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XVI.
Von Land umfangen

In jeder Nacht verließ der große Bär sein Lager, eins von den vielen Lagern, die er hatte, und schritt, von allen seinen Wunden geheilt, im Hochgefühl seiner gewaltigen Kraft der Ebene zu. Seine allzeit wachsame Nase meldete ihm Schafe, einen Hirsch, ein Birkhuhn. Menschen, mehr Schafe, einige Kühe und Kälber; einen Stier – einen Kampfstier – und Monarch schwelgte in großer roher Bärenfreude über den bevorstehenden Zweikampf. Als er aber mächtig ausgriff von einem Hügel zum andern, kam eine ganz andere Meldung, so weich und lind, so ganz anders als die scharfe Witterung von Rindvieh, daß man sich wundern möchte, wie er sie überhaupt wahrnehmen konnte, doch wie ein feiner Glockenklang durch das Grollen des Donners hindurch drang sie in sein Bewußtsein, und Monarch wandte sich ihr sofort zu. Oh, sie übte einen mächtigen Zauber. Sie erfüllte ihn mit einer Art Begeisterung, und den Hügel hinab und durch den Nadelwald ging er noch mit schnelleren Schritten, ganz ihrem Zauber hingegeben. Bis zu ihrer Quelle folgte er ihr, einer langen niederen Höhle. Derart hatte er schon viele gesehen, und er war in ihnen mehr als einmal festgehalten worden, hatte aber gelernt, sie zu meiden. Seit Wochen plünderte er ihre Schätze, und ihr Duft leitete ihn auch diesmal wie eine rufende Stimme. In die Höhle hinein trat er, die von dem wonnigen Duft erfüllt war. Da lag die süße Masse, und Monarch, vorsichtig wie immer, lutschte daran, leckte und leckte, fing dann an, am Klumpen noch mehr zu zerren, als mit leisem »Bang!« die Tür herunterging. Monarch stutzte, aber alles war still und keine Gefahr zu wittern. Solche Türen hatte er schon früher bezwungen. Sein Gaumen lechzte noch nach mehr Honig, und er leckte und leckte, zuerst gierig, dann ruhig, dann langsam, dann schläfrig, und schließlich hörte er auf. Seine Augen schlossen sich, und langsam sank er zu Boden in einen schweren Schlaf.

Ruhig, aber bleich waren sie – die Männer, als sie in der Morgendämmerung kamen. Da war die mächtige gezeichnete Fährte, die hineinführte, da war die Tür unten, da konnten sie undeutlich eine zottige Masse sehen, die den Raum füllte und im tiefsten Schlaf sich hob und senkte.

Starke Taue, starke Ketten und Stahlbänder waren zur Hand, ebenso Chloroform, damit er nicht zu bald erwache. Durch Löcher im Dach hindurch mit unendlicher Mühe fesselten sie ihn, banden sie ihm die Tatzen an den Hals, Hals und Brust und Hintertatzen zu einer starren Rolle. Dann hoben sie die Tür und schleiften ihn heraus, nicht mit Pferden – keines ließ sich näher bringen –, sondern mit einer am Baum befestigten Winde; und da sie schon fürchteten, es könnte der Todesschlaf sein, so ließen sie ihn nun zum Leben zurückkehren. – In Ketten, in doppelten Ketten, vor wahnsinniger Wut schäumend und völlig hilflos – wie können Worte den Zustand des gefallenen Monarchen beschreiben? Er wurde auf einen Schlitten geladen und von sechs Pferden mit einer langen Kette in Absätzen in die Ebene hinab zur Bahnstation gezogen. Nahrung flößte man ihm so viel ein, daß er nicht verhungerte. Ein großer Dampfkran hob den Bären, so, wie er war, auf einen flachen Bahnwagen, und ein Teertuch wurde über seinen hilflosen Körper gebreitet; die Maschine puffte, zog an, und der Grislykönig schied von seinen alten Bergen.

