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Heimweh.

D Das war Mutters beste Zeit, wenn sie ihre beiden kleinen Mädchen wieder beieinander hatte.

Mit einem glücklichen, gerührten Gefühl an frühere Tage ging sie umher, wenn sie die Schwestern beisammen auf einer niedrigen Bank sitzen, oder die Köpfe im Erker zusammen stecken sah; oder wenn sie mit einander lachten und plauderten, daß die Stimmen mit dem bekannten Doppellaut ineinanderflossen. Wie jung sahen beide noch aus! Und wie unberührt!

Dann waren die Kleinen da, an denen sie mit der bekannten unermüdlichen Geschäftigkeit der Großmutter hing. Und der Schwiegersohn, ein ganz ausgezeichneter Mensch, der immer einen vernünftigen Ausspruch bereit hatte, und dem gegenüber Mutter eine grenzenlose Dankbarkeit fühlte, weil sie ihr liebes Mädchen in den Händen eines guten Mannes wußte, der das Kind mit einer Zärtlichkeit beschützte, die ihrer eigenen ähnlich war, und dabei doch das Weib entwickelte, wie sie es nicht gekonnt hätte.

Sulla freute sich auch des Zusammenseins mit Marie Luise und den Kindern, aber sie hatte Heimweh nach Großmutters Garten. Heimweh hier mitten in der schönen frischen Natur, die sie von allen Seiten umgab! War es nicht wirklich töricht, wenn sie sich nicht ein einziges Mal davon losmachen konnte? Aber so war es nun eben.

In den ersten Tagen war es besonders schlimm. Aber auch später weilten ihre Gedanken meistens dort; und bei allen Versuchen von seiten ihrer Schwester, die sie immer wieder aufforderte, die schöne Umgebung oder die Menschen zu bewundern, spendete sie nur einen recht bedingten Beifall.

»Liebes Kind, kannst du dich denn gar nicht mehr so recht für jemand oder für irgend etwas begeistern?« fragte Marie Luise eines Tages etwas ungeduldig.

Sulla nahm das runde Kindergesicht der Schwester zwischen ihre Hände und sagte: »Dich hab ich lieb, Lullemor – das weißt du wohl – und Großmutters Garten.«

»Da haben wir's! Was hab ich gesagt? Du hast zu lange drin gesessen, Kleine! Du bist eigen geworden.«

»Nein, noch lange nicht genug hab ich darin gesessen,« erwiderte Sulla. »Ich weiß immer noch nicht genau, wer ich bin. Kannst du es mir sagen?«

»Nein, und man soll auch nicht zu viel darüber nachgrübeln. Weißt du, ich glaube fast, es ist eigentlich am besten, man läßt das einen andern für einen herausfinden.«

»Das wäre sehr merkwürdig,« versetzte Sulla; aber dabei färbten sich ihre Wangen mit einem purpurnen Schein; sie hatte also doch verstanden, was die Schwester meinte.

»Aber einen lieben Hausfreund haben wir in der letzten Zeit bekommen, von dem ich erwarte, daß er dir gefällt,« fuhr Marie Luise fort. »Es ist ein prächtiger Mensch, ein Pastor Dalbom. Er hat im vorigen Jahre seine Frau verloren, bei der Geburt des ersten Kindes, und nun hat er sich von seinem einsamen Pfarrhof hierher versetzen lassen.«

»Aha, der ist es,« sagte Sulla.

»Was meinst du? Ja, er ist der Bruder der Frau Pauline Erhart, die ihr kennt. Hast du daran gedacht?«

»Nein, ich dachte an das, was Ulla sagte.«

»Ach laß uns nur nicht von Ulla reden und davon, wie sie sich hier aufführte! Das ist gewiß für sie selbst am günstigsten.«

Am Sonntagvormittag predigte Pastor Dalbom, und alle gingen in die Kirche. »Man kann seine Predigt auswendig, ehe man sie gehört hat,« hatte Ulla gesagt. Aber Sulla konnte sie nicht einmal nachher. Sie mußte immerfort denken, ob er eigentlich der Schwester gleich sehe? Ob die beiden als Kinder mit einander gespielt hätten? Und was für Spiele? Und an ähnliche andere törichte Dinge; deshalb hörte sie nur Bruchstücke von der Predigt.

