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Stadt und Garten.

D Drei Jahre nach seiner Verheiratung wurde Hauptmann Wenck als Oberstleutnant nach Aarhus versetzt, und zugleich bat Ulla, ob die Schwestern nicht jetzt abwechslungsweise auf Besuch zu ihr kommen dürften – immer jede ein halbes Jahr.

»Hierher kann ich sie doch wenigstens mit gutem Gewissen einladen,« schrieb sie an deren Mutter; »und ich habe jetzt Gesellschaft dringend nötig, sonst gehe ich einfach zugrunde.

Ninette wird in der nächsten Woche erst zwei Jahre alt; dem Gedankenaustausch mit ihr sind also Grenzen gesteckt. Der Hauptmann – wie ich immer noch sage – ist viel auswärts, und wenn er daheim Trübsal bläst, wie gerade jetzt, ist er noch weniger anwesend. Es kann aber auch einen Menschen ernst stimmen, wenn er sehen muß, daß Aarhus nicht mehr das ist, was es war, als dieser Mensch noch als kleiner Abc-Schüler in die Schule ging. In einem Gäßchen, das er damals die Beinbrechergasse nannte, kann man jetzt keinen Fuß mehr brechen – und so ist man in verschiedenen Richtungen pietätlos vorgegangen – – sie dürfen also kommen, nicht wahr, Tante Rese? Wir fangen mit Lullemor an; und sie ist mir jederzeit willkommen, lieber heute als morgen.«

An ihre eigene Mutter schrieb Ulla: »Den Mädchen wird es ganz gut tun, wenn sie ein wenig herauskommen; sie haben es ja fast genau so wie vor der Konfirmation – wenn sie auch einmal auf dem Karneval mit euch gewesen sind und ein halbes Abonnement mit der alten Fine im Theater haben. So lange Tante Therese immer hinter ihnen her ist und wie eine Henne verzweifelt gackert, wenn ihre jungen Entchen ein wenig im Wasser planschen wollen, werden sie nie selbständig.«

Es war ganz wahr, Mutter beschirmte ihre Mädchen gerade wie früher und hatte noch immer dieselbe Angst, sie könnten ihr entrissen werden, ja, diese Angst hatte vielleicht sogar noch zugenommen. Es fiel ihr auch gar nicht ein, ganz auf Ullas Vorschlag einzugehen; diesem Einfluß wollte Mutter ihre Mädchen nicht andauernd ausgesetzt sein lassen – aber Marie Luise stand jetzt allerdings in ihrem zwanzigsten Jahre und mußte sich einmal etwas rühren dürfen. So wurde ihr denn erlaubt, zuerst nach Aarhus zu reisen und dann noch die Tante in Silkeborg zu besuchen, die die Nichte auch eingeladen hatte, und der Onkel wollte sie hinbegleiten. Sie hatte feierlich versprochen, alle ander Tag zu schreiben, und hielt dies auch treulich.

 

12. August.

Liebste Sullala!

Du hast doch wohl erfahren, was ich an Mutter über Marselisborg und den Riiswald geschrieben habe, der mir fast am besten gefällt; auch welche prächtige Wohnung Ulla hat mit der Aussicht aufs Wasser – aber bei den scharfen Ostwinden im Winter mag es hier ordentlich kalt sein. Ich schreibe also nichts mehr davon, sondern erzähle lieber etwas anderes. Was ich aber in Beziehung auf die Frage sagen soll, die wir so oft miteinander besprochen haben, nämlich ob Ulla glücklich ist, das heißt glücklich, was wir beide unter glücklich sein verstehen, das weiß ich wirklich nicht. Ich meine natürlich, wenn man erst einmal verheiratet sei, müsse man auch glücklich sein; aber Ulla hat sich ja gar nicht so verheiratet, wie wir es uns denken – mit dem einen Einzigen.

Der Hauptmann – ich meine, der Oberst – ist sehr nett. Er hat sicherlich feste Grundsätze, ist wohlerzogen und sorgfältig in seiner Kleidung, auch daheim. Er geht nie in Pantoffeln wie der Onkel – von ausgetretenen könnte ganz und gar keine Rede sein – aber er ist sehr wenig mitteilsam, und so erfährt man nicht viel davon, wie es inwendig mit ihm beschaffen ist. »Das müßtest du doch leicht sehen können,« sagte Ulla neulich, »regelrecht ist er, bis auf den Grund nach der Regel. Er hat ein Lineal verschluckt – geistig gesprochen.« – »Du hast aber einmal gesagt, er habe einen feuerspeienden Berg in sich,« bemerkte ich. – »Ja, das glaubte ich damals, aber es war falsch. Das heißt – – der Krater war bald ausgebrannt – der war ein Strohfeuer – und keineswegs behaglich. Seither lebt er wieder nach der Linie.« – Na, Ulla sagt ja sonderbare Sachen, die man nicht so ganz verstehen kann, und dann auch lieber nicht verstehen will.

