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Der Herbst vergeht.

E Ein scharfer kalter Regen klatschte schwer an die Fensterscheiben. Der Sommer war plötzlich so fern – wie von einer Woge weggespült.

Ulla hatte Mann und Kind verlassen; sie war vorläufig zu ihren Eltern zurückgekehrt.

Sulla war bei Großmutter, als Tante Helene ziemlich verweint ankam, um es mitzuteilen. Sulla wollte gehen, aber der Tante Augen baten sie, zu bleiben; sie brauchte vielleicht auch Hilfstruppen, wie Ulla damals – ach damals, wie weit lag das nun zurück!

»Mutter, ich wollte dir sagen, daß Ulla heimgekommen ist.«

Großmutter Ursula hatte sofort die Brille abgenommen und ihre Nadel in den Stramin gesteckt. »Ist sie verreist gewesen?«

»Nein, aber ist zu uns zurückgekehrt.«

»Zu euch zurück? Sie hat ja ihr eigenes Heim!«

»Ja – aber das hat sie verlassen, Mutter. Denn –«

Großmutter streckte die Hand aus. »Na, so also! Dann will ich kein Wort weiter davon hören.«

»Doch, Mutter, ich muß es doch wenigstens erklären dürfen.«

»Nein, verschwende keine Zeit mit etwas, was nicht erklärt werden kann. Du weißt, ich habe immer gesagt, eine Frau, die Mann und Kind verläßt, müßte auf einen Karren gesetzt und nach Sibirien gefahren werden, unbedeckten Hauptes.« – Das letzte kam mit besonderem Nachdruck heraus, als wäre es das schlimmste daran. – »Und ich kann die Sache nicht anders ansehen, weil sie jetzt in meiner eigenen Familie vorkommt.«

»Ulla hat es nicht leicht gehabt, Mutter. Wenck hat sie gar nicht verstanden.«

»Nein, dazu ist er gewiß viel zu ehrenhaft.«

»Nun, sie ist ja auch nicht mit einem andern durchgegangen.«

»So? Vielleicht mit mehreren dann?«

Tante Lene wurde hitzig, und außerdem war sie nicht klug. »Nein, das lasse ich nicht auf ihr sitzen. Einer ist da – aber es ist nichts weiter zwischen ihnen, als daß sie bei uns bleibt, bis sie sich gesetzmäßig heiraten können.«

»Das ist mir eine schöne Gesetzmäßigkeit, die den göttlichen Gesetzen direkt zuwider läuft.«

»Nun, Wenck hat gleich selbst alle Ansprüche aufgegeben, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie zur Rückkehr zu bewegen.«

»Hätte er sie etwa auf den Knien darum anflehen sollen? Nein, meine Liebe – diesmal ist die Reihe an ihr.«

»Mutter, du wirst doch selbst zugeben, daß das die Sache etwas verändert, wenn du hörst, wer es ist –«

Doch da richtete Großmutter sich auf – mit der Bewegung, die Sulla von ihr geerbt hatte. »Verschone mich hier in meinem Zimmer mit diesem Namen – –. Ja, liebe Lene, nun erntet dein Mann die Frucht seiner Erziehungsmethode. Ich denke, sie wird euch beiden etwas bitter schmecken. Nun, ihr beide habt euren Platz nach wie vor hier und seid mir willkommen – aber sonst niemand – und nun ist die Sache abgetan.«

Das klang freilich unbarmherzig von Großmutter – wie Tante Lene es auch im Flur mit strömenden Tränen nannte, wo Sulla ihr mit zitternden Händen in den Mantel hineinhalf.

Aber Großmutter Ursula war doch ins Herz getroffen worden. Wie mit einem Schlage fiel sie zusammen und wurde eine alte Frau; so alt, daß ihr Anblick einen ganz sonderbar anmutete. Sie sah jetzt aus wie ein Überrest aus einer Vergangenheit, die nichts mehr hier zu tun hatte. Der Glanz ihrer schwarzen Augen und das Leben in ihrem Gesicht erloschen – es tat einem weh, wenn man sie nur ansah. Nicht nur, weil man fühlte, wie sehr sie sich grämte, sondern weil sich eine gewisse Niederlage darin kund tat. Trotz all ihrer Majestät hatte sie die Welt nicht mehr im alten Geleise erhalten und der neuen Welt nicht mehr die Stange halten können, die ihr jetzt beim hellen Tageslicht in ihrer nächsten Familie trotzte. Und damit war sie eigentlich fertig.

