecta membra trauernd und mühsam zusammensucht.

Das aber ist es, was schließlich aus dem ursprünglich einfachklaren Plan geworden ist, und ist es auch, weshalb der Roman nicht mehr »Dorothea Brooke«, sondern – wie die Sache liegt, allerdings mit Fug und Recht und leider bezeichnend genug – »Middlemarch« heißt. Und auch wieder nicht bezeichnend genug. Er sollte eigentlich lauten: Middlemarch und diverse umliegende Dörfer.

Wie hat das so kommen können?

Ich will versuchen, die Erklärung davon zu geben, indem ich den Leser bitte, in der Erinnerung zu behalten, was wir oben von der Natur der epischen Phantasie festgestellt haben und ihrer gewaltsamen Tendenz nach Totalität, die gerade in den eigentlich epischen, schaffensfreudigen und schaffensmächtigen Geistern am gewaltsamsten auftritt.

Der Hintergrund, dessen die Dichterin nicht entraten konnte, war von vornherein kein einfacher, durfte kein einfacher sein. Im Gegenteil! daß er ein komplizierter, in tausend und abertausend Details zerbröckelnder war, das machte ihn, der Heldin gegenüber, so verhängnisvoll, das war eben ihr Verhängnis.

Und diese Kompliziertheit, dieses tausendfache Detail ist auch verhängnisvoll für den Roman geworden. Er kam jenem unwiderstehlichen Drange der epischen Phantasie, sich ins Weite und Breite zu entfalten, bevor sie daran denkt, in die Tiefe zu steigen, auf dem halben Wege gleichsam entgegen. Und wie das dann so zu gehen pflegt: was anfänglich für die Dichterin nur 81 einfache künstlerische wohlverstandene Pflicht war: die detaillierte Schilderung dieser Welt des Detail, das wurde ihr bald eine Lust. Durfte sie doch – vielleicht in einem höheren Grade als je zuvor – die meisterliche Geschicklichkeit entfalten, mit welcher sie das Mikroskop zu benutzen, die feinen und feinsten Werkzeuge der Untersuchung zu handhaben versteht! Und nun kann sie nicht müde werden, uns diese wunderliche Welt sonderbarer Geschöpfe mit allen ihren Gattungen und den Species und Variationen dieser Gattungen zu schildern, zu zergliedern; und wer möchte sagen, daß so gewissenhafte, minutiöse Studien resultatlos geblieben sind! Wenn sie uns erzählt, wie die Middlemarcher einem feurigen jungen Arzt, der sich unter ihnen ansiedeln will, seine reformatorischen Ideeen austreiben (V. Kap. 45); wie sie zu der Eisenbahn, die ihnen auf den Leib rückt, Position nehmen (VI. Kap. 56), so ist das alles so wahr und so traurig und so drollig wie nur möglich.

Und immer wieder von neuem und immer wieder neue Zwerge treten auf; das lag in der Aufgabe; einzeln sind sie ja nichts: sie sind nur mächtig durch ihre Zahl, durch ihr zähes Zusammenhalten, durch die geheimnisvolle Schnelligkeit, mit der sie kommen und verschwinden; sie können nur en masse operieren.

Aber die Masse imponiert und wenn es auch nur eine Masse von Zwergen ist. Die Dichterin bekam Respekt vor dem kleinen eifrigen, klugdummen Gesindel, dessen Macht sie sich gar nicht so groß vorgestellt hatte, das noch ganz andere Dinge konnte und vermochte, als einem armen hilflosen Weibe durch prüde Sitte, steifleinene Moral und sonstige Zwergtugenden das Herz brechen. Ja, wahrlich: die Zwerge! Die stärksten hanfenen Seile der Philister kann ein Simson zerreißen, wenn er seine Kraft zusammennimmt; aber gegen die tausend und abertausend dünnen Fäden, mit welchen die Zwerge ihn an die Pflöcke auf den Sand schnüren, ist auch der Riese machtlos. Das muß noch ein ganz 82 anderes und ganz anders interessantes Schauspiel sein! Und es ist gerade Zeit es aufzuführen: Dorothea ist in Rom, am Fußgestell des vatikanischen Apoll sich schmerzlich der unheimlichen Thatsache bewußt zu werden, daß sie eine Puppe aus Holz und Leder geheiratet hat; die Bühne ist für den Augenblick leer; den Vorhang in die Höhe! ein neues Drama beginnt, das wir nach seinem Helden einfach: »Lydgate« nennen müssen.

Es hat, wenn man will, dasselbe Thema, im übrigen aber mit dem ersten, das »Dorothea Brooke« heißt, gar nichts zu thun, sowenig, wie Dorothea mit Lydgate, die sich bei Gelegenheit von Mr. Casaubons Krankheit zum erstenmale im Leben sehen d. h. am Ende des IV. Bandes. Dorothea und Lydgates Frau Rosamunde geb. Vincy sind sich Anfang des V. Bandes noch »zwei völlig fremde Damen«, trotzdem der Landsitz Dorotheas und die Villa Mr. Vincys vor der Stadt nach aller menschlichen Berechnung keine halbe Stunde voneinander entfernt sein können. Die Fabrikantentochter verkehrt im Hause des Squire Brooke nicht; wohl! – aber zwei hervorragend schöne gleichaltrige Mädchen in einem halbstündigen ländlichen Umkreis, die sich, bis sie zwanzig Jahre geworden, nicht persönlich kennen gelernt, ja nicht einmal gesehen haben sollen – credat Judaeus Apella!

George Eliot glaubt es wahrscheinlich auch nicht; aber sie hatte zu dem wichtigen Geschäft der Introduktion früher absolut keine Zeit, wie eine Köchin, die zu viele Töpfe am Feuer hat, sich eines beiseite geschobenen Topfes erst wieder erinnert, wenn er überkocht. Der Vergleich ist nicht edel; aber das tertium comparationis ist richtig.

