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Das Kind.

U Ulla war nach Kopenhagen zurückgekehrt, und Sulla hatte sie ein paarmal besucht. Aber es wurde ihr schwer, wenn sie sehen mußte, daß die Cousine von ihrer Leidenschaft für Ferdinand, von der Villa, die Ferdinand baute, sowie von der Frage, wie rasch man Heiratsdispensation erhalten könne, vollständig hingenommen war.

Dazwischen konnte sie oft nach ihrem Kinde fragen, das Tante Lene übrigens einmal im Monat bei Großmutter traf – aber Sulla fiel es sehr schwer, Ninas Namen mit all dem andern zu vermengen. Deshalb waren ihre Besuche bei Onkel Wilhelms äußerst selten.

Ulla kam nicht zu ihr; sie wußte wohl, daß Mutter sich nicht mit ihrem Verhalten aussöhnen konnte; aber bisweilen schrieb sie an Sulla. Sulla war ihr von jeher die liebste von der ganzen Familie gewesen, und so konnte sie nie ganz entbehren, sich der Cousine gegenüber auszusprechen.

Eines Tages im Februar erhielt Sulla wieder einen Brief von ihr:

 

»Es wird Dich freuen, zu hören, daß Ferdinand und ich uns schon ein paarmal gezankt haben. Du kannst es ja nicht leiden, wenn wir zu nett mit einander sind. Er verlangte nämlich, ich solle ihn jeden Tag in sein Atelier begleiten; da hätten wir dann einen herrlichen langen Vormittagsspaziergang mit einander. Aber ich schlug es ihm ab, sagte, ich hätte keine Lust und müsse morgens Ruhe haben. Er fragte, ob ich denn meine Faulheit nicht seinetwegen überwinden könnte? – ›Nein,‹ antwortete ich. – Ob ich mir nichts daraus mache, mit ihm spazieren zu gehen? – ›Nicht um diese Tageszeit.‹ – Er wurde wütend. Hitzig sind ja alle; und er gibt sich noch besondere Mühe, weil er weiß, daß er bei unserer ersten Verlobung zu gutmütig gewesen war.

Aber warum ich ihm seine Bitte abschlug, das hat einen anderen Grund. Dir will ich ihn sagen. Vor einiger Zeit war ich gegen meine Gewohnheit einmal sehr früh durch die Straßen gegangen, die ich jetzt vermeide; ich mußte in einem Laden dort etwas kaufen.

Da sehe ich plötzlich die kleine Nina ganz ehrpußlig auf der andern Seite der Straße daherkommen – mit Schultasche, Regenschirm und dazu gehörigem Ausdruck. Sie sieht nicht rechts, nicht links. Man ist seines Vaters Tochter und sein Trost. Man geht in die Schule – mit der Zunge gerade im Munde.

Es war wirklich komisch. Ich blieb stehen und starrte ihr nach …

Der Oberst und das Mädchen sind um diese Zeit beschäftigt. Ich erinnere mich wohl an Theodolindes empörte Erklärung: ›Als ob ich Zeit hätte, das Kind in die Schule zu begleiten!‹ Und sie könne ja immer auf demselben Bürgersteig bleiben, müsse auch nur um die Ecke und über zwei Querstraßen … Aber es kommt mir doch unverantwortlich vor, daß man sie allein gehen läßt. Ich bin früher doch schließlich immer mitgetrottet.

Außerordentlich geschmacklos war sie auch angezogen! Wie ein altes Weiblein. Und sie kann doch so niedlich aussehen! Die Finger zuckten mir, sie ein wenig zurecht zu zupfen.

Da bleibt sie plötzlich stehen und sieht an sich hinunter – ein Paar Schuhnestel baumelt um ihren Fuß. Natürlich trägt sie niedere, klobige Schnürstiefel. Einen Augenblick weiß sie sich nicht zu helfen – dann nimmt ihr Mund einen entschlossenen Ausdruck an, und sie tritt in eine Haustüre.

So ein Knirps, der allein in ein Haus hineinhuscht! Irgend ein schlechter Kerl könnte doch hinter ihr herkommen. Mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken, und dann –

Ja, dann war ich auf dem andern Bürgersteig drüben und stand, ehe ich es mir selbst recht bewußt war, unter der Haustüre. ›Ich bin's, Ninette,‹ sagte ich so ruhig und gleichgültig, als ich konnte.

Sie fuhr auf. So bestürzt und mit so feuerroten Wangen, daß auch mir das Blut in den meinigen pochte. Sie hatte ihren Fuß auf eine Treppenstufe gestellt; der Regenschirm und die wollenen Handschuhe lagen daneben. Ich bückte mich rasch über den kleinen schmutzigen Stiefel – und konnte kaum den Nestel binden. Ach, ich mußte unwillkürlich daran denken, wie sorgfältig Ninette in den alten Tagen ihre kleinen Sohlen abgewischt hatte; und nun mußte sie allein im Schmutz waten!

›Wir machen einen doppelten Knoten, nicht wahr? Sonst geht er wieder auf. – – Laß mich nun auch gleich die andere Pfote sehen. Dieser Knoten muß auch fester gezogen werden.‹

Sie bedankte sich – höflich und schüchtern – zog ihre Handschuhe wieder an, bewaffnete sich mit ihren Sachen und blieb dann mit niedergeschlagenen Augen stehen – wie ein kleiner standhafter Zinnsoldat –, war aber noch ebenso rot und schluckte und schluckte an etwas, das in ihrem Halse aufsteigen wollte.

›Willst du mich küssen, Ninette?‹ Das hätte ich nicht sagen sollen, aber ich hab es eben getan.

Sie zögerte – noch bestürzter als vorher – und wußte nicht, was ihres Vaters Tochter tun dürfte. Aber dann schlugen Regenschirm und Schultasche auf meinem Rücken zusammen, denn sie umschlang mich mit ihren beiden beladenen Armen und drückte ihren Mund hastig und ängstlich, aber doch mit einem kleinen kräftigen Laut an meine Wange.

Im nächsten Augenblick war sie zur Tür hinaus – wobei sie die gewohnte Haltung wieder anzunehmen suchte, aber nicht konnte, und fühlte, daß sie ganz verwirrt in die Schule komme.

Ich blieb noch einen Augenblick in dem dunklen Hausflur stehen … Und dann folgte ich ihr in einiger Entfernung – sah, wie sie einem großen Schlachterhund auswich – sah sie um die Ecke biegen und an den zwei Querstraßen vorübergehen.

Ach freilich, ich hatte mich verkehrt benommen! Da darf ich mich nicht mehr hineindrängen. Wenn sie es ihrem Vater erzählt – aber das tut sie nicht – dann haben er und Theodolinde sicher Zeit, jeden Morgen mit ihr zu gehen, um der Wiederholung des Unglücks vorzubeugen. Aber sie können ganz ruhig sein.

Hast Du es auch schon erfahren, wie man sich oft lange mit ein paar Versen herumschlagen kann, die einem immerfort durch den Kopf gehen? Den ganzen Tag klang mir ein deutsches Liedchen in den Ohren: ›Küß mich, küß mich, Pierette! Sonst küßt kein Mündchen so.‹

An demselben Abend schlug dann Ferdinand den Morgenspaziergang vor. Aber ich wollte nicht um diese Zeit, wo sie in die Schule trippelt, mit ihm ausgehen. Du verstehst das, nicht wahr, wenn wir auch durch ganz andere Straßen gehen. Ferdinand und ich trennten uns als Todfeinde.

Ich kann jetzt bei Nacht wieder nicht schlafen. Weißt Du, wie das ist, wenn man nicht weiß, wie man seine Beine im Bett hinlegen soll? Die ganze Nacht versuchte ich es bald so, bald so, während mir der dumme Vers wie von einer Spieldose hergeleiert unaufhörlich durch den Kopf ging: ›Küß mich, küß mich, Ninette! Sonst küßt kein Mündchen so!‹

Am nächsten Abend war Ferdinand langsam und widerstrebend bereit, sich versöhnen zu lassen, wenn ich mir recht viel Mühe gäbe – – und so endigten wir mit einer glühenden Versöhnungsszene.