Zu allererst schrieb sie einen schönen Brief an den Oberst, in dem sie ihn für den Kummer, den ihre Familie über ihn gebracht habe, um Verzeihung bat, und ihm zugleich für alles dankte, »was er ihr gewesen sei«. Wenn er und die kleine Nina es über sich gewinnen könnten, alle ander Sonntag zu ihr zu kommen, so würde sie das als einen Freundschaftsbeweis empfinden, den sie hoch zu schätzen wüßte. An dem Tag würde dann niemand da sein, mit dem er nicht gut zusammentreffen könnte. Sie brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß einem Glied ihrer Familie ihre Tür jetzt verschlossen sei.

Als Oberst Wenck nach einigem Zögern auf Großmutters Vorschlag eingegangen war, kamen von da an Onkel Wilhelm und Tante Helene an den Sonntagen, wo Wenck und Nina nicht anwesend waren; aber man konnte bei keinem Mahle froh werden, alles war so ungemütlich.

Die Familie stellte sich auf die Seite des Obersts; alle waren Ulla gegenüber schwach, wenn sie anwesend war, in deren Abwesenheit hatten sie aber von jeher viel an ihr auszusetzen gehabt, und das wurde jetzt natürlich noch schlimmer. Auch Mutter meinte, sie könne Ulla, die es übers Herz gebracht hätte, ihre kleine Nina zu verlassen, nicht wiedersehen.

Ach ja, wie hatte Ulla das können! Die Kleine wuchs heran, und später sollte es ihr als etwas Herrliches erscheinen, einmal selbst Mutter zu werden. Und nun war dieser Begriff zum voraus für sie verdorben. Wie entsetzlich wäre es doch gewesen, wenn die beiden kleinen Mädchen vor langer Zeit einmal von der Schule nach Hause gekommen wären, und dann wäre keine Mutter mehr da gewesen! Wenn sie ganz fort gewesen wäre, aus eigenem Willen von ihnen gegangen, nicht mehr von früh bis spät für ihre Kinder sorgen, sie nicht mehr in der Nacht mit ihrer guten Hand beruhigen hätte wollen! Ach, wie schrecklich wäre das gewesen – nicht nur eine große Unsicherheit, eine Angst und ein Heimweh ohne Grenzen! Nein, es hätte den Kindern auch alle Begriffe verwirrt, ihnen das ganze Dasein verrückt!

Auch früher schon hatte sich Sulla an den Sonntagen viel mit Nina abgegeben; jetzt tat sie es noch viel mehr, aber nicht so, daß es dem Kinde auffallen konnte und es sich Gedanken darüber machen mußte. Ach, es war zum Verzweifeln! Die alten Tanten und Onkel, die früher Nina kaum bemerkt hatten, strichen ihr nun gleich zärtlich übers Haar, wenn sie nur in ihre Nähe kam. Sulla sah wohl, wenn das Kind nur ein wenig auflebte, bekam es gleich ein schlechtes Gewissen und war sofort wieder das stille Mäuschen, das es schon früher gewesen war, nur noch scheuer als vorher.

Sulla war selbst dem Weinen nahe, wenn sie mit Nina spielte; aber sie unterdrückte ihre Bewegung mit Gewalt und erzählte dem Kinde aus ihrer eigenen Kindheit in Großmutters Garten, ließ sich die Freuden und Sorgen der Kleinen berichten und sah Bilderbücher mit ihr an. Das war indes nicht ganz leicht, denn Nina hatte gar keinen Sinn für Märchen und wollte am liebsten vernünftige Bilderbücher sehen; »denn aus denen kann ich etwas lernen und nachher mit Vater darüber sprechen, nicht wahr, Tante Sulla?« Das schönste aber, was Großmutter hatte, war ein vielbändiges naturgeschichtliches Werk. Darin waren weiche, warme Nestchen abgebildet, aus denen sich aufgesperrte Schnäbelchen herausstreckten, die treulich gefüllt wurden, sowie die verschiedensten Tiere, die alle dieselbe Zärtlichkeit für ihre Jungen zeigten. Ach, Sulla brachte es fast nicht übers Herz, Nina diese zu zeigen!

