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Ulla.

W Wenn die lange Ulla manchmal wie ein Wirbelwind in Großmutters Garten hereinsauste, war das geradezu eine Störung. Selbstverständlich konnten Marie Luise und Sulla den Garten nicht ganz für sich allein haben; Großmutter Ursula kam ja häufig und glitt nicht immer als stumme Figur in irgend ein Märchen hinein, sondern schnitt oft die Stimmung mitten durch – wie ihre große Schere die bunten Wollfaden ihrer Stickerei.

Mutter saß auch manchmal dort drüben, und sie war bei allen Spielen hoch willkommen, nur nicht bei dem eigentlichen; und Sonntags trank überdies die ganze eingeladene Familie den Kaffee in der Pagode und verbrachte auch den größten Teil des Abends da.

Aber diese Störungen konnten die Kinder sozusagen von dem richtigen Ort entfernt halten: die heimliche Welt wurde dann einfach in die Schachtel gelegt und erst wieder herausgenommen, wenn die andern gegangen waren.

Viel schlimmer war es, wenn Ulla dahergestürmt kam. Es war, als sei mit ihr die ganze Stadt hereingebrochen. Sie spionierte überall herum, fragte nach allem, lachte über alles. Niemals wäre es den kleinen Cousinen eingefallen, ihr etwas von ihren Spielen oder ihren Vorstellungen mitzuteilen; aber sie schnüffelte alles heraus.

Sie sagte wie die Großmutter »Kinderchen« zu ihnen, und das ärgerte diese natürlich. Sie bildete sich etwas darauf ein, daß sie drei Jahre älter war als Marie Luise und viereinhalb älter als Sulla. Man hätte dies übrigens bei ihrer Länge auch gar nicht vergessen können. Alles war lang an Ulla, ihr aufgeschossener, schlottriger Körper, ihre Arme, ihre mageren Finger und ihr Haar; dieses war sogar sehr, sehr lang. Überdies zwinkerte sie mit den Augen und lachte zugleich; dem konnten die Leute nicht widerstehen, und das wußte sie selbst recht gut.

Ulla wurde nach ihres Vaters »herrlichen Grundsätzen«, wie Großmutter sagte, »erzogen« und da könne man schon wissen, wie das Resultat ausfallen werde. Wenn Tante Lene sich über die Manieren ihrer Tochter doch bisweilen etwas beunruhigte und sagte: »Großmutter Ursula ist sehr erstaunt über dich,« dann entgegnete Großmutter wohl mit einem erhabenen Lächeln: »Nein, nein, Liebe, das würde mir nie einfallen; im Gegenteil, wenn dieses Kind ein ordentliches Betragen hätte, dann würde ich mich verwundern.«

Wäre es noch wie zu Großmutters Zeiten gewesen, damals wo man die Autorität der Eltern noch respektierte, dann hätte Onkel Wilhelm Tante Helene überhaupt nicht bekommen. Denn als er damals um sie anhielt, sagte Großmutter entschieden nein, einen Mann von solchen Anschauungen wolle sie nicht zum Schwiegersohne haben, und wenn er auch noch so nett sei.

Aber die Tante sagte ja, und da es nicht mehr in der guten alten Zeit war, bekam sie ihn schließlich, und später stimmte sie dann mit allen seinen Ansichten überein – weil sie selbst noch keine hatte – ja sie legte noch einen besonderen Nachdruck darauf, um zu zeigen, daß es ihre eigenen seien.

Onkel Wilhelm sagte, Kinder sollten lernen, das Leben mit ihren eigenen Augen zu betrachten, und es aus ihrer eigenen Natur herauszuleben, durch die Erziehung sollte man ihnen eigentlich nur dazu verhelfen.

Er haßte die Erziehung der früheren Zeiten mit jenen feststehenden Lebensanschauungen, jenem vollständig fertigen System, in das man das Kind wie in eine Zwangsjacke hineingespannt habe und ihm dann, wenn es sich darin nicht zurechtfinden konnte, keinen andern Rat habe geben können, als das kategorische: »Hack dir die Ferse ab und schneid dir eine Zehe weg!« Denn eine Individualität zu verstümmeln, damit habe man es nicht so genau genommen. Nein, man solle den kleinen Menschenkindern erlauben, sich frei und frisch zu entwickeln, damit sie sich kräftigten; und dann sollte man sich Mühe geben, das Gefühl der Verantwortlichkeit bei den Kindern so rasch wie möglich zu wecken, ihre Urteilskraft zu entwickeln, indem man sie daran gewöhne, selbst zu urteilen und zu prüfen, indem man sie die Entscheidungen selbst treffen lasse, die man in früheren Zeiten für sie getroffen habe, bis sie alt und grau und unmündig geworden waren, so daß sie schließlich – wie Onkel Peter – nicht selbst entscheiden könnten, ob man bei Regenwetter einen Schirm mitnehmen solle oder nicht.