Da ist noch eine dritte Geschichte: es ist die von Fred Vincy und Mary Garth; da ist noch eine vierte: es ist die Bulstrodes; und das will nicht bloß alles erzählt, sondern wenn Apollo und 83 die neun Musen wollen, in einen Roman gebracht sein. Aber die Götter sind nicht gnädig. Der unendliche Fleiß, der wirklich bewunderungswürdige Aufwand von Scharfsinn, Tiefsinn, Kombinationsvermögen – es ist alles vergeblich. Eine Welt soll geschaffen werden, und sie stürzt, sie zerfällt, noch während der emsige Arbeiter Stein auf Stein zusammenträgt, Stein an Stein aneinander zu fügen sucht; und zuletzt, da nicht zusammenbleiben will, was nicht zusammengehört, zu den verzweifeltsten Hammerschlägen, zu den verzwicktesten Klammern seine Zuflucht nimmt. Der arme Ladislaw, der sich zweimal unter denselben erschwerenden Umständen von Dorothea bei Rosamunde ertappen lassen muß! Das sind so die Mittel geänstigter epischer Baumeister, die es im Plane versehen haben, »sich in Verlegenheiten Luft zu machen.«

Der arme Ladislaw überhaupt! der immer da ist, wo er nicht hingehört, und niemals kommt, wenn er erwartet wird! Er hat eine der schwierigsten Aufgaben durch das ganze Buch hindurch und zuguterletzt gar noch die gewiß nicht leichte: der »heiligen Theresa, die nichts gründet, deren liebende Herzschläge und Seufzer nach einer unerreichten Güte unter Hindernissen verzittern, anstatt sich in einer dauernden That zu konzentrieren« Prélude., zu eben dieser dauernden That zu verhelfen und mit ihr, wenn auch sonst nichts, so doch einen häuslichen Herd zu gründen.

Ja, die Steine, die nicht bei einander bleiben wollen! der Leser weiß davon zu erzählen! Wie oft sind sie ihm unter den Füßen weggerollt und er hat sie wieder mühsam zusammensuchen müssen! Ich glaube ungefähr ein Durchschnittsgedächtnis für die persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen der Personen in einem Roman zu haben, und es ist mir begegnet, daß, als sich Fred Vincy und Rosamunde Lydgate von ungefähr treffen, ich allerdings an 84nahm, sie dürften, wie so ziemlich sämtliche Personen des Romans, in irgend einem verwandtschaftlichen Verhältnisse stehen, bis es mir centnerschwer auf die Seele fiel: sie sind ja Bruder und Schwester! Und wie oft ich mich in den weniger wichtigen Relationen der Vetter- und Basenschaft u. s. w. geirrt und nicht gewußt habe, daß Herr Bulstrode der Schwager von Herrn Vincy sei, weil ich glaubte, Herr Vincy sei Herrn Featherstones Schwager, und ich mir – mit einem Lächeln der Ueberlegenheit – sagte, wie dies doch keinen Grund abgebe, weshalb jene beiden erstgenannten Herren nicht ebenfalls verschwägert sein sollten, und es sich nun endlich herausstellte, daß sich die Sache doch nicht ganz so verhielt, da Herr Featherstone nicht die Schwester von Herrn Vincy, sondern die Schwester von Herrn Vincys Frau zur Frau gehabt – ich kann noch heute ohne ein tiefes Gefühl der Scham nicht daran denken. Und dann: wie stand die Angelegenheit zwischen Fred und Mary, als wir die jungen Leute vor ein paar hundert Seiten zum letztenmale zu sehen das Vergnügen hatten? und dann –

Aber es würde ins Endlose führen, wollte ich alle die Risse und Sprünge verzeichnen, die hinüber und herüber durch »Middlemarch« laufen. Auch wäre es ganz unnötige Mühe. Niemand, der nach einiger Zeit an das Buch zurückdenkt – und das wird jeder thun, denn es sind Sachen darin, die man nicht leicht wieder vergißt – niemand wird auch nur den Versuch machen, sich dasselbe als ein Ganzes zu denken, sowenig wie er sich verschiedene Dörfer als ein Dorf denkt, weil er sie alle im Vorüberfliegen aus demselben Fenster desselben Eisenbahncoupé gesehen hat.

Und dies Bild ist nur nach der einen Seite richtig, nach der andern ist es gänzlich falsch. Das Verhängnisvolle für das Buch ist gerade, daß der Gesichtswinkel alle Augenblicke wechselt. Hier liegt der Fehler, der unausrottbar bliebe, auch wenn es der Dichterin mit Aufbietung noch größeren 85 Scharfsinns, noch größeren Kombinationsvermögens gelungen wäre, die Mängel der Komposition einigermaßen zu vertuschen.

Und hier ist auch der Punkt, der für mich der springende ist. Was in aller Welt läge daran, nachzuweisen, daß ein schlecht komponierter Roman mehr in der Litteratur existiert! Aber wie es kam, daß ein so eminentes Talent, wie George Eliot, an einer Aufgabe scheiterte, deren Lösung sie mit ihrer besten Kraft erstrebte – das zu erklären, das erklärt zu sehen, muß für jeden, der die edle Kunst des Romandichtens als Meister oder Geselle übt, ja für jeden Litteraturfreund von zwingendem Interesse sein.