Aber nach ein paar Tagen war schon wieder Feuer im Dach. Ärgerlicherweise lief mir Ferdinand eines Morgens gerade in den Weg. Er geriet außer sich vor Zorn, weil ich also doch um diese Zeit ausgehen könne, nur nicht mit ihm. Dann rief er noch, ich solle mich wohl hüten, es wieder zu tun, und stürzte wie mit Siebenmeilenstiefeln rasend davon.

Aber warum war ich an jenem Morgen ausgegangen? Ja, es ist verrückt – aber seit ich das gute Miezchen so ratlos auf der Straße habe stehen sehen, wurde mir um diese Zeit immer angst und bange zu Hause; ich stellte mir das Schlimmste vor, so daß es schließlich weniger aufreibend für mich war, hinzugehen. Auf dem Heimweg ist sie ja dann mit ihren Freundinnen zusammen.

Ich halte mich natürlich auf dem andern Bürgersteig, schlüpfe in einen Hauseingang, bis sie vorbeimarschiert ist, und folge dann langsam nach, bis sie in ihrer Schule verschwindet. Sie noch einmal überfallen wie ein Einbrecher will ich nicht, das wäre für uns beide nicht gesund. Ich gehe im tiefsten Inkognito – auch meiner selbst wegen. Denn es ist dumm und lächerlich, und jeden Morgen ist es auch ›das letztemal‹ – aber bis jetzt wiederholt es sich trotzdem immer wieder.

Ein Schuhnestel ist seither nicht wieder aufgegangen – dies geschieht bei Ninette nur einmal, von da an wird ein dreifacher Knoten geknüpft – aber es könnte doch sonst was passieren.« – –

 

Als Sulla diesen Brief las, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Die lange Ulla mit ihrem ganzen Wirrwarr! Ach, wie traurig war doch alles! Dann schrieb Sulla einige herzliche Zeilen, und nach einigen Wochen erhielt sie wieder einen Brief.

 

»Jetzt bin ich morgens sehr, sehr vorsichtig, damit ich gewiß nicht mit Ferdinand zusammentreffe. Ich muß diese Gänge im Frieden machen dürfen, und habe auch Mutter schon so weit gebracht, daß sie ihm gegenüber schweigt. Ich habe ihr einfach gesagt, ich könne nicht schon am frühen Morgen all das Getue aushalten – und das kann jede vernünftige Frau einsehen. Der Morgen ist eigentlich eine schöne Zeit, und es ist schade, wenn man ihn verschläft. Er ist wie ein Kind – nicht verbraucht und zurecht gemacht wie die Gesellschaftsabende bei künstlichem Licht in der Stadt. Am Abend paßt das Liebesgetändel auch besser her – es ist selbst zurecht gemacht und künstlich. Halt, was ich da schreibe, ist gewiß Blech, denn die Liebe kommt ja von dem Allernatürlichsten her. Aber diese Erhitzung ist doch oft recht unnatürlich und ermüdend.

Na, dann ging ja alles gut, bis gestern abend. Du mußt wissen – ich hatte die kleine Mieze seit drei Tagen nicht in die Schule gehen sehen. Und es grassieren doch gegenwärtig so viele Kinderkrankheiten in der Stadt! Ach, ich bin beinahe verrückt geworden, weil ich immerfort darüber nachdenken mußte, was Ninette wohl fehlen könnte! Und gestern nach Tisch, als mein Vater hinter seiner Zeitung wohl aufgehoben war, sagte ich zu Mutter: ›Ich will hinein und hören, wie es Sulla geht, denn ich habe sie so lange nicht gesehen.‹ – ›Um diese Zeit?‹ fragte Mutter. – ›Ja, warum nicht? Zum Tee bin ich wieder hier.‹ – Ich wollte nämlich hören, ob Du etwas wüßtest, oder Dich bitten, hinzugehen. Aber ehe ich wegging, änderte ich meinen Entschluß – ich war zu unruhig.

So hüllte ich mich denn in einen alten Wetterkragen, der eine Kapuze hat, die bis über die Augen hereingeht – und eine halbe Stunde später schlich ich wirklich meine frühere Küchentreppe hinauf. Das war allerdings nicht sehr ermunternd. Der Lichtautomat funktionierte natürlich nicht, ich mußte mich in dichter Finsternis die Treppe hinauftasten. Aber das war gut, ich hätte ja einem der Mädchen in den Weg laufen können.

Ich klingelte an der Küchentür des zweiten Stocks und hatte schreckliches Herzklopfen, als die Kette mit lobenswerter Vorsicht eingehängt und Theodolindes etwas spitzige und säuerliche Nase durch den Spalt gesteckt wurde. ›Ist jemand da?‹ Das konnte sie sich doch denken. – ›Ja, ich bin's. Ich möchte gern ein Wort mit Ihnen reden.‹ – ›Ih, die gnädige Frau!‹ Sie setzte eine tugendhafte Miene auf und öffnete mit gebührendem Zögern. Das war widerlich. – ›Was fehlt Ninette?‹ – Dem Kind fehlte indes nichts weiter, als daß es sich am Samstag auf dem Spielplatz den Fuß verstaucht hatte. Es wollte sich in der Schule nichts merken lassen und ging – zu Fuß nach Hause. Die kleinen Holms kamen mit ihr angeschleppt – aber das hatte die Sache natürlich verschlimmert.

Dann muß man ja auch noch am Nachmittag aufpassen! Denk, wenn ich nun da gewesen wäre! Ich hätte sie heimgetragen oder einen Wagen genommen.

Der Fuß sei sehr geschwollen gewesen, erklärte Theodolinde weiter, man habe den Stiefel fast nicht mehr heruntergebracht. Mir wurde heiß und kalt, wenn ich an den kleinen Fuß dachte, der ihr in dem festen Schnürstiefel, den sie jetzt noch besonders fest schnürt, schrecklich weh getan haben mußte.

›Wer hat ihr den Stiefel ausgezogen?‹ fragte ich erzürnt. Theodolinde sah immer noch auf die Seite und sprach in einem zimperlichen, überlegenen Ton. ›Wir mußten ihr ja helfen.‹ Ich starrte Theodolindes klotzige Holzhände wie verrückt an. ›Hat sie geweint?‹ fragte ich mit bebender Stimme. – ›Ein wenig; aber jetzt haben wir Umschläge gemacht, nun ist es viel besser. Morgen wollen wir das Auftreten probieren.‹ »Doch damit schloß Theodolinde ihren Mund fest zu, um anzudeuten, daß die Audienz zu Ende sei.

›Nun, ich danke. – – Gute Nacht – und geben Sie recht auf die Kleine acht!‹ Ich konnte das nicht unterdrücken, aber als sie mit einem kurzen Ja antwortete, wurde ich dunkelrot. Denn ich weiß, was sie dachte – und alles, was sie hätte sagen können. Dann trollte ich mich.

Während ich nach Hause ging – fahren wollte ich nicht in meinem Staat – quälte es mich, wie dumm ich mich doch benommen habe, als ich auf und davon ging. Ich hätte hartnäckig und diplomatisch den Oberst selbst dazu bringen sollen, auf die Scheidung anzutragen, und zwar ohne daß sich der ›selige Ferdinand‹, wie es in dem alten Theaterstück heißt – in der Ferne gezeigt hätte. Dann hätte ich das Recht auf das Kind gehabt, nicht wahr? Denk Dir, wenn ich das Wichtelchen mit mir in die Villa hätte nehmen können! – Na, da würde sie dann nur ›Vater‹ vermissen. Sie ist ja so unrettbar treu. Wenn nur eine Puppe den Kopf einbüßte, war noch nicht alles wieder gut, wenn sie einen neuen bekam. ›Deshalb ist es doch Alvilda nicht mehr, Mutter.‹

Es ist komisch, daß ich sie mir die ganze Zeit hindurch so fern habe halten können! Deshalb mußte ich ja auch die Verlobung mit Ferdinand wie im Sturm feststellen. Aber seit ich sie wiedergesehen habe – in ihrer ganzen Verlassenheit auf der Straße – steht sie den ganzen Tag hindurch im Geiste vor mir. Und es quält mich, daß ich nicht über alles Bescheid weiß – selbst das kleinste möchte ich wissen.

Das war eine Aufregung, als ich heimkam! Ich hatte Ferdinand selbst gebeten gehabt, früh zu kommen, damit wir ein paar Lieder üben könnten, hatte es aber vollständig vergessen. Er war schon lange da und recht abweisend, aber dem Gedanken an eine stürmische Versöhnung doch nicht ganz unzugänglich. Dazu kam es indes nicht; diesmal hatte ich keine Lust dazu.