So brachten sie ihn, den geborenen Herrscher, in Ketten in die große Stadt. Dort schafften sie ihn in einen Käfig, nicht nur stark genug für einen Löwen, sondern dreimal so stark. Einmal riß ein Tau, als der Riese an seinen Fesseln rüttelte. »Er ist los!« gellte es, und der Schwarm der Zuschauer und Wärter flüchtete sich; nur der Kleine mit den ruhigen Augen und der Große vom Gebirge hielten stand, und so wurde Monarch noch festgehalten.

Frei in seinem Käfig schwang er sich herum, schaute sich nach allen Seiten um und wandte sich dann mit ganzer Kraft gegen die eisernen Stäbe und bearbeitete den Käfig so, daß kein Teil unbeschädigt blieb. Es war vorauszusehen, daß er in einiger Zeit ausbrechen würde. So schleppte man ihn in einen anderen Zwinger, den kein Elefant hätte niederbrechen können; aber er stand auf der Erde, und in einer Stunde hatte der Grisly eine Höhle gegraben, in der er verschwand, bis ein auf ihn gerichteter Wasserstrahl das Loch füllte und ihn zwang, wieder zum Vorschein zu kommen. Nun transportierte man ihn in einen neuen Käfig, der seit seiner Ankunft angefertigt worden war. Dieser hatte einen harten Felsboden und große, fast zweizöllige Stahlstäbe, die neun Fuß hoch waren; außerdem war das Gitter nach innen durch fünf Fuß lange Stangen geschützt. Monarch drehte sich einmal um, richtete dann seinen schweren Körper auf, verbog die unzerbrechlichen Stangen und drehte sie mit einem Ruck, bis die Stäbe aus der Richtung gebracht waren, und fing an, am Gitter hinaufzuklettern. Nur spitzige Eisen und Feuerbrände in den Händen von zwölf starken Männern konnten ihn zurückhalten. Die Wärter beobachteten ihn Tag und Nacht, bis ein stärkerer Käfig fertig war, ein unbezwinglicher mit Stahl oben und Felsen unten.

Der Ungebändigte bewegte sich schnell darin umher, versuchte jede Stange, prüfte jeden Winkel, suchte nach einem Riß im Steinboden und fand schließlich eine Stelle, wo ein sechszölliger Balken war, das einzige Stück Holz am ganzen Käfig. Es war mit Eisen beschlagen und lag nur einen Zoll lang frei. Dahin konnte er mit einer Klaue reichen, und hier lag er auf der Seite und kratzte, kratzte den ganzen Tag, bis ein ganzer Haufen Splitter dalag und der Balken entzweigesägt war; aber die Querbolzen blieben, und als Monarch seine breite Schulter an die Stelle stemmte, wich sie keinen Deut. Das war seine letzte Hoffnung gewesen, und die war dahin. Und der mächtige Bär sank im Käfig nieder mit der Schnauze in die Pfoten und stieß Seufzer aus, lange schwere Seufzer, freilich Tierlaute, aber sie zeugten nicht anders als beim Menschen von einem gebrochenen Geiste, dem Hoffnung und Leben schwand. Die Wärter kamen zur bestimmten Zeit mit Futter, doch der Bär regte sich nicht. Sie setzten es hin, fanden es aber am Morgen unberührt. Der Bär lag immer noch in derselben Haltung wie am Tage zuvor da. Statt der Seufzer ließ er von Zeit zu Zeit ein leises Wimmern hören.

Zwei Tage vergingen. Das Futter blieb unberührt und verdarb in der Sonnenhitze. Der dritte Tag kam, und immer noch lag Monarch auf der Brust, die riesige Schnauze unter der noch riesigeren Pfote. Die Augen waren nicht sichtbar; nur ein leichtes Heben seiner breiten Brust war zu bemerken.

»Er stirbt«, sagte der eine Wärter. »Er überlebt die Nacht nicht.«

»Holt Kellyan«, sagte ein anderer.