Ihr Mädelchen, über das sie sich ärgert, ist nach des Obersts Mutter, die eine Norwegerin ist, Nina getauft und wird dem Vater ähnlich. Ulla sagt Ninette, weil sie das für hübscher hält, »aber das Kind wächst schlecht und recht als Nina heran und nicht ein bißchen als Ninette,« behauptet sie. Sie ist ein recht niedliches, süßes und stilles Kleinchen. Sie hatte eine große Freude an dem Miesekätzchen, das ich ihr mitgebracht habe, und nimmt es mit ins Bett; sonst aber ist ihr liebstes Spielzeug sicherlich ein Staublappen, mit dem sie jeden Morgen umhertrippelt und die Möbel abwischt. Zum Schluß setzt sie sich dann mitten auf den Teppich und wischt ihre eigenen kleinen Sohlen sorgfältig ab. Dann sagt Ulla: »Sollte man es für möglich halten, daß dieses mein Kind ist? Meine Sohlen hätten freilich auch nicht abgewischt werden können; sobald ich nur laufen konnte, ging ich ja durch dick und dünn.«

Ja die freie Erziehung! sage ich jetzt ganz wie Mutter, wenn wir auch ein wenig eingeschlossen gewesen sind. Denk dir nur, was Ulla neulich sagte! »Ich freue mich, daß wir nach Aarhus versetzt worden sind, denn hier wohnen ja meine vorigen Schwiegereltern – und Ferdinand Birk ist oft auch lange daheim. Er ist recht männlich geworden. Und seine Statue ›der Raub der Sabinerinnen‹ war eine tüchtige Leistung voll Feuer und Kraft.«

Den Offizieren gegenüber, die ins Haus kommen, benimmt sich Ulla oft recht merkwürdig, und sie hängt jedem einen Spottnamen an. Einige davon sind vielleicht ein wenig verliebt in sie – aber nicht der Hauptmann, der am öftesten kommt. Ihrem Mann ist das gewiß nicht angenehm; er sagt jedoch nie etwas, sondern sieht nur erstaunt drein, oder er nimmt irgend etwas so fest in die Hand, daß seine schlanken, kalten Finger ganz weiß aussehen. Und dann wird Ulla doch unruhig, denn in gewisser Beziehung hat sie Respekt vor ihm; aber ich weiß nicht, ob das so günstig ist, wie Großmutter Ursula damals meinte. – Jetzt muß ich mich umziehen, denn wir bekommen heute abend Gäste. Meinst Du nicht auch, ich solle das hellblaue Kleid mit den gelben Spitzen anziehen? Ich möchte gerne ein bißchen hübsch aussehen. Tausend herzliche Grüße von Deiner

Lullemor.

NB. Wir erwarten den Hauptmann mit einigen anderen Offizieren und dann noch einen Adjunkt von der Lateinschule, der sehr angenehm ist und wunderschön geigt, aber gar keine schöne Nase hat. Der Hauptmann dagegen ist schön, und er heißt Buris. Es heißt, er könne auch dichten; das ist sehr viel von einem Offizier, und ich meine auch, man könne es ihm ansehen; ich weiß nicht – es ist mir sofort etwas an ihm aufgefallen. Du würdest ihn wahrscheinlich einen Ritter von der Tafelrunde nennen; er muß auch musikalisch sein, denn als er neulich kam und bei mir und Ulla saß und Ulla mich zum Spielen aufforderte, sagte er: »Ach ja, Fräulein Anker, bitte, spielen Sie!« und zwar so dringend, wie ich es gar nicht beschreiben kann; seine Stimme klang auch überaus weich dabei.

 

Samstag, 20. August.

Liebe Sulla!

Darin hast Du wirklich recht: man darf Ulla nicht mit dem gleichen Maßstab messen wie die andern. Ich habe daran denken müssen, wie ausgezeichnet Großmutter Onkel Peter damals antwortete, als er sich darüber verwunderte, daß an Ulla alles so lang sei. »Sie besteht ja auch aus lauter wilden Trieben,« sagte sie, »und nichts ist so lang wie die Schößlinge.« Aber das hätte ich doch nicht von ihr geglaubt!