Und wie nah ist die Dichterin ihrem Ziele gekommen! wie hätte sie uns um ein Kleines die Welt wirklich gegeben, die vor ihres »Geistes Auge« lag! So ganz Chaos ist, was sie uns nun schließlich bietet, ja keineswegs. Niemand kann leugnen, daß alle diese Geschichten ein gewisses geistiges Band verbindet: es ist überall der unerbittliche Kampf der bornierten Krähwinkelei und des herzlosen Philistertums gegen die Hochherzigkeit eines edlen Weibes hier, gegen den berechtigten Ehrgeiz eines tüchtigen Mannes da; gegen die bescheidenen Ansprüche eines braven Jungen, der nur eben kein Philister sein will; gegen die mühseligen Versuche eines Unglücklichen, seine inkorrekte Vergangenheit durch die Korrektheit seines späteren Lebens vergessen zu machen. Alle diese verschiedenen Menschenschicksale lassen sich, wenn nicht durch dasselbe moralische Gesetz, so doch durch dieselbe sociale Erfahrung exponieren; überdies braucht ja der epische Dichter, wie wir gesehen haben, die Breite und Weite des Menschentreibens, da es ihm, dem betrachtenden Dichter, weniger auf den einzelnen Fall ankommt, als auf umfassende Uebersicht; dennoch –

Dennoch muß der Epiker bedenken, daß diese Uebersicht, auf die ihm alles ankommt, unmöglich ist, daß er diese Uebersicht unmöglich macht, wenn er den Leser alle Augenblicke zwingt, 86 seinen Standpunkt zu verändern, so daß, was eben noch eine Höhe war, wieder zur Tiefe wird, und umgekehrt. »Dann und wann erwächst ein Schwan zu seinem Unbehagen zwischen den jungen Enten auf dem braunen Pfuhle und findet nimmer den klaren Strom und die Gemeinschaft seiner Genossen« Prélude. – sehr schön! Kämpfen wir mit dem Schwan gegen das schnatternde Gesindel; lüften wir die Schwingen mit ihm, den klaren Strom und die Gemeinschaft der Genossen zu suchen; folgen wir ihm überallhin, ziehen wir mit ihm seine pfadlosen Pfade! Wir haben gesehen, daß die stärksten Schwäne auf dieser Fahrt ins Grenzenlose ermüden (und wir mit ihnen); daß sie sich in einem und dem andern Falle, verzweifelnd an ihrer Kraft, ja an ihrem Ziele, kopfüber ins Meer stürzen – immerhin: es lohnte sich doch der Mühe, unser Horizont wurde doch mächtig erweitert, wir sehen sogar eine Zeitlang alles nur durch die Schwanenaugen und sehen die Welt harmonischer als zuvor.

Wie aber, wenn sich der Schwan plötzlich in einen Adler verwandelt? Ein Adler sieht die Welt anders wie ein Schwan; was dem einen recht ist, ist dem andern gar nicht billig. Wir wissen das wohl, sind aber drum doch nicht imstande, in jedem Augenblicke diese Gerechtigkeit und Billigkeit gegen die Betreffenden walten lassen zu können. Dorothea erscheint uns viel stärker, Lydgate viel schwächer, als sie in Wirklichkeit sind. Nicht, weil die Dichterin in der Darstellung, ihrer respektiven Kämpfe und Leiden etwas versehen hätte, durchaus nicht! Es ist im einzelnen alles vollkommen richtig, und wirkt doch falsch, weil wir fortwährend einen Maßstab mit dem andern vertauschen müssen. So konstituiert und bekräftigt die Menge der Beispiele nicht sowohl die Regel, als sie dieselbe vielmehr in Frage zu stellen scheint; und wir geraten schließlich in die Stimmung eines Schülers, der 87 die plane Regel zur Not begreift, dem aber die Menge der Ausnahmen völlig den Kopf verwirrt. In dem Maße, als die Dichterin ihren Horizont zu erweitern strebt, zieht sich derselbe für uns zusammen, und anstatt uns auf die Sternenhöhe zu heben, von der sie träumt, erweckt sie in uns die Empfindung, als ob wir durch ein Labyrinth gekrochen wären. Man vergleiche nach dieser Seite hin die gehobene Stimmung, in der wir einen verhältnismäßig so einfachen Roman wie »Waverley« aus der Hand legen, mit der gedrückten, in welche »Middlemarch« auch den robustesten Romanleser versetzt.

Dabei verdient erwähnt zu werden als charakteristisch und prototypisch für die schließlich resultierende Resultatlosigkeit nach jener, der innern Seite, daß auch die äußere, ich meine die wirkliche Welt, in der diese Menschen leben, in ganz ungewöhnlicher, besonders für englische Romandichter ungewöhnlicher Weise verblaßt und verworren ist, trotzdem es sich doch nur um das eine Städtchen und die paar umliegenden Güter handelt. Ich habe es immer für ein Kriterium echter epischer Arbeit gehalten, daß jede Gestalt sich in jedem Augenblicke voll und ganz von dem lokalen Hintergrunde abhebt, und darin stets einen der höchsten Zauber epischer Dichtungen gefunden. Ebenso müssen Tag und Stunde genau fixiert sein; müssen, sage ich, weil des Epikers Auge immer handelnde Gestalten sieht, und für seine Welt, ebenso wie für die Perception der wirklichen, die Grundvorstellungen des Raumes und der Zeit das A und das O sind. Aber wir kennen den Weg, den Hermes auf goldenen Sohlen über fischwimmelnde Fluten nach der Insel der Kalypso zurücklegt, viel genauer als den, welchen Dorothea in ihrem Wagen von Middlemarch nach Lowick Manor fährt; und ob diese oder jene Scene am Morgen, Mittag oder Abend spielt – es wird uns sogar meistens gesagt, aber – es liegt kein Morgenlicht auf der Scene und keine Mittagshelle und kein Abendschein. Und ob zwischen diesem und 88 jenem Ereignis eine Woche oder ein Monat oder ein Jahr vergangen, wir wissen es niemals mit Bestimmtheit anzugeben, und würden ganz ratlos sein, wenn nicht dann und wann gewisse vielsagende Fakta, wie die Geburt eines Baby oder dergleichen als willkommene Zeit- und Höhenmesser aus den strudelnden Wassern dieser epischen Ueberschwemmung hervorragten.

