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Lutetia.

D Das zweite, was man bei Großmutter Ursula so sehr liebte, war ihr Garten.

Dieser Garten gehörte ausschließlich zur Beletage des Hauses, und weil Großmutter schon vor ihrem langen Witwenstand mit dem Großvater da gewohnt hatte und auch nicht gewillt war, auszuziehen, ehe sie auf den Kirchhof hinauszog, war ihr Recht auf den Garten allmählich ein Eigentumsrecht geworden. Für die Kinder jedoch war und blieb der Garten ein Teil von Großmutter Ursula selbst, etwas, das mit der Großmutter stand und fiel.

Ganz merkwürdig – wie ein Geheimnis – lag dieser Garten hinter dem großen, breiten Hofplatz. Man ahnte gar nicht, daß er überhaupt da war. Über die großen Pflastersteine, die sogar unter den Schritten der kleinen Mädchen widerhallten, kam man an eine dicke Mauer mit einer Türe, zu der der Schlüssel gewöhnlich in Großmutters Tasche steckte. Und immer wieder war es ein spannender Augenblick, wenn der Schlüssel in dem Schloß umgedreht wurde. Die Türe ging auf – grün wogte es einem entgegen, es sang – – »hier bin ich – hier bin ich!« – – Noch auf zwei Seiten stießen die mit wildem Wein und Kaprifolium dicht bewachsenen Mauern an andere stille herrschaftliche Gärten, und nur auf einer Seite erhoben sich hohe graue Häusermauern, die aber von den Bäumen ganz verdeckt waren und auch keine Fenster hatten, so daß also niemand hereinschauen konnte.

Mitten im Garten war ein schöner Rasenplatz in Form eines – freilich etwas verwachsenen – Herzens mit zwei großen Beeten, aus denen viele rote und weiße Rosen blühten, und zwischen ihnen stand eine Sonnenuhr auf einem schönen alten Sockel.

Die Sonnenuhr hatte den Gang der Sonne und die Stunden von Großmutters Glück schon in dem fernen urgroßväterlichen Garten angezeigt, und nach dem Tode des Urgroßvaters hatte die Großmutter sie nach Kopenhagen kommen lassen, wo sie zuerst in dem dunklen Keller des Admirals ihr Dasein fristen mußte, später aber doch hier im Garten auf dem Rasen die Zeit nach der Sonne anzeigen durfte, und wo sie nun seit mehr als einem Menschenalter stand. Lautlos und ruhig – jedoch lange nicht immer – verkündete sie den Fortschritt der Zeit, aber durchaus nicht wie die lauten, rastlos jagenden, atemlos tickenden Uhren in der Stadt. Es war einem auch, als gleite die Zeit hier viel unmerklicher dahin als sonst wo und als nehme sie sich dazwischen ab und zu einmal Muße, ganz still zu stehen – nachdenklich stille …

Eine kleine Strecke von der Sonnenuhr entfernt stand ein Birnbaum – ja natürlich! –, der seinen zarten Blütenschnee auf das weiche grüne Gras hinunterrieseln ließ und nicht besonders süße Frühbirnen trug. »Aber es sind doch nicht die richtigen altmodischen Sommerbirnen mit dem echten herben Geschmack; diese kann man leider fast gar nicht mehr bekommen,« pflegte Großmutter zu sagen.

Dicht vor dem Rasen, nur durch den Kiesweg getrennt, stand ein hoher hölzerner Pavillon mit bunten Fensterscheiben, zu dem einige Stufen hinaufführten, und den Onkel Wilhelm »die indische Pagode« nannte. Rechts davon ragte ein großer Kastanienbaum auf mit seinen festlichen wie Weihnachtskerzen schimmernden Blüten, und links eine schlanke Akazie mit ihrem bebenden zarten Laub und ihrer wie aus Mondschein gewobenen Blütenpracht …

An dem entgegengesetzten Ende des Gartens war ein ehrwürdiger altmodischer Nußbaum und sonst noch viele blühende Büsche und Sträucher: Flieder, Goldregen, Dyglidra mit kleinen schwankenden Herzen, Jasmin – überdies einzelne Johannisbeer- und Himbeerstauden. Immer stand irgend etwas in voller Blüte und duftete im Sonnenglanz dieses Gartens, während weiße Schmetterlinge unsicher und langsam umhergaukelten, als seien sie von all dem Duft leicht berauscht.

