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I.
Finder oder Erfinder?

(1871.)

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In der Auffassung und Wertschätzung künstlerischer Tätigkeit ist offenbar der Begriff, welchen wir uns von dem Moment der Erfindung machen, das Entscheidende.

Ist der Dichter, der Künstler überhaupt, ein Erfinder, der Schöpfer eines Neuen, nie Dagewesenen, das nur durch ihn entsteht, ohne ihn nicht entstanden sein würde, so ist es in der Ordnung, wenn man zu ihm als einem Auserwählten, Gottbegnadigten und Begeisterten in scheuer Ehrfurcht aufblickt; ist er dagegen ein Finder von etwas, das für jeden daliegt, das jeder finden könnte, wenn er sich die Mühe des Suchens nähme, und ihn bei diesem Geschäfte selbstverständlich das Glück, der Zufall ebenso begünstigten, wie jenen, so kann man ihn, wenn es hoch kommt, beneiden, keinesfalls ausschweifend bewundern.

Dabei ist nun merkwürdig, daß gerade der antike Mensch seine Dichter und Künstler umflossen von einem überirdischen Lichte zu erblicken geneigt war, während diese doch ganz unbefangen vor aller Augen aus dem Mythen- und Sagenstrome schöpften, welcher für alle gleicherweise aus unergründlichen Quellen der Vorzeit daherrauschte. Zwar bezeugt Telemach, daß:

Jenen Gesang ja ehret das lauteste Lob der Menschen,
Welcher den Hörenden rings der neueste immer ertönet;

aber er und kein antiker Mensch hat jemals unter diesem Neuen und Neuesten ein vom Dichter Erfundenes verstanden, sondern vielmehr: was gerade in dem Augenblick im Munde der Menschen umlief, womit sich gerade in dem Augenblicke die Phantasie der Menge beschäftigte; und das also eben, weil es ein Bekanntes, 4 Vertrautes war, sie vor allen anderen Stoffen anlockte und ihre Herzen mächtig bewegte. Den Tragikern nun gar war es gewissermaßen geboten, ihre Stoffe immer und immer aus denselben, dem Hörer längst bekannten, Mythen- und Sagenkreisen zu nehmen; und die im Altertume verbreitete Anekdote, daß der Zeus des Phidias gleichsam nur eine plastische Uebersetzung der bekannten Stelle in der Ilias gewesen sei, bezeugt, wie auch für die übrigen Kunstkreise der Zwang, in unserm landläufigen Sinne zu erfinden, gar nicht existirte. Ja, die Kunstgeschichte weiß und lehrt, daß überall und immer in den Glanzepochen der Kunst auf die »Erfindung« der allergeringste Wert gelegt wurde, und jener Glanz in dem Maße abzunehmen scheint, in welchem dies Moment im Preise steigt.

Demnach müßte es heutzutage um unsre Kunst möglichst traurig aussehen; heutzutage, wo über jedem Schreibtisch, an der Wand jedes Ateliers das Wort des alten Ben Akiba: »Es ist alles dagewesen«, den unglücklichen Dichter und Künstler wie ein grauses Mene-Tekel anstarrt; wo in der Jagd nach dem Glück des Neuen und Neuesten – und nicht etwa im oben erläuterten Sinne der Alten – die Dichter und Künstler ihre Kräfte aufreiben, – da sollten sie doch wahrlich, scheint es, als ganz absonderliche Heilige geachtet, zum wenigsten der Frage gewürdigt werden, die einst jener Kirchenfürst an Ariosto that: Wo, Meister Ludovico, habt ihr nur all das närrische Zeug aufgetrieben?

Indessen diese Frage, wenn auch nicht immer in so drastischer Form, wird allerdings an die Männer der Kunst heute oft und nur zu oft gerichtet; und gerade sie beweist mehr als alles andre, wie wenig man von der »Erfindung« hält, oder wie sehr man darüber im Unklaren ist. Das Publikum hat eine förmliche Leidenschaft, zu erkunden, was denn eigentlich »an der Geschichte Wahres sei«, nicht im ästhetischen, sondern in dem banausischen 5 Sinne der hausbackenen Wahrheit; hat ein ganz absonderliches Gelüst, zu wissen: wer denn eigentlich mit dieser oder jener Person »gemeint« sei, und ist nicht wenig stolz und glücklich, wenn es das endlich herausgebracht hat, oder – herausgebracht zu haben glaubt. Werther war Goethe – das verstand sich ganz von selbst; er hatte sich freilich nicht totgeschossen, aber der junge Jerusalem hatte es für ihn gethan; Albert war Kestner, Lotte war Lotte – jede Größe ist sich selbst gleich; es konnte Alles konstatiert und reproduziert werden, bis etwa auf den Laib Brot, den Lottens Geschwister glücklich aufgegessen hatten, und einige andere Kleinigkeiten. Mit einem Worte: Goethe war ein Plagiarius, und noch dazu einer von der schlimmen Sorte, die falsch abschreibt; er hatte die ganze Leidensgeschichte des unglücklichen jungen Menschen in blauem Frack und gelber Weste Wort für Wort abgeschrieben und nur einige Veränderungen, sei es willkürlich oder unwillkürlich, angebracht, welche die Sache in den Augen der Beteiligten (ich meine: Kestners und Lottens) und auch in den Augen der Menge nicht besser machten.

Und wie es in diesem Falle Goethe erging, so ist es mir – wenn ich Kleines mit Großem zusammenstellen darf – hundertmal ergangen. Hundertmal hat man zu mir gesagt: Nun, wahrhaftig, Sie können Ihre Quelle nicht verleugnen. Dies haben Sie daher und jenes dorther. Oder so: Nein, aber sagen Sie, wer hat Ihnen zu dem charakteristischen Kopf gesessen? Oder: Diese Gestalt ist zu lebenswahr, wie genau müssen Sie das Original gekannt haben! Als mein erster Roman erschienen war, nahm man in der Gegend, in welcher die Geschichte spielt, vielfach an, es liege derselben – der Roman ist nebenbei in der ersten Ausgabe acht Bände stark – eine wirkliche Geschichte so zum Grunde, daß diese durch jene überall durchschimmere, ja mit jener an vielen Punkten absolut identisch sei. Man hat mir zu jener Zeit Listen gezeigt, auf welchen man neben den betreffen 6den Romanfiguren mit ihren Romannamen überall die wirklichen Menschen mit ihren bürgerlichen, respektive adligen Namen notiert hatte – lange Listen, denn man hatte so leicht niemand vergessen, selbst nicht eine achtzigjährige Bauerfrau, von der im Buche selbst behauptet wird, daß sie nie aus ihrem Dorfe herausgekommen sei.