Es war merkwürdig, wie gut Nina es umgehen konnte, von ihrer Mutter zu sprechen. Nur am ersten Sonntag, als sie mit Sulla im kleinen Salon saß, fragte sie: »Glaubst du, daß Mutter wieder kommt?«

»Ich weiß es nicht, Kleinchen.«

»Vater sagt, Mutter sei nicht gesund. Sie wurde so nervös bei uns, denn es war zu still da – nun ist sie zu Großmutter und Großvater nach Hause, um wieder gesund zu werden. Aber sie hatte doch gar nicht so schlecht ausgesehen; es war an dem Tag, wo ich zu Nanna Blom eingeladen war. Und es war ja sehr merkwürdig, daß sie gar nichts davon gesagt hatte, als ich wegging.«

»Sie wollte dich vielleicht nicht betrüben, da du doch eingeladen warst.«

»Aber ich war dann gar nicht vergnügt, denn es war sehr langweilig dort, und ich weiß gar nicht recht, wie es war – ich konnte mich eben nicht freuen. Aber weißt du, was ich gedacht habe: nervös – ist das nicht das gleiche, wie Langeweile haben? Denn ich glaube, das hat Mutter gehabt.«

»Es ist möglich, daß das dazu beiträgt.«

»Nun, dann ist es ja nur gut, daß ich größer und vernünftiger werde. Weißt du, Tante Sulla, dann kann ich richtig mit Mutter sprechen und vierhändig mit ihr spielen – wenn ich nicht mehr so leicht doppelt anschlage und die Zeichen nicht vergesse. Dann kann sie vielleicht auch mit uns vergnügt sein, und dann werde ich an sie schreiben, nun könne sie gut wieder heimkommen, ohne nervös werden zu müssen. Jetzt darf ich es nicht, Vater hat es verboten, und ich darf sie auch nicht besuchen.«

»Es ist ihr auch wahrscheinlich vollständige Ruhe vorgeschrieben.«

»Aber es kommt mir eben doch immer sonderbar vor, daß sie sich gar nicht danach sehnt, zu hören, wie es uns geht.«

Sulla hatte einen Arm um den Hals des kleinen Mädchens gelegt, die andere aber ballte sich unwillkürlich: Meinte der Vater vielleicht, er müsse dem Kinde allmählich den Zusammenhang erklären? Später sprach indes Nina nie mehr von der Mutter.

Ulla hatte sogleich an die Cousine geschrieben: »Ich weiß wohl, daß ihr mich alle verdammt; Onkel Peter, die alte Fine und Konsorten werfen sich natürlich bei dem Gedanken, daß sie so etwas nicht tun, stolz in die Brust.

Meint ihr denn, es sei mir so leicht geworden?

Dem Obersten gegenüber war ich feig, das weiß ich wohl. Aber wenn ich es versucht hätte, mit ihm über die Sache zu sprechen, hätte er es einfach ignoriert. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als einen Brief zu hinterlassen, worin ich ihm alles von Ferdinand sagte. Da ging er auch sogleich darauf ein, sich von mir scheiden zu lassen, ohne ein einziges böses Wort – er verachtet mich nur. Aber es gibt trotzdem noch eine ganze Menge abscheulicher Formalitäten und Vorschriften zu erledigen. Und sie bekommt er ganz – wenigstens vorläufig.

Ach, Sulla, das ist ein schlimmer Augenblick gewesen! So oft ich daran zurückdenke, kann ich es fast nicht hier aushalten. Das Mädchen begleitete sie zu einer Freundin, und ich wußte, wenn sie nun zurückkam – – ich habe ihr ohne alle Feierlichkeit mit ganz natürlicher Stimme adieu gesagt – ich glaubte es wenigstens – deshalb weiß ich auch nicht, warum sie stehen blieb und mich ganz verwundert ansah; die ganze kleine Person, bis herunter zu den kleinen Spangenschuhen, war die personifizierte Verwunderung … ›Geh jetzt nur,‹ sagte ich, ›sonst kommst du zu spät.‹ Es mußte überstanden sein.

Aber ich kann nicht darüber wegkommen, daß sie so erstaunt war – und nachher natürlich noch viel mehr. – Na, den Stein, den man nicht aufheben kann, läßt man eben liegen. Und wer hätte nicht so einen Stein neben sich liegen?

Aber wie herrlich, daß man aufatmen, sich in der Sonne recken und strecken, sich in die salzige Flut stürzen kann, und sich wie ein langes Schulmädchen fühlen darf, das Ferien hat und nun vor Freude ganz aus dem Häuschen ist!

Zehn Jahre lang habe ich in einem dunklen Arrest gesessen – in meiner eigenen ehelichen Wohnstube. Auf der einen Seite des Obersts Zimmer – mit einförmigen Schritten, die nach dem Nordpol steuerten. Auf der andern Seite das Eßzimmer, mit des Vaters mäuschenstiller Tochter, die ihre Aufgaben noch dreimal durchging, nachdem sie sie schon am Schnürchen hersagen konnte, und nicht ein einziges Mal dabei seufzte!