Ich mußte nur immerfort daran denken, wie weh es ihr getan haben mußte, als sie mit dem geschwollenen Fuß nach Hause humpelte! Und wie angstvoll ihre Augen ausgesehen haben müssen, als Theodolinde an dem Stiefel zerrte, während sie doch als die Tochter ihres Vaters nur ein paarmal aufstöhnte und die Tränen zu unterdrücken versuchte, bis diese sich endlich mit einem lauten Jammern Luft machen mußten.

Im Flur umfaßte Ferdinand meine beiden Hände. ›Ich muß wissen, warum du allein ausgehen willst – und was du da vorhast?‹ – ›Nichts,‹ erwiderte ich, ›was du verstehen könntest,‹ fügte ich in Gedanken hinzu.

Er ging gekränkt fort. – Wenn man sie jetzt nur nicht das Gehen zu früh versuchen läßt!«

 

Eines Sonntags im März, als Oberst Wenck und Nina bei der Großmutter aßen, saß Sulla mit dem Kinde im kleinen Salon und erzählte ihm eine Geschichte. Da sagte Nina: »Ich kann nicht folgen, Tante Sulla, mein Kopf ist so dumm.«

Sulla zog sie an sich; da lehnte sich die Kleine schwer an der Tante Schulter und fiel in einen unruhigen Schlummer. Dann fuhr sie auf: »Ich werde doch nicht krank werden?« fragte sie ganz entsetzt.

Sulla umfaßte ihre beiden Händchen; sie waren glühend heiß.

»Du bist nicht ganz wohl,« sagte sie. »Aber du wirst sehen, es ist nichts Schlimmes.«

»Ach, davor fürchte ich mich nicht. Aber so oft mir etwas fehlt, habe ich so Heimweh nach Mutter. –« Wieder lehnte sie den Kopf zurück und murmelte mit geschlossenen Augen, als dürfte es nicht mit offenen gesagt werden: »Ich habe Mutter einmal auf der Straße gesehen, Tante Sulla. Und sie half mir mit meinem Schuhnestel. Aber sag es Vater nicht – und nicht Urgroßmutter Ursula.«

Als Großmutter hörte, daß Nina nicht wohl war, wurde sogleich zu Cortsen um einen Wagen geschickt. Sulla fuhr mit Nina und ihrem Vater nach Hause, legte das Kind zu Bett und blieb bei ihm, bis es eingeschlafen war. Sie ging sonst nicht so oft hin, wie sie gerne gewollt hätte, denn sie hatte Tante Fine – mit jenem Flüsterton, der immer im ganzen Zimmer vernehmlich war – Onkel Peter anvertrauen hören: »Wir hielten es alle fürs beste; das kleine hübsche Klosterfräulein würde so gut zu Wenck passen.«

Früh am nächsten Morgen ging Sulla wieder hin. Nina hatte hohes Fieber und Halsweh. Der Arzt sagte, er könne noch nichts mit Bestimmtheit sagen, fürchte aber, es sei eine versteckte Diphtheritis oder Scharlachfieber. Hierauf fuhr Sulla direkt zu Onkel Wilhelms, traf aber Ulla nicht daheim. Sie mache ihren Morgenspaziergang, hieß es. Da ärgerte sich Sulla, daß sie nicht an die Schule gegangen war. Jetzt ging Ulla wohl dort auf und ab und ängstigte sich. – Sie versprach der Tante, am Abend wieder Nachricht zu bringen; als sie aber demgemäß gegen sieben Uhr ungefähr mit demselben Bescheid hinkam, war Ulla wieder nicht da. »Sie ist zu dir gegangen,« sagte die Tante, »sie war so sehr aufgeregt.« Als Sulla dann heimkam, war indes die Cousine nicht da gewesen. Ach, war sie vielleicht –

Am nächsten Morgen kam ein langer Brief von ihr:

 

»Ich schreibe Dir, Sulla, nicht um mich wach zu halten – man könnte mich eher totschlagen, als daß ich heute nacht ein Auge zutäte –, sondern um mit mir selbst ins klare zu kommen. Ich bin ganz verwirrt und vor Müdigkeit wie gerädert.

Ach, ich habe einen Sieg gewonnen, den man mit dem Leben bezahlt!

Als ich sie gestern früh nicht in die Schule kommen sah, wurde ich gleich ängstlich.

Als ich dann heimkam und von Mutter hörte, daß sie krank sei, nahm meine Angst natürlich noch zu. Ich konnte nicht warten, bis Du kamst; und als es dunkel wurde, kroch ich in meinen alten Wettermantel, zog die Kapuze herein und ging hin; diesmal die Vordertreppe hinauf. Als ich klingelte, hörte ich gleich, daß er selbst kam. Natürlich klopfte mir das Herz zum Zerspringen; jetzt knipste drinnen der elektrische Schalter – es wurde hell, und die Türe ging auf.

Aber sie ging sogleich halb wieder zu – und sein Gesicht wurde fast geisterbleich. – ›Ich möchte nur hören, wie es geht.‹ – ›Schlecht.‹ – Er behielt die Klinke in der Hand und sprach kurz und hastig. – ›Was ist es?‹ – ›Der Doktor kann es noch nicht sagen.‹ – ›Ach, heilen können sie nicht, können sie nun nicht einmal mehr sagen, was einem fehlt?‹ – ›Er meinte, bis heute abend würde es sich entscheiden.‹ – ›Kommt er noch einmal? Dann kann ich unten im Flur warten.‹

Mir war, als werde der Türspalt schmäler, und ich fragte atemlos: ›Darf ich sie sehen?‹ – ›Nein!‹ – Ich legte meine Hand auf die seinige. Ach, ich wußte nicht, was ich tun sollte. Er zog seine hastig weg. – ›Eine Mutter möchte ihr krankes Kind sehen,‹ sagte ich atemlos. Er sah auf die Seite und sein Mund verzog sich. ›Eine Mutter, die ihr Kind verlassen hat – die freiwillig ihr Recht aufgegeben – und wohl nicht bedacht hatte, daß das Kind unangreifbar war. – – Ich werde morgen auf Ihres Vaters Kontor telephonieren und kann das jeden Tag tun, so lange – – Aber das ist auch alles. Hier herein können Sie nicht kommen.‹

Der Türspalt wurde schmäler. Ich dachte: Drücke dich durch! – – Da wurde droben im vierten Stock eine Tür zugeschlagen, und der Student, der dort wohnt, stürmte die Treppe herab.

Der Oberst zog an meinem Mantel – zog mich in den Flur hinein und hielt die Türe zu, während die Schritte vorbeieilten. Diese Ritterlichkeit war mehr, als ich ertragen konnte, ich brach in Tränen aus.

Als es draußen wieder still war, machte ich die Türe auf und trat hinaus. So einen Zufall mißbrauchen – nein!

Ich glaube, er war überrascht, und als ich wieder draußen stand, sagte ich so gut es ging: ›Sie haben recht – lassen wir also diese Mutter beiseite. – Aber da drinnen liegt ein kleines, krankes Kind, das nach seiner Mutter verlangt – fragen Sie es selbst – und das Kind hat ja nichts verschuldet.‹

Er umfaßte die Klinke so heftig, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Dann ging die Tür ganz auf – ich durfte eintreten.

Er machte die Türe zu seinem eigenen Zimmer auf – ich wußte nicht, warum ich da hinein sollte. Da wandte er sich nach mir um und sagte mit unterdrücktem Haß: ›Wissen Sie, was Sie getan haben – was Sie mir getan haben?‹ – »Ja, – nein – aber Nina?‹ – ›Sie schläft jetzt, und Theodolinde sitzt bei ihr.‹ – Das war auch die rechte zum Pflegen. Der Boden brannte mir unter den Füßen …

›Wissen Sie es nicht?‹ Er sah mich an, daß ich unwillkürlich denken mußte, er hat mich herein genommen, um mich umzubringen – mit eiskalten Händen, und ich weiß, ich hätte nur gefleht: ›Ja, ja, aber nachher!‹ – ›Wollen Sie es hören?‹ – ›Ja, wenn ich muß, ehe ich zu ihr hinein darf.‹

Hierauf sagte er – ach, kann ich mich an alles erinnern! – ich hätte ihn seinerzeit aufgestachelt zu etwas, was ihm fremd gewesen sei und wofür er mich nachher verachtet habe. Davon weiß ich nichts, ich hatte ja gemeint, er habe mich demoralisiert, aber man verderbt sich wohl gegenseitig.