Das klingt hart, wenn man es von einem in so vieler Beziehung ausgezeichneten Buche sagt, und ist doch nicht das härteste, was wir zu sagen haben. Der Vorwurf, den wir bis jetzt der Dichterin zu machen hatten, war doch nur, daß sie sich von jener echt epischen Lust des Fabulierens so weit hat verlocken lassen, ihrer Heldin untreu zu werden; daß sie sich in der Wonne des Gestaltenschaffens, die ihr nur der Künstler nachfühlen kann, bis zum Uebermaß berauscht hat. Es war, wenn auch in etwas anderer Wendung, jener unerbittliche, verderbliche, bei den größten Meistern epischer Kunst beobachtete Widerspruch zwischen dem epischen Mittel der konkreten Darstellung und der epischen Breite und Weite, die wiederum ebenso unerläßlich ist. Aber sie hatte doch, indem sie den einen Helden mit einem zweiten und dritten vertauschte, sich noch immer des echten legitimen Mittels bedient; sie hatte noch nicht jene Sünde begangen, welche für den Künstler der Sünden größte ist, die Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst, gegen die Phantasie: sie hatte noch zu keinen Mitteln, die nicht im Bereiche der Kunst liegen, sie hatte noch nicht zu prosaischen Mitteln gegriffen.

Welches diese sind; weshalb die Dichterin, indem sie innerhalb eines und desselben Romans ihren Standpunkt und mit dem Standpunkt den entsprechenden Helden wechselte, zu demselben greifen mußte; wie sehr die Anwendung dieser Mittel im Schwange ist – nicht bloß bei George Eliot – und wie erst mit der Anwendung die edle Kunst des Romandichtens wahrhaft in Frage gestellt wird – das ist es,was mir jetzt noch aufzuweisen bleibt.

89 Welches Mittel gewährt dem Epiker seine Kunst? nur eines! wie kann er die Welt gestalten, die sich ihm gestalten soll und muß? nur auf eine Weise! nur dadurch, daß er Gestalten schafft, daß er diese Gestalten handeln läßt.

Die Sache klingt so einfach, und ist es auch wirklich; und ist so wahr, wie sie einfach ist.

Freilich sie muß auch wohl ebenso schwer sein wie einfach und wahr, oder es würde nicht von Anbeginn der epischen Kunst bis auf den heutigen Tag so sehr, so unglaublich gegen die einfache Wahrheit gefrevelt worden sein und gefrevelt werden. Schläft doch – man darf es ja sagen, nachdem die Entdeckung bereits vor längerer Zeit gemacht wurde – schläft doch zuweilen selbst der gute Homer!

Oder heißt es wach und bei der Sache und »mitten in den Dingen« sein, wie er es doch sonst ist, wenn er im ersten Gesange der Ilias V. 1 - 15, von dem Achill sagt – ich erlaube mir, da mir die Voßsche nicht zur Hand, eine prosaische wörtliche Uebersetzung zu geben: »Achill gehörte zu jenen Heldengestalten, denen eine prächtige Bewaffnung zur Erhöhung ihrer Heldenhaftigkeit zu dienen scheint. Seine Hand und sein Handgelenk waren so mächtig geformt, daß er getrost den Schild, welchen ihm Hephästos selbst geschmiedet, tragen konnte, und sein Profil sowohl wie seine ganze Gestalt und sein Behaben schienen stets durch prächtige Bewaffnung nur an Würde zu gewinnen, so daß seine ganze Erscheinung inmitten der übrigen Helden den Eindruck eines schönen Citats aus einer Odysseischen oder Nestorischen Rede in dem Munde des Thersites machte. Man bezeichnete ihn allgemein als sehr tapfer; fügte aber regelmäßig hinzu, daß sein Freund Patroklos ein besseres Herz habe. Gleichwohl trug Patroklos fast ebenso prächtige Waffen, und nur sehr scharfe Beobachter nahmen wahr, daß dieselben sich doch in etwas von denen des Achilleus unterschieden, und mit einer allerdings nur 90 geringfügigen Nüance arrangiert waren, denn die prächtige Bewaffnung des Achilleus hatte ihren Grund in verschiedenen Ursachen, von denen die meisten auch für Patroklos maßgebend waren. Das stolze Bewußtsein, Helden zu sein, war eine dieser Ursachen: die Familie der Peliden war, obgleich nicht gerade eine zeusentsprossene, doch eine sehr gute; wenn man ihrer Herkunft ein oder zwei Generationen nachging, so fand man unter den Voreltern keine Sauhirten und Ruderknechte, sondern nichts Geringeres als einen Weinbergbesitzer und einen Seeräuberkapitän; und wenn man den Stammbaum noch weiter verfolgte, so kam man auf einen klugen Herrn (âïõëçö?ñïí ?íäñá), der unter Herakles gegen die Amazonen gedient, sich aber hernach wieder dem Eurystheus angeschlossen und sich als Besitzer eines respektablen Grundbesitzes (?öíåéïò âé?ôïéï) allen Verfolgungen der Herakliden zu entziehen gewußt hatte. Ein Held von solcher Herkunft u. s. w. Das Und so weiter bitte ich in Middlemarch I., erstes Kapitel, S. 2 und ff. nachzusehen.«

Heiliger Schatten, verzeihe, daß ich moderne Kleinheit an Deiner Größe gemessen habe! Oder soll ich moderne Kleinheit um Entschuldigung bitten, daß ich sie neben eine Größe stelle, die zu erreichen sie nie hoffen darf?

