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Frühlingspracht.

W Wollte es denn gar nicht mehr Frühling werden?

»Nein, so ein Ostwind an Ostern!« sagte Lars kopfschüttelnd. »Der ist heuer noch viel strenger als sonst.«

Noch nie hatte es so lange gedauert, bis man nach Mortensen schickte, damit er den Garten in Ordnung bringe. Am dreizehnten April noch ein Schneesturm!

Und noch nie hatte sich Sulla so sehr nach dem Frühling, dem Sonnenschein und der ganzen Lenzespracht gesehnt – mit dem höchst merkwürdigen Gefühl, daß der Frühling alles gut machen werde – und eine Jahreszeit verändert doch an und für sich nichts. Aber was in der Erde verborgen gekeimt hat – das sprießt doch hervor.

Schneeglöckchen und Eranthis stehen in einem Likörfläschchen auf Großmutters Schreibtisch … Das sind Lebenszeichen vom Garten! Aber doch nur erst kleine Vorboten des Frühlings.

»Kommen Sie doch herunter und sehen Sie sich den Garten an, gnädiges Fräulein,« sagte Lars. »Jetzt beginnen wir allmählich. Aber das Grüne ist noch weit zurück!«

Nein, nein; obgleich sie sich so sehr danach gesehnt hatte, ging sie doch nicht hinunter, um diese ersten bescheidenen, zögernden Versuche zu sehen. Da überfiele sie gewiß große Angst, es werde sich in diesem Jahr gar nichts weiter entfalten und alles nur zu einem kümmerlichen Leben heranwachsen.

Aber diese Wartezeit war wie die Dunkelheit am heiligen Abend in den Kindertagen, gerade ehe die Tür vor dem Weihnachtsbaum geöffnet wurde.

Und indessen hatte Sulla ja das Buch zum Lesen. Es war jetzt herausgekommen und Großmutter zugeschickt worden. Sulla liebte das Buch, das im Garten entstanden war, und auch alle die stillen, reinen Gestalten, die darin umgingen. Nein, es war weder halb noch ganz tot geboren. Es wurde auch der Gegenstand von Beifall und Angriff – die einen klagten, daß es zu liberal, andere, daß es katholisch sei.

Aber es glich den Schneeglöckchen und den Eranthis – Anläufe, nichts als Anläufe. Das Eigentliche stand noch aus. Und wenn jetzt der Frühling kam – – –

Dann wurde ein Kirchenkonzert gegeben zum Vorteil für die Krankenpflege in einem der inneren Stadtteile. Da mußte Sulla an eine Bemerkung denken vom letzten Herbst. Verhungerte Augen! Ach, konnte sie wirklich mit ihrer Stimme Botschaft bringen von dem, was ausgehungerte Menschenherzen satt machen kann? –

Und eines Tages brach die Sonne siegreich durch die kalte, feuchte Wolkenschicht hindurch; sie schmolz alle Überreste von Eis und Schnee zu lauter rieselnden Bächlein und leuchtete so warm, daß die Erde davon dampfte.

Veilchen stehen in einer Untertasse auf Großmutters Schreibtisch.

»Jetzt kommt's,« sagte Lars, »und zwar alles auf einmal. Jetzt sollte das gnädige Fräulein doch hinuntergehen.«

Noch nicht – ach, noch nicht! Nicht, ehe die dicken wolligen Knospen des Kastanienbaums ihre klebrigen bronzegoldenen Hüllen gesprengt haben; nicht, ehe die Büsche mit grünlichen Schleiern fächeln; nicht, ehe die Krokusse mit kleinen gelben und blauen Flammen aus der Erde herausschlagen; nicht, ehe die Tulpen und Osterlilien sich auf schlanken, geraden Stengeln erschließen! Nicht, ehe Leben da ist, verschwenderisch reiches Leben nach allen Seiten hin, so daß man es anfassen und fühlen kann und keine Angst zu haben braucht, der nächste Windstoß werde es ausblasen!

»Aber, gnädiges Fräulein, jetzt kommen wir ja bald in den Mai, und das Erste drunten ist schon fast vorbei!«

Dann eines Tages, ganz plötzlich zieht es sie unwiderstehlich hinunter.

Der Schlüssel steckt im Schloß, weil Lars drinnen beschäftigt ist – »gestern Lakai, heute Gärtner«, wie der Professor einmal sagte. Sie macht die Tür auf und tritt ein –

Und ist mitten drin im Frühling …

Auf dem Hofe hat es gewindet; aber hierher kann der Sausewind nicht dringen. Draußen schien die Sonne auch; aber hier ist es, als legten sich die Mauern wie weiche Arme um die Glut und ließen selbst nicht den kleinsten Strahl entwischen, so daß die heiße Luft über der Erde flimmert.

O ja, es knospt, es grünt, es blüht!

Sulla kann nicht sofort alles unterscheiden, was sich schon erschlossen hat. Der Kastanienbaum – nein, an dem glänzen nicht nur weißlich wollige Triebe, sondern wirkliche Blättchen, wie winzige kleine Finger, die sich zum blauen Himmel ausstrecken … Und alle Büsche – und die Blumen! Es ist ihr, als sehe sie den Garten durch die bunten Scheiben der Pagode: blau und rot, gelb und grün flimmert es ihr vor den Augen … Und wie es duftet – geradezu nach Waldmeister! Oder ist es nur der Duft des ersten Wachstums überhaupt – herrlicher, üppiger Erdgeruch? Nein – wirklicher Waldesduft wogt daher.

Ist es denn möglich, gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen jedem solchen sprossenden grünen Fleck und allen anderen Teilen in dem großen Reiche des Frühlings? Man möchte es fast glauben.

Hier drinnen kann man ja so deutlich fühlen und vernehmen, wie sich alles im ganzen Lande entfaltet, wie es überall treibt und hervorsprießt – wie eine wahre Lebensflut sich ergießt.