›Und als Sie meiner überdrüssig geworden waren,‹ sagte er, ›als ich Ihnen nicht mehr unterhaltend war, trieben Sie Ihr Spiel mit anderen, mit allen anderen – während ich Nachsicht übte und schwieg, in meinem Zimmer hin und her wanderte, hin und her – und hoffte, Sie würden des Spiels einmal überdrüssig werden und nach etwas anderem verlangen – und den Weg zu mir zurückfinden – und anders wiederkommen – als Gattin. – Aber nein – dann gingen Sie davon und ließen alles im Stich!‹

Er lachte trocken und bitter auf. Ich erwiderte nur: ›Ja – ja – ja – Sie haben recht, ich gebe Ihnen in allem recht – und noch mehr dazu. Aber sagen Sie mir nur eins. Wenn es nun ansteckend ist, was dann?‹

Er faßte sich an die Stirne. ›Ich weiß es nicht recht, ich selbst muß ja unter die Menschen – und wenn ich auch eine Krankenpflegerin nehme, ist es vielleicht doch nicht ganz verantwortlich.‹

›Eins ist sicher,‹ warf ich rasch ein. ›Ins Spital kommt sie nicht.‹

›Das habe ich zu bestimmen,‹ versetzte er.

›Nein, das ist schon entschieden. Da, wo Frau Ejlertsens Mädelchen gestorben ist – und nicht einmal den kleinen einbeinigen Pudel bei sich im Bett haben durfte, obgleich es sagte, das sei das einzige, was es über den Abschied von seiner Mutter trösten könnte! Nein, dahin kommt Ninette nicht!‹

›Das bestimme ich. Nina weiß, daß der Doktor sie vielleicht ins Spital bringen will – und sie hat mir versprochen, mein vernünftiges Mädchen zu sein.‹ – Ach Gott, das arme tugendhafte Tröpfchen! Hatten sie ihr nun gleich damit Angst gemacht? ›Wo sollte sie denn auch sonst hin?‹ fügte der Oberst noch hinzu.

›Sie kann zu uns kommen – zu meinen Eltern.‹

›Dahin – wo Ihr – Geliebter aus- und eingeht?‹

Ich war nicht gekränkt. Ach, ich hatte an anderes zu denken! ›Er kann ja wegbleiben,‹ sagte ich.

›Es wäre aber gewiß unklug, ihn nicht in Atem zu erhalten.‹

Darauf schwieg ich nur. – Er wanderte ein paarmal im Zimmer hin und her – dann ging er mit mir durchs Wohnzimmer, das dunkel und kalt war. Hu, wie kalt! Es war, als strichen eisige Hände über einen hin. – Dann durchs Eßzimmer und von da in das Zimmerchen der Kleinen.

Theodolinde war nicht da – und ich hatte sie auch in Gedanken schon verabschiedet gehabt. Es war schwül und halb dunkel in dem Stübchen; eine kleine Petroleumlampe war so tief herabgeschraubt, daß sie stank. Ich schlich mich zum Bett hin und glitt neben ihm zu Boden. Ach, wie wohl tat das! Ich umschlang das eiserne Gitter mit beiden Händen und dachte: ›Nun müssen sie mir die Hände abhacken. Hat man das nicht einmal einer Negermutter getan, als sie nicht losließ?‹

Nina hatte eine kleine Falte zwischen den Brauen, wie gewöhnlich, wenn sie Kopfweh hatte, und ihre Händchen waren unruhig und heiß und offenbar auch gerötet. Sie atmete schwer und stöhnte ab und zu. Jetzt schlug sie die Augen auf; sie waren fieberhaft glänzend und hatten einen angstvollen Ausdruck. ›Ach, mein Hals – Mutter!‹ O wie hatte ich mich nach diesem Wort gesehnt! ›Mutter – bist du es wirklich, Mutter?‹ – ›Ja, mein Schatz.‹

Ich glaube, sie war so wenig klar, daß sie nicht einmal sehr überrascht war. Sie seufzte nur aus tiefstem Herzen. ›Ach, wie gut, daß du gekommen bist! Denn ich wußte mir gar nicht mehr zu helfen. Ich bin recht krank, Mutter.‹

›Ja, aber wir werden es schon durchmachen, Kleine.‹ Ich ergriff die beiden glühenden Händchen – und sie schmiegten sich zärtlich in die meinigen hinein.

›Ach, wie herrlich kalt sind deine Hände, Mutter! Jetzt ist er wieder da gewesen, der Mann.‹

›Welcher Mann, Kleinchen?‹

›Der in dem braunen Rock und dem roten Schlips. Der Mann, der aus der Einfahrt herauskam und hinter Nana und mir herging. Und am nächsten Tag kam er ja wieder, Mutter, und sagte etwas. Und was soll ich tun, wenn er kommt, während ich hier liegen muß?‹

›Dann werde ich schon mit ihm fertig werden.‹ Während ich das sagte, betrachtete ich meine langen Finger und dachte: Ich erdroßle ihn mit kaltem Blut. ›Aber er kommt ohnedies nicht mehr,‹ fügte ich beruhigend laut hinzu.

›Dann Gott sei Dank!‹ – Sie schloß die Augen.

Es klingelte. Der Oberst öffnete und kehrte mit dem Doktor zurück, der mich mit der Miene eines diskreten Hausarztes begrüßte und dann sofort Ninette untersuchte. Gleich als er ihre Hände sah, sagte er halblaut: ›Scharlachfieber.‹

›Aber der Hals tut ihr weh,‹ warf ich ein.

›Jawohl‹ – er nickte. ›Das gehört zur Krankheit. – Na, kleine Nina, wie geht es uns jetzt?‹

›Danke, gut.‹ Sie beobachtete sein Gesicht mit starren Augen. Ich wußte wohl, was sie dachte. Sie war vor lauter Spannung plötzlich bei sich. ›Ich glaube, es geht mir doch ein wenig besser. Dann muß ich vielleicht nicht ins Spital.‹

›Nein, mein Schatz,‹ sagte ich rasch und küßte die kleinen heißen Hände. ›Mutter wird dich pflegen.‹

Der Arzt war zum Oberst getreten. ›Ich weiß nicht recht, was ich raten soll. Sie ist stark angegriffen.‹

›Sie wissen, ich bin die geborene Krankenpflegerin, Herr Doktor,‹ sagte ich. ›Das haben Sie damals selbst gesagt, als der Oberst Halsentzündung hatte. Ich habe mich angeboten, das Kind mit zu meinen Eltern zu nehmen und es dort zu pflegen. Es ist eine Villa – und wir können uns oben ganz isolieren, sie und ich.‹

›Ja das wäre ja –‹ Er schielte zum Oberst hinüber. ›Das ist wirklich – ein ausgezeichneter Vorschlag; und im Frühjahr ist dann überdies noch ein Garten da zur Erholung. Ich würde das sehr praktisch finden.‹

Der Oberst trat an das Bettchen. Ich kniete auf der andern Seite ihm gerade gegenüber. Und ich sah ihn an. Du, Sulla, ich glaube nicht, daß man spricht, wenn man um sein Leben fleht. – – Er sah mich einen Augenblick an, dann fragte er: ›Möchtest du mit zu den Großeltern, Nina?‹

›Ja, darf ich? Aber wenn ich gesund bin, dann bekommst du mich wieder, Vater.‹

›Ja, mein Kind – wir zwei gehören ja zusammen. Aber wie soll es geordnet werden, Herr Doktor? Wann soll die Übersiedelung stattfinden?‹

›Je früher, desto besser,‹ sagte dieser mit einem Blick auf Nina. ›Es ist heute abend außerordentlich milde – deshalb würde ich vorschlagen – wenn es der gnädigen Frau so paßt –‹

›Ausgezeichnet,‹ sagte ich. ›Sie kann gleich in mein Bett schlüpfen, das steht ja bereit.‹

Es wurde nach einem Wagen telephoniert, und der Doktor bot sich an, mit mir und dem Oberst hinauszufahren. Das ganze war wie ein Traum; ich sah noch, daß Theodolinde hereinkam, daß sie äußerst empört und doch außerordentlich erleichtert aussah und sich in gehöriger Entfernung vom Bett hielt, und daß dann der Oberst plötzlich zu mir sagte: ›Sie haben ja aber das Scharlachfieber auch noch nicht gehabt,‹ worauf ich indes nur lächelte.