Es sei Blödsinn, wenn man meine, man mache die Kinder dadurch zum Leben tüchtig, daß man ihnen verschweige, wie das Leben wirklich ist. Und ein grobes Armutszeugnis sei es jedenfalls, wenn man das moralische Gefühl durch Verbote entwickeln wolle. Man solle dem Kinde die Sachen erklären, ihm zeigen, daß es sich eigenliebig, unvorsichtig oder unehrlich aufführe, und »das willst du doch selbst nicht«. In neun von zehn Fällen werde das Kind dann sicher selbst das Rechte wählen.

»Natürlich trifft dann der zehnte Fall auch wirklich ein – und in der Regel die neun Male,« sagte die Großmutter, – gerade wie damals, wo Onkel Wilhelm zu seiner minderjährigen Tochter gesagt hatte: »Den Apfel hier hat Vater für Mutter hingelegt, deshalb wird Ulla ihn nicht essen, das weiß ich,« bei seiner Rückkehr aber den Apfel halb abgenagt fand, weil das Kind meinte, die richtige Ordnung sei die, daß seine Mutter alles mit ihm teile.

Aber selbst in diesen Ansichten war ja etwas, dem man zustimmen konnte, und Onkel Wilhelm sagte, er wolle dem Kinde eben so wenig seine eigenen – übrigens ganz vernünftigen – Anschauungen als »des Vaters höchst verknöcherte« aufzwingen; sie solle weiter kommen. Er sagte immer: »Ich verlange in persönlicher Beziehung volle Freiheit für jede selbständige Entwicklung und individuelle Anschauungsweise. Du kennst meinen Wahlspruch, Schwiegermutter: das eine tun und das andere nicht lassen.«

»O ja,« erwiderte dann die Großmutter; »aber willst du so gut sein und mir sagen, wie oft man dann das eine tut und das andere eben läßt? Die Leute, die mit diesem schönen Wort um sich werfen, meinen wohl auch nur: alles tun und nichts lassen, denn so wird es schließlich. Ulla versteht es auch nicht anders, als alles tun, was ihr gerade durch den Kopf geht.«

Ja, Ulla hatte viele Unarten und ganz verkehrte Ansichten. Aber wenn sie nicht gerade die Heimlichkeit des Gartens störte, war sie doch recht unterhaltend. Und es war verlockend, sie Sachen sagen und tun zu lassen, die man selbst nicht tun durfte. Fine und Bine und die andern Verwandten nannte sie zum Beispiel die »Tanten von vor der Erschaffung der Welt«, und sie gab ihnen auch noch andere komische Zunamen.

Manchmal verspottete sie auch die Cousinen und sagte, sie würden von der hermetischen Büchsenerziehung vollständig eingedünstet. Und wenn sie hörte, was sie alles sollten und nicht sollten, zuckte sie die Schultern und sagte spöttisch: »Daß ihr das nur möget!«

Aber dann richtete Sulla sich auf, und das dunkle Köpfchen in den Nacken werfend, erwiderte sie: »Wir finden das alles selbst richtig, deshalb tun wir es.« Und dagegen konnte Ulla dann nichts mehr einwenden.

Im ganzen genommen war sie bei der Großmutter umgänglicher und manierlicher als daheim; sie hatte immerhin Respekt vor ihr und sagte häufig: »Wir sind alle verrückt, jedes auf seine Weise; aber die alte Ursula hat mehr Methode in ihrer Verrücktheit als wir andern.«

Ulla war sehr begabt; sie war geradezu ein mathematischer Kopf, und Onkel wünschte sehr, sie solle studieren; aber dafür bedankte sie sich. »Zum Versauern auf der Schulbank ist mir meine Jugend doch zu lieb. Ein mathematischer Kopf – Unsinn! Was soll man mit einem mathematischen Kopf, wenn man ein leicht entzündliches Temperament hat? Und das habe ich, darauf ist in erster Linie Rücksicht zu nehmen.«

In diesem Punkt wußte Ulla sehr genau Bescheid – denn sie las die modernsten Bücher, in denen viele häßliche Dinge standen. »Ach Kinder,« sagte sie, »ich muß ja lernen, zu verwerfen.«

Aber Großmutter sagte: »Wenn sie dann nur nicht wählt, anstatt zu verwerfen.« Und dazu war gewiß eher Gefahr vorhanden.