Denk Dir, gestern wollte ich ihr Stickscherchen entlehnen, und sie sagte, ich soll es mir nur nehmen, es sei in ihrem Nähkasten im Wohnzimmer. Als ich die Kassette aufmache, liegt oben darauf ein Blatt Papier, auf dem einige Verse stehen – in einer sehr schönen Handschrift. Ich denke, es ist die Abschrift von irgend etwas Hübschem, das sich Ulla aufgehoben hat, und fange an zu lesen. Da ist es – ja, ich spreche es ungern aus, aber Du wirst es erraten – ein an sie gerichtetes sehr feuriges Gedicht; der Rhythmus hinkte zwar ab und zu ein wenig – Du weißt, dafür hab ich ein feines Ohr – und es steht »Buris« darunter, auf der zweiten Seite drüben.

Ich war wie versteinert. Da tritt Ulla ein, um zu sehen, wo ich geblieben war. »Ulla,« sage ich mühsam, »ich weiß nicht, was das ist – ich habe es gelesen.« Sie riß mir das Blatt aus der Hand und wurde feuerrot. Aber dann lachte sie. »Du siehst, ich lege mich auf die Garnwickel – gerade wie Großmutter Ursula,« sagte sie.

»Nein, weißt du was,« erwiderte ich, »Großmutter war nicht – – –« verheiratet, wollte ich sagen, stockte aber, denn es kam mir doch zu schwer an, sie das hören zu lassen. – »Ach was,« versetzte sie, »ich kann mich ja gar nicht retten vor seinen Herzensergüssen!«

Aber das ist natürlich Unsinn; sie muß ihn aufgemuntert haben, wenn auch vielleicht nicht viel hinter ihm ist; bei den letzten Malen, wo er hier war, ist mir auch ein etwas verlegener Ausdruck bei ihm aufgefallen. Ich sagte aber Ulla ordentlich die Meinung über solche Dinge, denn ich war empört; sie erwiderte indes nur, da könne ich gar nicht mitsprechen, wir seien in einer vollständig unwirklichen Welt erzogen worden und würden nie einen richtigen Begriff vom Leben bekommen; auf der ganzen Welt gäbe es nicht eine Frau, die nur für einen einzigen angelegt sei – von den Männern wolle sie gar nicht reden – höchstens wenn einer überhaupt nur ein einziger den Hof gemacht habe.

Da sagte ich ihr, was Großmutter in Beziehung auf ihre Erziehung von den wilden Trieben gesagt hatte.

Aber würdest Du es glauben, sie war entzückt über den Ausspruch und rief, niemand könne doch so treffende Aussprüche tun wie Großmutter Ursula! Dann klirrten plötzlich alle ihre Armringe an meinem Halse, und sie sagte: »Willst du den Hauptmann, Lullemor? Er ist mir eigentlich doch nur langweilig. Sonst machen wir kurzen Prozeß mit ihm.«

Ja, darum bat ich sie recht eindringlich. Auf das erste habe ich natürlich gar keine Antwort gegeben. Danach kamen wir wirklich einmal in ein richtiges Gespräch hinein. Nein, Ulla ist nicht glücklich; aber sage es nicht weiter, Sullala.

 

Fortsetzung Montag.

Gestern früh fragte ich Ulla, ob sie mit in die Kirche komme? Ich dachte, es könnte ihr gut tun. »Nein,« erwiderte sie, »warum gehst du denn hin?« – »Und warum gehst du nicht hin?« erwiderte ich. – »Ich habe nichts dort zu tun.« – »Aber ich,« versetzte ich ganz ruhig.

Als ich eben gehen wollte, sagte sie: »Ich habe mich noch nie recht heimisch in der Kirche fühlen können – mich zieht keine alte Gewohnheit hin. Mutter ging in der Regel und fragte mich dann, ob ich mit wolle, ›aber du brauchst nicht, wenn du lieber zu Hause bleibst und spielst.‹ – Und das wollte ich natürlich. Die Pfarrer haben ja dafür gesorgt, die Religion so langweilig wie nur möglich zu machen; aber der Sonntag ist mir damals dann doch nicht unterhaltender geworden. Auf die Dauer ist ja nichts langweiliger, als ein ganzer Tag, an dem man sich nur vergnügen soll.«

Später kam Adjunkt Gram – ich habe wohl schon von ihm geschrieben, er hat keine schöne Nase – und da fragte Ulla ihn, ob er auch zu denen gehöre, die noch in die Kirche gehen? »Allerdings,« antwortete er, und dann fuhr er – ich glaube absichtlich – so wenig feierlich wie möglich fort: »Unter anderem, weil die Begriffe des Guten, die Begriffe von Pflicht und Recht, leichter festzuhalten sind, wenn sie uns einheitlich zusammengefaßt oder in einer Gestalt personifiziert vorgeführt werden; sonst zerflattern sie nach allen Seiten hin!«