Wir wickelten Ninette in Decken und Tücher ein, bis sie wie eine große Wurst aussah, und trugen sie dann hinunter. Ihr Kopf lag auf meinem Arm – es war wie eine Entführung. Jetzt fuhr ich mit meinem Schatz davon, mitten in die Nacht hinein.

Hier außen war alles bald erklärt; Vater war gut und Mutter lieb. Sie weinte, als sie hörte, daß ich Ninette pflegen dürfe. Der Doktor und ich trugen sie hinauf und legten sie in mein Bett. Sie sah winzig klein darin aus. ›Du wirst sehen, Kleinchen, es ist lange nicht so warm wie dein eigenes Bettchen daheim, denn es ist sehr groß.‹

Ach, wie schön frisch und luftig war es hier draußen vor der Stadt im Vergleich zu drinnen! Sie sagte: ›Das ist gut, in Mutters Bett werde ich gewiß bald gesund. Es ist ja wie am Geburtstag, nicht wahr?‹ (An dem Morgen ist sie immer zu mir ins Bett gekommen, um sich gratulieren zu lassen.) Sie war übrigens sehr müde und so angegriffen von der Fahrt, daß sie nichts mehr recht verstand.

Ich ging mit dem Arzt wieder hinunter, denn der Oberst war draußen auf dem Wege geblieben. ›Steht es sehr schlecht, Herr Doktor?‹ fragte er.

›Ja, gut nicht, aber es wird schon besser werden. Ich komme morgen früh wieder.‹

Des Doktors Schritte verhallten, und dann – ich weiß nicht, wie es zugegangen ist – – aber denk Dir, ich glaube wahrhaftig, ich sank auf den feuchten Boden nieder und sagte immerfort: ›Sie müssen mich anhören, wie sehr ich Ihnen danke – Sie müssen – Sie müssen –‹

Er suchte nur abzuwehren. ›Stehen Sie auf – ich habe nichts für Sie getan, nur für das Kind. Und ich weiß jetzt schon, daß es verkehrt war. Sie haben sich von uns getrennt; das ändert sich nicht mehr – so wenig wie mein Urteil über Sie – weil nun eines von uns krank ist – – diesen Weg müssen wir ja alle drei – darum hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich wünsche jeden Tag telephonische Nachricht – keinen Besuch. Ich selbst komme natürlich auch nicht hierher – nur wenn das Schlimmste geschehen sollte – –‹

›Das geschieht nicht,‹ warf ich ein, ›ich verbürge mich mit meinem Leben für Nina. Sie können sich auf mich verlassen.‹

Ich weiß selbst nicht, was ich damit sagen wollte, aber in jenem Augenblick habe ich es verstanden. Und mir war dabei, als setzte ich mein eigenes Leben ein – meinst Du nicht, Sulla, daß man das kann?

Mutter ließ mir ein Bett auf dem Sofa zurecht machen – aber ich habe mich nicht hingelegt. Sie war in den ersten Stunden der Nacht sehr fiebrig und unruhig – ich meine Ninette. Und der schreckliche Durst! Ich hatte etwas Milch mit heraufgenommen; da fiel mir plötzlich ein, daß meine Mutter noch eine Flasche weißen Himbeersaft hatte, und ich dachte, die Kleine könne sich daran erlaben. ›Ja, das ist schön,‹ sagte sie, ›denn rot, Mutter, das ist doch gleich, wie wenn es warm wäre.‹

Jetzt endlich um drei Uhr schläft sie; aber alle fünf Minuten schleiche ich auf den Zehenspitzen zu ihr hin und betrachte sie dann lange, lange. Ich bin todmüde und verwirrt – aber dabei ruhe ich aus. Das Scharlachfieber dauert sechs Wochen, nicht wahr, oder acht vielleicht? Beinahe hätte ich gesagt: Gott sei Dank!

Hätte ich den Studenten vom vierten Stock hier, ich fiele ihm um den Hals – denn er hat den Ausschlag gegeben. Oder Du würdest vielleicht sagen: ›Der Student? Nein, der saß daheim über seinen Büchern. Aber der liebe Gott war es, der hatte heruntergeschaut und gesagt: ›Dieser Mutter muß geholfen werden – denn sie verdient es absolut nicht.‹ Dann ließ er einen Engel herunterfliegen und auf der Treppe Lärm machen …‹ Ja, heute könnte ich das wahrhaftig glauben!

Morgens sechs Uhr: Sie sieht sehr schlecht aus beim Tageslicht – ich wünsche den Doktor sehnsüchtig herbei. Doch, das ist wahr! Verbrenne den Brief, Sulla, und wasche Dich mit Karbolwasser. Aber Du hast ja das Scharlachfieber gehabt. Vielleicht wäre es trotzdem besser gewesen, Du hättest den Brief in Handschuhen gelesen. Das kannst Du das nächstemal tun. Jetzt lasse ich ihn von Mutter in einen Umschlag legen und ihn auch adressieren, dann wird der Briefträger sicher nicht angesteckt.«

Zehn Tage lang war die kleine Nina gefährlich krank, mit so hoher Temperatur, daß der Arzt immer bedenklicher wurde und zwei volle Tage hindurch den Zustand fast für hoffnungslos hielt. Dann aber trat eine entschiedene Wendung zum Bessern ein. Aber nun war das Kind so schwach, daß es doch noch mit äußerster Vorsicht behandelt werden mußte.

Während der schlimmsten Zeit war Ulla um keine Welt richtig zu Bett gegangen. Und sie wollte auch keine Krankenpflegerin zur Hilfe. »Ich werde doch die Kleine nicht mit einem fremden Gesicht erschrecken!« sagte sie. »Sie würde gleich denken, sie müsse höflich sein, und würde vergebliche schwache Versuche machen, zu tun, als bemerke sie die fremde Person gar nicht.«

In den Morgenstunden, wo Nina am meisten schlief, legte sich Ulla im Gastzimmer aufs Bett; währenddem saß die Tante an der offenen Tür und paßte auf die Kleine auf, mit der sie auf diese Weise in keine unmittelbare Berührung kam. Dann badete Ulla und hierauf setzte sie sich wieder an Ninas Bett. Nur in der Dämmerung machte sie einen Gang durch den Garten, in dem Wetterkragen mit der Kapuze.

Sulla kam jeden Morgen zu Onkels, um sich nach der kleinen Patientin zu erkundigen und ein paar herzliche Zeilen an Ulla abzugeben. Sie hatte sich gleich zum Wachen angeboten; aber Ulla wollte das Anerbieten nicht annehmen. In der strengsten Zeit bekam Sulla auch keine Antwort auf ihre Briefe. Aber dann schrieb Ulla wieder:

 

»Jetzt nimmt Ninettes Gesichtchen doch wieder einen Schimmer von dem früheren altklugen Ausdruck an – der in den ersten Tagen gar nicht mehr zu sehen war. Aber sonderbar fremd ist ihr Gesicht trotzdem noch; es ist ellenlang geworden und schrecklich mager. Jetzt müssen wir uns alle Mühe geben, daß sie ihre runden Bäckchen wieder bekommt.

Ist es denn möglich, daß erst vierzehn Tage seither vergangen sind? Mir ist es, als sehe ich auf eine gähnende Leere von vielen hundert Jahren zurück. Ach, Sulla, es war schrecklich!

Nein, ich habe vielleicht nicht wirklich Angst gehabt, sie könne sterben – selbst in den schlimmsten Nächten nicht, denn ich fühlte ganz deutlich, daß ich selbst langsam dran sterbe – und so wird sie es wohl durchmachen. Aber wenn ich sehen und hören mußte, wie sie sich in Todesangst mit den Vorstellungen abquälte, die sich immer um ein und dasselbe drehten, das war nicht zum Aushalten!