Ulla hatte ja auch schon Geschichten gehabt – mit Jungen, die ihr Blumen, Bonbons, anonyme Briefe und dergleichen unerlaubte Sachen schickten, die die Cousinen nicht bekamen, weil Mutter alles in Empfang nahm, was ankam, und nie mit einem von solchen Dingen reden wollte.

Deshalb hielt sich Ulla auch für ganz unwiderstehlich. »Sie lassen mich nicht in Ruhe,« sagte sie. Aber das war doch wirklich lächerlich von ihr, wenn man so aufgeschossen war und gar keine besondere Nase und keine vornehmen Augen hatte, die die Farbe wechseln konnten, wie Sullas, und keine schwarzen Locken, wie Marie Luise, sondern fast rothaarig genannt werden mußte!

So oft Ulla kam, trug sie etwas in der Tasche, das ihr irgend ein Anbeter geschickt hatte und mit dem sie den Cousinen imponieren wollte. Eines Tages war es wahrhaftig ein Heiratsantrag von dem schönsten der Kadetten, den sie sich nicht einmal zu beantworten bemühte, »denn ich bekomme solches Zeug dem Hundert nach.«

Aber da wurde Marie Luise böse; denn dieser Kadett hatte sie auf dem letzten Ball mehrere Male zum Tanz aufgefordert und hätte ihr auch sein Bukett gegeben – das hatte sie gut gemerkt – wenn nicht die lange Ulla mit ihrer Schleife auf ihn losgegangen wäre. Jetzt sagte sie zu Ulla: »Das kommt daher, weil du dir so viel Mühe darum gibst. Du kokettierst ja mit dem jüngsten Bengel. Da sagen nun wir: Daß du das nur magst! Wir tun es nicht.«

Ulla erwiderte, die Trauben seien zu sauer, und sie freue sich, daß beide solche Klosterfräulein seien wie Fine und Bine. »Denn es schmeckt doch ein wenig nach einer Nonne; das ist auch das einzige, wozu Sulla paßt, und Marie Luise kann recht gut eine Tante von vor der Erschaffung der Welt werden, die gehören auch ins Kloster.« Darauf wurden alle drei wütend aufeinander.

Aber als Ulla konfirmiert war, trat ein großer Umschwung ein. Sie durfte ja selbst entscheiden, ob sie konfirmiert werden sollte, und da sagte sie: »Warum nicht? Es liegt gar kein Grund vor, warum ich um das Festessen und alle die Geschenke kommen sollte.«

Und die Cousinen, die noch kleine Mädchen in kurzen Kleidern waren, fühlten sich wieder ganz hingerissen von Ulla.

Als sie in einem langen Kleide ankam, mit ihrer schlanken Gestalt, durch die immer eine Art Bewegung lief, wie das Wellengeschaukel einer leichtbewegten See, mit einer ganzen Last von dünnen klirrenden Armbändern um ihre biegsamen Handgelenke und im Nacken das rötliche Haar in einem großen losen Knoten – der immer ein wenig schief saß und den Kopf etwas auf die eine Seite zog, während sie plötzlich und unmotiviert mit den Augen zwinkerte und dann selbst darüber lachte – da dachte sowohl Lullemor als auch Sullala, wie Ulla die beiden sehr oft nannte, man könne tatsächlich »kein Auge von ihr verwenden«.

Jetzt war Ulla auch sehr lieb gegen die Cousinen; sie nahm sofort zwei von den dünnen klirrenden Armringen ab, für jede einen, und steckte ihnen, so oft sie kam, mit ihren langen schlanken Fingern das Haar auf, um ihnen zu zeigen, wie hübsch sie aussehen könnten.