Aber als der Pfarrer am Abend zu Grams kam, war er sehr gemütlich und liebenswürdig und sah auch recht gut aus. Er sprach gar liebevoll von seiner jungen Gattin, die ohne alle Furcht und ganz bereit gewesen sei, als der Tod mitten in ihr junges Glück hineingetreten war. Sulla dachte, das sollte Ulla einmal zu hören bekommen; so etwas sei doch gewiß eine Kraftprobe, die man nicht nur auf Traditionen hin bestehen könne.

In der nächsten Zeit schloß sich der Pfarrer auf Spaziergängen und größeren Ausflügen öfters Sulla an, und da sprach er natürlich viel von der Schwester und dem Schwager in Kopenhagen, die Sulla ja kannte; er sprach indes mehr von dem Schwager als von der Schwester – weil eben über ihn mehr zu sagen war.

»Er ist sehr begabt und auch liebenswürdig, das muß man ihm lassen. Schöne und unvergeßliche Erinnerungen verknüpfen mich mit ihm von meiner Kindheit an; aber es dauerte sehr lange, bis er schließlich wußte, was er wollte, und ich habe eigentlich den beiden älteren Brüdern, Julius und Friedrich, näher gestanden als Hjalmar.«

»Hjalmar, ist das Ihr Schwager?« Das war keine sehr geistreiche Frage, denn es verstand sich ja von selbst; aber Pastor Dalbom antwortete ganz treuherzig: »Ja,« wie wenn die Frage höchst berechtigt gewesen wäre.

»Es dauerte sehr lange, bis er wußte, was er werden wollte; er konnte zwar höchst begeistert von irgend einem Spezialstudium schwärmen, das er auf eine bisher unbekannte Weise in Angriff nehmen wolle – aber das ganz einfache Ernstmachen fiel ihm äußerst schwer. Es mangle ihm eben eine gewisse Fähigkeit, sagte er selbst, und er passe am besten dazu, der freie Anbeter von allem Schönen zu sein. Sein Vater wollte von Anfang an, er solle Theologe werden, aber –«

»Und seine Mutter?«

»Die lebte damals schon nicht mehr – aber das konnte er sich am wenigsten vorstellen. ›Kommt es daher, weil du nicht glaubst?‹ fragte ich ihn einmal in einer vertraulichen Stunde. – ›Nein,‹ erwiderte er, ›was tun denn die andern? Nein, wenn ich nur nach einer Richtung hin chemisch rein wäre, dann ging es ganz glatt. Aber mitten in allem Negativen habe ich einen einigermaßen positiven Drang in mir – den Drang, anzubeten, und den möchte ich eben doch einmal dahin gewendet wissen, wo er am besten befriedigt werden kann. Wenn aber die Theologie mein Brotstudium werden soll, dann wird sich dieser Drang andere Götter suchen. Und Pfarrer könnte ich ja doch nie werden.‹«

»Warum nicht?« fragte Sulla.

»Weil man, wie er sagte, eben so wenig als man in Gegenwart anderer um eine Braut werben, eben so wenig, ja noch viel weniger, in Gegenwart anderer beten könne. Ich erwiderte, das Gebet im Kämmerlein – besonders das über ein Menschenleben entscheidende, das er mit einer Brautwerbung verglich – habe man ja doch immer noch für sich allein. Aber wie man nachher in Gegenwart anderer wohl mit seiner Frau reden könne, so … ›Jawohl,‹ versetzte er, ›da haben wir's! Nachher! Aber man betet nicht nachher. Wenn das Gebet nicht das ewig neue und ewig hilflose Stammeln der ersten Liebe ist, die geheimen Worte der Seele, die kein anderer hören darf, dann existiert es nicht. Und das Beten, das kein Gebet ist, das tötet jegliche Gebetsfähigkeit der Seele.‹

In Beziehung auf das Predigen war er ebenso überspannt. Er sagte – etwas drastisch – die meisten Pfarrer begnügten sich damit, solche Worte in den Mund zu nehmen, die von allen schon durchgekaut worden seien. ›Es muß aber doch noch Worte geben, die noch keiner ausgesprochen hat, Worte, die die direkte zündende Verbindung haben mit dem Wort, das einstmals gesprochen worden ist. Und unsere Zeit wartet darauf, wie vielleicht noch keine andere. Aber wäre ich imstande, dieses Wort zu finden? Und konventionell predigen – das ist doch fast die achte Todsünde. Man bringt die Menschen nie so verzweifelt weit von etwas weg, als wenn man sie mit seiner Predigt von etwas wegpredigt.‹ Ja, es gefiel ihm, die Forderungen so hoch zu schrauben, daß sie nicht mehr befriedigt werden konnten. Das galt ihm dann als eine Art Entschuldigung für sein Zögern und Wägen.