Alle Quellen springen, alle Bäche klingen, alle Flüsse – alle Flüsse sprengen die kalte eisige Last. Alle Wellen, alle Wellen tanzen und wirbeln in emsiger Hast – leise entfaltet der Wald seine Kronen – und unten im Moos leuchten weiß Anemonen, und am Raine lugen die Veilchen hervor und mischen den Duft in all den brausenden, singenden, wimmelnden Lebenschor! O dieses Leben, es ist heuer gar nicht wie sonst … Nein, es ist stärker, reicher – und es quillt aus tieferen Quellen hervor. Das Herz der Erde hat sich aufgetan, daher kommt es!

Es war so lange, lange verschlossen gewesen, dieses Herz – war dicht und fest zusammengepreßt. Und alles war in Kälte erstarrt gewesen – fast wie tot.

Aber eines Tages wurde die Erde von einem Sonnenstrahl mitten ins Herz getroffen – da öffnete sich ihr Herz. Und aus diesem wallt nun das Leben heraus. In breiten Strömen wogt es daher – in leisen Tropfen rieselt es … Es steigt hinauf in die großen Baumstämme, so daß sich die Wipfel mit neuem, jungem Laub bedecken – und es sickert hinein in jeden einzelnen Blumenstengel.

Und der Mensch ist nicht ausgeschlossen; auch er hat teil daran – er fühlt alles, alles in sich selbst.

Ach, wie verschlossen ist Sulla gewesen, starr und kalt so viele Jahre lang! Wie eine Schlafwandlerin ist sie einhergeschritten …, aber jetzt ist ihr das Herz zum Zerspringen voll. Das Leben, das sie aufquellen gefühlt hat, will sich betätigen.

Sie steht mitten auf dem Rasen und lehnt sich an den Birnbaum; ihre Hände greifen nach den mit Knospen bedeckten Zweigen.

Jetzt tritt jemand in den Garten – grüßt zu ihr herüber und bleibt, von der herrlichen Frühlingspracht ganz geblendet, stehen.

Das Herz öffnet sich, das Herz öffnet sich! Das Blut wallt ihr in einem warmen Strom durch den ganzen Körper … Das Leben braust ihr in den Adern …, in jedem Tropfen Blut pocht ihr Herz.

Ist sie eben erst geschaffen worden? Die Welt hat ja in einem verschlossenen Garten begonnen! Ist es derselbe, der hier um sie her blüht? Ist er es, der wie ein Traum hinter dem Garten ihrer Kindheit lag, derselbe, dem die kleinen Mädchen den Märchennamen gegeben hatten? Hat er sich jetzt vollkommen vor ihr aufgetan? Ja, jetzt steht sie drin – mitten drinnen – –

Ist sie selbst aus dieser fruchtbaren, sonnendurchfluteten Erde geschaffen, und ist ihr hier der Lebensodem eingeblasen worden, daß sie nun eine lebende Seele geworden ist?

Nein – bei ihr ist es anders zugegangen. Ist sie aus der warmen, klopfenden Herzenskammer eines andern genommen worden, und deshalb nur Herz, nichts als Herz?

Sie weiß es nicht – aber jetzt lebt sie, jetzt fühlt sie, daß sie lebt – nun weiß sie, weiß mit offenen Augen, wer sie ist – und was sie als eine ahnungsvolle Sehnsucht in sich getragen hatte – ihr Herz hat sein Geheimnis erschlossen.

Und vollkommene Lebensfreude erfüllt sie; diese aber ist so stark, so groß, daß sie förmlich weh tut.

Er tritt zu ihr und sagt dabei in lautem, fröhlichem Ton: »Das mußte ich sehen – – ich hatte ja fast vergessen, daß es so etwas gibt. Da merkt man erst, daß man lebt.«

Jetzt ist er am Birnbaum angelangt. Da, plötzlich hält er inne und schaut Sulla an – und ist selbst mitten drin in der verborgenen Welt, in der sie steht.

Sie richtet ihren Blick auf ihn – ihr Herz ist in ihren Augen. Sie legt ihre Hand in die seinige – ihr Herz pocht warm und lebendig in allen ihren Fingerspitzen.

Und ebenso wenig, als man allem, was ringsum grünt und blüht – gelb, rot und blau – gebieten könnte: »Krieche wieder hinein in die engen Hüllen und verschließe dich fest drinnen,« ebenso wenig könnte man Ähnliches einem Herzen gebieten, das sich erschlossen hat.

Tiefe Stille herrscht zwischen ihnen. Der Star zwitschert jubelnd aufdringlich, und Lars' Spatenstiche mischen sich darein.

Er hat ihre beiden Hände umschlossen. Sie fühlt, daß er ihr Herz darin verschließt, um es nie wieder los zu lassen. Sie weiß, er hat seinen Nächsten gesehen – und daß er sie erkannt hat, so wie sie ist. Mit geschlossenen Augen steht sie vor ihm. – Ein solches Glück – es tut zu weh!

Dann ertönt seine Stimme – sie wiederholt nur wie unwillkürlich die Worte von vorhin. Aber der Klang ist nun ganz leise – wie ein Herzschlag. Ihr ist, als höre sie die Worte nicht mit dem Ohr, sondern mit dem Herzen.

»Ich mußte es sehen – – ich habe es ja gar nicht gewußt. Jetzt fühle ich erst, daß ich lebe.«

Unter ihren geschlossenen Lidern dringen Tränen hervor, und sie schlägt die Augen zu ihm auf. »Ich möchte lieber tot sein,« sagt sie innig.

»Wenn es Leben für mich ist, daß Sie da sind?« erwidert er.

Der Star zwitschert und zwitschert – mit unermüdlichem Jubel. Aber von draußen nähern sich sonderbar dumpfe, dröhnende Stöße. Die Gartentür geht auf – und Großmutter Ursula steht da – mit ihrem Stock und ihrem Stubenmädchen.