Manchmal war ich auf dem Punkt, alle meine dummen Nippsachen in Scherben zu schlagen, nur um etwas Lärm in mein Dasein zu bringen. Nicht einmal mehr ordentlich Klavierspielen konnte ich – es war, als hätte ich Blei in den Fingern.

Aber jetzt habe ich das bißchen Ehestand, das für keines von uns viel bedeutete, ganz abgestreift; ich bin jung und unerfahren und lebenslustig – nun fange ich wieder vorne an. Ferdinand ist überglücklich und so männlich verliebt in mich, daß mir ganz schwindlig dabei wird und ich vollständig hingerissen bin. Ich hatte fast vergessen, wie das ist. Das einzige, was dem Leben einigermaßen Reiz verleiht, ist doch, daß es in Brand geraten kann. Jetzt steht es für mich in hellen Flammen.

Vergiß nicht, Sulla, ich habe es nicht so geschaffen – und habe auch mich nicht selbst geschaffen.

Aber wenn man so geschaffen ist, wie ich, nützen einen alle die Vorschriften nichts, die in dem großen Buche stehen, wo es heißt: Du sollst und du sollst nicht. Die Natur ist immer die stärkere. Du freilich, Du bist ja vollkommen und zählst also nicht mit.

Er ist ganz verrückt, der gute Ferdinand, ganz außer sich vor Freude. Wir werden nie fertig mit Flüstern und Liebkosen – wir sind ausgelassen, sind töricht. Das ist unaussprechlich schön – – er baut sich in Charlottenlund eine Villa mit einem Atelier – ich will auch am liebsten aus der Stadt heraus. Dort soll er dann die »Woge« und die »Salome« in Angriff nehmen – und alles andere, wozu er sein langes Modell gebrauchen kann.

Kommst Du nicht zu mir, damit wir uns aussprechen können? Es ist doch keine Ansteckungsgefahr dabei! Und ich reise so bald wie möglich zu Onkel Doktors nach Vejle. In Kopenhagen bleibe ich nicht, solange mich alle Leute anglotzen. Vater und Mutter wünschen auch, ich solle verreisen. Die Tante drüben hat ja ihren ersten Mann verlassen, sie versteht mich also.

Es ist nur gut, daß Großmutter Ursula es gelernt hat, sich mit dem Leid zu helfen. Wie geht es ihr denn?

Wenn sie nur nicht so verwundert ausgesehen hätte – ich meine, die Kleine – als ob mein Adieu etwas ganz Unbegreifliches gewesen wäre!« –

Sulla erwiderte: »Gleich kann ich nicht zu Dir kommen, Ulla, Du wirst das doch begreifen. Später komme ich dann.

Ich kann nicht ganz offen mit Dir reden, Ulla, denn ich habe Dich nicht zu richten und will es auch nicht; aber ich finde es ganz fürchterlich und glaube Dir gar nicht recht, daß Du so überglücklich bist, wie Du behauptest, ja, ich wünsche es nicht einmal. Dann wäre nicht so viel an Dir, wie es doch trotz allem ist.

Meines Wissens wirft sich niemand von der Familie bei dem Gedanken an Dich stolz in die Brust, ich weiß nur, daß Du uns alle sehr betrübt hast.

Nein, da hast Du recht, wenn man sich das, was geschrieben steht, nicht zu Herzen nimmt, nützt es gar nichts. Aber das große Buch, wie Du sagst, ist ganz derselben Ansicht wie Du, daß nämlich die eigene Natur einen meistert. Du denkst nur gar nicht daran, daß man auch seinen Meister besiegen kann, und das will uns das große Buch lehren.

Meine Vollkommenheit hat immer nur darin bestanden, daß ich nichts gewesen bin; ich habe nur immerfort auf mich selbst gewartet, und deshalb kann ich mich keineswegs rühmen. Aber eines verstehe ich nicht, Ulla; wie kannst Du einem Verhältnis, das Du nie besonders hoch gestellt hast, eine so große Macht in Deinem Leben einräumen? Du sagst, das sei das einzige, was etwas Vergnügen gewähre – ich aber meine gerade, wo dieses Gefühl sich mit hineinschleicht, da höre die Freude auf. Und niemals, in alle Ewigkeit nicht, würde man mich dazu bringen, die Waffen vor etwas zu strecken, auf das ich herabsähe.