Doch plötzlich warf er sich mit aller Macht auf die Theologie. Ich glaube, er hatte ein paar traurige Erfahrungen darüber gemacht, daß der, so ledig am Markte stehet, den weniger edlen Seiten der Natur leicht unterliegt. Das glaube ich wenigstens.«

Sulla schritt etwas rascher weiter, und Dalbom fuhr fort: »Das feste Studium übte einen günstigen Einfluß auf ihn aus. Und gleichzeitig wurde ihm das Glück zu teil, ein wirklich unschätzbarer Gewinn für ihn, daß ein gutes weibliches Wesen – so darf ich wohl sagen, obgleich es meine eigene Schwester ist – ihm ihr Herz schenkte. Ihre einfache ethische Lebensanschauung übte bald ihren Einfluß auf ihn aus. Sie lehrte ihn, zu sondieren und alles gesünder und nüchterner zu betrachten, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen und seine Sehnsucht und seine Mängel nicht zu übertreiben, sondern lieber einen aufrichtigen Gebrauch der Gaben zu machen, die man erhalten hat. Sie zeigte ihm, daß man sich nur selbst daran hindert, etwas zu leisten, wenn man immer etwas halsbrecherisch Großes will, weil eben der Weg auf der Erde hin und nicht durch die blaue Luft führt.«

»Aber doch nicht für alle Menschen,« erwiderte Sulla, auf deren Wangen zwei rote Flecken brannten.

»Für ihn aber jedenfalls, das zeigte sich nun. Er machte ein glänzendes Examen und kam durch besonders günstige Umstände in die akademische Laufbahn hinein, was sonst eigentlich ein umsonst erstrebtes Ziel ist. Da ist er nun an seinem Platz, ist ein eifriger, zum Nachdenken anregender Lehrer für die jungen Leute, und dadurch hat er selbst die Geistesklarheit erlangt, die ihm gemangelt hatte.«

Sulla dachte: »Man hat ihn gelehrt, statt nach innen nach außen zu leben. Das hält man auf die Dauer nicht aus.« Aber was ging das sie an? Deshalb sagte sie nur, das sei ja eine ausgezeichnete Karriere für einen so jungen Mann.

Wenn Pastor Dalbom einmal auf ein Thema eingegangen war, wollte er es auch erschöpfend behandelt haben, und nachdem er erst angefangen hatte, mit Sulla von seinem Schwager zu sprechen, konnte er fast nicht wieder aufhören. Selbstverständlich sprachen sie auch von anderen Dingen, aber dieses Thema kehrte beständig wieder.

– Marie Luise bestand noch ausdauernder als sonst, Mutter und Sulla müßten ihren Besuch über den einen knappen Monat hinaus verlängern. Das Wetter sei bis jetzt so sehr ungünstig gewesen, deshalb hätten sie noch gar nicht den rechten Nutzen von ihrem Aufenthalt gehabt. Aber Mutter hatte Tante Jutta in Silkeborg versprochen, im August noch einige Zeit dahin zu kommen, und zu lange durfte sie wegen Großmutter auch nicht abwesend sein. Da meinte Marie Luise, dann könnte doch wenigstens Sulla über die ganzen Ferien dableiben, und das meinte Sulla eigentlich auch; aber Mutter wollte davon nichts hören.

»Jetzt kommen auch Professor Erharts auf der Heimreise von Thüringen zu Pastor Dalbom,« schloß Marie Luise. »Wollt ihr nun gerade abreisen, wenn sie ankommen?«

Mutter sagte jedoch, das sei kein Grund zum Bleiben; und darin hatte sie ganz recht.