Rasch geht ihr Sulla entgegen. »Ich wollte mich einmal hier umsehen,« sagt Großmutter. »Heute ist das Wetter so wunderbar schön, und ich weiß nicht, ob ich es so bald wieder tun kann. Lars ist wirklich fleißig gewesen« – er bekommt ein anerkennendes Kopfnicken. Dann wird das Stubenmädchen verabschiedet. Großmutter nimmt den Arm des Professors, der auch herzugetreten ist, und läßt sich nach der Pagode führen, wo sie sich unter die offene Türe setzt, während die andern sich rechts und links von ihr niederlassen.

Aber Sulla ist es höchst sonderbar zumut; ihr ist, als sei Großmutter doch noch immer weit entfernt, als komme sie gar nicht in greifbare Nähe, als entschwinde sie in wogenden Nebel hinein. Es hat so gar keinen Sinn, daß sie dasitzt und daß gesprochen wird.

Ach, alles ist so unwirklich, aber das ist alles andere auch – ausgenommen die Welt, in der sie mit ihm allein ist. Ja, diese Welt ist wirklich, und die beiden haben einen Augenblick darin geweilt, der aber nicht wieder aufhört – in dem sie immer fortleben kann. Einen wirklichen Augenblick – es gibt vielleicht Menschen, die so einen Augenblick überhaupt nicht erleben.

Sie hört die Stimmen der andern und hört auch, mit welcher Anstrengung er spricht; aber sie kann sich noch nicht entschließen, zu sprechen – von gleichgültigen Dingen.

Großmutter sagt, nun werde der Herr Professor wohl bald wieder hier unten arbeiten. O ja, erwidert er, er sehne sich sehr danach. – Ob er vielleicht an einem neuen Buche schreibe, fragt Großmutter.

»Nein, vorläufig nicht,« antwortet er. »Ich trage mich freilich schon seit mehreren Jahren mit der Absicht, meine Sittenlehre heraus zu geben, aber jetzt habe ich einen andern Plan damit, nämlich sie zu kassieren. Es ist mir jetzt, als sei mein Dozieren bisher nur banale geistesarme Holzspälterei gewesen, ohne eine wirkliche Verbindung mit der Wirklichkeit.«

»So spricht man in einer mutlosen Stunde!« versetzt Großmutter mit energischem Kopfschütteln.

»Mutlos – nein,« erwidert er. »Wenn etwas einem Mut machen kann, so ist es gewiß der Augenblick, wo man merkt, daß man sich nicht mehr an einer nur halb lebendigen Ausübung des Berufs genügen lassen kann. Das bedeutet, daß man zu lebendig dafür geworden ist; es ist eine Bestätigung des Lebens.«

Sulla schaut über die Blumen hin – blaue und gelbe Flammen sind es, die aus dem Herzen der Erde herausschlagen – dann gleitet ihr Blick weiter über das grüne Strauchwerk – überall Bestätigung des Lebens. Sie weiß, er sieht sie an – nur sie. Sein Blick umfängt sie wie warmer Sonnenschein; und nur mit ihr spricht er.

»Jetzt soll auch was geleistet werden,« fährt der Professor fort. »Ja, es wird herrlich werden hier im Garten – ich werde meinen ganzen Beruf erneuern. Das ist eine große Aufgabe. Ich hatte meinen Beruf von Anfang an falsch angefaßt gehabt, und er muß von Grund und Bund aus erneuert werden – das Herz muß dabei sein, man muß den Herzschlag förmlich spüren können; und wenn es mir nicht so gelingt, wie ich es jetzt im Sinne habe – dann kann ich ja gehen.«

»Ja, warum auch so ein bißchen Lebensstellung nicht aufgeben! Sie wollen dann vielleicht Drehorgelmann werden.«

»Meinen Sie? Ja vielleicht; und ich hoffe, Sie spendieren mir ein paar Kupfermünzen, wenn ich vor Ihrem Hause spiele. – Übrigens kann ich ja auch Pfarrer werden. Die direkte Verkündigung des Wortes wäre mir überdies fast am liebsten – selbst wenn mir die Stellung in einzelnen Punkten drückend wäre. Aber Reden halten und schreiben kann man ja jedenfalls. Die Hauptsache ist, daß man überhaupt etwas zu sagen, daß man ein persönliches Wort einzufügen hat.«

Während Sulla die Blumen betrachtet, summt sie eine Melodie vor sich hin, fast unhörbar, denn Großmutter kann das Summen nicht ausstehen. Wie es geschah, weiß sie zwar nicht, aber das, was sie erwartet hatte, ist mit ihm geschehen: »Jetzt kommt sie, die prächtige Zeit, worauf ich so lange gewartet …«

Ja, jetzt wird er mehr erreichen, als nur kleine Anläufe. Jetzt werden alte Versprechungen eingelöst, wird alte Sehnsucht gestillt werden – während er seinen Beruf von Grund aus erneuert oder aufgibt – um höher zu greifen. Ach, wie wird da in Großmutters Garten gearbeitet und abgewogen werden! Wenn er hier sitzt, und sie in der Fliederlaube … und die verborgene Welt ganz aufgetan ist. »Strahl hell, du klarer Sonnenschein – und führ den Lenz uns zu – und einen langen, langen Sommer, der nie zu Ende geht.«

Der Professor ist aufgestanden, um zu gehen. »Singen Sie das Lied,« bittet er, sich an Sulla wendend.

Sie wußte nicht, daß sie gesummt hatte; jetzt erst wird sie sich dessen bewußt, daß es das Lied »Er ist gekommen« war.

»Darf ich, Großmutter Ursula?« fragt sie.