Jetzt fuhr Ulla mit allen ihren Freunden und Bekannten auf ihrem Rad im Lande umher und ging spazieren, mit wem sie wollte. Jetzt handelte es sich bei ihr noch um viel mehr Liebesgeschichten und halbe Verlobungen, und sie hatte beständig Sachen zu erzählen, die die kleinen Cousinen mit einer gewissen Neugier anhörten, aber doch keinen eigentlichen Gefallen daran fanden.

»Ja, das ist nun einmal so und wird auch nicht anders, ich muß entflammt werden und selbst auch entflammen. Ich soll ja nach meinem Temperament leben und nicht nach Fines oder Bines. Na, die hatten ja gar keines, denn damals kannte man das noch nicht! Aber eine Natur hatten sie natürlich doch, und diese wurde wahrhaftig nicht mehr bekämpft als die unsrige; es wurde nur alles mehr im geheimen abgemacht. Überhaupt, seine Natur bekämpfen! Kann ich mein rotes Haar bekämpfen, oder meine langen Arme?«

Ulla hatte ihr achtzehntes Jahr noch nicht vollendet, als sie sich richtig verlobte – mit Ferdinand Birk. Dieser Name klang nicht sehr nach Kunst; aber trotzdem war er Bildhauer, dazu blondhaarig, hübsch und liebenswürdig.

»Wollt ihr mit als Hilfstruppen?« fragte Ulla die Cousinen, als sie der Großmutter ihre Verlobung melden sollte; und die Cousinen fanden es höchst spannend.

Bei der Großmutter war eben Tante Bine, und man sprach zuerst ein wenig vom heurigen Wetter und vom vorjährigen und vom vorvorjährigen.

»Großmutter Ursula,« sagte dann Ulla, »ich komme eigentlich, um dir mitzuteilen, daß ich mich verlobt habe. Mit Ferdinand Birk.«

Großmutter sagte zuerst nur: »So, wirklich? – Ja, wenn du deine eigene Einwilligung erhalten hast, dann ist ja alles in Ordnung.« Nach einer kleinen Pause aber fügte sie freundlich hinzu: »Ist es Nummer drei oder vier, liebe Ulla?«

»Ach nein,« antwortete Ulla errötend, »es ist Nummer viel mehr. Man muß ja probieren.«

»Das mag allerdings ganz praktisch sein,« erwiderte Großmutter Ursula so freundlich, daß es fast beängstigend war. »Zu unserer Zeit war das allerdings noch nicht Brauch. Und ich fürchte, wenn man es erst einmal mit dem Probieren angefangen hat, kann man nicht mehr damit aufhören. Ich habe jedenfalls nur Nummer eins gekannt,« fuhr sie mit einem Blitz hinter den Brillengläsern hervor fort, »aber das ist sicher etwas beschränkt. Und diese Nummer gehört ja auch nicht mehr auf die Tabelle der jetzigen Zeit.«

Tante Fine tat es leid, daß Großmutter so mit Ulla sprach, deshalb brachte sie nun ihren Glückwunsch vor. Er sei ein sehr netter Mensch, der junge Birk. Und Bildhauer, das sei doch eine schöne Karriere.

»Ja, ja,« sagte Großmutter, als ob in diesem Zimmer nur mit ihr gesprochen werden könnte. »Aber kaufst du Statuen, meine gute Ludolfine?«

Ulla blinzelte, lachte und sagte, es sei natürlich ein brotloser Beruf; aber wenn sie verheiratet seien und er ihren langen Körper als Modell bekomme, könnte ihm das vielleicht einen Aufschwung geben.

»Wollt ihr in den Garten hinunter, Kinderchen?« unterbrach sie die Großmutter laut und majestätisch. Die Kinder sollten nicht noch mehr hören, und auch Großmutter hatte keine Lust nach Ullas weiteren Mitteilungen.

Die Kinder antworteten ja – denn das mußte man, wenn man in dieser Weise gefragt wurde. Da stand Ulla auch auf und sagte, sie wolle jetzt nach Hause gehen. »Wie du willst,« versetzte die Großmutter. »Grüß zu Hause.«

Auf der Treppe blieb Ulla laut lachend stehen. »Kinder, ich war auf dem Punkt zu sagen, dann habe also der Admiral außerhalb jeder Nummer gestanden; aber ich nahm mich zusammen, denn man soll die alte Ursula nicht mehr ärgern, als durchaus notwendig ist. Sie ist doch ein Prachtexemplar.«