Wir wollen eine, wie es scheint, unausrottbare Neigung des großen Publikums um so weniger ohne weiteres verdammen, als die Fragen: Was ist in der Kunst Erfindung? wie weit darf man in der Kunst von Erfindung sprechen? auch von den eigentlich Gebildeten vielfach verschieden beantwortet werden, und die Aesthetiker von Fach über die heiklen Punkte verhältnißmäßig, oder vielmehr: unverhältnißmäßig schweigsam sind. Auch daß eine wünschenswerte Uebereinstimmung in dem stattfände, was die letzteren beibringen, läßt sich kaum behaupten. Zwar sind wir von jener nüchternen Auffassung einer veralteten Aesthetik, die noch mit Adelung »das Genie als merkliches Ueberwiegen der niederen Seelenkräfte« bezeichnen konnte, hoffentlich für immer erlöst; aber eine Rekapitulation der Leistungen der unendlich vertieften modernen Wissenschaft entlockt noch dem Verfasser der trefflichen »Geschichte der Aesthetik in Deutschland« H. Lotze. Geschichte der Aesthetik in Deutschland. S. 425. das Geständniß, »daß die Erklärung des künstlerischen Schaffens auch später (nach Kants und Fries verdienstvollen Arbeiten) von keiner Seite wesentlich gefördert worden ist«, – ein Geständniß, mit welchem er gewiß den großen Verdiensten, welche sich die Mitforscher auf diesem Gebiete erworben haben, nicht zu nahe treten will. So hat Heinrich Ritter H. Ritter. Ueber die Principien der Aesthetik., indem er die enge Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und dem Künstler hinüber und herüber mit sinnigem Auge und zarter Hand bis in die feinsten Fäden verfolgt, eine der wichtigsten Seiten unserer 7 Frage in ein neues und helles Licht gestellt; und reich, fast überreich an interessantesten Einblicken ist die ausführliche Darstellung des ganzen Prozesses bei Vischer. Nichtsdestoweniger kann ich nicht sagen, daß diese und verschiedene andere, in vieler Hinsicht mustergiltige Arbeiten meinem Drang nach Belehrung vollständig genügt, die Fragen, welche sich mir aufdrängten, sämtlich beantwortet hätten. Und das ist am Ende erklärlich genug. Scharfsinnig, gelehrt, wie diese Männer sind – sie waren oder sind doch eben nicht selbst Dichter, Künstler. Ich muß hier freilich Vischer ausnehmen, der inzwischen durch den Roman: »Auch Einer« und die »Lyrische Gänge« sein Anrecht auf den Dichternamen bewiesen und so den viel bewunderten Tiefsinn und die erstaunliche Feinfühligkeit seiner philosophisch-kritischen Analyse nachträglich auf die natürlichste Weise erklärt hat. Sie haben die geistigen Vorgänge, die sie schildern, doch schließlich nicht an sich selbst beobachten können, und das scheint mir gerade hier entscheidend, wo es sich um ein so tief verhülltes Geheimnis handelt, wie es das Entstehen und Werden eines Kunstwerks im Künstlergeiste ist. Da ist mir denn wieder und wieder ein gewichtiges Wort W. v. Humboldts in Erinnerung gekommen. Ueber den Weg, der den Künstler zu seinem Ziele führt, meint Humboldt, könne ihm nicht mehr die Aesthetik, sondern einzig und allein seine eigene und fremde Erfahrung Rat erteilen, und fährt dann wörtlich also fort: »Zwar wird ihm auch diese immer nur einzelne Bruchstücke zu liefern im stande sein, abgerissene Regeln, denen es nicht bloß an Vollständigkeit, sondern auch an Allgemeingültigkeit fehlt. Dessenungeachtet wäre es nicht minder wichtig, dieselben zu sammeln und zu ordnen; und jeder, welchem sein Talent die Bahn der Kunst mit entschiedenem Erfolge zu wandeln erlaubt, sollte sorgfältig aufzeichnen, was er auf derselben an sich selbst bewährt gefunden hat. Es würde dadurch nicht bloß der Kunst, sondern auch der Philosophie ein wesentlicher Dienst geleistet. Denn der Aesthetiker benutzt diese poetischen Geständnisse ebenso, wie der Psycholog die moralischen, und freut sich, die Künstlernatur, die er sonst nur mit Mühe aus ihren Werken ahnt, nun durch unmittelbare Anschauung zu erkennen.« W. v. Humboldt. Aesthetische Versuche. Einleitung. Humboldt spricht hier allerdings nur von jenen Regeln, die dem Künstler bei seiner Arbeit selbst nützlich werden können, von jenen Kunst- und Handwerksgriffen, so zu sagen, für die Schiller einmal ein paar Jahre seiner philosophischen Studien hingeben zu wollen erklärt; indessen den praktischen Erfahrungen, deren Mitteilung Humboldt wünscht, stehen die theoretischen Einblicke, wenn ich mich so ausdrücken darf, welche dem Künstler in die Natur seines Schaffens während des Schaffens selbst sich darbieten, gewiß ebenbürtig zur Seite.

Leider haben die Dichter und Künstler jener Aufforderung nicht mit dem wünschenswerten Eifer Folge geleistet, obgleich sie doch wahrlich Ursache genug gehabt hätten, es zu thun; und wären ihre »Geständnisse« auch mehr im Interesse des wißbegierigen Publikums, als nach dem Geschmack der Fachgenossen, von denen jeder im Alleinbesitz der richtigen Methode zu sein glauben dürfte, oder der Kunstphilosophen, die sich ihre apriorischen Zirkel nicht gern durch »abgerissene Regeln« der Praktiker stören lassen möchten. Aber mir ist außer vereinzelten, zum Teil allerdings unendlich wichtigen Aeußerungen, – besonders in dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel, – und was sonst gelegentlich von Dichtern und Künstlern über ihr Schaffen vorgebracht ist, nichts, was einigermaßen auf Vollständigkeit abzielte, bekannt; und die sonderbare sogenannte »Analyse«, die der amerikanische Dichter Edgar Allan Poe von seinem berühmten Gedicht »der Rabe« gemacht hat, kann man doch wohl schwerlich, selbst für den speciellen Fall, als eine Lösung des Rätsels nehmen.

8 Jener geniale Lyriker schildert bekanntlich den Hergang der Entstehung des »Raben« folgendermaßen. Er habe, nachdem er erst einmal die bestimmte Absicht gefaßt, ein volkstümliches und dem kritisch gebildeten Geschmack entsprechendes Gedicht zustande zu bringen, zunächst die Länge festgestellt und angenommen, daß ungefähr hundert Verse das rechte Maß sein würden; sodann, in seinem Bestreben nach Volkstümlichkeit, herausgebracht, daß »wehmutsvolle Trauer der berechtigtste aller poetischen Töne« sei; und der Refrain diejenige »künstlerische Pikanterie«, mit der man sich am leichtesten bei den Menschen einschmeichle; der beste Refrain aber ein einzelnes Wort, das den Schluß jeder Strophe des Gedichtes bilde. Und weiter erzählt er, wie er nun, in dem Suchen nach diesem einzelnen, selbstverständlich möglichst klangvollen Wort notwendig auf das lange »O«, als den klangvollsten Vokal, in Verbindung mit »R« als demjenigen Konsonanten, der sich am gedehntesten aussprechen lasse, habe fallen müssen, und dabei das Wort »nevermore« unmöglich habe übersehen können; daß er, selbstredend, einen plausiblen Vorwand haben mußte, dies Wort ad libitum zu wiederholen, und – da ein »nicht mit Vernunft begabtes sprechendes Wesen« zu diesem Behufe das schicklichste Mittel gewesen sei, er nur die Wahl zwischen einem Papageien und Raben gehabt und so weiter.

Ich wiederhole, daß man diese sogenannte Analyse schwerlich, oder, sagen wir geradezu: nicht ernsthaft nehmen kann, ohne sich zu dem Schluß getrieben zu sehen, daß die Dichter nicht anders wie jener Rabe auch nur »vernunftlose sprechende Wesen« seien; oder wenigstens Kant zustimmen zu müssen, der das Wesen des künstlerischen Genius dahin präcisiert, daß »die Natur durch Stimmung der Vermögen des Gemüts diese Fähigkeit hervorgebracht habe, die ihres eignen Verfahrens gänzlich unbewußt ihre Werke bilde.«

Und indem ich nun daran gehen will, jenes Geheimnis, in 10 welches Dichter und Künstler, sehr zu ihrem Schaden, den Prozeß ihres Schaffens hüllen, für mein Teil, wenn es mir anders gelingt, ein wenig zu lüften, gestehe ich offen, daß ich mich dabei eines unbehaglich-ängstlichen Gefühls nicht völlig erwehren kann. Wenn »Erfinder, Schöpfer« wirklich nur Titel wären, die uns das gutmütige Volk giebt, wer mag gern auf dergleichen bunte Lumpen für des Lebens nackte Blöße verzichten? wer mutwillig den holden Wahn gläubiger Seelen zerstören, daß »unsere Kunst viel Künste übersteigt«? Sodann: Ich bin ein Romandichter, oder doch: ich schreibe Romane! Was für mich gilt, gilt es für die anderen Kunstgenossen: für den Dramatiker, Lyriker? oder gar für den Musiker, den Bildhauer, den Maler? Würde es meinen Bekenntnissen nicht, wie W. v. Humboldt sagt: sowohl an Vollständigkeit als an Allgemeingültigkeit fehlen? Und schließlich: Wenn ich auch überzeugt wäre, einige vielleicht nicht wertlose Beobachtungen an mir selbst gemacht zu haben; und gewiß, wo nicht die ganze Wahrheit, die nicht in meinem Bereiche liegt, so doch die Wahrheit, und nichts wie die Wahrheit, sagen würde: es ist ein altes und gutes Gebot, daß man nicht aus der Schule plaudern solle, und darauf würde es doch hinauskommen.