An dem Tag, wo Pastor Dalboms Schwester und Schwager ankamen, hatte der Pastor alle zum Abend zu sich eingeladen. Er hatte eine behagliche kleine Wohnung und ein gutes tüchtiges Mädchen, das er von seinem Pfarrdorf mitgebracht hatte. An diesem Abend war er sehr darauf aus, es seinen Gästen so angenehm als nur möglich zu machen, ja er war sogar etwas aufgeregt. Sulla war es, als schaue er sich die ganze Zeit nach dem jungen freundlichen Gesicht um, das diese Sorgen mit ihm geteilt hätte, und da tat er ihr herzlich leid. Beim Anblick der schönen Aussteuermöbel, die vor dritthalb Jahren mit so viel Freude ausgewählt worden waren, aller der hübschen Kissen und kleinen Decken, die offenbar Hochzeitsgeschenke waren, sowie des Nähtischchens im Wohnzimmer, an dem nun niemand mehr friedlich bei der Arbeit saß, während der Gatte im Zimmer auf und ab ging, oder nebenan schrieb, wurde es ihr ganz wehmütig ums Herz.

Sie war ungewöhnlich still an diesem Abend, weil sie fühlte, daß sie immerfort am Weinen war.

Es ist auch sonderbar, wenn man mit Menschen zusammentrifft, mit denen man sonst in ganz anderer Weise, in ganz anderen Umgebungen verkehrt.

Pastor Dalbom führte Mutter zu Tisch, Gram die Frau Professor, der Rektor, der ohne Frau gekommen war, weil sie sich nicht wohl fühlte, Marie Luise, und der Professor Sulla.

Als er ihr den Arm bot, blieb er einen Augenblick stehen. »Wissen Sie, was ich auf der ganzen Reise gehabt habe?« fragte er.

Sie antwortete, woher sie denn das wissen sollte?

»Heimweh hab ich gehabt nach –«

»Nach Großmutters Garten,« fiel sie fast gegen ihren Willen ein.

»Ganz recht. Denken Sie sich, ich habe mich ganz heimatlos ohne ihn gefühlt!«

Sulla gab keine Antwort, und er merkte wohl, daß es ihr nicht gefiel, wenn er sich auf diese Weise den Garten allzusehr aneignete; denn als sie hinter den andern ins Eßzimmer traten, sagte er laut und in einem andern Ton: »So sehr habe ich mich nun daran gewöhnt, dort zu sitzen – obgleich ich ihn ja nur leihweise habe. Man ist ein Gewohnheitstier.«

Der Rektor bedankte sich sogleich für diesen Ausspruch; er habe gefürchtet, er allein sei ein solches.

»Wie haben Sie es aber nur gleich erraten können?« fragte der Professor nach einer Weile Sulla.

»Ach, ich habe ja selbst Heimweh nach dem Garten,« antwortete sie ernst, und zugleich wollten ihr schon wieder die Tränen in die Augen treten. Sie saß ja dem Hausherrn gerade gegenüber auf dem Platz, den eine andere hätte einnehmen sollen, und sah wohl, wie viele Mühe er sich gegeben hatte, alles hübsch herzurichten – mit kaltem Geflügel und Hummersalat und vielem anderen –, daß wirklich niemand ungerührt hätte bleiben können. Und sie brachte kaum einen Bissen hinunter. Ein klein bißchen Gurkensalat war alles.

»Und denken Sie sich, mit meinem Buch ist es gar nicht vorwärts gegangen,« fuhr der Professor fort. »Und darauf wollte ich die Ferien doch verwenden. Nicht einen einzigen von meinen alten Mystikern habe ich zu einem Besuch auf meinem Zimmer im Hotel vermögen können; sie haben sich nun auch daran gewöhnt, ihren Gang in Ihrem Garten zu haben – obgleich sie an und für sich sehr wenig für die Natur übrig gehabt hatten. Aber ich bin überzeugt, in Großmutters Garten hätte selbst der alte Suso seine geistliche Maistange aufrichten können, jene Maistange, die er mit den roten Rosen seines Herzens umwunden hatte.«

»O ja,« sagte Sulla, und sie freute sich bei dem Gedanken, daß sie jetzt sowohl etwas von Eckert als von Suso und Tauler wußte. Gram hatte gute Bücher, und während der Ferien hatte Sulla sich die alten deutschen Mystiker herausgesucht, deren stille Gesellschaft sie in Aarhus vermißt hatte.

Indessen unterhielt sich die Professorin mit Gram und redete ihm eifrig zu, mit seiner Frau nach Thüringen zu reisen. Sie könne gar nicht sagen, welchen Genuß sie und ihr Mann von dieser Reise gehabt hätten.