»O ja,« sagte Ulla, »ich kann auch nichts davon festhalten; aber ich habe auch immer nur danach trachten sollen, meine Persönlichkeit ausfindig zu machen und zu entwickeln. Und dazu gehört keine Kirchlichkeit, sondern volle Freiheit.«

»Nein, nein,« erwiderte der Adjunkt, »dazu gehört zuerst und vor allem Selbstzucht – sonst gerät man schließlich zu leicht unter die Tyrannei seiner eigenen Fehler. Und das entwickelt die Persönlichkeit durchaus nicht.«

»Sie haben vielleicht recht,« versetzte Ulla. »Mein Vater hat den Plan für meine Erziehung entworfen, und er ist ziemlich unklar.«

»Aber selbst wenn die guten Seiten die Oberhand gewinnen,« fuhr Gram fort, »existiert meiner Ansicht nach doch immer noch eine Gefahr zu dem einseitigen Hervorheben der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung. Die Fähigkeit, sich zu assimilieren, kann dabei Schaden nehmen, die Fähigkeit, sich in eine höhere Einheit, die Gesellschaft, Volk, Familie heißt, hineinzupassen.«

»Und wenn auch,« erwiderte Ulla. »Die Einheiten gehen doch alle von dem Verhältnis zwischen Mann und Frau aus. Und daran ist doch nichts Besonderes.«

»Haben Sie dieses Verhältnis schon als eine Aufgabe betrachtet?« fragte er.

»Nein, das würde mir nie einfallen; aber wenn ich die Welt umschaffen könnte, würde es meine erste Aufgabe sein, dieses Verhältnis abzuschaffen.«

Denk nur, Sulla, sie, die solche Geschichten, wie anonyme Briefe von Jungen und dergleichen, von klein auf nie hat entbehren können! Nein, man kennt sich selbst nicht, das ist sicher!

Gram lachte. »Nun, das ist ja nun leider nicht der Fall, und so müssen Sie sich damit begnügen, dem Verhältnis aufzuhelfen.«

»Es kann ihm aber nicht aufgeholfen werden.«

»Wir müssen es eben versuchen,« sagte er, »indem wir es als eine Aufgabe betrachten – nicht als eine alles verschlingende, aber doch als eine sehr wesentliche, an deren Lösung wir alle arbeiten. Sie, Frau Wenck, hätten studieren, hätten Ihren Doktor machen und sich mit anderen jungen Leuten herumtummeln sollen, dann hätten Sie dieses Verhältnis betrachten lernen.«

»Meinen Sie? Nun, die Männer haben aber doch alle die Bildung, die ihnen zu Gebote steht, aber ich habe noch nie bemerkt, daß sie das Verhältnis zu einer Frau als eine Aufgabe betrachtet hätten.«

Darauf gab Gram wohl keine Antwort mehr. Es ist nicht leicht, sich an so ein ganzes Gespräch zu erinnern, es ist schon viel, daß ich es so weit gekonnt habe. Aber eins weiß ich noch: er fragte, ob sie ihre Nina nach diesen Ansichten erziehen wolle, und da erwiderte sie: »Ich will sie gar nicht erziehen, das wird sie schon selbst besorgen, sie ist mit einem inwendigen Lineal auf die Welt gekommen, gerade wie ihr Vater.«

Dann kam der Oberst nach Hause und lud den Adjunkt zu Tische ein; aber vorher müsse er seine Geige holen. Der Oberst kann Gram gut leiden, und er ist etwas mitteilsamer, wenn dieser da ist. Es war ein sehr gemütlicher Abend; Ulla spielte vierhändig mit dem Adjunkt, und ich auch; aber im Anfang habe ich ganz kalte Finger bekommen, und mein Kopf glühte, denn er spielt sehr gut. Es ging indes doch ganz gut – fast noch besser als mit Ulla. Du weißt, sie nimmt es mit dem Takt oft nicht sehr genau.

Nachher sagte Ulla, sie hätte eigentlich den Adjunkten haben müssen, dann wäre sie eine rechte Frau geworden. Darauf schwieg ich – man kann nicht auf alles antworten, was sie sagt.

Aber weißt du, etwas wird mir allmählich klar; ich glaube, wir beide haben durch unsere Erziehung eine etwas zu überspannte Lebensanschauung bekommen, in einem Punkt wenigstens. Ich glaube, wir haben dadurch zwar sehr viel Schönes gelernt, aber keinen so rechten Respekt bekommen für die Realitäten des Lebens, von denen der Adjunkt auch neulich gesprochen hat.