Dann zupfte sie Marie Luise am Ohrläppchen und sagte: »Kaufst du Statuen, Lullemor?«

Wenn Ferdinand Birk an den Familiensonntagen teilnahm, war es immer ein großes Vergnügen. Er war gegen alle liebenswürdig, auch gegen die ältesten Tanten; man mußte ihn unwillkürlich gern haben. Und jeder von den kleinen Cousinen schenkte er ein hübsches Bild. Sogar Großmutter Ursula sagte, er sei ein »seltener« Mensch und nannte ihn »mein lieber Ferdinand«. Er erzählte äußerst lebhaft und hatte eine weiche, reine Tenorstimme. Wenn Ulla ihn bisweilen zum Gesang begleitete, klang das sehr schön, denn Ulla war sehr musikalisch und hatte brillante Klavierfinger.

Aber Ulla war äußerst komisch gegen ihn. Sie konnte ihn fragen, ob er meine, er sehe begabt aus, wenn er die hohen Töne so sehr herauspresse, oder ob er es für geistreich halte, wenn er über seine eigenen Anekdoten lache? Das verstimmte ihn dann; aber er war bis über die Ohren in sie verliebt und wirklich sehr liebenswürdig, und so wurde er immer bald wieder gut.

»Ja, das ist gerade das Schlimme,« sagte Ulla, »er ist immer gut, man braucht nie Angst vor ihm zu haben. Das wird auf die Dauer ein bißchen ledern. Und das Dumme ist ja, Kinderchen, daß man nur in einem Raptus ineinander verliebt sein kann; aber mein Raptus fällt leider nie mit seinem zusammen, und so kommt es mir dumm vor, wenn er ihn hat.«

Die kleinen Cousinen waren empört; Ferdinand Birk war freilich kein erhabenes Wesen aus einer heimlichen Welt; aber Ulla stellte ja an ihren Zukünftigen gar nicht diese Forderungen, und deshalb war es eine Sünde und Schande, wie sie ihn behandelte. Er war viel zu hübsch und zu gut für sie! Das meinte selbst Mutter auch.

Als Ulla im nächsten Frühjahr mit ihrem Bräutigam nach Aarhus zu ihren Schwiegereltern reiste, wurde es noch schlimmer. In dem schwiegerelterlichen Hause waren alle fröhlich und freundlich und wohlerzogen; man tat einander alles zulieb und räumte sich das Unangenehme aus dem Wege, und Ulla sollte, wie Großmutter sagte, ihrem Schöpfer auf den Knien danken, daß sie in diese Familie aufgenommen worden sei.

Aber Ulla schrieb an Marie Luise: »Nun verstehe ich, warum mein Schatz so ist, wie er ist – und das paßt gar nicht für mich – – allmählich wird es mir auch langweilig, daß er Ferdinand heißt. Denk dir, jetzt hat er schon dreimal gesungen: ›Ulla, meine Ulla, was darf ich dir bieten?‹ wenn er mir bei Tische etwas gereicht hat. Das ist nicht zum Aushalten. Aber bei diesem Beruf kann man ja auch hundert Jahre alt werden, ohne daß man etwas zum Heiraten erwirbt.«

Nachdem sie lange damit gedroht hatte, hob Ulla ihre Verlobung wirklich auf. Der junge Bildhauer war außer sich darüber, und lange Zeit wollte Großmutter Ursula ihre Enkelin nicht mehr bei sich sehen. Mutter war auch ganz empört. Onkel und Tante, Ullas Eltern, waren ebenfalls ärgerlich, sagten aber doch, man dürfe es nicht so nehmen. Dies sei die wichtigste Wahl im Leben, und darin solle das Mädchen volle Freiheit haben, ohne mit Überredungen oder Vorwürfen geplagt zu werden.

Ulla sah feierlich aus, so oft sie von Ferdinand sprach, und zwischen den klirrenden Armringen war immer noch einer, den sie von ihm bekommen hatte. »Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an ihn denke,« sagte sie, »aber es ging eben nicht; mit meiner Natur konnte ich mich nicht mit dem begnügen, was er zu bieten hatte.«

Ein halbes Jahr später kam ein steifer, dunkler Offizier mit einem feinen Gesicht, aber etwas kahlem Scheitel öfters zu Onkel Wilhelms. Sie hatten ihn in einem Badeort in Norwegen kennen gelernt, und es hieß, er mache Ulla den Hof. Das hätte man eigentlich nicht gedacht, denn er sah gar nicht danach aus. Es war aber doch so; und im Lauf des Winters machte er Ulla einen Antrag, den diese annahm.