»Ja,« antwortete diese mit einem halb unwilligen Nicken. »Aber dann sing auch ordentlich!«

Ach, wie sie jetzt singen kann! Sie soll ihm ja auch alles, alles sagen.

Ihr Herz ergießt sich in Tönen; es ist, als sängen alle Blumen mit! »Nun ist entglommen des Frühlings Segen – der Liebste zieht weiter, ich seh es heiter – denn mein bleibt er auf allen Wegen.«

Sie singt es im stillen noch immer, nachdem er schon gegangen ist, als sie sich plötzlich bewußt wird, daß Großmutter mit ihr spricht und wahrscheinlich einen Satz wiederholt.

»Ich sage, heuer ist es nicht nötig, daß du so viel hier im Garten bist, liebe Sulla.«

»Nein,« erwidert sie ganz mechanisch – aus alter Gewohnheit, sich unbedingt nach Großmutter zu richten.

»Und ich meine auch, jetzt sei der Augenblick gekommen, wo du ihm schreiben solltest – dem Pfarrer drüben.«

Es ist ihr, als erwache sie aus einem Traum. »Wem? was?« fragt sie.

»Ihm kannst du doch nur aus einer Veranlassung schreiben.«

Ist Großmutter verrückt geworden? Sulla richtet sich auf, als schüttle sie etwas ab und sagt: »Meinst du Pastor Dalbom? Dem schreibe ich niemals. Aber warum sollte ich denn auch?«

Großmutter wendet sich Sulla zu, und ihre schwarzen Augen, die so lange verschleiert gewesen sind, blitzen sie an. Aber Sulla ist plötzlich gerüstet. Sie sehen einander wie zwei ebenbürtige Gegner in die Augen.

»Weil das wohl das Richtigste wäre.«

»Wenn ich ihn nicht lieb habe?«

»Das kommt schon, wenn man erst verheiratet – und sonst ehrenhaft ist.«

»Aber warum in aller Welt sollte ich ihn denn heiraten?«

Langsam und scharf erwidert Großmutter: »Um eine Schranke aufzurichten vor etwas anderem – das nicht sein darf.«

Das nicht sein darf! Für Sulla geht etwas in Scherben. – – Ist es das große, frohe Reich des Lenzes? … Verlöschen alle die blauen und gelben Flammen der Krokusse – vertrocknen alle die grünen Knospen und werden braun und dürr? Stirbt der Sommer, ehe er gekommen ist?

Ach, mehr noch, viel mehr! Die Erde selbst wird ihr unter den Füßen weggezogen. Jetzt ist kein Boden mehr da, auf den sie treten kann. Kein Ort, wohin sie sich wenden kann! Sie bleibt unbeweglich sitzen und sieht lange, schwarze Schatten sich herabsenken. – Etwas, das nicht sein darf!

»Ja, du verstehst mich schon, ohne daß ich noch mehr über etwas sage – das man nicht besprechen kann, und wofür mir erst heute die Augen aufgegangen sind. – Du könntest natürlich auch verreisen. Ich habe schon lange gedacht, es müßte einmal etwas Ordentliches für deine Stimme getan werden – und habe einen Sparpfennig dazu auf die Seite gelegt, womit ihr nach Deutschland reisen könntet, du und deine Mutter. Ein Gefühl vertreibt man am besten durch ein anderes aus seinem Herzen, und da ich ganz sicher bin, daß du das willst –«

»Nein, Großmutter Ursula, das will ich nicht.«

Großmutter ist so überrascht, daß sie schweigt.

»Nein – ich habe bis heute nicht gewußt, wie es um mein Herz stand. Was da drinnen verborgen ist, muß mein Geheimnis bleiben, aber eins ist sicher, daß ich es nicht zerstören will.«

»Ach, man soll nicht zu weich mit seinem Herzen sein, denn es verfällt auf die sonderbarsten Dinge – auf ein unerlaubtes Gefühl zum Beispiel.«

»Meinst du ein Gefühl, das niedrig und schlecht ist? Ja, dann will ich es mit aller Macht bekämpfen; wenn du aber eines meinst, das bloß im Widerspruch mit den Verhältnissen steht – so muß es darum noch nicht schlecht sein. Und dann hättest du ja selbst viele Jahre lang ein unerlaubtes Gefühl mit dir herumgetragen.«

Großmutter muß nach Luft schnappen; jetzt bietet ihr das stille, wohlerzogene Klosterfräulein wahrhaftig Schlimmeres, als selbst die lange Ulla! Ist denn die Welt ganz aus den Fugen gegangen? Dann bricht sie in sprühendem Zorn los: »Was hab ich getan?«

»Den Großvater lieb gehabt, obgleich du mit dem Admiral verheiratet warst.«

»Das mag sein. Obgleich – das habe ich dir nicht anvertraut. Aber weder Ludwig Anker noch ich war verheiratet, als wir einander lieb gewannen.«

»Meinst du, das Gefühl wäre dann ein anderes gewesen?«

Doch mit erdrückender Majestät antwortet Großmutter: »Dann wäre es gar nie entstanden.«

»Hättest du denn dann ein anderes Herz gehabt?«

»Was ist nun das für ein Unsinn?«

»Man hat sich doch sein Herz nicht selbst geschaffen – oder bestimmt, wo es hingehört. Dafür kann man nichts. Nur einer weiß vollständig Bescheid in dieser Sache, und nur diesem hat man Rechenschaft darüber zu geben.«

»Ja, wie du dich mit dem wohl abfinden wirst, Sulla? Denn der liebe Gott, der sieht bis auf den Grund.«

»So werde ich mich abfinden, daß er über mein Herz herrschen soll, Großmutter, und es umschaffen, wenn er will. Aber ich tue ihm nicht Gewalt an; ich lege nicht selbst Hand an das Beste, das in mir ist – das wäre Selbstmord.«