Du sitzst hoffentlich nicht zu viel in Großmutters Garten? Die Zeit bleibt so merkwürdig stehen auf der alten Sonnenuhr, und alles wächst gar so still und üppig da drinnen, und es duftet so stark und betäubend wie in einem Gewächshaus. Denk Dir, Sullala, jetzt kommt es mir fast vor, als könnte der Aufenthalt dort gefährlich sein!

Deine Lullemor.

 

Silkeborg, Oktober.

Herzliebe Sulla!

Ich kann den Brief an Mutter nicht abschicken, ohne auch an Dich ein paar Zeilen zu schreiben über das, was so unbegreiflich ist, daß ich mich ab und zu in den Arm zwicke, damit ich weiß, daß ich nicht träume, sondern wirklich – nein, das sag ich nicht, ehe er in den Oktoberferien bei euch war und Mutters Jawort bekommen hat. Aber mein Jawort habe ich ihm von ganzem Herzen gegeben, und damit ist das Wunderbare geschehen.

Ach, Du weißt nicht, Sullala – und denk – es war gar nicht auf den ersten Blick wie durch einen elektrischen Schlag und dergleichen, viel eher auf den letzten Blick; denn ich stand auf dem Bahnsteig in Aarhus und war sehr in Anspruch genommen vom Abschiednehmen, von meinem Gepäckschein und meinem Billet; da merkte ich plötzlich, daß er mich mit einem Blick ansah, vor dem ich meine Augen abwenden mußte.

Es ist mir sehr leid – ich glaube, ich habe etwas von seiner Nase geschrieben; sie ist allerdings nicht eigentlich schön, aber ihm steht sie gut, und er sieht prächtig aus. Und im Wagenabteil, wo ich ganz allein war, flog dann die Landschaft immerfort an mir vorüber, aber seine Augen blieben da und sahen mich noch immer unverwandt an; und da fühlte ich: jetzt gehen sie mit bis ans Ende der Welt. Aber ich wagte es doch nicht, es mir so recht auszumalen; denn Du weißt, man kann sich täuschen, und das wäre fürchterlich gewesen.

Siehst Du, es war mir wohl gar nie eingefallen, daß ich in ihn verliebt sein könnte, ebensowenig als ich gedacht hatte, er sei es in mich. Aber nun schien mir sein Blick mitten ins Herz zu dringen, wie ein Sonnenstrahl, und da entfaltete sich da drinnen gleichsam eine Blume, deren Wachstum ich gar nicht bemerkt hatte.

Und als dann am nächsten Tag sein Brief kam – ich weiß, wir fanden es immer schrecklich, wenn zwei es nötig hatten, zu fragen und zu antworten, und am schlimmsten, wenn es schriftlich abgemacht wurde; aber so ein Werbebrief kann doch etwas Herrliches sein! – da war es mir, als hätte ich schon immer zu allem ja gesagt, den ganzen vorhergehenden Tag hindurch und die Nacht dazu.

Denk Dir, ich habe seither noch gar nicht mit ihm gesprochen! Aber in seinen drei nachfolgenden Briefen habe ich ihn sehr genau kennen gelernt. Und weißt Du, was ich am allermeisten bin, außer unsäglich glücklich und noch vieles andere dazu? Ich bin so sicher, so unendlich, so herrlich sicher! Und es ist mir, als sei ich jetzt erwachsen. Wie dumm und kindisch und ohne alle Begriffe bin ich doch gewesen! Dabei ist es mir auch, als habe er mich nun den andern Menschen gleich gemacht, denn wir sind ja immer ein wenig besonders gewesen.

Du mußt ihn lieb haben, hörst Du! Ich weiß wohl, im ersten Augenblick sieht er ein wenig hausbacken aus; aber das vergeht, sobald man ihn zum Lachen bringt. In einem Punkt jedoch ist er fest und unerschütterlich, nämlich in Beziehung auf den Punkt im Innern, der dem ganzen Leben die Richtung gibt. Aber gerade das macht mich so sicher. Du siehst, ich kenne ihn – und daneben kann er doch auf alle törichten Phantasien und Ideen eingehen; er ist keine Spur trocken. Er könnte gewiß auch so etwas verstehen, wie unsere selbsterdachten Geschichten in Großmutters Garten – ich vertraue sie ihm nur nicht gleich an. Aber einmal, wenn wir ganz beieinander sind und er sehr lieb ist, dann will ich ihm von einer verborgenen, herrlichen Welt erzählen, die von hohen Mauern umgeben ist, in der es nach Rosen und Lavendel duftet, wo ein Schloß steht, dessen Fenster lauter Juwelen sind, wo ich auf dem Rasen mit Elfen und Prinzen getanzt habe, von wo ich aber entsprungen bin, um ihm, dem herrlichen Menschen in die Arme zu fliegen!