Indessen, der Wunsch, der schwierigen Erkenntnis so tief verhüllter Dinge einen, wenn auch geringfügigen Dienst zu leisten, ist stärker, als das Gefühl des Unbehagens, welches damit verknüpft ist; und so will ich mich denn auch nicht von meinem Vorhaben abschrecken lassen durch den Umstand, daß gleich in dem Vorraum zu meinem Atelier ein mystisches Halbdunkel herrscht, in welchem ich mich selbst nur mit Mühe tastend zurechtfinde. Ich spreche nicht von jenem unabweislichen Bedürfnis, welches die Natur in mich legte: auf die Welt in mir und die Welt außer mir immerfort den Blick gespannter Beobachtung heften zu müssen, zusammen mit dem nicht minder unabweislichen Drange, mich mit dem, was ich hier und dort erfahrend beobachtet und 11 beobachtend erfahren, auseinanderzusetzen, nicht in Form einer Reflexion, eines abstrakten Gedankens, sondern in der eines Bildes, – eines Spiegelbildes, sagen wir vorläufig. Ich denke, daß wir diesen Drang und sein Organ: die Phantasie als etwas durchaus Gegebenes voraussetzen. Ich überspringe auch, was etwa von der Ausbildung dieses Organs durch die verschiedenen Stadien von dem ersten Sich-regen der jugendlichen Einbildungskraft durch die tastenden Versuche des Kunstjüngers bis zu dem stetigen Walten des erfahrenen Mannes etwa zu sagen wäre. Ich lasse, sage ich, das alles beiseite und wende mich zu dem Stoff, an welchem die Phantasie arbeiten will und soll, und frage mich: wie komme ich zu dem Stoff?

Wenn man so manchen Kritiker sprechen hört, scheint die Herbeischaffung desselben das willkürlichste Geschäft von der Welt zu sein. Der Dichter hat diesen Stoff gewählt; er hätte auch ebensogut einen andern wählen können. Daß seine Werke – wenn er anders ein wahrer Künstler ist – aus seinem innersten Sein mit Notwendigkeit hervorquellen; daß die Reihenfolge derselben das notwendige Produkt gleichsam seiner inneren Entwickelung mit den Evolutionen des Zeitgeistes ist – davon scheinen die Herren kaum eine Ahnung zu haben. Und auch keine Ahnung von den schlimmen Blößen, die sie sich durch ihre, man muß sagen: rein mechanische Erklärungsweise in den Augen des Dichters geben. Da soll z. B. ein Dichter zu einer Novelle, weil ihr Thema sich mit dem einer Goethe'schen berührt, von der letzteren »angeregt« sein, dergestalt, daß er sein Werk ohne das Vorhandensein jener nicht geschaffen haben würde, und auch gar nicht hätte schaffen können. Aber was soll denn »angeregt« sein? Die Phantasie des Dichters? warum ist denn die Phantasie von hundert anderen Dichtern, welche die betreffende Novelle ebenfalls gelesen haben, nicht angeregt worden? Wäre da nicht mindestens der einfache Schluß geboten, daß in dem Gemüt 12 des betreffenden Dichters etwas gelegen haben müsse, das dieser Anregung entgegenkam? – Der Niederschlag vermutlich einer Herzenserfahrung, die – und das ist das Wahre an der Sache – wenn sie lebhaft, kraftvoll genug war, in der Phantasie nur auszureifen brauchte, um dann mit Notwendigkeit dichterische Gestalt anzunehmen, ohne den geringsten wirklichen Nexus mit einem bereits vorhandenen Werke, man müßte denn eine rein zum Behufe geistreichen Spiels nachträglich und geflissentlich von dem Dichter hervorgehobene Beziehung so nennen. – Freilich ist die Aufgabe, den oben angedeuteten eigentlichen Zusammenhang aufzudecken und nachzuweisen, meistens keine leichte, denn derselbe liegt selten klar da, ist in den wenigsten Fällen ganz strikt. Es kommt vor, daß die Zeit dem Dichter vorausgeeilt war, und er genötigt ist, ein Kapitel derselben, welches er damals noch nicht verstand, oder nicht ganz verstand, oder zu dessen Darstellung es ihm an der nötigen Kraft gebrach, auf einem höheren Standpunkt seiner Entwickelung nachzuholen; aber wenn er gerade auf diesem Standpunkte zu diesem Thema zurückgreift, so geschieht es mit jener inneren Notwendigkeit, mit welcher zwei chemische Stoffe unter gewissen Bedingungen der Wärme u. s. w. eine Verbindung eingehen.

Ich bitte hier, – um allen Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen – den Leser noch einmal, immer im Auge zu behalten, daß, was ich mitteile, meine individuellsten Erfahrungen sind; daß die Gemeingültigkeit meiner Sätze sich allerhöchstens auf diejenigen meiner Kollegen erstrecken könnte, welche mit mir es sich zur Aufgabe gesetzt haben: in ihren Romanen »dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen«; daß – um von den übrigen Künsten und Kunstkreisen ganz zu schweigen – ich schon in dem Atelier des nächsten Kollegen – des Dichters historischer Romane – nur unvollkommen Bescheid weiß, und wenn ich sein Wirken und Schaffen er 13läuterungsweise berühre, von vornherein die Möglichkeit des Irrtums zugebe und eventuell die Wohlthat der Belehrung gern und willig hinnehmen werde.

Erläuterungsweise also nur, und als Meinung, nicht als Gewißheit, führe ich an, daß der historische Dichter – man verzeihe mir die allerdings recht unlogische Abbreviatur, wie den vagen Ausdruck: »moderner Dichter«, dessen ich mich der Kürze halber bedienen will – ich sage, daß jener nicht anders zu seinem Stoffe kommt als dieser. Wie dieser die ewige Betrachtung und Darstellung des Werdenden zu seiner Aufgabe hat, so jener die ewige Betrachtung und Darstellung des Geschehenen; und wie der moderne Dichter zur Wahl dieses oder jenes Stoffes weniger geführt als gezwungen wird, so vermute ich, daß der historische Dichter – wenn er ein wirklicher Dichter ist – ebenfalls mit Notwendigkeit zu dem seinen getrieben wird. Das Wort: »was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln«, will für uns sagen: auch der historische Dichter kann im Grunde nichts anderes, als dem Jahrhundert und Körper seiner eigenen Zeit den Abdruck seiner Gestalt zeigen, d. h. er wird bei der Wahl seines Stoffes, wenn anders noch von Wahl die Rede sein kann, dem Geist seiner Zeit Rechnung tragen und in dem Buch der Geschichte ein Kapitel aufschlagen, welches, mutatis mutandis, in demselben Geist und Sinne geschrieben ist wie das Kapitel seiner Zeit.

Ist nun bis hierher das Geschäft beider gleich leicht, oder gleich schwer, so scheint es, daß der historische Dichter sich bei dem nächsten Schritt eines großen Vorteils erfreut, um den ihn der moderne Dichter alle Ursache hätte gründlich zu beneiden.

»Der nächste Schritt« ist streng genommen kein richtiger Ausdruck, sondern nur eine Folge des Umstandes, daß wir, was wir zugleich denken, hintereinander sagen müssen. In Wahrheit aber ist der Stoff und der Held nicht Eines nach dem Andern, 14 sondern Eines mit dem Andern, ja im Geiste des Dichters Eines und Dasselbe.

Denn beide – der historische und der moderne Dichter – sobald und soweit sie überhaupt Dichter sind – können den Stoff gar nicht abstrakt denken, sondern finden ihn von vornherein zunächst an eine Person mindestens gebunden, welche der Träger der Idee, das Gefäß des Inhalts sozusagen ist, und den wir in der Kunstsprache – den Helden des Romans nennen. Diese gemeinsame Zeugung und praktische, wenn nicht dialektische Identität des Stoffes und des Helden ist mir gewiß und unumstößlich. Die Phantasie ist durchaus ein Denken in Formen; sie operiert nun und niemals mit Begriffen; sie kennt keinen Selbstmord, sondern nur einen Selbstmörder, und selbst das ist schon viel zu abstrakt: sie kennt nur einen Werther, der sich das Haupt mit der Pistole zerschmettert, eine Ophelia, die sich ins Wasser stürzt; sie kennt keine Eifersucht, sondern nur einen Othello u. s. w.

Ich will damit nicht sagen, daß bereits in der ersten Conception der Held vollständig fertig wäre. Er ist es genau so wenig wie der Stoff, mit dem er noch mancherlei Stadien – aber keineswegs willkürliche, sondern notwendige durchläuft – um es – immer zusammen mit dem Stoff – zur vollen Bestimmtheit, zum letzten kräftigsten Ausdruck zu bringen.

Und nun muß ich wieder anknüpfen an das, was ich vorhin sagte, daß der historische Dichter sich hier eines bedeutenden Vorzugs vor dem modernen zu erfreuen scheine.