Mit dieser Verbindung wollte Großmutter nichts zu tun haben. »Denn ich will von Ullas weiteren Probeverlobungen nichts mehr wissen,« sagte sie.

Hauptmann Wenck war nun freilich gar nicht wie Ferdinand Birk. Er sprach sehr wenig – mit kleinen Mädchen schon gar nicht – konnte nicht singen und verzog nie eine Miene.

»Das wird doch schließlich noch viel lederner sein, Ulla,« sagte Marie Luise. »Er hat nicht viel Schwung.«

»Ach, ihr Kücken, was wißt denn ihr?« erwiderte Ulla. »Äußerlich ist er freilich etwas steifleinen und automatisch; aber man ahnt einen Krater unter der ruhigen Oberfläche. Und das ist's, was ich haben muß.«

Ulla wollte im Frühsommer Hochzeit machen. Leider kam sie dann mit ihrem Manne nach Nyborg, und das war gar nicht nach ihrem Geschmack. »Aber es ist nur auf ein paar Jahre,« sagte sie.

Die Hochzeitsreise sollte ins Ausland gehen, während Tante Lene das junge Heim in Nyborg einrichten würde.

Zu eben der Zeit gingen Mutters kleine Mädchen in den Konfirmandenunterricht, und im Oktober sollten sie konfirmiert werden. Marie Luise war dann sechzehneinhalb, Sulla allerdings nur eben fünfzehn vorüber; aber es war schön, wenn sie zusammen eingesegnet wurden.

Sie durften Ullas Brautjungfern sein; und bei dieser Gelegenheit trugen sie zum erstenmal lange Kleider, was dem Fest in ihren Augen eine besondere Feierlichkeit verlieh.

Großmutter Ursula war auch anwesend – sie sagte, wenn eine Hochzeit daraus werde, müsse man die Verlobung ja anerkennen – aber sie ging nicht mit in die Kirche; seit sie und Ludwig Anker miteinander vor dem Altar gestanden hatten, wurde ihr das zu schwer.

Ulla war sehr gerührt; sie sagte immer wieder, »über Großmutters Anwesenheit freue ich mich am meisten.« Und Großmutter Ursula erwiderte: »Ich freue mich auch, daß ich dabei bin, Ulla; denn ich habe den Eindruck bekommen, daß du in sehr strammen Zügeln gehalten werden wirst.«

So ein Ausspruch hätte einem aus anderem Munde für Ulla an ihrem Hochzeitstage leid getan; aber Großmutter war nun einmal so.

Als Ulla verheiratet und abgereist war, folgte eine merkwürdig ruhige Zeit. Noch nie war ein Sommer in Großmutters Garten so still gewesen wie dieser, wo die beiden Schwestern unter den festlichen Weihnachtskerzen des Kastanienbaumes und dem würzigen Duft des spanischen Flieders saßen und ihre Konfirmationsaufgaben lernten – Sprüche und Lieder und den Katechismus.

Was sie zu lernen hatten, war weder lang noch schwer, und vieles davon konnten sie schon im voraus auswendig; aber man mußte doch darüber nachdenken, damit man ordentlich antworten konnte und nicht ins Blaue hinein redete, wenn man gefragt wurde.

Um sie her blühte und sang und summte und duftete es, ein zauberhafter Sonnenglanz umflutete die Märchenwelt ihrer Kindheit; die leise hergesagten Bibelsprüche und Liederverse flossen mit ihr zusammen, und es war, als fühlten sie sich da ganz vertraut.

Marie Luise und Sulla meinten, die geheime Welt dehne sich aus, sie öffne sich mit schwindelnd hohen Toren … Plötzlich verstanden sie, daß alle die Märchen, die durch sie hingewogt waren, ihren Ursprung viel höher droben hatten, und daß das allerschönste, was diese Welt zu eigen hatte, eben doch darin bestand, daß sie die Ahnung von etwas Größerem in sich barg, das die Luft rings umher erfüllte und ihnen überall entgegenwehte.

Die Glocken des Himmelreichs läuten ja auch durch das Volkslied, und Lutetias blaue Luft bebte bei den Glockenklängen, die hoch über ihr hintönten.