Nach Tisch wollte Sulla nicht gleich wieder mit jemand sprechen; sie setzte sich daher ein wenig abseits von den andern und betrachtete das Bild der verstorbenen jungen Hausfrau. Es war ein recht hübsches freundliches Gesicht; aber wie merkwürdig, es sah wie zum voraus resigniert aus. Und das Bild stammte doch aus der Brautzeit!

Drüben bei den andern hatte man sich zuerst allgemein über das dänische Klima verwundert, das sich jeden Sommer wiederholte, obgleich das nun doch endlich bekannt sein sollte. Dann schien man sich auf das Ehestandsthema geworfen zu haben; und es herrschten offenbar große Meinungsverschiedenheiten über die Behauptung, daß sich das eigentliche Glück in diesem Verhältnis auf Resignation gründe.

Auf dieses Thema ging Sulla nie gern ein. Aber jetzt entfielen ihr die Worte: »Dann müßten ja die, die am wenigsten zusammen passen, am glücklichsten mit einander sein, weil sie am meisten Resignation nötig haben.«

»Ja, aber gerade solche könnten es vielleicht nicht ertragen,« sagte der Professor.

Hierauf sprach man von den vielen Ehescheidungen, die ein so trauriges Zeichen der Zeit seien. Der Rektor meinte indes, in einzelnen Fällen – –. Er wolle sagen, wenn nun zum Beispiel eines von den beiden Beteiligten später von einem mächtigeren Gefühl ergriffen werde, dann sei das ein plausibler Grund zu einem Auseinandergehen. Aber diesen Grund wollten die andern gerade am wenigsten anerkennen.

»Für einen Christen wäre es undenkbar,« sagte Pastor Dalbom, »und wenn das Gefühl noch so mächtig wäre.«

»Da würde eben ein unerlaubtes Gefühl gar nie so mächtig werden, daß der Gedanke an eine Scheidung entstehen könnte,« warf die Professorin ein.

»Da hast du ganz recht, Schwester,« pflichtete Pastor Dalbom bei.

»Was meinen Sie, Herr Professor?« fragte Gram.

»Ich bin Professor der Ethik, mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.«

Gram lächelte und sagte: »Ich möchte nur bemerken, daß der Mensch, selbst wenn er nicht in einem bestimmten Verhältnis zu Gott stehen sollte, das ihn dazu verpflichtete, doch in einem Verhältnis zu der menschlichen Gesellschaft steht – und zwar nach beiden Seiten hin. Wer seine Ehe bricht und auflöst, der bricht nach rechts und links die Schranken nieder, und dazu hat man kein Recht. Man ist nun einmal mit dem Menschen, den man liebt, nicht ganz allein auf der Welt.«

»Aber es kommt einem vielleicht so vor,« erwiderte der Professor. »Es wird wohl auch wenig Wert haben, einem solchen Menschen sein Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft vorzuhalten, denn er wird nur antworten, er stehe eben jetzt in einem Verhältnis, das ihm die allergrößte Verpflichtung auferlege und das er am allerwenigsten zu brechen wage – nämlich das Verhältnis zu dem Menschen, den er liebt.«

»Das ist ganz richtig,« fiel der Hausherr ein. »Nein, die Religion ist eine bessere Autorität als die menschliche Gesellschaft.«

Pastor Dalbom freute sich immer sehr, wenn er Sulla singen hörte. Er pflegte zu sagen, ihre Stimme habe einen Unterton wie verhaltenes Weinen, und nun bat er sie innig um ein Lied. »Am liebsten eines von Heise,« fügte er hinzu, »da weiß man doch, woran man ist.« Und da dies ungefähr der einzige Liederkomponist war, von dem er einige Noten besaß, war Sulla ohnedies auf Heise angewiesen. Aber dann müsse es eines sein, das Marie Luise begleiten könne, sagte Sulla. Sie blätterte in den Noten, und ehe Sulla es sich richtig bewußt war, sang sie:

»Ich kenn die Stätte – war ich wieder dort –«

Erst als sie angefangen hatte, fiel ihr ein, daß es wie eine Anspielung auf Großmutters Garten aussehen könnte, und sie hätte gerne aufgehört, aber nun ging es nicht mehr.