Ach, Sulla, es ist unverzeihlich, wenn man in ein Kindergehirn etwas hineinzwingen will, was es nicht ertragen kann! Ja, ich wiederhole: das, was wir mit allem unserem plumpen Lebensdrang in unserem groben großen Gehirne ausbrüten, das in so ein kleines wehrloses Ding, welches dann schrecklich darunter leidet, hineinpressen wollen – das, das ist eine Gewalttat.

Oft wußte sie nicht, wer ich war, oder wo sie war. ›Was hast du gesagt, Kleinchen?‹

›Ach, wenn doch nur das Fräulein der Tagäa sagen würde, daß meine Mutter wirklich nervös ist! Denn sie sagt, sie habe sich verlobt; aber wenn man verheiratet ist, ist man nicht mehr verlobt, das weiß ich doch. ›Nein,‹ sagte sie, ›aber mit einem andern.‹ – Das kann jedoch kein anderer sein, als der gleiche – der – wenn er doch einen braunen Rock anhat. Und einen roten Schlips! Und ich möchte auch lieber weißen Saft – wenn ihn mir Mutter nur bringen würde – – ich kann gar nicht verstehen, warum Mutter nicht kommt, wenn ich doch so krank bin!‹

In einer Nacht war sie plötzlich schon mit einem Bein zum Bett heraus und wollte aufstehen. ›Jetzt muß ich aufstehen – und heim zu Vater; er ist dort ganz allein.‹

Ich steckte sie in aller Eile wieder hinunter. ›Ja, morgen, mein Liebling. Aber jetzt ist es Nacht, und Vater schläft. Dann weiß er ja nicht, daß er allein ist.‹

Auch mit den Schulaufgaben mußten wir uns immer abquälen. ›Ich kann sie nicht – ich kann sie morgen nicht. Wie ist es nur möglich, daß ich gar nicht weiß, was wir auf haben? Ich möchte doch wirklich meinem Vater den Schmerz nicht bereiten, daß ich jetzt meine Aufgaben nicht kann – denn er sagt, ich sei seine einzige Freude. Warum kann ich denn die Bücher durchaus nicht finden?‹

Eines Abends spielte sie auf ihrem Bettuch mit ihren fieberheißen Fingerchen eifrig Klavier, und als ich sie beruhigen wollte, sagte sie: ›Nein, nein – ich kann das Üben nicht nur so aufgeben, denn ich möchte so gern bald mit Mutter vierhändig spielen können, – dann kann sie doch vielleicht auch bei uns zu Hause vergnügt sein wie andere Mütter. Und dann dürfen wir sie vielleicht behalten; es ist nicht so leicht, sich ohne Mutter behelfen zu müssen.‹

In der Nacht, wo das Fieber am stärksten war und die armen glänzenden Augen sich gar nicht schließen wollten, jammerte sie: ›Ach, ich kann in meinem ganzen Leben nicht mehr einschlafen, ich habe viel zu viel zu denken!‹

O Sulla, fühlst du, daß es einem das Herz zerreißt, wenn man so etwas anhören muß! Das sind Anklagen, Sulla – die man nie wieder zum Schweigen bringt – da richtet der oberste Gerichtshof!

Ach, Eheleute sollten gar keine Kinder haben dürfen, bis sie durch ein längeres Zusammenleben einigermaßen bewiesen haben, daß sie es bei einander aushalten können, ohne sich so zu schaden, daß sie sich besser trennten. Sonst geben sie einem kleinen Kinde viel zu viel zu denken auf. O wie gut verstehe ich das Wort: ›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäufet würde im Meer, wo es am tiefsten ist.‹

Ganz berechtigt halte ich jetzt fast nur noch eine Ehe ohne Kinder.

Dagegen ist natürlich einzuwenden: Wenn nun ein Mensch zum Beispiel eine Mutter ist – Mutter ihrer ganzen Natur nach –, dann würde sie ja nie ihr eigentliches Leben hier erreichen.

Aber das muß sie dann eben lassen; es wird zu viel gegen die Kinder gesündigt.

Wie gut war es, wenn sie schließlich einschlief! Dann war aber ich so angegriffen und ermattet, daß ich mich gleichsam an ein festes Bild halten mußte, um nicht in jenen unerklärlichen Zustand hineinzugleiten, den man Schlaf nennt. Und manche Nacht hindurch habe ich da unverwandt in Ole Hansens Brunnen hineingestarrt.

Kannst Du Dich an Ole Hansens Brunnen in Hornbäk erinnern, um den ich noch als großes Mädchen immer mit drei Schritt Abstand herumgegangen bin? Und ich habe mich doch nicht so leicht vor irgend etwas gefürchtet. Aber ›dieser Brunnen ist so rund und schwarz und tief,‹ sagte ich zu Mutter. ›Und ganz unten auf dem Grund schaut einem das eigene Gesicht entgegen. Das will ich nicht sehen.‹

Nun aber saß ich ganz still da und schaute in den Brunnen hinein. Hinein in die runde tiefe Finsternis. Und hoffnungslos tief unten sah ich schließlich mein eigenes Gesicht.

Ja, ist es nicht am Ende so, daß uns aus der schrecklichsten Finsternis, die jäh über uns hereinbricht, schließlich das eigene Gesicht entgegenschaut?

Nein, ich hatte mich bisher noch nie selbst gesehen! Jetzt saß ich da und schaute dieses mein Bild an. Es war ebenso still um mich her wie in Großmutters Garten, wo ich, wie Du sagst, gesessen und nachgedacht haben sollte. Ach ja, vielleicht! Ich habe so vieles in diesen Nächten erfahren – aber nun kommt es zu spät.

Eines Tages schlug Nina die Augen auf: ›Sitzst du noch immer hier, Mutter? – Und immer angezogen? Das geht doch nicht. Dann hast du nie eine Nacht.‹

O doch – die hatte ich zur Genüge. Es war gut, wenn es endlich draußen zu dämmern begann, wenn die Morgenluft kalt hereindrang – und Ole Hansens schwarzer Brunnen verschwand. Dann wußte ich, daß es nun bald Tag war – und ich selbst ein wenig schlafen durfte.

Aber jetzt hab ich auch die Nacht dazu – auf dem Sofa dicht neben ihrem Bett – denn jetzt schläft sie selbst wieder besser. Allerdings fahre ich bei der allerkleinsten Bewegung, die sie macht, sofort jäh auf. Aber meist liegt sie ganz ruhig, und wenn wir erwachen, sehen wir einander gerade ins Gesicht und freuen uns darüber.« – –

 

Einige Zeit nachher schrieb Ulla:

 

»Ich sage Dir, wir haben es jetzt herrlich hier! Im Freien ist es freilich noch hundekalt, wie immer im Frühling bei unserem herrlichen Klima – aber der Sonnenschein dringt schon warm durch die Scheiben hindurch und macht alles freundlich. Unser Zimmer hat Morgen- und Mittagsonne.

Und an beiden Fenstern strahlt heller Frühling. Alle Gläser und Töpfe meiner Mutter, mit Krokus, Tulpen und Osterlilien, stehen hier oben bei uns – nur die Hyazinthen können wir nicht gebrauchen. Die Blumen leuchten wie Edelsteine, und Ninette ist überglücklich damit.

Die Krokusblüten gefallen ihr besonders gut. »Sie sind so klein und hübsch,« sagt sie. Ja, sie gleichen ihr, denn sie ist selbst so eine kleine bleiche Krokusblüte, die in die richtige Frühlingssonne gehört.

Es geht uns täglich ein wenig besser. Sie kann jetzt auch etwas mehr essen. Jeden Morgen muß ich erraten, was sie heute am liebsten essen möchte, und ich habe meistens Glück. Oft kaufe ich es dann selbst auf meinen kurzen Morgenspaziergängen. Ich esse mit ihr hier oben an einem Tischchen, das ich, um ihr Freude zu machen, recht hübsch decke und dann an ihr Bett heranschiebe. Das Veilchensträußchen, das ich jeden Tag für sie hole, wird in die Mitte gestellt.