Von dem Augenblick an, wo im April das erste Grün hervorsprießte, bis im Herbst der wilde Wein an der Mauer seine letzten blutigroten Blätter fallen ließ, waren die Kinder fast täglich in Großmutters Garten. Einen sichereren Ort, wo ihre kleinen Mädchen besser aufgehoben gewesen wären, konnte Mutter sich ja gar nicht wünschen, als diesen geschlossenen Platz, zu dem der Schlüssel in Großmutters Tasche aufbewahrt war; da konnte man sie schon allein lassen.

Die ganze Ecke um den großen Nußbaum herum war den Kindern eingeräumt. Da hing an zwei der dicksten Zweige ihre Schaukel, und da hatten sie ihre eigenen kleinen Beete, wo sie nach Herzenslust säen und pflanzen, gießen und pflücken durften, und wo Sulla, als sie noch sehr klein war, weiße Perlen gesät hatte, »damit sie zu einem Halsband heranwachsen könnten.« Da war auch ihr eigenes Gartenhäuschen unter den Fliederbäumen mit zwei kleinen Bänkchen und einem niederen Tischchen, wo sie sich aufhalten konnten, ihre Aufgaben lernen, oder ihre Geschichtenbücher, die Mutter für sie ausgewählt hatte, lesen, oder mit ihren Puppen spielen und ihnen ein Festmahl herrichten konnten, das aus weißen Johannisbeeren oder Himbeeren bestand, die auf Rosenblättern serviert wurden. O, und es gab noch mehr Herrlichkeiten da – und dazu gehörten ganz besonders die Vorstellungen, die die kleinen Mädchen an diese ganze Umgebung knüpften.

Den ganzen Sommer hindurch brachte Mutter oder das Dienstmädchen die Kinder gleich nach dem Essen in den Garten, und der Diener Lars begleitete sie dann zum Abendbrot wieder nach Hause; in den Ferien waren sie auch schon vormittags da, und dann brachte ihnen Großmutters alte Line ihr Frühstück: Butterbrote, wie nur Line sie zurecht machen konnte, und jedem ein großes Glas Milch.

Hier im Garten spielten sie alle ihre Kinderspiele, hierher trugen sie alle ihre Erwartungen, und alles, was sie Großes und Schönes lasen – besonders in den Gedichtbüchern, die sie über alles liebten – das erlebten sie dann im Schatten und Sonnenschein des Gartens. Selbst das, woran sie sich nur schwach und nur in Bruchstücken erinnern konnten, fanden sie hier wieder.

– In ihren frühen Kinderjahren waren die beiden Mädchen nämlich einmal auf Reisen gewesen. Der Vater, der immer so rastlos und von so sonderbaren Ideen besessen gewesen war, hatte einige Jahre in französischen Diensten gestanden, und während dieser Zeit hatte Mutter mit ihren kleinen Mädchen bei der Großmutter gewohnt. Aber plötzlich wollte Vater seine Familie bei sich haben, weil er gerade einige Zeit mit ihnen in Paris verbringen könnte.

Von diesem Aufenthalt hatten die Kinder eine Menge verwirrter Ideen mit nach Hause gebracht, die sie später nicht mehr so recht auseinander halten konnten. Aber in Großmutters Garten, da gelang ihnen das doch hin und wieder, und da wurden die Vorstellungen manchmal so klar, daß sie Namen bekamen.

So war zum Beispiel zwischen den Rosen eine besonders schöne weiße – wenn die Kinder daran rochen, so waren sie im Bois de Boulogne …, dann tauchte vieles vor ihnen auf: helles Wasser – viele Blumenbeete auf dem Rasen – und auch auf den Wegen, großen Blumenbeeten gleich, unzählige buntgekleidete, hüpfende Kinder …

Wenn der Akazienbaum blühte, hieß es plötzlich Fontainebleau … Und dann wogte es ringsumher süßlich, wie blühende Haine, die im hellen Mondschein dufteten …