Nein, ich möchte nicht ohne so eine verborgene Welt gewesen sein; aber man darf doch auch nicht vergessen, daß man in ihr nicht leben kann, sondern daß die Stadt draußen, die geschäftige, werktägliche Stadt, doch schließlich die Welt ist, in die man hinein muß, in der man zuzugreifen und seine Aufgabe zu lösen hat.

Du bist mir doch nicht böse, Lala, weil ich – ja, nun schreibe ich es wieder – mich verlobt habe, der Vorschrift entgegen, die wir uns und Du besonders, dafür gemacht hatten? Ach, ich bin so schrecklich glücklich! Er heißt Alfred, Alfred Gram; das klingt hübsch, nicht wahr?

Ich kann nicht mehr schreiben – denn ich muß jetzt zum drittenmal mein Herz in einen Briefumschlag stecken und nach Aarhus schicken. Tausend Küsse von Deiner

glückseligen Marie Luise.

NB. Es wäre gewiß gut, ihr würdet Großmutter Ursula »melden«, daß sein Vater Departementchef gewesen ist, und daß es heißt, er selbst werde ganz gewiß Rektor; das ist doch äußerst reputierlich! Ich bin sehr, sehr begierig, wie er Dir gefallen wird. Mach Dir nichts aus seinem etwas bestimmten Auftreten, das ist gerade gut. Ich denke, es ist recht günstig, wenn jedermann sehen kann, in welchen Punkten der Mann bestimmt ist; dann kann die Frau ihr Regiment in Frieden ausüben.

 

Mutter war in tausend Nöten, bis sie den Adjunkt Gram endlich sah; sie tat einem ordentlich leid. Aber nachher war ihr ganz leicht zumute. An ihren eigenen Ehestand erinnerte sich Mutter nur noch wie an etwas, das ihr fremd geworden war, wie an eine halb schmerzliche, halb freudenvolle Unruhe, über die sie sich zwar nun und nimmer beklagt, aber auch keiner von ihren beiden Mädchen gewünscht hätte.

Jetzt war es, als ob diese Verbindung irgend etwas wieder gut machte, was ihr gemangelt hatte. Sie fühlte an sich selbst, welch einem ruhigen, gesunden Glück ihre Älteste entgegen ging, denn Marie Luise glich ihr.

Großmutter Ursula söhnte sich etwas schwer damit aus, daß Alfred Gram behauptete, immer wieder behauptete, man solle die Frauen studieren lassen und ihnen das politische Wahlrecht einräumen – »lieber heute als morgen, denn aus Mangel an Verantwortung sind sie schmalschultrig geworden,« sagte er. Aber fehlerlos wie Ludwig Anker war eben auch kein Mann; deshalb konnten alle anderen weiblichen Wesen eben auch nur ein Glück zweiten Ranges erhalten. Und als ein solches zweiten Rangs war dieses ja recht schön.

Onkel Wilhelm sagte, es sei ein Schweineglück, daß die ganz verkehrte Erziehung mit diesem vernünftigen Resultat endige; wenn man jetzt nur auch die andere untergebracht hätte!

Aber bei Sulla stellte sich gerade damals ein sonderbarer Widerwille ein, dem Gefühle gegenüber, dessen Macht und Berechtigung alle sklavisch anerkennen, und das doch entweder ganz alltäglich oder flüchtig und niedrig ist.

Wohin sie später auch kam, immer verliebte sich irgend einer in sie. Aber Mutter brauchte sich nicht darüber zu ängstigen; es war, als ob es Sulla nicht einmal angenehm wäre, wenn sie es gewahr wurde.

In der Familie gewöhnte man sich daran, sie das »Klosterfräulein« zu nennen. Aber Sulla war doch noch sehr jung und hatte Augen, die die Farbe wechseln konnten; und wenn sie sang, stieg selbst in den ältesten Tanten und Onkeln unwillkürlich eine Erinnerung auf – an ein einstmals – von dem sie nie sprachen.

Niemand empfing Marie Luise bei ihrer Rückkehr herzlicher als Sulla. Sie hing ja mit der ganzen Zärtlichkeit ihrer Kindheit an der Schwester! Und wer hätte Lullemor widerstehen können, wenn ihre Augen so glückselig strahlten?

Während der ganzen nachfolgenden Zeit war es Sulla schon ein wahrer Hochgenuß, ihre Schwester nur anzusehen, die mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen halb versteckt hinter der glänzend weißen Leinwand saß, in die sie das große Monogramm stickte. Sulla half mit fleißigen Fingern und ging auf alle Pläne ein, die bei jedem Stich gefaßt wurden; und doch hatte sich ein leiser Schatten von etwas Fremdem zwischen die Schwestern eingeschlichen.