Wie oft ist mir dieser Einwand der Grundverschiedenheit der Bedingungen antiker und moderner epischer Poesie und der daraus folgenden Unmöglichkeit, an beide denselben Maßstab zu legen, gemacht worden! Und doch giebt es nur einen Maßstab, und doch ist das Gesetz der epischen Phantasie für uns absolut dasselbe, wie für die Dichter der Ilias und der Odyssee: Du sollst uns Menschen handelnd vorführen, du sollst dies und nichts anderes thun, weil du nichts anderes thun kannst, ohne in demselben Moment aufzuhören, ein epischer Dichter zu sein.

Und dafür etwas zu werden, was sich zu dem epischen Dich 91ter verhält, ungefähr wie der geheime Rat zu dem Schlachtenlenker, wie der Kammerdiener zu dem Helden, wie – jene obige Parodie des Anfangs von Middlemarch zu dem Anfang der Ilias.

Sage mir niemand, daß wir Modernen zu diesen epischen Geheimratsmanieren und Kammerdienerkunststücken ein für allemal verurteilt sind! daß kein moderner Roman ohne diese Konzessionen an die Prosa – denn Prosa in des Wortes schlimmster Bedeutung ist es doch wohl! – zustande kommen könne! Ich stelle es durchaus in Abrede, selbst, wenn mir nachgewiesen würde, daß faktisch ein solcher Roman nicht existiere. So kann er jedenfalls noch einmal geschrieben werden; so wird er jedenfalls noch einmal geschrieben werden, von einem Dichter, der mit der vollkommenen Einsicht in jenes große epische Gesetz die nötige Phantasie verbindet. Die große, epische Phantasie, welche alle künstlichen d. h. prosaischen Hülfsmittel verschmäht und verschmähen darf, weil sie stark genug ist, auf sich selbst zu ruhen und sich selbst zu verbürgen. Ja, wo diese Phantasie vorhanden ist, bedarf es jener Einsicht gar nicht einmal, da die Phantasie, die epische Phantasie, gar nichts anderes kann, als Gestalten schaffen, da sie nur im Gestaltenschaffen besteht.

Und was ich nun unter Gestaltenschaffen verstehe? wie ich meine, daß der epische Dichter schaffen muß, so lange er Dichter sein und heißen will?

Ich durchsprach einst mit einem befreundeten Romandichter das für uns beide gleich wichtige Thema. Zuletzt sagte der Freund: Sie haben vollkommen recht; es giebt nur eine Darstellungsweise: alles für, alles durch die Personen! Der Dichter als solcher hat mit dem Leser direkt schlechterdings nichts zu schaffen; hat ihm kein Wort zu sagen, keines. Ich glaube, der rechte Anfang für einen Roman wäre nach dem Schema: Es waren einmal zwei Knaben, der eine hieß Paul und der andere Peter, und Paul war gut und Peter war schlecht. – Verzeihen Sie, unter 92brach ich den Freund; ich meine, Sie können diese zwei Zeilen sparen; denn von der Existenz der Knaben werden wir uns ja wohl überzeugen, wenn Sie sie selbst auftreten und irgend etwas thun lassen, was von existierenden Menschen gethan zu werden pflegt. Und dabei werden Sie auch sicher Gelegenheit finden, die Knaben bei ihren betreffenden Namen zu rufen, vielleicht auch – was sich immer besonders hübsch macht – es so einzurichten, daß einer den andern nennt. Und was das Gut- und Schlechtsein anbetrifft, so können Sie das Urteil darüber getrost dem Leser überlassen, wenn Sie ihm nur hinreichendes Material geben, und dies Material sollte ja wohl eben der Roman selbst liefern. – Wenn Sie so wollen, sagte der Freund lachend, werden Sie von unserer Romanlitteratur verzweifelt viel über Bord werfen müssen. Ich fürchte, selbst Goethe ist dann nicht mehr ohne Flecken; so zum Beispiel müssen Sie gleich die erste Zeile der Wahlverwandtschaften streichen. – Und das würde ich, erwiderte ich; und würde damit dem Altmeister und seinem Werke einen Dienst zu erweisen glauben: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule …« Nein! »Eduard hatte in seiner Baumschule …« so sollte der Roman beginnen; so beginnt der Roman, denn das Eingeschobene ist nichts als eine prosaische, gänzlich überflüssige Notiz des Dichters, der seinen Helden mit dem ersten Worte ja bereits genannt und den ganzen Roman vor sich hat, um den Leser auf hunderterlei Weise in das Geheimnis einzuweihen, daß dieser Held reich und ein Baron ist und im besten Mannesalter steht.

Dieses unglückliche »So nennen wir u. s. w.«, das ein Goethe bereits in der nächsten Zeile wieder gut macht und bei ihm wirklich nur als ein lapsus linguae angesehen werden darf, wird nun aber, Gott sei's geklagt, von den epischen Stümpern zur vielgliederigen unschönen Sprache ausgebildet; nicht zu dem einzigen, aber einem 93 der vorzüglichsten Rezepte genommen für jene pseudo-poetischen, Bettelsuppen, die überall in unserer Romanlitteratur (und der ausländischen dazu) neben hier und da guter poetischer Kost in größeren und kleineren Portionen gekocht werden und die stets ein so großes Publikum haben. Und wie könnten wir das Publikum schelten, daß es an diesen Geschmacklosigkeiten Geschmack findet und den Betrug nicht merkt, den die Dichter an ihm verüben, wenn die Herren oft selbst naiv genug sind, ihre Ware für echt zu halten, keine oder kaum eine Ahnung haben, daß sie Falschmünzer der Phantasie sind.