Der historische Dichter nämlich findet seinen Stoff von vornherein gebunden an ganz bestimmte Gestalten, die notorisch die Träger der Ideen, welche jene Zeit erfüllten, gewesen sind. Es scheint also, daß er seinen Stoff sofort zugleich mit derjenigen historischen Person, welche die betreffende Zeit am schärfsten und drastischsten repräsentiert, als Helden denken muß, und es kann sein, daß dies geschieht; aber es ist durchaus nicht notwendig, 15 ja nicht einmal wünschenswert, so wenig wünschenswert, daß der Dichter seine allzugroße Vorliebe zu dem historischen Helden nachher oft bitter zu bereuen hat, und ihn in den meisten Fällen sein guter Instinkt vor einem so verhängnisvollen Fehler glücklich bewahren wird.

Die Sache ist nämlich, daß, wenn der Stoff an bestimmte Personen gebunden ist, diese Personen hinwieder den Dichter binden, und er darüber die Freiheit der Bewegung, deren er durchaus bedarf, um seinem Stoffe alle Seiten abzugewinnen, einbüßt. Der Romandichter hat ganz andere Absichten zu verfolgen und deshalb ganz andere Rücksichten zu nehmen wie der Tragödiendichter. Diesem verschlägt es nicht, ja es kommt seiner Absicht entgegen, wenn er mit einem ganz bestimmten Pathos behaftete und deshalb einseitige Menschen vorfindet; er braucht sie so, ja er müßte sie so machen, wenn er sie nicht vorfände, und er wird in den allermeisten Fällen das einseitige Pathos seiner historischen Menschen nicht abschwächen, sondern noch verstärken, und alle Ecken, welche die Wirklichkeit weggeschliffen hatte, herausarbeiten müssen.

Anders der Romandichter. Er lebt und webt – Humboldt hat das so schön in seinem Buche über »Hermann und Dorothea« nachgewiesen – ganz in dem Elemente der ruhigen, allseitigen Betrachtung; strebt durchaus nach Totalität des Weltbildes, das er entrollt – wie könnte er also zu seinem Streben Helden der wirklichen Geschichte brauchen, die nur dadurch Helden waren, daß sie einseitig waren? und die er nicht vielseitiger, beweglicher gestalten kann, wie er sie vorfindet, weil er dann sofort in Konflikt mit dem besseren Wissen seiner Leser käme, denen, als Leuten, welche ihre Studien nicht umsonst gemacht haben wollen, mit Recht nichts unerträglicher ist, als ein derartiges Abweichen von der historischen Ueberlieferung. Historie ist Wissenschaft; man kann dem Wissenden nicht zumuten, daß er seine Wissenschaft 16 vergessen soll, um zu glauben, was der Dichter zu seinen Zwecken ihm außerdem, kraft der Souveränität seiner Phantasie, mitzuteilen für gut findet. Historische Personen sind Statuen, welche die Wissenschaft in einer bestimmten Stellung ausgemeißelt hat. Es hat etwas unleidlich Gespenstiges, wenn diese Statuen nun plötzlich die Glieder zu regen und den Marmormund aufzuthun und allerhand Worte nach des Dichters Belieben zu sprechen beginnen. Ja, wenn er die Mittel hätte, unsere Phantasie zu zwingen, wie sie der dramatische Dichter hat, der die Metamorphose gründlich und bis zu den letzten Konsequenzen durchführt und die Marmorstatuen in Menschen von Fleisch und Blut verwandelt, die auf den Brettern, welche nun die Welt bedeuten, vor unseren leiblichen Augen auf und ab wandeln und unser leibliches Ohr mit ihren leidenschaft-getränkten Reden füllen! Da mag die Illusion, wenigstens für den Augenblick – und das reicht aus – eine vollkommene sein. Aber der Dichter des historischen Romans –

Aber der Dichter des historischen Romans wird auch, wenn er seinen Vorteil versteht, den Marmorbildern keine Rolle aufnötigen wollen, zu der sie nicht taugen; er wird sie da hinstellen, wo sie hingehören: in den Hintergrund nämlich, und höchstens in den Mittelgrund, und wird sie auch da noch schnell vorüberführen, – mit geschlossenen Füßen, wie Homer seine Götter – und den Vordergrund andern Personen einräumen, die er sich frei bewegen lassen kann, in erster Linie seinem Helden.

Nun aber erweist sich, wenn schon der Umstand, daß er bestimmte Personen vorfand, ihm nur ein scheinbarer Vorteil war, solange seine Phantasie im Banne der geschichtlichen Helden stand, die historische Gebundenheit als ein ganz entschiedener Nachteil, jetzt, wo er versucht, den Stoff mit einem Helden zu denken, der es nur im ästhetischen, nicht im historischen Sinne ist. Es wird sich nämlich herausstellen, daß es ihm an einem Modell für diesen letzteren fehlt.

17 Wir müssen nun wieder einen Schritt zurückgehen und den Weg, welchen der moderne Dichter bis zu diesem Punkte zu verfolgen hat, überblicken.

Auch er findet seinen Stoff – sagen wir die sociale Bewegung – an gewisse bestimmte Personen gebunden, welche die Träger der Ideen sind, oder genauer die verschiedenen Nuancen der Idee darstellen. Ich brauche hier keine Namen zu nennen, die sich von selbst aufdrängen. Aber mir scheint, daß diese Bindung keine so enge ist wie diejenige, welche für den historischen Dichter seinen Stoff – sagen wir die Bauernkriege – an gewisse Personen, wie Thomas Münzer u. s. w. bindet. Das Bild der Personen der Gegenwart schwankt sehr viel mehr in der Auffassung der Mitlebenden, als es die historische Persönlichkeit in den Augen der Nachwelt trotz der Parteien Haß und Gunst thut. Und wie könnte es anders sein? Ist doch selbst die erste Frage: die Frage nach ihrer Qualifikation zum Helden (im historischen Sinne) in den allermeisten Fällen noch keineswegs abgeschlossen; gilt doch den einen noch für einen Charlatan, den die andern bereits ehrfurchtsvoll ihren Heiligen nennen! Und sodann: die Laufbahn des Mannes ist auf keinen Fall zu Ende; ob sie sich so oder so wenden wird, kann ernstlich in Frage kommen, mit einem Worte: diese Personen, wie sie mitten im Fluß der Entwickelung schwimmen, participieren gewissermaßen an diesem flüssigen Zustande und gehen schon leichter in die Form ein, die ihnen der Dichter zu geben für gut findet, vorausgesetzt, daß diese Form eine durchaus korrekte, streng folgerichtige ist.

Nichtsdestoweniger finde ich es sehr erklärlich, wenn manche Aesthetiker an diesen so zustande gekommenen Romanfiguren – figurae hybridae, nennt sie einer meiner Kritiker – Anstoß nehmen, und von der Benutzung der wirklichen notorischen Personen zu Modellen – insonderheit zum Modell des Helden – 18 ernstlich abraten. Sie sollten nur freilich dann die Benutzung historischer Personen dem historischen Dichter konsequenterweise als Modelle für seinen Helden definitiv verbieten; wo ich denn allerdings nicht wüßte, was demselben zu seinem Zwecke nun überhaupt noch bleibt. Jedenfalls nicht, was dem modernen.

Dieser nämlich findet, auch wenn er von den Leitern der Bewegung, den Chorführern, absieht, selbstverständlich den ganzen Vordergrund mit dem Chor selbst angefüllt: dem Chor der jetzt Lebenden, Strebenden, von denen jeder Einzelne wieder mehr oder weniger an dem Pathos der Idee participiert, nur daß dieselbe bei ihm nicht zu einem so reinen Ausdruck kommt, oder bis jetzt gekommen ist, wie bei jenem. Und gerade deshalb, gerade weil die Idee bei ihm noch verschiedene Stadien durchlaufen müßte, bevor sie zum reinen Ausdruck käme, taugt der Peter oder Paul zum Helden; ist er ein vortreffliches Modell für den Helden.

Aber der historische Dichter! Ihm haben die Wellen des Orkus die Peter und Paul ein- für allemal weggespült. Was kümmert sich die Muse der Geschichte, die vornehme Dame, welche nur die Namen der Heroen auf ihre Tafeln zeichnet, um die misera plebs, die schreiend hinterdrein zieht? Da bleibt dem historischen Dichter denn nichts übrig, als seinen Helden aus der Tiefe seines Gemütes zu konstruieren, wie jener Deutsche – nach Heine – das Kamel, das er weder in der Wüste, noch im Jardin des plantes zu sehen bekommen; oder frischweg einen jungen Mann seiner Bekanntschaft in das betreffende Kostüm zu stecken, und ihm zu sagen: nun siehe zu, wie du unter Robin Hoods Waldgesellen, oder mit dem Eber der Ardennen fertig wirst!