Draußen brummte und lockte die Stadt wie immer. Die heiße, lärmende, gefährliche Stadt – war das nicht die schlimme »Welt«, die Mutter von ihnen hatte fern halten wollen? Nein, sie konnte nicht leicht zu ihnen hereinkommen, aber sie konnten zu ihr hinausgehen.

Der Flieder und Goldregen verblühten; die Rosen entfalteten sich in der stillen Sonnenglut, schlossen dann ihre Kelche unter dem Abendtau wieder und ließen die welken Blätter mit einem lautlosen Knistern zur Erde sinken. Ringsumher gaukelten weiße Schmetterlinge, und die Schattenlinie auf der Sonnenuhr bezeichnet lauter stille Stunden, während die Schwestern, über ihre Liederverse und Bibelsprüche gebeugt, im Garten saßen. –

Ende Juli kehrte Ulla von der Hochzeitsreise zurück, und sie weilte dann noch einige Tage bei ihren Eltern, ehe sie tatsächlich mit dem Gatten fortzog.

Großmutter Ursula hielt einen Festmittag, weil sie bei der Hochzeit so einen guten Eindruck von dem Hauptmann bekommen hatte, und sie hielt auch eine Tischrede über sich selbst und Ludwig Anker – denn das war das Schönste, von dem man reden konnte, und es bewies sonnenklar, daß die Ehen im Himmel geschlossen werden – und dann auch darüber, daß der Ehestand am besten geführt werde, wenn der Gatte ein Mann mit einem festen Willen sei.

Man bekam dabei den Eindruck, daß Großmutter, wenn Großvater kein solcher Mann gewesen wäre, ihn mit Drohungen dazu gemacht hätte, weil sie nur mit einem richtigen Mann etwas zu tun haben wollte. Und man fühlte wohl, mit ihrer Rede wollte sie den Hauptmann aufmuntern, Ulla fest in den Zügeln zu halten.

Wie sonderbar war es, Ulla wieder unter sich zu haben – sie als verheiratete Frau zwischen den andern sitzen zu sehen, in ihrem langen Schleppkleid aus weicher knisternder Seide, und dabei das Gefühl zu haben, daß man selbst noch nicht einmal konfirmiert war! Vieles wollten die Cousinen von ihr hören – von den Städten, den Flüssen, den Bergen.

»Ach, ich mag nicht,« sagte Ulla mit matten Bewegungen. »Von den Reisebeschreibungen kann es einem ja übel werden. Aber vieles andere müßtet ihr hören; ihr meint ja, der Mond sei ein Käslaib und die Erde eine Linzertorte mit Eingemachtem darauf.«

»Durchaus nicht,« erwiderten die Cousinen; und sie lachten mit empörter Überlegenheit.

»Aber dann glaubt ihr noch viel Schlimmeres. Ihr meint, ihr seid gefangene Jungfrauen mit der alten Ursula als Drache, und es werden ein paar ungeduldige Prinzen vor der Mauer stehen und Flöte blasen, bis die Mauer am Konfirmationstag einstürzt. Die nähmen euch dann mit auf ein Schloß aus Glas, wo sie nur Menuett mit euch tanzten, während Großmutter den Takt dazu schlüge … Ihr seid ja die reinsten Marsbewohner, Kinderchen, – und die sind sogar noch weiter voran, denn mit ihnen bekommen wir ja nächstens Telephonverbindung. Ich sehe schon, ich muß mich um euch annehmen, sonst geht alles schief.«

»Was geht schief?« fragte Sulla, indem sie ihr dunkles Köpfchen zurückwarf.

»Sullala,« sagte Ulla, wobei sie ihre langen, schlanken Finger um deren Nacken legte. »Man kann freilich in alles, was einen beschäftigt, einen höheren Sinn legen, und wäre es auch eine Margarinefabrik oder ein Komposthaufen; aber versuche es nur niemals, in das Verhältnis etwas Höheres hinein zu legen, das sich am wenigsten von allen Verhältnissen auf Erden dazu eignet. Man bricht sich nur den Hals dabei, und zwar auf lächerliche Weise.«

– Wieder wurde es lautlos still im Garten. Es blühte und summte und duftete, während die Schwestern über ihre Sprüche und ihre Liederverse gebückt saßen und die Stunden ihrer Kindheit auf der Sonnenuhr zerrannen.

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