George Eliot hat ein wahrhaft klassisches Zeugnis für diesen seltsamen, schier unbegreiflichen Mangel an Selbstkenntnis abgelegt. Sie vergleicht sich einmal (II. Kap. 15) mit ihrem großen Vorfahren Fielding und erwähnt dessen eigentümliche, durch den ganzen »Tom Jones« befolgte Methode, in den Einleitungskapiteln zu den einzelnen Büchern seiner Geschichte »seinen Lehnstuhl auf das Proscenium zu rücken, um mit dem Publikum in dem ganzen gesunden Behagen seiner schönen Sprache« und – fügen wir hinzu – seines herrlichen Naturells »zu plaudern« – über, was man im gewöhnlichen Leben: Gott und die ganze Welt nennt. Dann fährt sie wörtlich fort: »Wir späteren Geschichtenschreiber müssen uns nicht durch sein Beispiel verlocken lassen; und wenn wir's thäten, würde wahrscheinlich unser Geplauder dünn und tendenziös ausfallen. Ich zum wenigsten habe so viel damit zu thun, verschiedene menschliche Geschicke zu entwirren, und zu beobachten, wie sie gewebt und verwebt sind, daß alles Licht, über das ich verfügen kann, auf dieses besondere Gewebe konzentriert werden muß, und nicht über jenes verlockende Gebiet sich einander bedingender Erscheinungen ausgebreitet werden darf, welches wir unter dem Worte Universum begreifen.«

Ist es möglich! ist es möglich, daß die sonst doch so scharfsinnige Frau nicht sieht, nicht ahnt, wie sie genau das thut, was 94 Fielding gethan, bloß weil jener noch den Geschmack hat, seine philosophischen und humoristischen Parabasen von der eigentlichen Komödie zu trennen, und sobald er dieselben, in seiner Eigenschaft als Schauspieldirektor, vorgetragen, für seine Person von der Bühne zu verschwinden, während sie – George Eliot – eigentlich fortwährend auf der Bühne bleibt und ihre Personen kaum einen Augenblick allein läßt!

Was hat sie aber auch nicht alles zu thun! wie muß sie hier diesem noch im letzten Moment die Falten zurecht zupfen und jenem noch ein wenig Schminke auflegen; und dem dritten noch ein Paar Sohlen unterschnallen; und dann dem Publikum, das sonst doch am Ende nicht dahinter kommt, privatim und in vertraulichem Tone mitteilen, daß »Hand und Handgelenk ihrer Heldin so schön geformt sind«, und was dergleichen wichtig-unwichtige Heimlichkeiten mehr, die alle ein paar Seiten später ihre natürliche Erwähnung und Erklärung finden!

Denn das ist das Charakteristische aller dieser diskreten und indiskreten Mitteilungen des Autors hinter dem Rücken seiner Personen in das Ohr des Publikums, daß sie – wie sie aus ästhetischen Gründen nicht geduldet werden können – so auch praktisch sich meistens als unnötig erweisen. Bedenke doch jeder Romandichter nur, daß, besonders in einem langatmigen Werke, in dem fortwährenden Hinüber und Herüber, in dem beständigen Wechsel der Stellungen, zu welchen die Personen durch die Natur der Sache, durch die sich einander ablösenden Scenen und Begebenheiten gezwungen sind, jede Seite von ihnen einmal und meistens mehrmals zur Erscheinung kommen und in das helle Licht treten muß! Bedenke er, daß es sogar fast immer unnötig sein wird, aus dem früheren Leben der Personen zu rekapitulieren, weil der Leser aus dem, was ist, sehr wohl einen Schluß wird machen können auf das, was war, sogar hinsichtlich der historischen Fakta, geschweige denn bezüglich der moralischen Entwicke 95lung. »Schon in frühester Jugend war es ihre Art gewesen, sich nicht zu zanken!« sagt George Eliot von Celia; lieber Himmel, als wenn ein verständiger Mensch auf den Gedanken kommen würde, daß ein gutmütiges Reh sein Leben als Tigerkatze angefangen! Und so beinahe auf jeder Seite der acht Bände von Middlemarch dieselbe aufdringliche Mitteilsamkeit und unnötige Dienstfertigkeit, die noch dazu im Grunde eine beständige Beleidigung für den Leser ist. Dorothea läßt sich nach einer schrecklichen Nacht, in der sie ihre Liebe begraben zu haben glaubt, ein neues Kleid bringen. Tantripp – die Kammerfrau – wundert sich über einen Wunsch, der zu der verstörten Miene der Herrin nicht zu passen scheint, »Tantripp würde niemals den Schlüssel zu diesem Rätsel gefunden haben. Dorothea wünschte sich selbst zu beweisen« – folgt nun der Grund. Das heißt, daß wir in diesem Falle, wie in tausend andern, wie überall für die Dichterin – Tantripps sind.

Wahrlich das Publikum sollte sich derartige Beweise tiefster Mißachtung seiner Verstandes- und Herzensbildung ernstlich verbitten! Aber die Sache liegt leider so, daß Dichter und Publikum sich gegenseitig in die Hände arbeiten, eine Gattung von Poesie, die keine ist, zu pflegen und unsterblich zu machen. Ist sie doch für jene ein so bequemes und billiges Surrogat der eigentlichen poetischen Arbeit! erleichtert es doch diesem die saure Mühe des Nachschaffenmüssens, des Nachdenkenmüssens! Denn die scheinbar tiefsinnigste Art der Arbeit, welche einem gewissen Publikum so erstaunlich imponiert, ist in Wahrheit nichts als eine billigste Prämie für die Gedankenlosigkeit der Leser.