»Jetzt sehe ich ein, daß ihr doch zu weltfern erzogen worden seid,« sagte Großmutter. »Du bist so überspannt, daß man fast nicht mit dir sprechen kann.«

Sulla tritt zur Großmutter: »Großmutter Ursula,« sagt sie, »ich will nie mehr hier im Garten weilen. Und ich will auch verreisen, wenn es das Richtige ist; aber mehr kannst du nicht verlangen.«

»Gut,« sagt Großmutter doch ein wenig besänftigt, vielleicht am meisten durch das junge blasse Gesicht; »das ist also ausgemacht und – wir sprechen nicht mehr davon. Ich habe mir hier selbst etwas vorzuwerfen, denn ich war zu kurzsichtig; aber es wird doch wohl noch gut zu machen sein. Komm, laß dich küssen, mein Kind! – – Und jetzt will ich hinauf, denn es wird kalt hier.«

Sulla sollte den Tag bei Großmutter verbringen, und Mutter und Ludolphine kamen zum Essen. Beide fanden es unvorsichtig, daß Großmutter im Garten gewesen war; die Luft sei noch gar nicht so recht warm.

Jetzt war für Sulla wieder alles unwirklich geworden. Ihr war, als sprächen die andern wie aus nebelgrauer Ferne heraus. Tante Fine war ganz erfüllt von der Nachricht, daß Onkel Peter seine Haushälterin wegschicken wollte. Mogensen war allerdings immer etwas eigensinnig gewesen und hatte ohne weiteres den Onkel verleugnet, wenn man ihn besuchen wollte, obgleich er zu Hause war; und zwar nur, weil sie den Tee nicht machen wollte, den er dann durchaus geben wollte, und auch den Kuchen dazu nicht gerne beim Bäcker holte. Aber ausgezeichnet für ihn gesorgt, das hatte sie! Immer war ein warmer Schlafrock bereit, wenn er heimkam, und alles zurecht gelegt, wenn er ausgehen wollte. Wie sollte das nun gehen?

Körbelsuppe, Lammfrikassé mit Spargeln und Prinzessenpudding. Nahm denn das Essen nie ein Ende? Wie sollte Sulla es denn hinunterwürgen? Und dabei immer das Gefühl, daß alles nicht wirklich war – und doch eine Wiederholung … Daß Tante Fines Sätze, daß selbst das Lammfrikassé immer wiederkamen – in dem abgedroschenen, endlosen Kreislauf, den man Dasein nannte.

»Das ist doch dein Leibessen, Ursula,« sagte Tante Fine, indem sie die Gelegenheit benützte, sich noch einmal besonders reichlich zu versehen. Aber Großmutter aß nur wenig.

Nach Tisch konnte sie nicht begreifen, was Lars mit dem Ofen gemacht hatte; es sei ja so kalt in den Zimmern; die andern aber meinten im Gegenteil, es sei zu warm.

»Wenn Sie sich nur nicht im Garten erkältet haben, Großmutter Ursula,« sagte Mutter. »Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Sie noch ein wenig gewartet hätten. Wie sonderbar, daß wir in zwei Tagen schon Mai haben! Ich bin recht froh, daß meine Sulla nun bald wieder drunten sitzen kann, sie ist im Winter gar so bleichschnäblig geworden.«

Sulla nickte ihrer Mutter zu – zu lächeln wagte sie nicht, das hätte schlimm ausfallen können – und sah dann starr gerade aus. Denn jetzt war der Sommer ein grundloses, gähnend schwarzes Winterloch. Ach, wenn es doch erst dunkel wäre! Dann könnte sie doch mit geschlossenen Augen da sitzen, ohne daß es jemand bemerkte; aber es war jetzt so verzweiflungsvoll lang Tag.

Da sagte Großmutter: »Ich habe nun eigentlich gedacht, für Sulla wäre eine Luftveränderung am besten angezeigt. Wenn sie im Sommer mit ihrer Mutter in den Harz reiste und im Winter in Berlin oder Leipzig Gesangsunterricht nähme, ich glaube, das täte ihr gut.«

»Nein, nein, Großmutter, so weit reisen wir nicht von Ihnen weg,« warf Mutter sofort ein.

»Nun, wir sprechen ein andermal davon. Ach, Fine, leg mir den Schal auf die Knie!«

Als die Lichter angezündet wurden, sagten Mutter und Tante, Großmutter sehe blaß aus; und sie fror auch so fortgesetzt, daß man sie schließlich überredete, sich zu Bett zu legen.

Die alte Line, die ihr dabei half, meinte, man solle nach dem Arzt schicken, denn so ein Schüttelfrost sei nicht gut. Aber Großmutter sagte: »Ach was, geben Sie mir ein wenig Holderbeersaft mit heißem Wasser!«

Line ging hinaus, das Verlangte zu holen, und Tante Fine setzte sich ans Bett. Da sagte Großmutter plötzlich: »Jetzt bringt ihr mich nicht mehr herauf.«

»Nein, vorläufig wirst du wohl das Bett etwas hüten müssen – aber später.«

Doch Großmutter unterbrach sie ganz heftig: »Wer spricht denn vom Bett? Du bist doch immer ein wenig schwach im Kopf gewesen, gute Ludolphine. Ich sage: Jetzt bleibe ich gleich hier im Garten. Warum soll ich denn erst noch herauf?«

Tante Fine wendete sich bestürzt nach Mutter und Sulla um, die etwas weiter zurück saßen, und deutete eifrig und mit energischem Kopfschütteln auf ihre eigene Stirne, um anzudeuten, daß Großmutter nicht ganz klar sei.

Da schickte Mutter zum Doktor.

Als dieser kam und fragte, wie es gehe, antwortete Großmutter: »Ich denke, es ist hier warm genug zum Sitzen. Und jetzt bleibe ich hier im Garten, bis der Birnbaum blüht.«

»Das wäre doch gewiß etwas unvorsichtig; da könnten Sie sich leicht eine Influenza holen,« erwiderte er.