Ich weiß nicht, ob es außer diesem Entweder-Oder noch ein Drittes giebt, ich vermute: nein. Ich wüßte mir sonst nicht zu erklären, weshalb die meisten Helden in den historischen Romanen entweder so sonderbar verschwommene Gesellen sind, wie 19 die Ivanhoe und Quentin Durward in Walter Scotts gleichnamigen wundervollen Romanen, oder mit den Herren X. Y. unserer Bekanntschaft eine so frappante Aehnlichkeit haben.

Hier will nun aber endlich eine Frage gethan sein, die dem Leser schon längst auf den Lippen schwebt: die Frage: bedarf denn der Dichter wirklich eines Modells mit derselben Dringlichkeit, mit welcher der Maler, der Bildhauer eines solchen bedürfen?

Darauf antworte ich nach meiner Erfahrung aus bester Ueberzeugung unbedingt mit Ja, vorausgesetzt, daß man den Unterschied jener Künste von der Dichtkunst scharf im Auge behält. Dem Dichter, als einem Seelenmaler, als einem Bildner des innern Menschen, kann natürlich die äußere Aehnlichkeit nicht genügen, wie dem Maler, dem Bildhauer, denen ein blinder Bettler von der Straße sehr wohl zu einem Belisar, oder irgend ein haarbuschiger Gesell aus der Schmiede zu einem Simson Modell sitzen oder stehen kann. Für den Dichter muß die Aehnlichkeit weiter gehen; das Modell muß nicht nur Fleisch von dem Fleisch und Bein von dem Bein des Helden: sondern auch eines Geistes Kind mit dem Helden sein.

Wie nun aber, wenn diese Aehnlichkeit noch weiter geht, so weit, daß sie weiter nicht gehen kann? oder, mit andern Worten: wenn der Dichter selbst der Held ist, und folglich sich selbst Modell sitzt? wenn Dichter, Held und Modell eine und dieselbe Person sind?

Daß dieser Fall sehr häufig vorkommt, ist bekannt; ja fast jeder erzählende Dichter fängt, bewußt oder unbewußt, damit an. Aber, wenn er auch so, aus Mangel einer äußeren Welt, die ihm noch fremd und unheimlich gegenüber steht, den jugendlichen Blick starr auf die innere Welt gerichtet hält – in der Sache selbst – ich meine: in der Genesis und in dem ursprünglichen Verhältniß des Helden zum Modell – wird dadurch kaum etwas Wesentliches geändert. Im Gegenteil! gewisse Bezüge 20 lassen sich gerade in dieser Lage der Dinge viel deutlicher wahrnehmen, als es bisher der Fall war: so vorzüglich jener Punkt, welcher dem Laien immer der dunkelste zu sein pflegt: die Möglichkeit, oder, wie wir sagen müssen: die Notwendigkeit der gleichzeitigen Entstehung des Stoffes mit dem Helden, die ja hier unleugbar klar daliegt. Aber auch das Bedenkliche jener allzustraffen Bindung des Stoffes an einen von vornherein gegebenen Helden, die ich vorhin bei dem historischen Roman konstatieren mußte, tritt hier, bei dieser ganz subjektiven Wendung, merkwürdigerweise nicht minder scharf hervor. Nur daß freilich diesmal das Bedenkliche auf der entgegengesetzten Seite liegt. Wenn nämlich dort die allzufeste Form, zu welcher der historische Held durch die Geschichte ausgearbeitet ist, von dem Dichter nicht wohl in Fluß gebracht werden konnte, so vermag er hier den Fluß der eigenen, von tausend Zufälligkeiten abhängigen, von der Allmacht der Gegenwart durchaus beherrschten, in Werdelust und Daseinsschmerz beständig erzitternden Subjektivität nicht wohl in die feste Form zu bringen. Es müßte denn sein, daß der jugendliche Dichter mit einer Genialität, die nicht allzuhäufig ist, die innere Welt von vornherein ebenso plastisch scharf herauszuarbeiten wüßte, wie er später die äußere herausarbeiten wird. Aber auch dann wird er gern aus der Subjektivität heraus eine objektive Wendung nehmen; er wird mit seinen eigenen Leiden anfangen und mit dem Selbstmord des jungen Jerusalem enden. Nimmt er diese Wendung nicht, bleibt er an dem eigenen Ich kleben, so wird sein Roman in den allermeisten Fällen überhaupt kein Ende, ich meine kein ästhetisches Ende haben, sondern da abbrechen, wo das dichtende Individuum es müde wird, an der Betrachtung seiner selbst ein pathologisches Interesse, oder humoristisches Vergnügen zu empfinden. Ist doch meistens auch dieses letztere noch pathologisch genug, und läßt, wie es dem Dichter keine volle Befriedigung gewährt, den Leser fortwährend wünschen, daß 21 jener endlich aufhöre, sich selbst Modell zu sitzen; daß er endlich anfange, die Welt einmal anders zu betrachten, als durch die scharf geschliffene Brille seiner Subjektivität!

Aber können wir die denn jemals los werden? Können wir denn die Welt anders als mit unsern Augen sehen? und kommt dies Sich-Verstecken des Ich, des ewig sich selbst Gleichen, hinter die wechselnden Gestalten scheinbar anders qualifizierter Helden nicht im besten Falle auf einen Maskenscherz hinaus, den sich der Dichter mit seinem Publikum erlaubt?

Doch wohl auf etwas mehr. Denn, wenn es auch allerdings immer derselbe Proteus ist, der sich jetzt in einen bärtigen Leuen des Gebirges verwandelt, darauf in einen Pardel, einen Drachen, in ein mächtiges Waldschwein, oder als Wasser dahinfließt, oder als Baum in die Lüfte sprießt – er muß doch jedesmal anders mit dem Gegner ringen, und ein Etwas von der Natur der Wesen annehmen, in die er sich verwandelt. Ich will sagen: der wahre Dichter, sobald er das Stadium der Glühhitze jugendlich beschränkter Subjektivität glücklich überwunden, und eingesehen hat, wie es sich viel weniger darum handelt, daß die Welt ihn begreift, als daß er die Welt begreift, sucht (und muß suchen) sich zur Höhe dieser neuen Aufgabe zu erheben. Und er kann es nur dadurch, daß er mit allem Ernst, mit aller Innigkeit, mit leidenschaftlicher Liebe in die Natur eines Wesens sich versenkt, welches eben nicht er selbst, sondern ein in jeder Beziehung: in Temperament, Charakter, Anlagen, Sitte, Gewohnheit, Lebensstellung, ja selbst in der physischen Basis von ihm möglichst verschiedenes ist. Bleibt dann auch immer ein Rest von Subjektivität, der in die neue Persönlichkeit nicht rein aufgehen will – dennoch ist diese seine Anstrengung nicht vergeblich. Er wird das Weltbild – auf dessen Darstellung es ja dem erzählenden Dichter in erster und letzter Linie ankommt – in ganz anderer Breite und Tiefe, in ganz anderer Schärfe der Linien, in ganz anderer 22 Klarheit der Farben herausarbeiten, als es ihm bis dahin irgend möglich war. Und von Stund an wird ihm jeder neue Stoff, ohne daß er darnach trachtet, – aus der Notwendigkeit seines jetzt mit Sicherheit waltenden künstlerischen Instinktes heraus – sogleich mit einem Helden geboren werden, der er – nicht selbst ist; und zu dessen vollkräftiger, lebenswahrer Ausgestaltung er – der Leser wird jetzt schon mehr geneigt sein, mir das zuzugeben – eines Modells bedarf, mit derselben Dringlichkeit, mit welcher Bildhauer und Maler eines Modells bedürfen, und zwar aus eben und demselben einfachen, unabweislichen Grunde.

Aus dem Grunde nämlich, daß aus Nichts nichts kommen kann; welches wieder derselbe Grund ist, aus welchem Odysseus am Eingange der Unterwelt die schwirrenden Schemen Blut trinken lassen mußte, damit sie ihm Rede und Antwort standen. Es war nur Widderblut – aber »Blut ist ein ganz besonderer Saft« – und derjenigen Romanfigur, zumal Romanheldenfigur, die kein Blut zu trinken bekommen, – d. h. nicht auf der Basis individueller Erfahrung aufgerichtet, mit Zuhilfenahme von Beobachtungen, welche der Dichter an sich selbst oder anderen wirklichen Personen machte, ausgearbeitet ist, – sieht der Kenner das Blut- und Saft- und Kraftlose, das Schemenhafte auf den ersten Blick an, ob sie gleich die weniger Eingeweihten mit dem Schein der Wesenheit täuschen mag.