Ich kann Dir weder über Großmutter Ursula noch von ihr, die so verwundert ausgesehen hat, schreiben … Du wirst ja selbst wissen, wie es den beiden zumute sein muß.« – –

Erst von Vejle aus schrieb Ulla wieder. »Nein, ich bleibe dabei, liebe Sulla, an sich ist an dem Verhältnis zwischen Mann und Frau gar nichts. Es ist der reine Sumpf. Aber wir sind einmal zu nichts anderem veranlagt. Und dann will ich auch meinen Teil daran haben.

Und etwas tu ich doch nicht, ich heuchle diesem Verhältnis gegenüber nicht, wie ihr andern. Ihr schmiert eine etwas tugendhaft aussehende Politur und gesellschaftlichen Anstand darüber und tut, als stehet ihr ihm ganz anders gegenüber. Aber im Grunde genommen ist nicht der geringste Unterschied vorhanden – nur daß ich viel ehrlicher bin.

Als der selige Admiral seinerzeit ein wenig Vergnügen haben wollte und Fräulein Ursula mit ihren achtzehn Jahren und einem von Liebe zu einem andern erfüllten Herzen heiratete – da war dies eine höchst achtungswerte Handlung, nicht wahr?

Als sich der kleine Dalbom ein Jahr, nachdem er mit der frommen Nummer eins fertig geworden war, ohne die geringste Veranlassung in Dich verguckte, da soll das ein schönes, erhabenes Gefühl genannt werden, dem selbst Großmutter jederzeit ihren Segen geben will. Aber wenn Ferdinand mich mit einem hundertmal berechtigteren männlich warmen und persönlichen Gefühl liebt, dann ist das nur ein niedriges, sinnliches Begehren. Kannst Du denn nicht einsehen, wie empörend erlogen das ist?

Wenn sich ein Schneehuhn an einen Falken anklammert – in einem der zufälligen Augenblicke, in denen jedes männliche Individuum gefangen werden kann – und in seinem Flug aufhält, weil das Huhn nun einmal mit will, dann ist es Gottesfurcht und reine Liebe, daß das Huhn bei ihm bleibt – und wenn es daran sterben sollte … Aber wenn ich nach meiner zehnjährigen Gefangenschaft im Spinn- und Besserungshaus endlich ausbreche und dem Oberst Gelegenheit gebe, sich eine gleichgestimmte Seele zu suchen, indem ich zu Ferdinand gehe, der viel ältere Ansprüche an mich hat, dann ist es nur die reine Teufelei.

Ach, ich könnte noch mehr sagen! Es blühen Rosen im Klostergarten – aber wenn die kleine Klosterjungfrau so gerne dort weilt, ist es doch nicht so sehr der Rosen wegen – – Doch nein, Sulla, von Dir will ich nichts sagen. Du hast so dunkle Augen bekommen, weißt Du das? Und so blasse Wangen! Und Du bist wie ein ernstes, aufrichtiges Kind, das nur zarte Hände hat, diese aber in gutem Glauben ausstreckt, um einen ganzen großen Berg damit aufzuheben …

Ich bleibe über Neujahr hier, Ferdinand kommt an Weihnachten – aber dann will er mich drüben nicht länger entbehren. Ich mache alles genau so, wie er will, und schreibe ihm morgens und abends. Er ist rasend anspruchsvoll – ich lasse mich in einen Wirbel hineingleiten, der mich hinreißt. So soll es sein. Wenn eine Liebe schlaff wird, ist es bald aus damit.

Das ist wahr, Du hast vielleicht im Sinn, dem Kinde etwas zu Weihnachten zu schenken. Ich habe kürzlich hier ein reizendes goldenes Ringlein gefunden, ein kleines treuherzig gefochtenes Kettenringlein, das recht gut an ein fleißiges, pflichtgetreues Fingerchen passen würde. Darf ich es Dir schicken? Dann kannst Du es ihr geben – nur von Dir!«

 

Das war ein stiller Winter. Großmutter Ursula gab keine Mittage mit erweiterter Liste. Nur Professors wurden ab und zu eingeladen. Frau Erhart besuchte Großmutter fleißig; sie sprach nie von Ulla, sagte aber häufig, wie froh Großmutter an zwei solchen Enkeltöchtern, wie Frau Gram und dem süßen ernsten Klosterfräulein sein könne. Onkel Wilhelms gaben keine ihrer fröhlichen Gesellschaften, und Mutter hatte auch keine Lust, Leute bei sich zu sehen.