Wenn in der indischen Pagode von den bunten Scheiben blaue und gelbe Flecken auf den Boden fielen, dann leuchtete eine blaue und gelbe Helle durch einen stillen, marmorweißen Raum … Und dann stand man unter jener feierlichen Wölbung, wo man kein Wort sprechen durfte, um den großen Toten nicht zu stören, der da nach seiner schweren Niederlage schlief – in seinem roten steinernen Sarkophage – während alle seine Siege ihre Namen ganz leise in seine Träume hineinflüsterten …

Aber wenn die Sonne mit vollem Glanz durch die bunten Scheiben spielte, dann wurden sie zu Mauern aus Glas, die wie Juwelen und Feuerflammen funkelten. Und dann hieß es Sainte Chapelle

Über dieser leuchtete der Name Ludwigs des Heiligen, der Name, der auch der des Großvaters war, und der einen so milden Klang hatte wie sonst keiner. Einen so milden Klang, daß er sogar die Schrecken eines Schafotts mildern konnte, in dem Augenblick, wo sich das Haupt eines Königs unter das Fallbeil der Guillotine hatte beugen müssen, und wo es wie mit Engelsstimmen erklungen hatte: »Sohn Ludwigs des Heiligen, steige auf zum Himmel!«

Die ganze strahlende Seinestadt, dieses erste Erlebnis ihrer Kindheit, war für die Kinder in Großmutters Garten eingeschlossen. Und so oft jene Stadt vor ihnen aufstieg, wurde sie jedesmal strahlender und von der Wirklichkeit immer weiter entfernt. Sie hatten gehört, daß Paris in alten, alten Zeiten »Lutetia« genannt worden war, und das verstanden sie sehr gut: Ja, das mußte ihr richtiger Name sein.

Aber Lutetia – wurde ihnen noch viel, viel mehr. Diesem Namen hörte man sofort an, daß er nicht nur eine Stadt war. Es war auch nicht nur ein Land – das ganze schöne Seiden- und Weinland da drüben, das bis zum veilchenblauen Mittelmeer reichte, nein, es war nicht nur alles, woran man sich erinnerte – fast unfaßbar zart, leichtzerreißlich und dämmerig, wie ein Spinnengewebe mit glänzenden Tautropfen darin – es war noch viel mehr, war alles, was kommen würde – die ganze verhüllte, rätselvolle Jugend, die vor ihnen lag und langsam herbeiglitt – wie ein Märchen. Lutetia – das war alles, was hell und herrlich war, alles, was sang und klang und blühte, alles, was geheimnisvoll und von Liebe erfüllt war …

Lutetia – das war eine Welt. Und sie lag in Großmutter Ursulas Garten verborgen – gerade wie in den chinesischen Büchschen immer eins im andern drinnen liegt.

In diese Welt traten die Kinder ein, so oft sich die Tür in der Mauer vor ihnen erschloß.

Draußen lag die Welt, die lärmende, staubige, prosaische, werktäglich hastende Welt – mit den über die glühend heißen Pflastersteine hinrasselnden Wagen, mit dem Menschengewühl, mit lebensgefährlichen Radfahrern, mit schreienden Zeitungsverkäufern, mit großen, zähnefletschenden Hunden, mit langen, unartigen Straßenbengeln und noch vielem anderem, was kleinen Mädchen gefährlich werden kann.

Man mußte allerdings oft in die Stadt gehen, mußte in die Schule und in Läden, des Tages Geschäftigkeit spielte sich da draußen ab; und es gab ja auch wirklich manches Vergnügen draußen. Aber dann war es herrlich, daß man noch einen Ort hatte, wo man vor all diesem Getriebe ganz im Frieden war – und in den Garten konnte die Stadt nicht hereinschlüpfen. Sie hätte es zwar gerne getan, denn die Stadt war gierig und hätte am liebsten jeden solchen grünen, duftenden Platz verschlungen. Aber die hohen Mauern hielten sie zurück; ja, sie waren zuverlässig, die Mauern mit dem verschlossenen Tor, wozu der Schlüssel sicher in Großmutter Ursulas Tasche ruhte.