Sulla war es, als sei Marie Luise nun in die Stadt hinausgegangen und habe sie allein im Garten sitzen lassen, wo noch alles üppig und kräftig heranwuchs, allein mit allen den Vorstellungen, die keine Lebenskraft und auch kein Lebensrecht zu haben schienen, die vielleicht auf irgend einem fernen Stern, aber nicht hier auf der Erde daheim waren. Warum verwelkten sie dann nicht lieber alle miteinander? Aber alles wuchs auch ferner kräftig und üppig weiter; und Sulla wußte wohl, daß sie selbst für immer da verbleiben würde.

Marie Luises Brautstand dauerte fast zwei Jahre; nun in den Sommerferien sollte die Hochzeit stattfinden, und die Großmutter wollte sie halten – groß und schön, »wie es sich gehört« – obgleich Großmutter jetzt achtundachtzig Jahre alt war.

Am letzten Abend war Sulla mit Ulla, die mit Mann und Kind zum Fest gekommen war, in den Garten gegangen, um Girlanden für die Pagode zu winden, wo der Kaffee getrunken werden sollte, und bunte Lampions zur Illumination im Gebüsch aufzuhängen.

»Du wirst sehen, die alte Ursula hält eine Rede – über Ludwig Anker,« sagte Ulla, während sie mit ihren langen, geschickten Fingern die Blumen zu Kränzen wand. »Auf diese Rede freue ich mich, und ich glaube, Ninette wird ganz süß aussehen. Ich habe ihr Kleidchen ganz allein gestickt; vor einiger Zeit war ich einmal über irgend etwas rasend, und da habe ich dann einen Fleißraptus gehabt. Und jetzt wird sie mir wohl den Schmerz bereiten, nicht einen einzigen Flecken darauf zu machen.«

Sulla lachte. »Die süße, säuberliche Nina! Ihr Vater hat sie wohl sehr lieb!«

»O gewiß, soweit er dazu imstand ist. Natürlich nicht leidenschaftlich, sondern nach dem Lineal. Ja, ja, sie wird schon mit der Zeit zu Vaters Tochter und Vaters Trost heranwachsen – dazu wird sie ja auch ausschließlich erzogen. Es ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht hindern. Sie wird unbedingt mehr von dem männlichen Geschlecht angezogen – diesen Zug hat sie nun doch von ihrer seligen Mutter.«

»Sollst du das sein, Ulla?«

»Ja, als Mutter kann ich bald abgehen, dafür sorgt er. Aber was ich sagen wollte – nun ist also Lullemor eingereiht. Jetzt muß man es dir abgewöhnen, zu den Marsbewohnern zu gehören. Wenn nun die große Schlacht geschlagen ist, kommst du mit nach Aarhus, daß du es weißt.«

Aber Sulla wußte nur zu genau, nach Ullas letztem Betragen – mit dem Musiker – wollte Mutter sie nicht mehr in dem Hause dort haben; deshalb antwortete sie nur, wenn sie jetzt nach Aarhus komme, müsse sie bei Marie Luise wohnen, vorläufig bleibe sie indes hier.

»Hier?« erwiderte Ulla sich umschauend. »Hier, wo du wie auf dem grünen Meeresgrunde sitzst? Das wäre der richtige Ort! Du willst doch wohl auch hinaus, um zu leben, mein Kind!«

»Ach, Ulla, was will das heißen?« versetzte Sulla, indem sie an einer Rose roch und das Kranzbinden vergaß. »Nennst du das leben, dieses ganze Gelärme und Getriebe draußen in der Stadt? Ich meine, es sei genug Leben hier, und ich muß zuerst wissen, wo ich hingehöre.«

»Das hab ich gewußt, ehe ich zehn Jahre alt war,« sagte Ulla. »Aber ich hab auch selbständig denken dürfen.«

»Eines weiß ich jedenfalls,« erwiderte Sulla, und sie band die Rose plötzlich mit fester Hand in den Kranz, »daß ich mich nicht damit begnügen werde, so zu leben, wie ihr andern alle. Es ist nicht viel Unterschied zwischen Fine, Line und dir.«

»Was ist nicht?« fuhr Ulla auf.