»Wo Zeit und Stunden gleiten sachte fort,
Wie Perlen klar, an eine Schnur gereiht,
Wie Worte, die der Liebe nur geweiht.«

Pastor Dalbom standen Tränen in den Augen, als sie zu Ende war. Er hatte wohl an das ländliche Pfarrhaus denken müssen, wo die Dahingeschiedene in dem umhegten Garten an feinem Kinderzeug genäht hatte – worein dann die kleine Leiche in der toten Mutter Arm gehüllt worden war. Ach, Sulla hätte dieses Lied nicht singen sollen! Pastor Dalbom bat noch um ein Lied; aber sie konnte nicht mehr singen.

An diesem Abend bemerkte Sulla mehrere Male, daß der Professor seine Augen prüfend zwischen ihr und Pastor Dalbom hin und her gleiten ließ. Es war ganz auffallend, und sie fühlte sich unangenehm davon berührt. Und plötzlich tauchte ein Gedanke in ihr auf, bei dem ihr das Blut heiß in die Wangen stieg, und heftige Angst überkam sie vor einer Entdeckung, die sie höchst ungern machen wollte. Das verwirrte und verstimmte sie im höchsten Grad, und sie konnte kaum einigermaßen natürlich gute Nacht sagen. Als dann Marie Luise auf dem Heimweg unaufhörlich fragte, ob es nicht ein sehr hübscher Abend gewesen und ob Pastor Dalbom nicht ein höchst liebenswürdiger Gastgeber sei, brachte Sulla kaum eine Antwort über die Lippen.

Sie teilte das Gastzimmer mit der Mutter. Als sie nun ihr Haar aufgeflochten und dann ganz in Gedanken verloren dasaß, ohne es auszukämmen, trat Mutter zu ihr, umschlang ihren Kopf mit ihren beiden Händen und sagte: »Was ist dir denn, mein Liebling?«

Ach, wie sicher fühlte sich Sulla mit diesen beiden treuen Mutterhänden um ihre Schläfen, diesen Händen, die einen von klein auf so gut beruhigen konnten!

»Mutter, meinst du, Pastor Dalbom habe mich lieb?«

»Nein, dazu scheint mir kein Grund vorhanden zu sein,« antwortete die Mutter, die so etwas lieber nicht glaubte, solange sie keine unumstößlichen Beweise dafür hatte.

»Aber – wenn er es nun täte? Mutter, würdest du dann sagen, ich hätte mich unrichtig gegen ihn benommen?«

So eindringlich ernst waren die Kinderaugen dabei auf die Mutter gerichtet, daß diese sich unwillkürlich niederbeugte und sie küßte. »Du bist vielleicht ein bißchen viel mit ihm gegangen und hast dich mit Vorliebe mit ihm unterhalten. Aber doch immer nur über vernünftige und ganz unpersönliche Dinge, so weit ich es hören konnte. Deshalb habe ich dich auch nicht unterbrechen wollen.«

Mutter sprach so beruhigend wie nur möglich, weil das Kind gar so unglücklich aussah. Doch plötzlich konnte Sulla die Tränen nicht mehr zurückhalten; sie schlang die Arme um der Mutter Hals und schluchzte:

»Ach, Mutter, er darf mich nicht lieb haben! Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand lieb hat. Und er hat schon Kummer genug gehabt. Ach, ich bin zu viel mit ihm gegangen, ich habe dabei gar nicht an ihn gedacht!«

Mutter strich ihr übers Haar und fing an es einzuflechten. »Wir wollen uns nun keine Sorgen über etwas machen, was sich vielleicht gar nicht verwirklicht. Aber da mein Kind nun einmal diesen Gedanken hat, wird es beim nächsten Male vorsichtiger und zurückhaltender sein, nicht wahr? Du weißt, ich sage immer, ein Mädchen könne durch sein Benehmen verhindern, daß das Gefühl eines Mannes weiter um sich greife – wenn sie nicht selbst –«

»Ach nein, Mutter« – Sulla schaute so entsetzt auf, daß Mutter sie wieder küssen mußte – »und du weißt auch, wie sehr ich gerade in dieser Beziehung immer auf der Hut war.«

Am nächsten Morgen sah Sulla angegriffen aus; sie hatte fast gar nicht geschlafen. Mutter machte zur Erfrischung einen Spaziergang nach Marselisborg mit ihr. Dabei begegneten sie dem Professor, der beim Vorübergehen freundlich grüßte, aber nicht stehen blieb. Später gab es im Hause allerlei zu helfen; denn Lullemor hatte auf den nächsten Tag, dem letzten, den Mutter und Schwester bei ihr waren, einige Gäste eingeladen. Das half Sulla, sich zu zerstreuen, und bei dem schönen Wetter und der häuslichen Beschäftigung erschien ihr ihre Angst vom vorhergehenden Abend schließlich selbst unbegründet.