Vielleicht deucht dem Leser diese Abhängigkeit des Dichters von dem Modell übertrieben, zum mindesten bedenklich. Werden ihn die Modelle, fragt er, nicht im Stich lassen, wo er sie gerade am notwendigsten braucht?

Ich weiß nicht, welche Erfahrungen andere in dieser Beziehung gemacht haben; ich kann für mein Teil nur sagen, daß ich in den entscheidenden Fällen noch immer fand, was ich brauchte, so daß ich mich nach dieser Seite hin ein- für allemal jedweder Besorgnis entschlagen habe.

23 Man wird, glaube ich, diese Mitteilung weniger auffallend finden, wenn man sich erinnert, daß man an sich dasselbe, nur in umgekehrter Ordnung, sehr häufig erfahren. Oder sollte es nicht schon jedem begegnet sein, daß er, noch ganz erfüllt von dem frischen Eindrucke einer Gestalt, welche der Dichter in klaren Umrissen und hellen Farben vor ihm hingestellt hatte, unmittelbar darauf in der Gesellschaft, auf der Straße, auf der Reise einen Menschen sah, kennen lernte, und es ihm wie ein Blitz durch die Seele fuhr: das ist doch der leibhaftige Hans oder Peter, oder wie nun eben der Held des eben gelesenen Romanes hieß? Oder ihm nachträglich einfiel, was ihm vorher nie eingefallen: daß dieser oder jener Bekannte, Freund aus früheren Jahren doch gerade eine so oder so qualifizierte Natur war, wie sie ihm der Dichter eben vorgeführt? Denn ich bemerke, daß auch für den Dichter irrelevant ist, ob er das Modell gerade jetzt auffindet, oder nachträglich in seiner Erinnerung vorfindet, wenn er es nur im rechten Augenblicke findet.

Sollte, was dem Laien recht ist, nicht dem Dichter billig sein? dem Dichter, dessen Auge – und wäre es von Natur oder durch Uebung nicht schärfer als das anderer unbefangener Menschen, – die Not, das Bedürfnis des Momentes sicher noch ganz besonders geschärft haben?

Der Leser giebt das zu; aber er hat hier einen Einwand, für den ich dankbar bin, weil er uns sofort ein gutes Teil weiter und mitten in den Fluß der eigentlichen poetischen Komposition, an dessen Rande wir noch immer stehen, tragen wird.

Man erinnert sich nämlich, daß jene wirklichen Gestalten zwar an die poetischen erinnerten, aber jene keineswegs vollständig deckten; daß hier ein Zuwenig, dort ein Zuviel war, meistens ein Zuwenig, so daß der Sonnenrand des Phantasiebildes leuchtend über den dunkleren irdischen Körper hinwegblickte.

Genau dasselbe Verhältniß findet nun aber zwischen dem 24 innern Bilde, welches der Dichter von seinem Helden in der Seele trägt, und dem Modell statt. Ja, die Differenz wird in den meisten Fällen wahrscheinlich viel größer sein, oder doch werden, da in dem andern Falle ein wirklicher Mensch ein durch die vorhergegangene Lektüre mehr oder minder festgestelltes inneres Bild hervorruft, – die Aehnlichkeit also gewissermaßen zwingend ist, während des Dichters inneres Bild in dem Stadium, in welchem er es frisch mit dem Modell und dieses wieder mit jenem vergleicht, bei weitem noch nicht fertig ist, sondern noch manche Metamorphosen durchzumachen hat.

Das Bild ist nämlich vorläufig genau nicht weiter gediehen, als der Plan des Ganzen, mit dem zusammen, genau zusammen, es nun, meistens in raschester Folge, wächst und sich vertieft, bis es – ebenso wie der Plan – in den großen entscheidenden Zügen ein- für allemal feststeht. Schon bei diesem Prozesse kann, unter Umständen, die Differenz zwischen dem wirklichen Helden und dem Modell sehr bedeutend werden, besonders für die schwierigsten letzten Konsequenzen, welche bekanntlich die Wirklichkeit selten weder in dem Charakter noch in den Schicksalen ihrer Individuen zieht. Und dabei sehen wir vorläufig noch ganz ab von der Menge individuellster Züge, die mit Notwendigkeit im Verlaufe der Geschichte an dem Helden heraustreten, und von denen der Dichter unmöglich verlangen kann, daß sich das alles bei seinem Modell ebenso finden soll.

Ich spreche hier von einer Geschichte; und in der That sind wir mit den letzten Worten schon mitten hineingeraten – in die Geschichte des Helden nämlich, welche eben in ihrem Laufe der Roman ist. Ja, wir sind nicht bloß mitten hineingeraten; wir haben sie, soweit es für die Idee des Ganzen nötig war, zu Ende geführt. Der Held ist jetzt schon gestorben, oder sonst in irgend einen diesseitigen sogenannten Hafen der Ruhe eingelaufen – je nachdem.

Aber für ihn selbst – für den Dichter – ist die Unruhe 25 nun erst recht hereingebrochen, und er ist mitten in den Sturm und Drang geschleudert, aus dem er seinen Helden glücklich errettet.

Was er bisher vor sich gebracht – so sehr es auch das A und O des Ganzen ist – das Principium, ohne welches alles andre weder sein noch gedacht werden kann – es war ihm doch – die Conception der Idee und der erste große Entwurf des Planes mit dem Helden (das passende Modell einbegriffen) – es war ihm, sage ich, doch gleichsam aus den Wolken, aus der Götter Schoß gefallen, wie ein jedes Glück; und wenn man das Wort nicht zu buchstäblich nehmen will – in einem Augenblick geboren. Jetzt aber muß er die auf geflügelten Sohlen durchmessene Bahn zum zweiten – nicht zum letzten Male – durchmessen und die Geschichte des Helden, seine Abenteuer und Schicksale, sich genauer ansehen; vor allem aber die Lotophagen, Kyklopen und Nymphen kennen zu lernen suchen, ohne deren nähere, manchmal nicht unbedenkliche Bekanntschaft zu machen, bekanntlich kein Held seine irdische Laufbahn zurücklegt.

»Ihr drängt Euch zu; nun gut, so mögt Ihr walten.« Das Dichterwort ist so recht bezeichnend für dieses zweite Stadium. Sie drängen sich zu, aber freilich: es muß sich jede Gestalt über ihr Recht ausweisen; sie mögen walten, aber freilich: nicht ganz nach eigenem Belieben.

Was verstehe ich darunter? Dies, daß eine jede dieser Gestalten mit einer gewissen pragmatischen, aus dem Gang der Schicksale des Helden resultirenden Notwendigkeit, welche eben ihr Recht ist, in den Rahmen der Geschichte eintritt; daß keine eintreten darf, die ihr ganz bestimmtes Verhältniß zu der Idee des Ganzen nicht erhärten kann; nicht nachweisen kann, daß ohne sie die Totalität des Weltbildes, welches dem Dichter vorschwebt, unmöglich wäre. Dies ist, wie gesagt, ihr Recht und zugleich ihre Notwendigkeit, innerhalb welcher sie allerdings mit einer gewissen Freiheit walten mag.

26 Nämlich so:

Wie der Held, trotzdem er in geheimnisvoller Weise mit der Idee zugleich empfangen war, und im tiefsten Grunde eines mit der Idee ist, dennoch als ein lebendiges, d. h. endliches und beschränktes Wesen die Idee zwingt, sich in gewissem Betrachte nach ihm zu richten, oder besser ausgedrückt, an seiner Endlichkeit und Beschränktheit zu participieren, also daß er niemals alles thun und sagen kann, was der Dichter ihn thun und sagen lassen möchte – so gehen die anderen Personen, trotzdem sie gewissermaßen nur im Dienste des Helden stehen, keineswegs vollkommen in diesem Dienste auf, sondern behaupten – oft zur Verzweiflung des Dichters – hartnäckig ihre spröde Selbständigkeit. Sie werden gerufen, folgen willig dem Rufe; aber wenn sie einmal da sind, werden sie schwierig und sagen: dies will ich thun, jenes nicht; dies kann ich thun, jenes muß ich lassen.