»Nein, denn ihr habt alle eure Forderungen herabgesetzt. Ihr führt ein ärmliches Leben. Ihr lebt nur – das Leben der andern aufs neue.«

Ulla zuckte ihre geschmeidigen Schultern. »Ja, was soll man denn tun, wenn einem nichts anderes geboten wird, als Wiederholungen und Armseligkeiten? Und wenn das Armseligste von allem nun einmal das Gefühlsleben der Männer ist?«

»Dann braucht man ja nichts mit ihnen zu tun zu haben.«

»Das geht nicht – das heißt, mit dem Gefühl schon, aber – Ja, ich weiß, in diesem Punkt bist du bis jetzt abnorm gewesen. Aber deine Stunde wird schon noch kommen, und dann ist es vielleicht viel schlimmer. Ach, Sulla, ich habe es nicht so eingerichtet! Ich meinte ja, es sollte anders gemacht werden, habe aber geglaubt, es gehöre mit zur Religion, daß man diese Einrichtung ausgezeichnet finde.«

»Zu meiner Religion gehört, daß ich mein eigenes Herz bekommen habe. Das habe ich mir nicht selbst gegeben! Deshalb bin ich auch verpflichtet, mein eigenes Leben zu leben, und ich will meine eigene Geschichte haben.«

»Liebstes Kind, gerade das habe ich doch von jeher gesagt! Aber ihr durftet es ja nie.«

»Du, Ulla! Nein, nein, dann hast du es falsch angegriffen. Du bekommst nie deine eigene Geschichte – du bekommst nur viele Geschichten, du zerstückelst dich in lauter kleine Fetzen.«

Ulla blinzelte und lachte ein wenig. »Es ist ein Körnchen Wahrheit in dem, was du sagst; aber so ist eben meine Natur.«

»Das glaube ich gar nicht, du hast dich nur niemals richtig auf dich besonnen. Du hättest einmal eine Weile hier in Großmutters Garten sitzen und über dich nachdenken sollen. Nein, nein, darüber bin ich mir völlig klar, mein Leben soll groß und unzerstückelt und neu sein.«

»Ach, so ein Verhältnis gibt es im Leben gar nicht! Du weißt es nur nicht, weil ihr euch das alles so zusammengedrechselt habt.«

»Aber so ist mein Herz, das weiß ich,« erwiderte Sulla, indem sie das dunkle Köpfchen zurückwarf. »Und dann muß das Leben eben anders werden, wenn es zu mir hereinkommen will. Sonst will ich es lieber entbehren. Lieber will ich tausend Jahre hier sitzen und nur in meinen Gedanken leben, als mit euch anderen draußen in der Stadt allem nachjagen, was gar kein Leben ist.«

»Nimm dich in acht, Sulla, Hochmut kommt vor dem Fall!« sagte Ulla. Aber zugleich ließ sie alle Blumen los, und alle ihre Armringe klirrten am Hals ihrer Cousine. »Ach, Sullala, wenn du nur immer so bleiben könntest! Du bist wie frisches Wasser, so rein – so unvermischt. Aber es bleibt nicht so – wenn du auch kein rotes Haar und keine Fangarme wie ein Tintenfisch hast – es bleibt nicht so. Und wenn du dann nichts weiter davon hast, als hier auf einem grünen Meeresgrund zu sitzen – so wäre das doch ein wenig mager, liebes Kind. Es ist gefährlich, so Großes zu wollen. Setze deine Forderungen lieber herab, setze sie herab – und komm zu uns anderen heraus. – Wollen wir jetzt die Lampions aufhängen?«

– Nach der Hochzeit kamen stille Stunden; Sulla ließ ihre schöne Stimme ausbilden und pflegte ihre französischen Studien. Im nächsten Winter war sie mit Tante Jutta in Paris, und danach wurde noch eifriger französisch gelesen und noch mehr gesungen.

Den Garten hatte sie meistens für sich allein. Großmutter Ursula kam immer weniger herunter, und Mutter machte sich nicht viel aus dem Aufenthalt im Freien. An dem vierwöchentlichen Sommerbesuch in der Villa zu Aarhus hatte sie eigentlich ganz genug.

Aber Sulla war im Garten von den Tagen an, wo das erste Grün an der Mauer hervorsprießte, bis der wilde Wein seine letzten Blätter wie blutrote Flaggen auf den Gartenweg fallen ließ und der Winter die Tür zuschloß.

Um sie her sang und blühte und schwirrte es. Drüben auf der alten Sonnenuhr versank die Zeit allmählich in Gedanken – und die schöne heimliche Welt ihrer Kindheit, die Lutetia hieß, öffnete sich.

Zwischen Sulla und dem verborgenen Reiche entspann sich ein gegenseitiges wortloses Vertrauensverhältnis. Ihr war es, als habe dieses Reich noch tiefere Tiefen zu erschließen, als habe es dem Menschenkind, das ihm treu blieb und das seine ganze lautlose Erwartung darin vereinigte, noch viel mehr zu offenbaren.

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