Aber am nächsten Vormittag, als sie eben den Tisch mit Feldblumen schmückte, kam der Brief. Glücklicherweise war außer ihr niemand im Zimmer; das Geheimnis eines andern soll man ja fester bewahren als sein eigenes.

Zuerst kamen einige schöne tiefgefühlte Worte über sein zerbrochenes Glück und die unvergeßliche Gattin – ganze zwei Seiten hindurch. Aber auf der dritten wendete er sich dann innig an Sulla – ach, da war es! – er sagte, er habe sich so gut mit ihr unterhalten und aussprechen können, daß der Wunsch, den Lebensweg mit ihr zusammen wandern zu dürfen, ganz unbewußt in ihm aufgestiegen sei. Dann kam etwas von dem tiefen Gefühl, das sie in seinem Herzen erweckt habe – das tat bitter weh! Das Heimweh wurde fast übermächtig. Ach, warum wurde einem von einem Fremden ein solches Anerbieten gemacht – nur nicht von einem, bei dem das Herz daheim wäre!

Sulla war so durchsichtig bleich, als sie in einem rosa Kleide bei Tisch erschien, daß Gram zitierte: »Ein Zeichen heil'ger Liebe, das ist die weiße Rose!« Aber als Pastor Dalbom mit der Schwester und dem Schwager eintrat, flog doch ein rosiger Schimmer über Sullas Wangen. Ach, er sah zum voraus resigniert aus!

Sie schlug die Augen nicht auf, als sie ihm guten Tag sagte, und glücklicherweise führte er sie auch nicht zu Tisch; das hatte Mutter verhindert. Ihr Tischherr war ein junger Offizier, der die ganze Zeit vom Polospiel schwärmte. Und da dieses Thema Sulla nicht gerade unterhaltend war, beobachtete sie hauptsächlich. Lullemor saß als Wirtin neben dem Professor oben am Tische. Wie süß die Schwester doch aussah – mit ihren raschen Handbewegungen, ihren frohen Augen, ihren feurigen Wangen und ihrem schwarzen Lockengeringel! Ach, die hatte es auch gut! Ihr machte niemand mehr einen Antrag!

Nach dem Kaffee auf der Veranda schlenderte ein Teil der Gesellschaft im Garten umher. Dieser war nicht groß, aber hübsch gehalten und hatte eine freie Aussicht auf die Bucht.

Sulla nahm sich zusammen und trat zu Pastor Dalbom, der eben etwas abseits stand. Ihre Hände waren ganz kalt – es kostete sie große Überwindung, diese Sache zu berühren. Aber seinetwegen mußte es so bald wie möglich geschehen.

»Ich danke Ihnen für Ihren Brief,« begann sie. »Ich –«

Er trat noch ein paar Schritte von den andern weg. »Wollen Sie mit der Beantwortung nicht lieber warten?« fragte er, indem er sie mit einem überaus gütigen Ausdruck ansah; aber seine Stimme bebte dabei.

»Nein, nein … Das heißt, antworten kann ich Ihnen eigentlich gar nicht. Denn all dies liegt mir unendlich fern; ich glaube, es paßt überhaupt nicht für mich.«

»Warum denn nicht?« erwiderte er. »Ich glaube es gerade. Sie sind noch so jung – und dazu geschaffen, ein reiches Glück zu schenken.«

»Ach nein, nein!«

»Aber Sie haben wohl Ihr Herz noch nicht entdeckt.«

»Nein – vielleicht nicht. Und möglicherweise wird es auch nie so weit kommen – auf die Weise, wie Sie es meinen.«

»O doch, das Herz wird sich schon einmal melden. Denn das hat das größte Recht im Leben eines Menschen.«