Nun darf diese Widerspenstigkeit natürlich nicht so weit gehen, das Ganze umzustoßen, denn dann würde der Dichter das Recht und die Pflicht haben, die sich Zudrängenden seinerseits wieder wegzudrängen. Indessen sie geht fast immer so weit, daß der Plan des Ganzen nicht in den großen, ein- für allemal feststehenden Umrissen, aber im einzelnen wesentlich modifiziert werden muß. Da giebt es denn oft ein Handeln und Markten hinüber und herüber, ein Streiten und Debattieren, ein Abwägen zwischen Mein und Dein, daß dem armen Dichter vor dem Wirrwarr der Kopf springen möchte.

Aber er behalte nur den rechten Mut; er lasse sich nur durch all das Hin- und Herreden nicht verwirren, und er wird bald – manchmal zu seiner eigenen Verwunderung – wahrnehmen, wie über dem Lärm der Plan des Ganzen in aller Stille immer weiter rückt, und wenn die Liste der Personen fertig ist, sich in jeder Beziehung zugleich verkörpert und vergeistigt hat.

Ich sage: die Liste der Personen, nicht in Anspielung auf 27 jenes Kuriosum, von dem ich oben berichtete, sondern weil ich mir wirklich in diesem Stadium unweigerlich eine Liste derjenigen Personen anfertige, die ich bis jetzt kenne, d. h., wie wir bald sehen werden, so ziemlich aller, die überhaupt im Romane auftreten werden.

Und zwar enthält diese Liste nicht bloß die Namen der Personen und etwaigen Titel, sondern auch ein ausführliches Signalement in dem biedern Stil der Pässe und Steckbriefe, in welchen eben alles: das Alter, die Größe, die Statur, die Farbe der Haare und Augen, der Teint, und – die besonderen Kennzeichen sorgfältig notiert waren. Man erinnert sich: ich mache in meinen Romanen von dieser meiner Wissenschaft selten oder nie direkten Gebrauch, weil ich mich aus langer Erfahrung überzeugt habe, daß ich keinem Leser einreden werde, meine Heldin sei braun, wenn er sich darauf kapriziert hat, sie blond zu sehen, oder umgekehrt; aber diese geheime Polizeikontrolle ist mir in diesem Stadium noch nötig. Später freilich, wo mir alle diese Gestalten vertrauter sind, als manche Menschen der Wirklichkeit, mit denen ich Jahre lang gelebt, muß ich oft selbst über die pedantische Genauigkeit lächeln, mit welcher ich in den ersten Stadien unserer Bekanntschaft ihnen auf Stirn und Augen gespäht habe.

Und wie ich zu dieser Wissenschaft komme? Genau auf dieselbe Weise, wie ich zu meinem Helden kam: durch Kombination meines inneren Bildes mit einem ganz bestimmten Modelle, bei welcher – ich brauche das kaum zu wiederholen – das letztere sich dem ersteren gern oder ungern accommodieren muß, und accommodiert, aber nur um den manchmal teuren Preis, daß auch das innere Bild etwas von seiner Allgemeingültigkeit abläßt und einbüßt.

Wäre es da nicht besser, ganz ohne Modelle zu arbeiten? fragt der Leser hier; oder nein: er fragt es nicht, denn er hat sich 28 mittlerweile längst überzeugt, daß diese Frage in meinem und, ich bin gewiß, in jedes Dichters und Künstlers Ohr nicht mehr Sinn hätte wie die andere: wäre es nicht besser, wenn der Mensch fliegen könnte? Ich weiß nicht, ob es besser wäre; ich weiß aber, daß er nur im Traume fliegen kann.

Und solchem Traumfliegen und solchen Traumflügen möchte ich die dichterischen Figuren vergleichen, welche, in Ermangelung eines Besseren, ohne Modell von dem Dichter gearbeitet sind.

Ich sage: in Ermangelung eines Besseren, weil es mir außer aller und jeder Frage steht, daß der wahre Künstler nun und nimmer ohne Modell arbeiten wird, solange er es vermeiden, d. h. solange er noch eines, und wäre es selbst ein schlechtes auftreiben kann.

Denn gerade die kluge, gewissenhafte Benutzung seiner Modelle, die ihm in reichster Zahl und Auswahl zu Gebote stehen, ist es, was den Künstler vom leeren Phantasten einerseits und vom prosaischen Pfuscher andererseits unterscheidet; ist es, was seinen Gestalten das vollkräftige Leben, die Fülle sprechender Züge giebt, daß sie, wie ein Porträt Titians oder van Dyks, aus dem Rahmen der Dichtung heraustreten und unter uns wandeln zu können scheinen. – Oder, um nicht in der Schulsprache zu reden: was uns in den Werken der wahren Dichter so entzückt, das ist ihre intime Menschenkenntniß, die offenbar nur durch das sorgfältigste Studium der wirklichen Menschen erworben ist, welches wiederum auf der bei ihnen wie es scheint unermeßlichen Fülle der Beobachtungen basiert.

Aber unermeßlich wie die Fülle scheint, der Dichter weiß, daß sie ermeßlich ist; erfährt nur zu oft, daß ihm bei seiner Bergwerksarbeit in der geheimnisvollen Tiefe der Menschenseele das Licht der Erfahrung ausgeht und er im Dunkeln sitzt.

Er sucht sich nun natürlich zu helfen wie er kann; ja, ehr 29geizig und auf seinen Vorteil bedacht, wie er es sein muß, aus der Not eine Tugend zu machen. Und zwar so:

Er zeigt die Figur, die er in voller Plastik herauszuarbeiten nicht imstande ist, immer nur von einer, und zwar einer und derselben Seite; läßt sie nicht zu viel, und wenn auch scheinbar viel, in Wahrheit immer nur dasselbe sprechen; sie gleichsam nur immer auf einer Saite – E- oder G-Saite, oder welcher sonst – geigen; giebt ihnen, womöglich irgend ein äußeres, ganz besonderes Kennzeichen: eine quäkende Stimme, Haare, die fortwährend bürstenförmig zu Berge stehen, einen engen Wachshut, der ihnen ein- für allemal einen roten Streifen um die Stirn gezogen, und was dergleichen Kunststückchen mehr sind, deren er sich mit um so größerer Unbefangenheit bedient, als er längst aus Erfahrung weiß, wie leicht sich das gutmütige Publikum dadurch blenden läßt. Es ist gewiß jedem Dichter schon begegnet, daß sehr einsichtsvolle Leute von dergleichen humoristischen Figuren, die er gleichsam nur auf eine willkürliche Absonderlichkeit konstruiert hatte, als von ganz vorzüglich gelungenen und nur durch die intimste Beobachtung und die fleißigsten Experimente in corpore vili zustande gekommenen Charakterköpfen sprachen und ihm darüber große Lobsprüche machten.

Ich darf mich für das, was noch zu sagen bleibt, einer größeren Kürze befleißigen, um so eher, als die dichterische Methode in allen Stadien der Arbeit wesentlich dieselbe ist.

Wir treten nämlich jetzt in das dritte Stadium, wobei sich der Leser aber wieder erinnern wolle, daß, was ich hier notgedrungen streng voneinander sondern muß, im wirklichen Verlaufe des Prozesses viel inniger zusammenhängt, ja zum Teil ineinander verläuft. So z. B. reicht in das erste Stadium: die Conception der Idee des Ganzen mit dem Helden, vielfach schon das zweite: das Herandrängen der Helfer und Helfershelfer mit dem genaueren Aufriß des Planes, hinein; wie dieses wiederum 30 in das dritte Stadium vorgreift. Dieses dritte Stadium aber ist die ganz specielle Durcharbeitung des Grund- und Aufrisses, gleichsam eine sorgfältig auf dem Papier mit Lineal und Zirkel ausgeführte Zeichnung der Haupt- und Seitenfaçaden mit Eintragung der bestimmten Maße und sauberer Durchführung aller anzubringenden Ornamente; welchem dritten Stadium dann das vierte und letzte: nämlich der wirkliche Bau, das Auf- und Vermauern jedes einzelnen Form- und Backsteines folgen würde.

So müßte es jedenfalls sein; ich kann nur sagen, daß es bei mir nicht so ist, ich vielmehr in das vierte Stadium hineingerate, ohne das dritte jemals vollständig zu durchmessen.