Das sei eigentlich ganz gut, dachte Sulla. Da habe sie Zeit zum Arbeiten. Und sie fühlte, daß etwas da war, was noch viel mehr Stille forderte.

Wenn die beiden kleinen Mädchen seinerzeit über die lange, düstere Zeit klagten, die sie von Großmutters Garten trennte, pflegte die Mutter zu sagen: »Aber im Winter geschieht auch etwas Gutes, alles, woran ihr euch im Sommer freut, bereitet sich da vor; drunten in der Erde, da sprießt es jetzt im Verborgenen.«

Sie erinnerte sich weiter, daß die beiden kleinen Mädchen, wenn sie Samen gesät oder eine Blumenzwiebel in die Erde gesteckt hatten oder der Gärtner eine Rose okuliert hatte, voller Spannung waren, wie die Blüte nun werden würde. Wie eifersüchtig bewachten sie die feste grüne Knospe, die so lange geschlossen blieb und so hartnäckig ihr Geheimnis barg, und schließlich bekamen sie Angst, sie bleibe überhaupt nur eine Knospe – bis dann eines Tages die Blüte sich erschloß – wie eine strahlende Überraschung.

Und Sulla war es, als ginge sie nun wieder als kleines Mädchen umher und hüte so eine Überraschung, die sich mit der ihr so notwendigen Stille vorbereitete. Sie fühlte: nun setzt mein Herz seine Blüte an, und eines Tages erschließt sie sich – und dann finde ich mich selbst.

Wie merkwürdig, daß sie so lange hatte leben können, ohne daß es geschehen war!

Aber die Blütezeit kann nicht mit Gewalt herbeigeführt werden, wie die beiden kleinen Mädchen manchmal gedacht hatten, wenn sie mit ungeduldigen Fingern an den Knospen zupften und diese dadurch nur verdarben. Und gibt es nicht vielleicht Menschen, die ihr ganzes Leben lang mit einem Herzen umhergehen, das sich nie öffnet, nie sein Geheimnis erschließt – sondern wie eine harte, geschlossene Knospe ist und bleibt? Das kam ja auch im Garten vor; besonders im Herbst verdorrten die Knospen zuweilen, oder sie verfaulten jämmerlich unter den engen Hüllen.

Kam das nicht daher, daß ein Menschenherz nur in einem bestimmten Boden Wurzel schlagen und so gedeihen kann, daß es eine Blüte ansetzt?

Ja, so mußte es sein! Und bei ihr keimte und sproßte es nun, weil sie ihr Herz hingegeben hatte; jetzt trieb es zum Licht empor. In ihrem Innern, da starb es nicht, Gott sei Dank, es erwachte zum Leben!

Und das in sich zu tragen, darüber zu wachen, das war eine sichere, heimliche Freude. –

Eines Tages, als Sulla eben am Klavier saß und singen wollte: »Die Sonn' erwacht, wie Rosen sie blüht,« sagte sie »das Herz« statt der Sonne, und von da an mußte sie immer leise vor sich hinsummen: »Das Herz erwacht, wie Rosen es blüht.«

Von nun an würde sie leben – sich ganz ausleben. Deshalb leben die Menschen gleichsam so tot, weil sie nicht aus ihrem Herzen heraus leben. Das kann man ja erst, wenn das Herz sich erschlossen hat. Das Herz erblüht wie eine Rose.

Im übrigen war und blieb der Winter traurig; selbst als Grams mit den Kindern zu Weihnachten kamen, herrschte nicht die gewohnte Stimmung bei den Familienmittagen. Marie Luise entbrannte in gerechtem Zorn, so oft von Ulla die Rede war – und sie brachte auch viele, viele Grüße von Pastor Dalbom …

Sulla studierte fleißig Musik; die Lehrerin war stolz über ihre Fortschritte und sagte, nicht nur die Stimme habe an Klang und Fülle gewonnen, nein, auch das Temperament sei am Durchbrechen. Die Lehrerin selbst war eine erfahrene Konzertsängerin und hätte Sulla gerne zum Auftreten bewogen; aber das konnte weder Sulla noch Mutter sich denken, und Großmutter noch weniger.