Jetzt mußte sich die Stadt hübsch damit begnügen, draußen auf der Lauer zu liegen; nicht einmal ihren aufdringlichen Lärm konnte sie so recht hereinschicken, sondern nur als ein fernes zorniges Rauschen, als ein gedämpftes Brummen. Aber man hörte es wohl, es lag wirklich etwas Feindseliges, drohend und lockend zugleich, in dem Tone … etwas Feindseliges, das in erster Linie der schönen heimlichen Welt, die Lutetia hieß, den Garaus machen wollte.

Die Kinder meinten bisweilen, diese Welt sei gewiß hier hereingezogen, weil man sie draußen verfolgt hatte; und da sei es nur gut, daß sie sich hier habe verstecken können, ehe sie draußen eingefangen worden war.

Denn ohne diese Welt wär gar nichts Besonderes am Leben gewesen, und das Heranwachsen und das Großwerden hätte gar keinen rechten Wert gehabt; denn gerade in dieser Welt sollte man ja einstmals das spannende Geheimnis erleben, jenes Zusammentreffen mit jenem Einzigen, der anders war, als alle andern, und den man auf den ersten Blick für Zeit und Ewigkeit lieben würde. Selbstverständlich gab es viele Menschen, die von einer solchen geheimnisvollen Welt gar keine Ahnung hatten und sich doch verheirateten – ganz außerhalb von ihr. Aber das war ein trauriger Gedanke, den man verachtete. Denn sich verheiraten, das war doch die Krone von allem. Und das durfte nur auf die erhabenste, königlichste und weltentrückteste Weise geschehen – mit dem einen Auserwählten und in der Welt, wo die Mädchen zu Hause waren.

Auch das Spiel der Kinder bekam an diesem wunderbaren Ort unwillkürlich einen romantischen märchenhaften Anstrich. Selbstverständlich konnten sie auch beim Haschhaschspiel stürmisch quer über den herzförmigen Rasenplatz hinjagen, was nicht unbedingt erlaubt war, oder auf die Bäume klettern, was unbedingt verboten war, und nicht damit entschuldigt werden konnte, daß Großmutter selbst es einst getan hätte, »denn was ich Dummes getan habe, braucht ihr doch wohl nicht nachzumachen.«

Aber all dieses rechneten die Kinder selbst nicht für ihre richtigen Spiele. Diese kamen erst, wenn die verborgene Welt sich vor ihnen auftat – jene Welt, von der nur die Pariser Puppen Bescheid wußten, und in die diese unentwegt immer mit demselben freundlich verwunderten Ausdruck in ihren blauen, unbeweglichen Augen hineinstarrten.

Dann wurde die Pagode entweder zum Dornröschenschloß mit dem schlafenden Garten ringsumher, wo die Rosen auf den großen Beeten träumten, während die Mücken in der sonnenheißen Luft hingen und schliefen …, oder zu einem Kloster mit einem kühlen, friedevollen Säulengang …, oder wohl auch zu einer düsteren Räuberhöhle, tief drinnen in dem großen Ardennenwald …, oder zu einem Feen-Palast auf einer sonnigen Aue, wo Edelsteine aus dem Boden herauswuchsen.

Die Kinder selbst und die Pariser Puppen waren abwechslungsweise Märchenprinzessinnen, Nonnen mit gebrochenen Herzen, gefangene Edelfräulein, leicht dahinschwebenden Feen … Besonders Sulla konnte in dieser Art zu allem gebraucht werden; denn sie war ihrem Vater ähnlich, und der hatte Großmutters sprudelndes Leben und zugleich auch die Schwermut des Großvaters im Ausdruck gehabt. Das war sehr merkwürdig – ja Sullas Augen konnten geradezu die Farbe wechseln; und überdies trug Sulla ihr Köpfchen wie eine Königin. Aber Marie Luise war auch hübsch mit ihren frohen Augen und ihrem dichten schwarzen Lockenhaar.

Die Hauptperson in den Spielen zeichnete sich dadurch aus, daß sie immer abwesend war. Diese Person war es, die anders war als alle andern, und sie war bald der Prinz, von dem Dornröschen hundert Jahre lang geträumt hatte, bald der Ritter, der die unglückseligen Nonnen entführte oder die edlen Jungfrauen befreite. Aber die Abwesenheit erhöhte nur die Erwartung.