Jetzt ist es ein wahres Fest, wenn ich sie am Morgen zurecht mache. Während das Bett gemacht wird, sitzt sie auf dem Sofa. Der Doktor sagt, wir könnten jetzt bald daran denken, sie das Aufstehen probieren zu lassen. Alle Tage bürste ich ihr das Haar und flechte es dann so glatt und fromm wie nur möglich. Es wird ebenso lange wie meines, aber nicht so widerborstig kraus. Ich kann ihr schon eine kleine Gretchenfrisur machen, die ihr allerliebst steht. Sie will jetzt alles wissen, was ich auf meinem kurzen Morgenspaziergang erlebe, und kann auch etwas Vorlesen ertragen. Ich erzähle ihr auch von damals, wo sie noch in Nyborg als ein ganz kleines Wichtelchen in der Wiege lag und alle ihre Nahrung von mir bekam. Ach, ich denke so viel an jene Zeit!

Dann sagt Ninette – ja, welche Sprünge die Gedanken der Kinder doch machen, selbst wenn sie aus einem so kleinen ruhigen Gehirn wie Ninettes kommen! ›Das ist ganz wie bei Moses, nicht wahr, Mutter? Seine Mutter hat ihn auch ganz allein versorgt. Und sie hat ihn auch so ungern hergegeben!‹

Dann muß ich ihr die Geschichte wieder erzählen; hierauf auch die von Abraham, der seinen Isaak opfern sollte, dem aber der Engel zurief: ›Halt – laß es!‹ Denn der liebe Gott will ja nicht, daß man sein eigenes Kind opfert. Nein – aber Eltern tun es oft ganz aus eigenem Antrieb. Die Geschichte von Joseph kommt schließlich auch noch dran; ja, ich muß das Alte Testament ordentlich durchpflügen.

Wir haben ihren Vogel kommen lassen, nachdem wir uns erst erkundigt hatten, ob er Scharlachfieber bekommen könnte. Es ist ja ein gesetztes älteres Weibchen mit einem etwas kahlen Schädel, das nur ab und zu ein wenig piept. Dann sagt Ninette: ›Hörst du, nun singt er doch ganz hübsch! Und so stört er ja auch niemand.‹ Die invalide Dorrit haben wir auch kommen lassen, weil man sie ja nachher schon den erzürnten Göttern opfern kann, ohne daß es einen eigentlichen Verlust für die Welt bedeutet; aber das Ninettenmütterchen war doch ein wenig bedenklich und sagte: ›Es ist so schwer, wenn man etwas wegtun muß, Mutter.‹

Am Abend sind wir dann immer herrlich müde, und nachdem wir ein wenig zu den blinkenden Sternlein, die zwischen den blauen Vorhängen hindurchschimmern, aufgeschaut haben, gehen wir schlafen. Doch zuerst sprechen wir unser Abendgebet. ›Mutter, du weißt doch, daß ich es nur ein paarmal versäumt habe, und da bin ich gar nicht bei mir gewesen.‹ – ›Ja, und nun will ich dir etwas sagen, Ninette, da habe ich es für dich getan.‹ – ›Das ist gut, Mutter, der liebe Gott weiß ja wohl, daß ich die Absicht gehabt habe, und wenn du es getan hast, wird es wohl gelten.‹

Dann schlafen wir aus der Dunkelheit in den hellen Morgen hinein. ›Guten Morgen, Ninette! Wie geht es uns?‹ – ›Danke, es geht uns gut. Mutter, sieh, jetzt ist wieder eine Krokusblüte aufgegangen! Diesmal eine weiße.‹

Und durchs Fenster hindurch pfeift der Star zu uns herein, daß ich unwillkürlich mitpfeife, wie einst als Schulmädchen.

Ach, Sulla, wie gut habe ich es jetzt! Ich schaue nicht vorwärts – ich schaue nicht rückwärts. –

Etwas Schreckliches lauert freilich im Hintergrund, und das heißt ›morgen‹, und noch etwas Schrecklicheres, das heißt ›übermorgen‹. Diesen beiden bin ich verfallen, ich weiß es wohl; aber in diesem einen einzigen Augenblick kann ich sie von mir entfernt halten. Und das tue ich, Du darfst es glauben!

Wir leben so ganz für uns, so ganz allein mit unseren Blumen, mit unserer eigenen frohen Sonne und mit unserem Vögelchen, daß es uns ist, als seien wir ganz allein auf der Welt. Glaubst Du es?

Oder, als sei die Welt eben erst geschaffen worden! Sie hat ja auch mit zwei Menschen in einem verschlossenen Garten angefangen. Und wir sitzen eigentlich hier wie in einem Garten. Selbst Ninette sagte neulich, als ich mit einem Strauß Tulpen ankam: ›Es ist fast, als sei dies Urgroßmutter Ursulas Garten.‹

Wie merkwürdig, Sulla, daß nicht zuerst eine Mutter erschaffen worden ist! Und ein kleines Mädchen, das aus ihrer einen Herzkammer herausgenommen wurde (ich habe dieses Wort einmal anstatt Rippe irgendwo in einer deutschen Bibelerklärung gefunden und finde es viel schöner).

Eine Mutter und ihr kleines Mädchen – das ist doch viel paradiesischer als Mann und Frau. Ein Mann im Paradiese! Aber dann ist es das ja nicht mehr! Freilich, die Frau ist auch nicht viel mehr wert. Aber eine Mutter ist auch keine Frau, und ein kleines Mädchen ist erst recht keine.

Weißt Du – dann hätte nie eine Vertreibung aus dem Paradies stattgefunden. Ich sehe im Geiste die kleine Ninette selbst beim eifrigsten Spiel dem Baum im weiten Bogen ausweichen und sehe sie rot werden, nur weil sie ihn gesehen hat. ›Das würde uns doch niemals einfallen, ihn anzurühren, nicht wahr, Mutter – wenn der liebe Gott es verboten hat?‹ – ›Nein, mein Liebling, das würde uns nie einfallen.‹«

 

Die kleine Nina durfte aufstehen, sollte aber volle acht Wochen in der Villa bleiben. Der Arzt hätte sie am liebsten da gelassen, bis sie Anfang Juni zu ihrer Großmutter nach Norwegen gebracht werden könnte. Sie war sehr entkräftet, und so riet er, das Kind vor den Ferien nicht mehr in die Schule zu schicken.

 

»… Es ist ein wahres Fest für die Kleine, wenn sie am Fenster sitzen darf und sieht, wie groß und grün die Knospen im Garten werden,« schrieb Ulla Ende April, »sonst aber ist sie ziemlich matt und niedergedrückt wie alle Rekonvaleszenten.

(Vielen Dank für den herrlichen weißen Flieder und die glasierten Ananas! Beides hat sie sehr gefreut!) Ich verlasse sie nur sehr ungern; neulich machte ich einen längeren Morgenspaziergang – aber er lief nicht gut ab. Siehst Du, Ferdinand ist die ganze Zeit über recht lieb gewesen. Er ist wirklich so, wie ich immer sage, nämlich besser als die andern, und er hatte mir damals gleich geschrieben, es sei ganz natürlich, daß ich die Kleine pflegen wolle. Er ließ mich auch ganz in Frieden, und erst als er hörte, ich gehe wieder ein wenig aus, machte er den Vorschlag, mich jeden Morgen abzuholen, ich könne ihn dann ein Stück Wegs nach seinem Atelier begleiten. Und neulich wurde die erste Probe gemacht.

Zuerst war er ganz entsetzt, wie schlecht ich aussehe. Dann sagte er: ›Du freust dich doch über das neue Ministerium?‹ – ›Ich – nein – warum denn?‹ – ›Onkel Nikolaj ist ja Justizminister geworden.‹ – ›Ach so, und ich war bisher immer der Meinung gewesen, der Onkel sei ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch – nun muß er aber doch wohl ein Licht sein!‹ – ›Ja, ich werde ihn ordentlich antreiben, und du wirst sehen, wie schnell wir die Heiratserlaubnis bekommen,‹ fuhr Ferdinand fort.

Ach, ich hatte ganz vergessen, daß ich mich verheiraten sollte! Ich kann Ferdinand gut leiden – viel besser sogar als alle andern Männer, die ich kennen gelernt habe. Aber wie könnte man ans Heiraten denken, wenn man daneben noch ein anderes Verhältnis hat, das einen vollständig in Anspruch nimmt!