»Wo sollte ich die herbekommen? Zu meiner Zeit kannte man sie ja noch gar nicht.«

Der Doktor stellte ein Erkältungsfieber fest und sagte, man dürfe nicht vergessen, daß Großmutter alt sei; aber sie sei allerdings unglaublich kräftig. Und als Line sich anbot, bei der Kranken zu wachen, meinte er, man könne bis zum nächsten Tage warten, ehe man eine Krankenpflegerin bestelle.

Tante Fine wollte durchaus auf einem Sofa schlafen; da dies aber dem Mädchen nur weitere Mühe gemacht hätte, redete Mutter ihr es aus, und so gingen alle drei nach Hause.

Eine lange, lange Nacht – eine schwere, verwirrte Nacht …

»Ach,« dachte Sulla, »wie kann man das alles in sich aufnehmen, ohne daß einem das Herz zerspringt! Wenn man doch hundert Jahre an einem Tage erleben mußte! Wenn an einem Tag das ganze Leben für einen anfing und endete! Nein, das war nicht zu ertragen, unmöglich!«

Ihr Herz hatte sich erschlossen – aber nun war es, als verblute es sich dabei – oder als weine es glühende, unversiegbare Tränen. Ach nein, weinen konnte sie wohl nie wieder – der Tränen waren es zu viele, und sie waren zu schwer! Solche Tränen können nicht geweint werden.

Und Großmutter Ursula lag krank … Eigentlich mußte es ganz schön sein, so ganz still liegen, sich mit seinem ganzen Herzen im Garten einschließen und darauf warten zu dürfen, daß man hinausgeführt werde, weg von dem ganzen heimatlosen, gleichgültigen Wesen – nicht aufstehen, nicht den Koffer packen – nicht weit, weit fortreisen zu müssen – während der Birnbaum sich mit lauter weißen duftigen Blüten verschleiert, während die Dyglitra mit ihren kleinen roten Herzen nicken – während der Goldregen sein leuchtendes Gefunkel anzündet und Lars die Pflanzen begießt – ganz allein, müde und alt, der Ärmste!

Plötzlich stürzten Sulla die Tränen aus den Augen. Lars und die Blumen – ja, das war zum Weinen. Und als sie ihr Kopfkissen naß geweint hatte, schlief sie endlich ein – – –

Dann stand sie im Garten. Die Blumen brachen hervor – sie sangen, während sie sich öffneten. Er sagte: »Wir wollen hören, wie sie singen. Sie wissen es ja alle.« Aber da kam Lars mit einer großen Gießkanne daher und übergoß alle Blumen, daß sie erstickten.

Am nächsten Morgen erkundigte sich Mutter gleich selbst nach der Großmutter. Und während Sulla allein war, bekam sie einen Brief.

 

»Sie müssen mir erlauben, Ihnen ein paar Worte zu sagen, hier mitten in der Nacht – während heller Tag um mich ist. Am liebsten möchte ich Ihnen mein ganzes Leben mitteilen, aber dazu habe ich kein Recht. Und mir ist, als verstünden Sie – auch das, was Sie nicht wissen.

Ich habe Ihnen gesagt, wie sehr ich mich als Kind nach einem grünen, umschlossenen Garten gesehnt hatte. Zwei Vorstellungen hatte ich damit verbunden: erstens eine unergründliche Welt, in die man immer tiefer hineingehen kann. Auf offenen Plätzen und weiten Landschaften entglitt einem eine solche Welt; sie verflüchtigte sich; Mauern gehörten her, die sie einem umschlossen.

Zweitens eine verborgene Gegenwart. Als Kind war ich eines Tages auf einem Landhaus zu Gast gewesen, das von einem verwilderten Garten umgeben war, in den ich zum Spielen geschickt wurde. Nachher sagte ich: ›Es war herrlich, ich war dort ganz allein, hatte aber die ganze Zeit das Gefühl, als sei jemand da.‹ Während man heranwächst und dann immer mehr Menschen um sich herum hat, ist es einem ja so oft, als sei gar niemand da. Desto mehr sehnte ich mich nach einer verborgenen, innigen Gegenwart, die mich nicht störte und nicht zerstreute, weil sie wirklich war – was die anderen Menschen eben nicht zu sein schienen.

Dann lag der Schlüssel zum Garten eines Tages auf meinem Tisch.

Als ich eintrat, hatte ich sofort die stille, grundlose grüne Tiefe vor mir, in die man immer tiefer hineingehen konnte, und mit ganz demselben Gefühl, daß noch jemand da sei. Als ich Sie sah, war ich auch nur überrascht, weil es so richtig war – sonst geschieht ja meistens das Unrichtige. Und da wurde ich betroffen – die beiden Vorstellungen waren ja nur eine.

Niemals habe ich so das Gefühl des inneren, sicheren Wohlbehagens gehabt, wie da im Garten – mit der verborgenen Gegenwart unter den schweren rotlila Fliedertrauben …

Aber diese Stunden hielt ich von meinem täglichen Dasein vollständig abgesondert, ausgenommen insofern, als meine Arbeit im Garten viel besser gedieh und daß sich alte Sehnsucht in mir regte. Erinnerungen an das glühende Streben meiner Jugend, die Träume des Herzens in Taten umzusetzen – diese Träume, die die Klugheit der späteren Jahre mich gelehrt hatte, mit kaltem Wasser zu übergießen.

Als ich Sie in Aarhus traf, war mir die offene Bewunderung, die mein Schwager Ihnen zollte, höchst unangenehm. Sie kam mir wie eine Art Majestätsverbrechen vor, die zugleich einen Einbruch in ein Gebiet bedeutete, wo nur ich Zugang hatte. Mein einziger Wunsch war, Sie forttragen zu dürfen und Sie für immer in die grüne Verborgenheit einzuschließen. Aber ich war mir doch noch nicht klar über mich selbst.