Ende Januar willigte Sulla indes doch ein, bei einem Wohltätigkeitsfest mitzuwirken. »Wenn man nicht selbst Geld damit verdient, kann man sich eher dazu hergeben,« räumte Großmutter ein. »Das tut man übrigens auch durchs Konzertgeben nicht; aus diesem Grunde könnte man sich also immer dazu hergeben.«

Sulla war es etwas beklommen zumute, als sie im entferntesten Winkel des Künstlerzimmers saß, während die andern plauderten und Konfekt knabberten. Aber als dann die Reihe an sie kam und sie aufs Podium trat, war sie vollkommen ruhig. »Sehen Sie, daß Sie ein verständnisvolles Gesicht unter den Zuhörern finden, und singen Sie dann so ausschließlich für diesen einen Menschen, daß alle anderen verschwinden,« hatte die Lehrerin gesagt. Aber Mutters Gesicht konnte Sulla nicht dazu gebrauchen; diese lächelte zwar – wann hätte Mutters Gesicht ihren beiden Mädelchen nicht zugelächelt? – aber es verriet doch auch so viel nervöse Unruhe, daß es Sulla störte.

In einer der ersten Reihen saß der Professor, und er sah so natürlich und vertrauensvoll aus, daß Sulla ganz von selbst sein Gesicht wählte. Und siehe! da verschwanden alle die andern Zuhörer wirklich, und sie waren nur noch zu zweit im Saal. Jetzt fühlte sich Sulla ganz vertraut und sicher und geborgen wie in Großmutters Garten; und sie konnte sich im Gesang so recht innig ausdrücken.

Als ein betäubender Beifallssturm losbrach, war es ihr, als breche die Stadt in den Garten herein – und sie entsetzte sich beinahe. Aber kurz nachher war das doch ganz angenehm! Sie wurde dreimal hervorgerufen, und sie bekam rote Wangen dabei, was sehr hübsch zu ihrem weißen Kleide aussah. In der Kritik wurde auch ihre dunkle, etwas verhaltene Wärme sehr gelobt.

Am nächsten Tage begegnete sie dem Professor unter Großmutters Haustüre.

»Sie haben ein wunderbares Talent,« sagte er. »Nein, nein, ich will Ihnen keine Schmeichelei sagen. Meiner Ansicht nach ist das meiste von dem, was in unserem dilettantischen Zeitalter gespielt, gesungen, geschrieben und gemalt wird, eigentlich recht überflüssig. Aber Ihre Stimme sagt einem wirklich etwas, ja etwas, das zu hören den Menschen sehr nötig ist, oder – wenigstens mir.«

Nun fragte sie ihn, wie es mit seinem Buche gehe.

»Ich lese jetzt die Korrektur,« antwortete er, »aber ich finde, daß es gedruckt an Lebendigkeit verliert. Es hat eben schon im Entstehen nicht viel Lebensfähigkeit gehabt – doch das habe ich auch nicht erwartet. Wo hätte es die hernehmen sollen? Sie wissen ja wohl –«

»Nein,« erwiderte sie und schüttelte den Kopf. Ach nein, sie kannte ja ein Lebensgeheimnis, das in ihrem eigenen Herzen aufsprießte – wie hätte sie von anderen etwas wissen können! Das war unmöglich.

Aber der lange Winter, der nur immer länger und strenger wurde – und Großmutters Garten zuschloß – der war und blieb doch zu schwer für ihn.

 

Eines Sonntags waren Professors wieder bei Großmutter; das brachte ein wenig Leben in den Kreis. Großmutter konnte nicht wie früher selbst die Unterhaltung führen und vergaß auch häufig das Aufpassen, denn in ihrem Herzen war ja eine Stelle, wo es nur immer ertönte: »Ulla, Ulla!«

Nach Tisch kam Onkel Wilhelm auf die Bibelkritik zu sprechen. Aber da richtete Großmutter sich majestätisch auf und sagte: »Zu meiner Zeit kannte man das noch nicht. Da war die Bibel das Wort Gottes – und damit war alles gesagt.«

»Nein, denn man ließ das Wort in aller Ruhe da stehen, wo es stand,« sagte der Professor zu Tante Helene. »Man beleidigte es nicht, ließ sich aber auch nicht davon beleidigen.«

»In dieser Auffassung bin ich allerdings auch erzogen worden – ganz einfältig,« sagte die Professorin zu Großmutter. »Aber Erhart betrachtet die Sache mit andern Augen.«

»Wieso?« fragte Großmutter, und ihre Augen schossen Blitze.

»Darf ich sogleich einwerfen,« erwiderte der Professor, »daß die Einfalt des Glaubens nicht ganz dasselbe ist wie naives Denken? Und ich weiß nicht, warum ich in diesem Punkt naiv sein sollte.«

»Wollen Sie uns sagen, was Sie meinen, doch so, daß wir es alle verstehen können,« sagte Großmutter, und sie schlug dabei mit dem Stock auf den Boden, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu fesseln.