Die bessere Sorte der letzteren hat nun allerdings einen Scheingrund, den ich oft habe vorbringen hören. Zugegeben, sagen sie, daß jenes alles, was du da rügst, Beiwerk, ja sogar unnötiges Beiwerk und ganz sicher keine Poesie ist, die ja nur durch die Phantasie auf die Phantasie wirken, die ja nur han 96delnde Gestalten schaffen, aber nicht über diese Gestalten und ihre Handlungen reflektieren kann – zugegeben! aber wie interessant sind diese Reflexionen nicht, können sie nicht wenigstens sein! Wie gewähren sie uns einen so kostbaren Einblick in die Werkstatt des Künstlers, in sein geheimstes Gedankenleben, in den schöpferischen Prozeß, aus welchem sein Kunstwerk hervorgeht!

Und eine solche Ironie auf alles, was Kunst heißt, hören Dichter oder solche, die sich doch gern so nennen lassen, an, ohne zu erröten, ohne zu bedenken, daß jede Köchin sie beschämt, welche weder die Rezepte, nach denen sie gekocht, noch die Abfälle der Materialien, aus welchen sie ihre Suppen, Frikassees und Braten hergestellt, sondern nur die rein servierten Gerichte in das Zimmer und auf die Tafel schickt!

Denn was wären denn jene: »So nennen wir einen reichen Baron … Wenn er etwas Unangenehmes zu sagen hatte, so pflegte Mr. Brooke … Man bedenke, daß Lydgate einer der stolzesten Menschen war … Wo der Schwerpunkt von Mr. Casaubons Charakter eigentlich lag, darüber werden uns seine Handlungen aufklären …« was ist das alles, als Rezepte und Abfälle! als Notizen, die sich der Dichter, ehe er beginnt, selbstverständlich von seinen Personen macht! als das Gerüst, auf welchem der Künstler an seinen Fresken malt! oder, wenn man will: die erste rauhe, mit Kohle flüchtig an die Wand geworfene Skizze! Jenes: »Wo der Schwerpunkt von Mr. Casaubons Charakter eigentlich lag« (IV, 371) – ist eine der köstlichsten Naivetäten in diesem Genre, im Vergleich zu welchem die Ankündigung des Cirkus: »Mademoiselle Celinde in ihren grotesken Sprüngen« … von einem erhabenen Ernste ist.

Und das nennt George Eliot, das nennen unzählige Romanschreiber mit ihr: »alles Licht, über das sie verfügen kann, auf das Gewebe der menschlichen Geschicke, welches sie zu entwirren 97 hat, konzentrieren!« Führen Sie uns Mr. Casaubon handelnd vor, Madame, und löschen Sie Ihr Licht aus!

Und nun gar jene Reflexionen, die wie der Geist Gottes über den Wassern schweben, jene tiefsinnigen Deutungen des geheimen Zusammenhangs, »welchen man Universum nennt«, (siehe oben) und gegen die sich George Eliot so sehr verwahrt! Daß diese Verwahrung erfolglos bleibt, wie der Vorsatz einer Gevatterin, nie wieder über ihre Nachbarn schlecht zu sprechen, versteht sich von selbst. Auch bin ich überzeugt, daß es ihr (und noch sehr vielen anderen Damen und Herren) gar nicht völlig klar zu machen wäre, worin denn nun so eigentlich der Unterschied besteht einer Reflexion, mit welcher der Autor – sagen wir – ein Kapitel beginnt, oder mitten in einem Kapitel die Erzählung unterbricht (das eine ist so beliebt wie das andre) und einer Reflexion, die eine Person des Romans in einer bestimmten Situation äußert bei einer bestimmten Veranlassung in der Fassung und Form, die ihrer Bildung, ihrem Charakter und Temperament und der augenblicklichen Lage und Stimmung, in der sie sich befindet, angemessen ist. Und wenn in die Ilias oder Odyssee ein Spaßvogel Sentenzen mischte, die weder Zeus noch der andern unsterblichen Götter oder auch sterblichen Menschen einer zu äußern eine bestimmte Veranlassung hätte, die aber nur ungefähr im Stil und Charakter des Ganzen wären, und – wenn die Musen wollen! – wirklich eine mehr oder weniger unanfechtbare Wahrheit enthielten, – einen Gedanken, wie er wohl dem sinnigen Leser, dem über seine Gestalten grübelnden Autor an der betreffenden Stelle kommen könnte, – sie würden es nicht merken; sie würden sich nicht wundern; sie würden vielmehr die famose Bemerkung am Rande notieren oder in ihr Album eintragen zu ewigem Gewinn!

Es ist schwer, gegen solche Verfinsterung und Depravation des künstlerischen Sinnes aufzukommen; vielleicht ganz unmög 98lich. Ich habe schon oft dies Gefühl gehabt und bin entschlossen gewesen, nicht länger diesen Don Quijote-Kampf mit den Windmühlen zu kämpfen. Dennoch: es ist ja so im allereigensten Interesse der Dichter, daß man sie für das halte, was sie sein wollen; daß man sie nicht verwechsele mit den Historikern, den Reisebeschreibern, den Moralisten, den Journalisten, den Pamphletisten, und ich weiß nicht, noch welchen Leuten, die alle nicht zur Zunft gehören; und ebenso, daß man innerhalb der Zunft die wahrhaften Künstler wieder unterscheide von denen, die von der Kunst kaum, das Handwerk verstehen. An sie, die wahrhafte Künstler sind trotz des falschen Weges, auf welchen sie sich haben verlocken lassen, weil derselbe breit und bequem scheint, und ihrer so viele sind, die darauf wandeln, – an sie wende ich mich, wenn ich schließlich, wiederum an »Middlemarch« zu beweisen versuche, wohin sie auf diesem Wege geraten.