Sie erinnern sich, daß ich Ihnen eines Tages im Garten die ganze vertrocknete Leere meines Innern, die an meinem Leben zehrte und mir unerträglich geworden war, offenbaren mußte? Und Sie mir mit der starken, sicheren Ruhe entgegentraten, die nichts von Resignation oder Kompromiß weiß, weil das gegen das Gesetz des Lebens ist. Darin liegt immer eine Hilfe.

Und im Winter haben Sie mir ein Wort gesagt, das ich so sehr nötig hatte. Die Worte, die ihre Spuren in unserem Leben hinterlassen, sind ja nicht die merkwürdigen, sondern die lebendigen, die einem augenblicklichen Bedürfnis ganz unmittelbar entsprechen.

Wozu das den Anstoß geben kann, darüber schweige ich. Hier sind wir mitten drin in der großen Stille – die nicht mit Worten unterbrochen werden darf.

Aber von damals stammt die Forderung – die unerbittlich starke, daß mein ganzes Leben erneuert werden müßte.

Als ich heute in den Garten kam – –

Als ich in die verborgene Welt hineinschaute – bis in ihr Innerstes hinein – da war es mir eine Bestätigung meiner selbst: Ich existiere, weil ich darin verborgen bin. In demselben Augenblick wurde ich mir auch erst ganz klar über das, was mein eigenes Herz erfüllt. Was ich von der Pflicht gesagt habe, die jetzt vor mir steht, nämlich die Arbeit meines Lebens zu prüfen und gänzlich zu erneuern, war vollkommen richtig. Gelingt mir das nicht, dann bin ich fest entschlossen, zu gehen. Kann man den vollen Schlag des Herzens nicht in seine geistige Aufgabe legen, dann wirkt sie vernichtend auf einen selbst.

Ich kann es nicht so ausdrücken, wie ich möchte, was Sie mir sind. Aber Sie wissen, daß es wahr ist, wenn ich sage: mit dem Besten, was ich armer Mann zu eigen habe, bin ich an Sie gebunden. Zu Ihnen führte mich der reinste Trieb, dessen ein Mensch fähig ist – der des Geistes.

Ich weiß nicht, wie ich die Aufgabe lösen sollte, die mir bevorsteht, ohne an dem einen einzigen Ort zu sein und ohne die verborgene Nähe zu haben, die wie eine lebendige Hilfe ist.

Aber wie es werden soll, das müssen Sie entscheiden. Ich lege es vollständig in Ihre Hand, und wenn eines den Garten verlassen muß, so bin ich es.

Ich gehe aber doch nicht, wie ich gekommen bin. Erinnern Sie sich, was Jakob zu Joseph sagte, als sie sich nach all den langen Jahren wieder sahen: ›Jetzt will ich gerne sterben, nachdem ich gesehen habe, daß du lebst.‹ Die Bestätigung des Lebens kann einem nicht genommen werden.

Hjalmar.«

Mutter hatte gesagt, wenn sie zum Frühstück nicht da sei, erwarte sie Sulla bei der Großmutter.

Tante Helene war auch da. Der Arzt hatte die Krankheit jetzt für Lungenentzündung erklärt. Großmutter atmete schwer und röchelte auch ein wenig; das klang sehr unheimlich, aber sie jammerte eigentlich nicht. Als jedoch Tante sagte: »Es geht dir wohl gar nicht schlecht, Mutter, denn du klagst ja gar nicht,« erwiderte Großmutter: »Das habe ich nie getan, meine Liebe.«

Eine Krankenpflegerin wollte Großmutter nicht haben und eine Nachtwache ebenso wenig. Aber der zweite Begriff war ihr doch offenbar lange nicht so zuwider wie der erste. Man einigte sich daher folgendermaßen über die Pflege: Line, Julie, Tante, Mutter und Sulla sollten abwechslungsweise um die Kranke sein; bei Nacht sollte eines bei ihr sitzen und das andere im Nebenzimmer schlafen.

Tante Fine sollte so wenig wie möglich herangezogen werden; sie war sehr willig, wirkte aber ermüdend auf Großmutter. Wenn sie eine Weile bei ihr saß, wollte sie gleich harmlose Neuigkeiten berichten, weil sie meinte, sie könnten Großmutter etwas aufheitern; aber dann unterbrach Großmutter sie immer rasch: »Ich will nichts mehr von den Händeln dieser Welt hören; damit bin ich fertig, Gott sei Dank!«

Die Tante bat Sulla, die Verwandten von Großmutters Erkrankung zu benachrichtigen und auch ein paar Worte an Professors zu schreiben, die Julie hinauftragen könnte. Sulla schrieb an ihn: »Großmutter ist erkrankt; es sieht bedenklich aus. Wir sind alle sehr betrübt. Danke! Sulla.« Alsdann wurde der Brief hinaufgeschickt.

Zuerst kam die Frau Professor, dann er selbst; aber da saß Sulla bei der Großmutter. Und die andern ließen die Besuche nicht ins Krankenzimmer herein.

Es wurde eine schwere Lungenentzündung. Am siebten Tage erwartete der Doktor die Krisis; und sie brachte auch eine Wendung zum Bessern. Das Fieber sank beinahe auf normale Temperatur herab, und die Kranke konnte leichter atmen; aber jetzt handelte es sich um die Kräfte, und da zeigte es sich bald, daß diese sich nicht mehr ersetzten.

Ach, diese merkwürdigen Tage und Nächte – die förmlich ineinander flossen; während draußen der Frühling warm und jubelnd einzog – aber in Großmutters Krankenstube ging einen das gar nichts an. Man war dem Leben draußen wie entrückt.