»Ich werde es versuchen. – – Also, die Bibel ist ja nicht durch Jahrhunderte hindurch von Engeln abgeschrieben worden, sondern von Menschen. Dadurch allein schon sind sicher Ungenauigkeiten und Fehler unumgänglich. Selbst ein Laie, der die Bibel liest, wird das mehrfach entdecken können – wie er ja auch die Druckfehler findet, die sich eingeschlichen haben. Insofern muß die Kritik mit Freude begrüßt werden, als etwas, das die Fehler verbessern, die Unklarheiten aufdecken und es versuchen kann, uns näher zum ursprünglichen Texte hinzuführen.

Was aber ihre Angriffe und Anmaßungen betrifft – wenn sie als unfehlbarer Papst auftritt, wo sie faktisch auf unsicherem Grund steht – so braucht man sich ja von denen nicht anfechten zu lassen. Etwas wird die Kritik nie können, die lebendige Kraft zerstören, die Quelle hemmen. Und sie kann nicht da hineindringen, wo Gottes Wort wohnt, nämlich bis ins Herz des Bibelworts. Aber eine hilfsbedürftige Sehnsucht kann anklopfen, so daß die Tür des Bibelworts aufgeht. Nicht so, daß man mit den Gedanken alles fassen kann – aber so, daß der Hauch des Lebens über das Herz hinstreicht.

Ich erinnere mich wohl noch, wie unangenehm mir die Straßen mit ihrem glatten Asphalt waren, als ich im letzten Herbst eines Abends in die Stadt zurückkehrte; diese leblosen Fliesen waren mir überaus peinlich. Mir war, als müsse ich gleich hinunter und mich im Garten umsehen. Es war ein dunkler Abend und kein Stern am Himmel. Als ich durch die Türe eintrat, sah ich nur in tiefe Dunkelheit hinein. Aber sofort rauschte es in den großen Bäumen, und da wußte ich, daß ich auf lebendigem Boden stand.

Selbst in dem dunkelsten Bibelwort hat man dieses Rauschen über sich – große Baumwipfel hoch über seinem Haupte – denn man steht auf lebendigem Boden. Das kann die Kritik nicht ändern. – – Was mich betrifft, so möchte ich fast wünschen, daß ich zu denen gehörte, denen die Bibel zum Stein des Anstoßes geworden ist. Denn äußere Hindernisse sind viel leichter zu überwinden, als die, die wir in unserem Innern mit uns herumtragen.«

»Nun, das habe ich gut verstanden,« sagte Großmutter. »Und es steht also doch nicht so ganz schlimm mit Ihnen. Die Theologen müssen sich ja mit solchen Anschauungen bekannt machen – wir andern aber wollen lieber mit der Verbesserung unserer Bibel warten, bis die Gelehrten sich über deren Fehler einig geworden sind. Dann dürfen wir sie sicher bis zum jüngsten Tag in aller Ruhe behalten.«

Sulla war in Großmutters kleinen Salon getreten, dessen Fenster auf den Garten hinausging. Sie hatte plötzlich heiße Sehnsucht nach Großmutters nächtlich dunklem Garten bekommen.

Kurz nachher trat der Professor auch ein; er blieb neben ihr stehen und schaute die dunklen beschlagenen Scheiben an.

»Wenn Sie so sprechen, wie eben jetzt, dann müssen Sie doch selbst – –«

»Nein,« versetzte er, »nein, das beweist gar nichts. Für mich liegt das Hindernis ja nicht da –«

»Ich habe daran denken müssen,« sagte sie etwas zögernd. – Ach, im Garten ließ sich doch viel leichter über solche Dinge reden!

»Woran haben Sie gedacht?«

»Sie sagten im Herbst einmal von sich selbst – wo nichts ist, da hat der Kaiser das Recht verloren.«

»Ja, das ist eine banale und unbestreitbare Tatsache.«

»Aber – Gott hat es nicht verloren; er hat ja die Welt aus nichts geschaffen – und sie ist gut ausgefallen. Ich meine – selbst wenn das richtig war, was Sie sagten, so ist das doch kein Hindernis. Denn ihm kann man ja gar nichts geben.«

Er erwiderte kein Wort – blieb nur ruhig neben ihr stehen.

Draußen vor den dunklen beschlagenen Fenstern lag der große Hof und dahinter der Garten in der tiefen Dunkelheit der Winternacht:

»Der Herbst ist vergangen – mit Sehnsuchtsverlangen,
So harren wir stille der Frühlingszeit.«

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