»Das weiß ich doch nicht, Herr Pastor. Es gibt ja auch sogenannte Einspänner-Naturen. Ich bin nicht wie die andern. Es kommt vielleicht von meiner Erziehung, die etwas eigentümlich war. Mir ist manchmal, als sei ich ganz allein in einer besonderen weit, weit entfernten Welt. Sie wären eigentlich nicht weniger einsam – selbst wenn ich –«

»Meinen Sie? Aber ich weiß doch wohl besser, was Sie mir sein könnten, Fräulein Anker. Sie könnten mir die Heimat wieder geben. Es tut so bitter weh, wenn man in seinen eigenen Zimmern Heimweh haben muß.«

»Ach, es gibt gewiß andere, die Ihnen das sein können!« Heiße Tränen brannten Sulla in den Augen; sie konnte sie nicht unterdrücken, er tat ihr unsäglich leid.

»Aber,« fuhr er fort, indem er sie bittend ansah, »wenn Sie sich einmal klarer über sich selbst sein sollten – und Ihnen der Gedanke an ein eigenes Heim verlockend erschiene, wollen Sie dann daran denken, daß es einen Menschen gibt, für den Sie – und Sie ganz allein –«

»Nein, nein – Sie dürfen nicht auf mich warten. Der Gedanke daran wäre mir zu schmerzlich.«

»Sie sollen gar nicht daran denken, sondern mir nur versprechen, es mich wissen zu lassen, wenn Sie die Sache eines Tages anders ansehen sollten.«

»Ja,« versetzte sie, im stillen aber dachte sie: das wird nie geschehen. »Sie dürfen jedoch nicht darauf warten,« fuhr sie fort. »Aber ich danke Ihnen für das, was Sie mir gesagt haben – und daß Sie es mir so gesagt haben.«

Damit reichte sie ihm die Hand. Er nahm sie und hielt sie einen Augenblick fest.

Da ertönten Schritte auf dem Kiesweg, und des Professors Stimme erklang: »Ich soll Ihnen diesen Schal von Ihrer Frau Mutter bringen« – er hüllte sie darein – »und sagen, Sie sollten jetzt lieber hineinkommen, es werde allmählich kühl hier draußen. Du hättest daran denken sollen, daß Fräulein Anker ein leichtes Kleid an hat, Andreas,« fügte er in etwas kurzem Ton hinzu.

Andreas sah aus, als ob man so einen Gedanken nicht von ihm erwarten könnte. Und das war in diesem Augenblick auch wirklich zu viel verlangt. Alle drei gingen nun zusammen hinein; und als Sulla den weichen, warmen Schal um sich fühlte, merkte sie erst, daß sie gefroren hatte.

Die Gesellschaft saß in der schönen großen Veranda, wo die elektrischen Birnen leuchteten. Adjunkt Gram erzählte gerade, er habe von einem früheren recht begabten Schüler eine kleine Gedichtsammlung zugeschickt bekommen und würde gerne die Ansicht der Anwesenden darüber hören; er möchte deshalb den Professor bitten, einige von den Gedichten vorzulesen und sein sachverständiges Urteil darüber abzugeben.

»Das ist gut,« dachte Sulla, und sie fühlte schon zum voraus, welche Ruhe bei dem Vorlesen mit schöner Stimme über einen kommen kann. Da durfte man ruhig dasitzen, ohne zu sprechen, ohne zu denken und die Töne nur an sich vorbeigleiten lassen – das war fast, als schöpfe man mit beiden Händen Linderung. Nur nicht gestört werden – die kleinste Bewegung tat schon förmlich weh … Ach, schon allein das Denken und Sprechen taten weh!

Der Professor hörte erst auf, als der Tee herumgereicht wurde, und dann brachen die Gäste auf. Pastor Dalbom war sehr bewegt, als er sich von Sulla verabschiedete. »Gute Nacht und leben Sie wohl!« sagte er, und dabei drückte er ihre Hand so fest, daß ihr die Ringe schmerzlich ins Fleisch drangen.

»Auf Wiedersehen!« sagte der Professor. »In Lutetia!«

Sie erwiderte kein Wort – mit niemand auf der Welt konnte sie eine Gemeinschaft mit jener Welt anerkennen.

Ach, Gott sei Dank, daß sie existierte, diese Welt im Verborgenen – wo man so heimlich still allein sitzen konnte und der ganzen quälenden, seelenzermürbenden Verbannung entrückt war!

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