Kellyan kam. Da lag das Tier, das er gefesselt hatte, sich zu Tode härmend. Mit dem Schwinden seiner letzten Hoffnung schwand auch sein Leben dahin. Und ein starkes Mitgefühl kam über den Jäger, denn Männer von Charakter und Kraft lieben Charakter und Kraft. Er streckte seinen Arm zwischen die Stäbe des Käfigs und streichelte ihn, aber Monarch rührte sich nicht. Schließlich gab ein leises Wimmern ein Lebenszeichen, und Kellyan sagte: »Laßt mich zu ihm hinein.«

»Sie sind toll«, sagten die Wärter und wollten den Käfig nicht aufmachen. Aber Kellyan beharrte darauf, bis sie ein Quergitter vor den Bären schoben. Dann näherte er sich ihm und legte seine Hand auf den zottigen Kopf, doch Monarch blieb regungslos liegen. Der Jäger streichelte sein Opfer und sprach zu ihm. Seine Hand fuhr zu den großen runden Ohren, die nur wenig über den Kopf ragten. Sie fühlten sich rauh an; er blickte noch einmal hin, dann fuhr er zusammen. »Wie? Kann das wahr sein?« Ja, sie sprachen die Wahrheit – beide waren mit runden Löchern gezeichnet, das eine weit ausgerissen, und Kellyan wußte, daß er seinen kleinen Jack wiedergefunden hatte.

»Ach, lieber Jack, ich wußte ja nicht, daß du's warst. Ich hätt's nie getan, wenn ich das gewußt hätte. Jack, alter, lieber, kennst du mich nicht?«

Aber Jack regte sich nicht. Da richtete sich Kellyan schnell auf und eilte in seinen Gasthof. Dort legte er sein verrauchtes, mit Harz und Fett getränktes Jägerzeug an und kehrte mit einer Honigwabe in den Käfig zurück.

»Jack, lieber Jack!« rief er, »Honig, Honig!« und hielt ihm die verführerische Wabe hin. Aber Monarch lag nun wie tot da.

»Jack, lieber Jack! Kennst du mich nicht?« Er ließ den Honig fallen und legte ihm die Hände auf die breite Nase.

Die Stimme war vergessen. Der alte Ruf: »Honig, Jack, Honig!« hatte seine Kraft verloren, aber der vereinte Geruch des Honigs, des Rockes, der Hände, die er einst so gern gehabt, übte seine geheime Wirkung aus.

Es kommt ein Zeitpunkt, wo ein Sterbender sein Leben vergißt, aber die Bilder der Kindheit klar vor sich sieht; sie allein sind wirklich und kehren mit überwältigender Kraft zurück. Warum nicht auch bei einem Bären? Die Gewalt des Geruches vermochte allein das Vergangene zurückzurufen, und Jack, der Grislymonarch hob den Kopf ein wenig, eben nur ein wenig. Die Augen waren fast geschlossen, aber die große braune Nase schnüffelte schwach zwei- oder dreimal – das Zeichen von Teilnahme, das Jack in der alten Zeit von sich zu geben pflegte. Jetzt brach Kellyan zusammen, wie vorher der Bär.

»Ich wußte ja nicht, daß du's warst, lieber Jack; ich hätt's nie getan. Lieber Jack, vergib mir's.« Er stand auf und eilte aus dem Käfig.

Die erstaunten Wärter wußten sich die Szene nicht zu erklären, einer von ihnen griff verständnisvoll den Faden auf, stieß den Honig näher heran und rief: »Honig, Jack, Honig!«

Voll Verzweiflung hatte sich Monarch zum Sterben niedergelegt, aber da tauchte eine neugeborene Hoffnung auf, allerdings nur unbestimmt, aber sein Bezwinger hatte sich als Freund erwiesen; das schien eine neue Hoffnung zu sein, und der Wärter wiederholte den alten Lockruf: »Honig, Jack, Honig!« und schob die Wabe vor, bis sie seine Schnauze berührte. Der Geruch erregte seinen Sinn, der ihn im Gehirn anmeldete. Die große Zunge leckte am Honig, das Verlangen nach Speise erwachte, und so begann in neugeborener Hoffnung sein letzter düsterer Lebensabschnitt.