Allmählich lag Großmutter nur noch ganz still da; sie genoß fast nichts, rang nach Atem und war meist nicht ganz bei sich; sie glaubte sich beständig im Garten, oder daheim bei ihren Eltern, und sie wollte Seide wickeln, die Ludwig Anker für sie hielt. Nur ab und zu war sie auf kurze Augenblicke bei klarem Bewußtsein.

Ulla hätte Großmutter gerne gepflegt – aber nun durfte sie ihr Kind nur noch wenige Tage behalten. Sie sei auch zu angegriffen dazu, sagte die Tante, und die Türe hier sei ihr ja überdies verschlossen. Aber als Ulla hörte, daß Großmutter nicht bei sich war, bat sie aufs innigste, doch nur ganz stille an Großmutters Bett sitzen zu dürfen. Ach, nur einen Augenblick!

Sie kam dann auch und lauschte wohl eine halbe Stunde lang auf die schweren röchelnden Atemzüge der Kranken. Als Großmutter einmal zu trinken verlangte, reichte Ulla ihr das Glas und stützte sie. Aber die Kranke wurde auf das leise Klirren von Ullas Armbändern aufmerksam. Sie betrachtete den Arm einen Augenblick, und als sie wieder in ihrem Kissen lag, sagte sie: »Na – du bist's?«

»Ja, Großmutter Ursula,« erwiderte Ulla ganz leise. »Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt. Und ich durfte doch kommen, nicht wahr?«

Großmutter schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Ja, dich hab ich eigentlich am liebsten gehabt – nun weißt du es. Ja, ja, Schmerzenskind, Herzenskind – das habe ich zu fühlen bekommen.« Dann drehte sie das Gesicht der Wand zu; das war ein Zeichen, daß sie jetzt nicht weiter sprechen wollte.

Am Nachmittag sagte sie plötzlich: »Ich möchte das Abendmahl nehmen.« Da wurde rasch nach dem Stiftspropst geschickt. Und während der Anwesenheit des Geistlichen war die Großmutter die ganze Zeit merkwürdig frisch und klar.

Aber von diesem Tag an sprach sie eigentlich nicht mehr und wollte auch nicht, daß man mit ihr redete. »Jetzt will ich in Ruhe sterben dürfen,« sagte sie. Nur von Ludwig Anker sprach sie ab und zu ein Wort. Er, der seit mehr als vierzig Jahren dahingegangen war, schien ihr jetzt viel gegenwärtiger zu sein, als alle andern. Sulla verstand das gar gut; er war ja die Wirklichkeit in Großmutters Leben gewesen.

»Das ist eine lange Wartezeit gewesen,« sagte Großmutter einmal. »Doch nur für mich, nicht für ihn. Es tut mir wohl, daß ich das weiß. – – Aber jetzt ist auch sie bald vorüber, und wir dürfen wieder zusammenkommen. – – Im Garten mußte ja erst alles in Blüte stehen, gerade wie damals.«

In der letzten Nacht war sie nicht bei Bewußtsein – sie war zuerst wohl noch etwas unruhig und rang nach Atem, aber dann trat tiefe Ruhe ein. Gegen Morgen stand der Atem fast unmerklich still …

Und nun lag Großmutter Ursula so weiß und feierlich still da, daß es war, als ziehe etwas Großes in das Gemach ein.

Sulla dachte: »Jetzt hat ihr Herz sich aufgetan, jetzt hat es die enge, hemmende Hülle, die es umgeben hatte, gesprengt, jetzt erschloß sich seine Blüte im Lichte.«

Jeden Morgen, solange Großmutter Ursulas entseelter Körper noch in der alten Heimat weilte, ging Sulla in den Garten hinunter – ach, wie weit war nun alles herangewachsen; es blühte über und über! – und pflückte Blumen, die sie dann auf das weiße Linnen des Totenlagers streute.

Der Garten, den man sonst im Frühjahr kaum berühren durfte, gab nun täglich Blumen für die Tote.

Ja, ja, Sulla hatte es ja eigentlich längst geahnt. Und jetzt war es ihr, als habe der Garten plötzlich gar nichts mehr mit den Lebenden zu tun. Einen einzigen Frühlingstag lang, an jenem Tag, wo das Leben hervorgebrochen war wie noch nie, da hatte der Garten ein so reiches Leben gehabt, daß er sich ausgelebt, daß er sich zu Tode geblüht hatte.

Und doch, und doch – er war noch gar so frisch und grün! Er spendete schon Schatten, und die hohen Wipfel wölbten ihre grünen Laubdächer. Den Sommer über erhielt er sich doch wohl noch am Leben. Ach, nur einen Sommer noch – in der verborgenen Welt, der einzigen wirklichen – wo man zu zweit war – wo Leben war – ja mehr, wo man Leben gab!

Mußte sie denn reisen? – – Wer hatte es gesagt? Die Tote? Ach ja – wie sorgsam bewahrte man alle Worte, die die Tote gesprochen hatte! Wie gerne fügte man sich ihnen, um das Verhältnis noch mit beiden Händen festzuhalten! Aber die Toten hatten doch keinen so großen Anspruch wie die Lebenden. Und die Macht über ihr eigenes Leben ließ Sulla sich nicht nehmen.

Nein, sie selbst wollte fort – wenn es recht war. Aber darüber mußte sie sich erst ganz klar werden.

Am letzten Morgen vor der Beerdigung hatten sich an einem der kleinsten Zweige, die am meisten Sonnenschein erhielten, ein paar weiße, duftig zarte Blüten erschlossen. Sulla pflückte das Zweiglein und legte es der Toten auf die Brust.

So bekam Großmutter Ursula Ludwig Ankers ersten Kuß mit und schlief wie im Schutz des Birnbaums, unter dessen Schatten sie ihr ganzes langes Leben verbrachte und an dem sich die Blüte ihrer Liebe einst erschlossen hatte.

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