Dagegen konnte Großmutter Ursula viele andere Rollen übernehmen. Bei stillem, warmem Wetter pflegte sie wohl vormittags ein paar Stunden mit ihrer großen Straminstickerei unter der Tür der Pagode zu sitzen. Und wenn dann die Kinder in ihrer Märchenwelt waren, war sie bei weitem kein solcher Friedensstörer wie sonst. Sie hielten sich allerdings in ihrer Ecke unter dem Nußbaum, aber sie gebrauchten die Großmutter als Staffage.

Obgleich Großmutter keine Miene verzog und ihre Stellung nicht veränderte, auch keine Ahnung davon hatte, daß sie mitspielte, war sie doch abwechslungsweise die böse Stiefmutter, die hexen konnte, die unerbittlich strenge Äbtissin, die alte Haushälterin des Räubers, die gute prächtige Feenkönigin … Und sie paßte ausgezeichnet zu allen diesen Rollen; die Spiele wurden dadurch viel anschaulicher.

Bisweilen spielten die Kinder auch »Großmutter Ursula und Ludwig Anker«, aber niemals, wenn Großmutter selbst anwesend war. Dann saß eines von ihnen auf dem Birnbaum, während das andere schüchtern und zögernd über den Rasen daherschritt, anhielt, aufschaute und ein paar Birnen an den Kopf bekam – dieses Spiel paßte am besten, wenn die Birnen am Reifwerden waren – und dann anfing, das Gedicht zu deklamieren, das die Kinder ganz auswendig konnten. Es war beiden Kindern, als müßte das alles einstmals hier vor sich gegangen sein, oder dieser Garten müsse unbedingt eine Fortsetzung des fernen großväterlichen Gartens sein.

Wenn nun Großmutter Ursula unter der Tür der Pagode saß und dazwischen die Nadel ruhen ließ, um sich umzuschauen, dachten die Kinder, nun habe die Großmutter wohl ganz dasselbe Gefühl wie sie.

Der Sommer im Garten der Großmutter, das war die schönste Zeit für die Kinder; es kamen ja wohl auch trübe Tage und langweilige Stunden, aber an die dachte man nachher nicht mehr.

Onkel Wilhelms Villa war von einem prächtigen Garten umgeben mit einem Krocketplatz, mit Ring- und Ballspiel und anderem Zeitvertreib, was alles die kleinen Mädchen nicht hatten, weil kein Platz dazu da war und weil dann der Großmutter einmal etwas an den Kopf hätte fliegen können. Trotzdem war den Kindern Onkel Wilhelms Garten bei weitem nicht so lieb wie Großmutters; des Onkels Garten stieß dicht an die Straße, wo die elektrische Straßenbahn vorbeiklingelte und wo die Vorübergehenden hereinschauen konnten. Er war auch laut und staubig: man hatte die Welt da ganz nahe – und dann war auch gar nichts dahinter, es fehlte einem immer etwas.

Den Kindern wurde es stets ein wenig schwer ums Herz, wenn der Winter kam und die Türe vor der ganzen Sommerfreude und vor der heimlichen Welt, die in Großmutters Garten verborgen lag, zuschloß. Jene Welt lag dann da drinnen und schlief, und wenn der Schnee weich und dicht darauf fiel, war es ihnen, als werde dieses schlafende Reich nun sanft eingebettet, wie in ein weiches, gutes Bettchen.

Der Winter brachte freilich die liebe Weihnachtszeit, die festlichste aller Zeiten, den Kinderball bei Onkels, wozu Kadetten kamen, und noch vieles andere Schöne; aber trotzdem hätten sie ihn am liebsten übersprungen, um gleich zu dem Augenblick zu gelangen, wo das Leben wieder hervorsprießte, wo das junge Grün herauslugte, wo es innerhalb der Mauern zu zwitschern begann, wo die schlafende Welt sich rührte und schließlich die hellen Augen ganz aufschlug, zugleich mit den ersten Lenzesboten.

Wenn Sulla und Marie Luise später auf ihre Kindheit zurückschauten, war es ihnen, als verschwänden die dunklen Winterzeiten, und als sei die Kindheit eine ununterbrochene Reihe sonniger Tage gewesen, dort zwischen den mit wildem Wein und Geißblatt bewachsenen Mauern, in der schönen verborgenen Welt, die sie Lutetia genannt hatten.

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