Erfahrene Wärter wußten jede Neigung des entthronten Monarchen auszunutzen. Die lockendste Nahrung bot man ihm und tat alles Erdenkliche, ihn wieder zu Kräften zu bringen.

Er aß und lebte als Gefangener – weiter.

Er aß und lebte als Gefangener – weiter.

Und noch lebt er, aber langsam schreitend, schreitend, immer schreitend. Sein Blick schweift nicht zur schaulustigen Menge, sondern weit über sie hinaus zu einem fernen Ziel. Manchmal bricht er in zornige Wut aus, aber bald gewinnt er seine volle Würde wieder, und er fährt fort zu blicken, zu warten, zu lauern, immer aufrecht erhalten von der Hoffnung, der unbekannten Hoffnung, die über ihn gekommen ist. Kellyan weilt seitdem bei ihm, aber Monarch kennt ihn nicht. Über seinen Kopf hinweg geht der Blick des großen Bären, weithin zum Tallac oder zur fernen See – wer kann's wissen?

Die Wundmale sind längst von seinem zottigen Fell verschwunden, aber die Ohrlöcher sind ihm geblieben, auch die Riesenkraft und die hohe Würde. Seine Augen sind trüb – hell waren sie nie –, aber sie scheinen nicht inhaltslos zu sein, und meist sind sie auf das Goldene Tor bei San Franzisko gerichtet, wo der Strom dem Weltmeer sich eint.

Der Strom, dem Abhang der Hochsierra entquollen – er lebt und rauscht und reckt sich zwischen den Bergfichten hindurch, setzt über die Dämme von Menschenhänden, tritt mit wachsender Stärke in die Ebene und bringt schließlich seine mächtige Flut in die Bucht der Buchten, wo er als Gefangener liegen bleibt, ein Gefangener des Goldenen Tores, immerdar dem Freiheitsblau zustrebend, suchend und grollend – grollend und suchend – rückwärts und vorwärts, immerfort – vergebens.

 

Ende

 

*

[Verlagswerbung]

Thompson kennt die Tiere, er dichtet sie nicht, holt sich keine Menschen her und zieht ihnen ein Fell über, er treibt keine Psychoanalyse und versüßlicht niemals. Kein Zoologe kann ihm an den Wagen fahren. Was er schreibt, ist Wissen, geholt aus einer unendlich mühsamen und liebevollen Beobachtung, aus einem Leben in Prärie und Urwald. Er kennt aber auch die Tiere der Stadt und weiß von ihren Sehnsüchten. In seinen »Tierhelden« steht eine solche Geschichte » Die Müllkatze« – das kleine Bild gehört dazu. Dieses kleine Bild, diese unglaublich gekonnte Zeichnung ist eine von den vielen hunderten, die Thompson Seton seinen Büchern zur Illustration mitgegeben hat. Er hat sie selbst gezeichnet, sie sind eine Erweiterung seines Schreibens. Sie klingen zusammen mit seinen Geschichten, weinen und lachen mit ihnen. (Saarbrücker Landeszeitung)

 

Thompson-Bücher gibt es schon von RM 1.85 an. Die Bände heißen: Wahb, Lebensgeschichte eines Grislybären – Monarch der Riesenbär (je RM 1.85) – Domino Reinhard, die Lebensgeschichte eines Silberfuchses – Fahnenschwanz und Sandhügelhirsch – Jochen Bär und andere Tiergeschichten – Tito, die Wölfin – Der Herr der Berge (je RM 2.80) – Wilde Tiere zu Hause (RM 3.80) – Bingo und andere Tiergeschichten – Tiere der Wildnis – Tierhelden (je RM 4.80). Außerdem erschien ein Auswahlband (ohne Bilder) unter dem Titel Allerlei Tiere (RM 2.80). Die Thompson-Bücher sind bei der Franckh'schen Verlagshandlung in Stuttgart erschienen und in jeder Buchhandlung vorrätig.


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