Als wir eben durch Gamle Kongevej gingen, stürzte ein kleiner geschäftiger Hund aus einem Hause auf die Straße heraus. Mit einem höchst pflichtgetreuen Eifer schnüffelte er eifrig einer Spur nach und jagte eine Weile hin und her, ohne nach rechts oder links zu sehen – – jetzt hatte er die Spur gefunden – und nun lief er, was das Zeug hielt. – – Doch in demselben Augenblick kam ein großer Kohlenwagen dahergerasselt – dessen eines Rad ging über den Hund weg und –

Oh! Der krachende Ton und das gellende Aufheulen! – Ja, es war ein Aufheulen! Und ich weiß nicht – aber es klang geradezu eine Art Verwunderung heraus, daß so etwas plötzlich über einen hereinbrechen könnte, wenn man doch nichts weiter tue, als in dem einem zugeteilten Berufe der Spur nachzugehen!

Ein Straßenjunge trug den Hund vor uns her – dessen Augen waren noch immer glänzend und halb geöffnet – und sahen verständnislos erstaunt aus. Darüber erstaunt, was einem auferlegt werden kann, wenn man doch unschuldig ist! – – Die Leute drängten sich in einem Haufen zusammen wie gewöhnlich – und ich fiel ohne weiteres mitten auf dem Bürgersteig in Ohnmacht.

Ich weiß nicht, wie mich Ferdinand in einen Laden hineingeschleppt hat – doch kam ich schließlich wieder zu mir, während ein sehr jugendlicher Kommis mir mit irgend etwas Nassem unaufhörlich im Gesicht herumfuhr, das – wenn ich ausnehme, daß es mich daran verhinderte, die Augen aufzumachen – ganz und gar keine Wirkung hatte.

Als ich wieder zu mir gekommen war, wollte Ferdinand ein Auto holen, und da ich nicht fahren wollte, begleitete er mich langsam nach Hause. Nein, ich wollte nicht fahren, denn es hätte Ninette erschrecken können, wenn sie nun am Fenster gewesen wäre, und man hätte mich in einem Wagen nach Hause gebracht. Ferdinand sagte, er habe ganz Angst bekommen; ich sei wohl sehr überanstrengt, denn ich hätte wie ein kleines Mädchen ausgesehen, das dem Verscheiden nahe ist.

Ich sagte, vorläufig werde ich mich wohl ganz ruhig zu Hause halten müssen, und das sah er auch ein. Wie erleichtert fühlte ich mich, als ich mich hier oben einschließen konnte!

Aber auch hier streckt das ›morgen‹ allmählich den Kopf herein. Der Oberst ist schon ein paarmal im Garten gewesen, um Ninette, die oben am Fenster saß, zuzunicken, und sie diktiert mir fast täglich kleine Briefe an ihn, die immer damit schließen, wie sehr sie sich aufs Heimkommen freue. ›Aber ich schäle mich ja immer noch ein wenig, deshalb wird es schon noch eine Weile dauern, nicht wahr, Mutter?‹

Er hat bestimmt, daß sie volle acht Wochen hier bleiben darf – bis zum vierzehnten Mai –, aber dann soll sie nach Hause. Die Großmutter aus Norwegen und Tante Mimi kommen zu ihm und bleiben da, bis sie das Kind mit hinaufnehmen können.

Nein, ich kann mich des Gedankens an ›morgen‹ nicht mehr entschlagen. Ach, und das ›gestern‹ gehört unvermeidlich dazu!

Denn richtig besehen ist ja morgen doch nur gestern, der Tag, der wiederkehrt, der Tag, mit dem wir geschaltet und gewaltet, wie wir wollten, und dann hinter uns geschleudert haben – weg mit ihm! O ja! – er schlüpft in einen unterirdischen Gang hinein und taucht aufs neue auf – gerade vor uns. Nur mit dem Unterschied, daß er nun die Innenseite seines Gewands nach außen gedreht hat, so daß uns nun alles Unschöne, das wir innen getragen haben, bis zu der kleinsten Heftnadel, Waffen gleich entgegenstarrt. Das wiederholt sich unaufhörlich – aber wir glauben es doch nicht. Wir werden niemals so klug, daß wir damit rechnen.

Wie richtig ist doch der Ausspruch: ›Wenn jemand das ›gestern‹ für uns auslöschen könnte, dann hätte er dem ›morgen‹ den Stachel genommen!‹

Am vierzehnten Mai soll ich mich also in das Unmögliche finden! O, ich weiß wohl, was mich der Abschied beim letztenmal gekostet hat; und damals bin ich doch noch im Nebel herumgegangen und hatte mein eigenes Gesicht drunten im Brunnen noch nicht erkannt.

Kannst Du es glauben, Sulla – mein ganzes Leben lang hatte ich noch niemals ruhig über mich nachgedacht. Dazu kommt man in den Kopenhagener Häusern nicht so leicht. Und wir hatten ja keinen stillen Garten hinter dem Hause, wo man sich die Stadt fern halten konnte. Deshalb habe ich auch absolut keinen Begriff davon gehabt, wie es eigentlich mit mir beschaffen war.

Es ist ganz richtig, man soll aus seiner Natur herausleben; aber man muß diese Natur zuerst erkannt haben. Und das ist nicht so einfach – wie wir bei uns hier draußen meinten.

Alle meine wilden Triebe durften in die Höhe schießen – aber daraus entstand dann nur eine wahre Wildnis.

Du hast recht gehabt, im Grunde genommen bin ich gar keine verliebte Natur. Nein, keine Spur! Das alles ist nur an der Oberfläche. Und dann habe ich verliebte Anwandlungen gehabt – die beizeiten hätten beschnitten werden sollen, ehe sie zu Gewohnheiten geworden wären. Sie haben mich seit vielen Jahren verhindert, bis zu dem Kern in mir durchzudringen.

Liebe Sulla, weißt Du, was ich bin? Mutter bin ich, sonst nichts, und zwar nicht, weil ich dies eine Mal ein Kind geboren habe – man kann zehn und zwanzig Kinder gebären, ohne wirklich Mutter zu werden – – sondern weil die Natur mich von Anfang an dazu gemacht hat. Als Frau, da wandle ich nur auf ausgetretenen Pfaden, als Mutter dagegen gehe ich meinen eigenen Weg.

Als Mutter kann ich am tiefsten in mein Inneres eindringen und kann am höchsten über mich hinauskommen.

Aber das, was ich bin – kann ich nicht sein. Das Leben, das mein eigentliches Leben ist, darf ich nicht leben … Da, wo ich daheim bin, darf ich nicht wohnen. – Ach, ich habe es mir selbst geschaffen – ich weiß es wohl!

Sage nicht, es könnte vielleicht doch noch einmal gut werden. So treulos könnte ich der Kleinen gegenüber, die mir meinen richtigen Namen gegeben hat, nicht werden, daß ich zwischen sie und mich fremde Kinder bringen würde. Das wäre schlimmer als Ehebruch.

Aber von ihr bin ich getrennt – – Sulla, Dir kann ich es sagen, denk Dir, ich habe eines Tages an ihren Vater geschrieben – aus Verzweiflung. Ja, denk Dir – das hab ich gekonnt, als es sich um Nina handelte! Ich kam mir freilich Ferdinand gegenüber wie ein Verräter vor, aber ach, es bleibt mir ja nichts anderes übrig, als daß ich dem einen oder dem anderen Unrecht tue!

Er aber erwiderte: ›Es ist unwiderruflich vorbei – das mußten Sie wissen. Selbst wenn alles wieder wie früher sein könnte – ich habe den Glauben an Sie verloren.‹ – – Dann dankte er mir für meine aufopfernde Pflege – hoffte, ich trüge kein Scharlachfieber oder sonst irgend eine Ungelegenheit davon usw.

Ninette schläft gut, ich bin aufgeblieben, um Dir zu schreiben. Wenn Du uns jetzt wieder besuchst, komme ich in den Garten hinunter und spreche mit Dir.

Ich hätte die größte Lust, das Kind zu wecken – nur damit es ›Mutter‹ sagen soll.

Nein, sie soll ruhig schlafen dürfen, mein Schatz. Ich lege mich jetzt selbst nieder und will sehen, daß ich aus dem Dunkel in den hellen Tag hinein schlafe, bis mich fröhliches Vogelgezwitscher weckt …, aus dem heraus es klingt: ›Mutter, Mutter!‹ – wohl hundertmal!

Jetzt noch, ja …, aber das ›morgen‹ steht schon auf der Treppe und klopft bald an meine Türe.«

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