Und hier ist nun die Stelle noch einmal und mit größerem Nachdruck auszusprechen, daß »Middlemarch« eine reiche, herrliche Fundgrube echtester epischer Poesie ist; daß die einzelnen Romane, aus denen das Buch, wie wir gesehen haben, besteht: die Geschichte von Dorothea und Casaubon, von Lydgate und Rosamunde, das Idyll von Fred Vincy und Mary Garth, die Historie von Bulstrode – jeder für sich Meisterwerke sind, die man kaum hoch genug bewundern und preisen kann; daß außer diesen Hauptteilen, von denen jeder dazu angethan ist, den Ruhm eines Dichters zu begründen und ganz gewiß zu befestigen, eine Ueberfülle von Episoden und eine Uebermenge von Nebenpersonen das schier unerschöpfliche, echt epische Genie der Dichterin auf das glänzendste beweisen; daß sie – um auch das zu erwähnen – durch die Tiefe, die Originalität und fast immer durch die prägnante Form ihrer allgemeinen Reflexionen, und das lebendige, oft geistreiche Geplauder über ihre Helden selbst den Zorn des beleidigten Aesthetikers nicht selten entwaffnet.

99 Dies alles muß gesagt werden, und will bedacht und empfunden sein, damit man sich mit dem ganzen tiefen, ästhetischen Widerwillen gegen eine Methode erfülle, welcher es in erster Linie zuzuschreiben ist, wenn eine solche Begabung, eine solche Kunst im einzelnen zu einem so ungeheuerlichen Resultat im ganzen hat führen können. Denn ich erkläre es für eine Unmöglichkeit, daß George Eliot, Frau und Engländerin und ohne eigentliche klassische und philosophische Schulung, wie sie ist, ein (im ästhetischen Sinne) so barbarisches Werk geschaffen haben würde, wenn sie ihrem Genius treugeblieben wäre, und nichts anderes hätte schaffen wollen, als was zu schaffen sie in so reichem Maße die Kraft besitzt: handelnde Menschen. Dann, aber auch nur dann würde ihr die Ueberfülle ihrer Kraft nicht verderblich, oder doch nicht so verderblich; dann, aber auch nur dann müßte ihr der Widerspruch, der darin liegt, mit den endlichen Mitteln der epischen Darstellung ein gedanklich Unendliches geben zu wollen, noch zur rechten Zeit klar geworden sein; müßte sie begriffen haben, daß ihre Vorrede nicht zu dem Buche, in dem Buche selbst das eine nicht zum andern paßt; daß Dorothea mit dem ersten Halbbande ihre Heldinnenrolle ausgespielt hat und mit Lydgates Auftreten ein neuer Roman beginnt; und wie die Risse und Sprünge denn sonst zu bezeichnen wären, welche diesen Roman, der (wie jeder andere) ein Abbild des Universums sein möchte, in ich weiß nicht wie viele Teile und Teilchen zerreißen, die kaum noch etwas miteinander gemeinsam haben, als den Deckel, in den sie der Buchbinder gebunden.

Diese Risse und Sprünge aber konnten der Dichterin entgehen, oder, wenn das ihrem ästhetischen Sinn doch allzuwenig Ehre erweisen heißt, konnten ihr erträglich dünken, weil sie dieselben mit jenen abscheulichen Reflexionen überdeckt und überkleistert hat. Ich bitte jeden, dessen Pflicht es ist, diese Dinge zu 100 verstehen, sich darauf hin den Uebergang anzusehen, welchen die Dichterin von dem zehnten Kapitel des ersten Bandes, wo Dorothea vorläufig vom Schauplatz verschwindet, zum elften macht, in welchem Lydgate, der vorher kaum angekündigt ist, nun wirklich auftritt: ob dieser Uebergang, der kein Uebergang ist, erträglich, ja nur möglich wäre, wenn die Dichterin, anstatt ihre Pflicht zu thun, und den neu auftretenden Helden sofort in einer bestimmten Situation auftreten zu lassen, unsern Blick (und ihren eigenen dazu) nicht durch allerlei Reflexlichter, die von den verschiedensten Seiten auf die verschiedensten Personen und Verhältnisse fallen, verwirrte.

Und nun freilich, nachdem für den einen Helden, mit dem man begonnen, ein anderer dran gekommen, da war nicht abzusehen, wohin das führen; da war nicht abzuwenden, daß ihrer nicht noch mehrere kommen, und aus Dorothea Brooke die »ganze Stadt« Middlemarch werden sollte …

Deshalb noch einmal und zum letztenmal: der epische Dichter muß durchaus ins Breite sich entfalten; aber, wenn er nicht unter dem Widerspruch dieses Dranges, der ihn ins Weite und zuletzt ins Grenzenlose treibt, und der ästhetischen Nötigung, ein streng umgrenztes, in sich abgeschlossenes Werk zu liefern, erliegen soll, so bleibt ihm nur ein Mittel: er wehre den sich zudrängenden Gestalten, bis des Helden fragwürdige Gestalt zu ihm getreten; dann lasse er sie und nach ihr die andern reichlich von dem Blute echten epischen Lebens, welches Handlung und nur Handlung ist, trinken; lasse sie ihre Adern ganz mit diesem Blute erfüllen, daß auch kein Tropfen kalt reflektierenden Schemenblutes mehr darin ist. Dann, aber auch nur dann kann er versichert sein, daß ihn die Fülle der Gesichte nicht mehr aus allen Sinnen ängstigen; daß die zu Körpern gewordene Schemenschar, mit dem Helden an der Spitze, ihm den heiligen Quell schützend umgeben, und sich ihm dennoch durch sie die ganze Geisterwelt erschließen wird.

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