Oder genauer: ohne es jemals durchmessen zu können; denn nicht, wie manche freundlich gesinnte Aesthetiker meinen: der ungestüme Schaffensdrang, die Ungeduld, nun endlich ans Werk zu gehen, ist es, welche den Künstler jenen von Buch zu Buch, von Kapitel zu Kapitel detaillirten Plan nicht zu Ende bringen läßt, sondern einfach der Umstand, daß das theoretisch Geforderte praktisch seine Kräfte übersteigt.

Ich hoffe, mich durch ein Bild deutlich machen zu können.

Wir versuchen – von einem entsprechend hohen Standpunkte, nehme ich an – einen meilenlangen Weg zu überblicken, der uns durch nicht gerade gebirgiges, aber auch nicht ganz ebenes Terrain zu unserm Ziele führen soll. Ueber das Ziel sind wir und können wir nicht im Zweifel sein, denn es ragt – sagen wir, als vom hellsten Sonnenlichte überglänzte Domkuppel – trotz der gewaltigen Entfernung deutlich erkennbar, in unsern Horizont hinein. Auch über die Richtung des Weges im großen und ganzen kann aus demselben Grunde keine Ungewißheit stattfinden; zwischen zwei Punkten giebt es nur eine gerade Linie, die nebenbei der kürzeste Weg ist.

Daß dieser kürzeste Weg nicht der unsere, sehen wir nun freilich auf den ersten Blick. Denn schon unmittelbar vor uns 31 macht der Weg eine Krümmung nach rechts, um sofort eine nach links zu machen; um dann etwas abwärts und sogleich wieder aufwärts zu steigen; um dann durch ein Gebüsch zu gehen, wo er für eine kurze Strecke unsern Blicken entschwindet, um jenseit des Gebüsches auf einer sanft ansteigenden Wiese wieder sichtbar zu werden; um sich dann durch Felder – wir wissen nicht mehr, ob rechts oder links zu schlängeln; – wir vermuten links, wenn anders der einzelne Baum, den wir auf dem Rücken des Hügels erblicken, da, wo derselbe unsern Horizont abschneidet, an der Wegseite steht. Was von dem Wege hinter der Hügelwelle liegt, sehen wir nicht mehr – aber was schadet das? Das Ziel ist sicher; der erste Teil des Weges liegt bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich vor unsern Augen; und wenn wir bis zu dem alleinstehenden Baume auf dem Rücken des Hügels angekommen sind, wird sich das weitere schon finden.

So ungefähr verhält es sich zwischen dem detaillirten Plan und der Ausführung.

Ich stelle den Inhalt eines Teiles des Ganzen, sagen wir des ersten Bandes eines mehrbändigen Romans mit allen Einzelheiten fest, und gehe dann getrost an die Arbeit, weil ich weiß, daß, bevor ich noch dieses Stück des Weges zurückgelegt habe, ich bereits eben so deutlich das nächste Stück sehe, u. s. w. bis ans Ende.

Aber, man denke nur ja nicht, daß der Wanderer trotz dieser umsichtigen Vorbereitungen glatt und mühelos bis ans Ende gelange. Es ist dafür gesorgt, daß es ihm, und wäre er sich des rechten Weges noch so gut bewußt, an Ueberraschungen aller Art nicht fehlt. Er weiß, daß an einer bestimmten Stelle ein Bach seinen Weg durchschneidet; er hoffte, es führe eine Brücke hinüber; aber als er an den Bach kommt, ist keine Brücke da, wohl aber ein Fährmann, der ihn für ein Geringes an das jenseitige Ufer bringen will.

32 Diese plötzlich aus dem Röhricht auftauchenden Fährmänner, die gar nicht in der Liste, von der wir oben sprachen, figurieren, aus dem einfachen Grunde, weil ich, bevor sie erscheinen, von ihrer Existenz keine Ahnung hatte, sind mir immer besonders merkwürdig gewesen. Als Kinder des Augenblicks, jenes mächtigsten Herrschers, und der allgewaltigen Notwendigkeit, sind sie so voll frischesten, blühendsten Lebens, daß ich an diesen sonderbaren Geschöpfen oft die herzlichste Freude gehabt habe, und die Genugthuung, daß meine Leser diese Freude nachträglich im vollsten Maße teilten.

Ich glaube, ich kann mir und dem Leser den Rest des Weges ersparen, denn, was etwa noch zu sagen wäre über das vierte Stadium: die Ausarbeitung, würde immer wieder auf dasselbe hinauskommen, was wir als Gesetz bei der Schaffung des Helden und der anderen Personen festgestellt halten. Auch bei der Ausarbeitung muß uns in jedem Augenblicke die Fülle der Erfahrungen und Beobachtungen vollständig zu Gebote stehen, welche in ihrer Gesamtheit denn hier und für diese Zwecke ebenfalls Modell im weitesten Sinne genannt werden mag. Wohl dem Dichter, wenn diese Fülle wirklich vorhanden ist; wenn ein glückliches Geschick ihn viel und vieles hat sehen, erfahren lassen; ein glückliches Gedächtnis diesen Schatz treu gehütet, und eine glückliche Gegenwart des Geistes ihn im rechten Augenblick das Rechte finden läßt! Dann wird keine Sturmeswolke über den Horizont ziehen, die nicht ihren Schatten in das Gemüt des Lesers wirft; kein Sonnenstrahl durch das Laubgitter zittern, der nicht dem Leser ins Herz scheint; kein Vogel in den Zweigen singen, dessen Sang nicht im Ohre des Lesers wiedertönt. Und damit ist doch schließlich alles gesagt.

Nur leider nicht auch erklärt.

Sowenig damit erklärt, wie mit jenem Schiller'schen Worte in dem Briefe an Goethe, »daß er nur den, welcher seinen Emp 33findungszustand in ein Objekt zu legen imstande sei, so daß dieses Objekt den Leser nötigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne; daß ihm gerade der Schritt vom Subjekt zum Objekt den Poeten mache«. –

Denn was erfahren wir dadurch?

Immer nur, was die künstlerische, die poetische Kraft bewirkt, keineswegs, wie sie wirkt; wie die Ergießung des Empfindungszustandes in das Objekt vor sich geht.

Nichtsdestoweniger sind wir auf Grund der Beobachtungen, die wir angestellt haben, wohl zu dem Schluß berechtigt, daß es bei der künstlerisch-poetischen Thätigkeit ebenso zugehen werde, wie bei den übrigen Tätigkeiten auch; daß auch in dieser aus nichts nichts kommen könne; das Objekt dem Subjekt freundlich entgegenkommen müsse, wenn der Kontakt, die Verbindung, Verschmelzung beider möglich werden soll; oder, um den uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen: der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein werde.

Wir dürfen diese Auffassung der künstlerisch-dichterischen Arbeit wohl um so mehr festhalten, als niemand in derselben jemals Erfolge und besonders dauernde Erfolge errungen hat, es wäre denn, daß er sich derselben Bedingung unterworfen hätte, der sich, will er erfolgreich sein, der Arbeiter auf jeglichem Gebiete geistiger Thätigkeit unterwerfen muß.

Diese Bedingung ist Fleiß und abermals Fleiß, und Fleiß zum drittenmale: Fleiß, dem nichts zu groß, aber auch nichts zu klein ist; Fleiß, der wieder und wieder feilt und schabt, und dem die Rückseite der Fries-Figuren, die nie jemand zu sehen bekommen wird, nicht minder wichtig ist als die Vorderseite, die jeder sieht. Energischer Fleiß, der durch nichts zu brechen ist, der, wenn sich ihm eine Schwierigkeit in den Weg stellt, sich nun erst recht zusammenrafft und mit dem Objekte, das sich ihm nicht 34 beugen will, ringt und zu ihm spricht: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!

So erscheint uns also die Thätigkeit des Künstlers, des Dichters stets in der zwiefachen Qualität des Findens und Erfindens, und zwar dergestalt, daß nicht etwa das eine Moment nach dem andern einträte, oder die beiden Momente nebeneinander wirksam wären, sondern daß sie fortwährend ineinander spielen; sich beständig eines in das andere umsetzen. Man kann sie deshalb wohl gedanklich immer auseinander hallen, aber ihre Einzelexistenz in den seltensten Fällen überzeugend nachweisen. Von der einen Seite betrachtet, scheint dem Künstler alles gegeben, nichts von ihm erfunden; von der andern alles von ihm erfunden, nichts ihm gegeben. Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben; jedes Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden muß.

Soweit dringt der spürende Blick.

Den Vorgang selbst hüllt ein Schleier ein, den noch niemand gehoben hat und niemals jemand heben wird.

*

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