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VII.
Hochwasser

Pedro Tampico und sein Bruder Faco waren keine Schäfer, wie sie in Büchern und Liedern leben. Sie schritten nicht ihren Lieblingen voran mit dem Krummstab als Zeichen ihrer Würde oder mit Handtrommel und Pfeife, um auf den musikalischen Sinn ihrer »idealen« Gefolgschaft einzuwirken. Statt die Herde mit einem Sinnbild zu leiten, trieben sie sie mit aufgelesenen Steinen und Stöcken an. Sie waren keine Hirten, sie waren Herdentreiber. Ihre Pfleglinge galten ihnen nicht als geliebte und liebende Jünger, sondern als vierbeiniges Geld, jedes Schaf gleich so oder so viele Dollars. Und wie man sich um sein Geld sorgt, sorgten sie sich auch um ihre Tiere und zählten sie nach jeder Störung und jedem Wandertag. Es ist aber für niemand ein leichtes, dreitausend Schafe zu zählen, und für einen mexikanischen Schäfer ein Ding der Unmöglichkeit. Jedoch hat er ein einfaches zweckentsprechendes Mittel. In einer gewöhnlichen Herde kommt durchschnittlich auf hundert Schafe ein schwarzes. Ist ein Teil der Herde verlorengegangen, so befindet sich vermutlich ein schwarzes Tier darunter. So gab sich Tampico durch tägliches Zählen seiner dreißig schwarzen Schafe einigermaßen Rechnung vom Bestand seiner ganzen Herde.

Jack hatte in der ersten Nacht nur ein Schaf getötet. Beim nächsten Besuche schlug er zwei und am folgenden nur eins, aber das war zufällig ein schwarzes, und als Tampico nur neunundzwanzig schwarze zählte, kam er zu dem wohlbegründeten Schluß, daß er Schafe verliere – nach seinem Maßstab waren hundert verschwunden.

»Ist das Land ungesund, so ziehe aus«, ist eine alte Weisheit. Tampico füllte seine Tasche mit Steinen und trieb seine Schützlinge aus der Gegend, die offenbar im Bereich eines Schafmörders lag. Abends fand er einen umrandeten Cañon, einen natürlichen Pferch, und die wollige auseinanderstrebende Masse ergoß sich, in ein festes Vlies zusammengepreßt, in das Loch, von dem Hund intelligent, von dem Mann stumpfsinnig hineingetrieben. An einer Seite des Eingangs zündete Tampico sein Feuer an. Etwa dreißig Fuß davon war eine steile Felswand.

Zehn Meilen sind für einen Grisly wenig mehr als zwei Stunden Wegs. Es ist außer Sicht-, aber keineswegs außer Riechweite, und für Jack war es ein leichtes, seiner Beute zu folgen. Seine Abendmahlzeit verspätete sich etwas, doch um so besser war sein Appetit. Da alles im Lager ruhig war, schlief Tampico ein; ein Geknurr seines Hundes weckte ihn. Er machte sich auf und bekam das entsetzlichste Ungetüm zu Gesicht, das er je gesehen oder geahnt hatte, einen Riesenbären, der auf den Hinterbeinen stand und der mindestens dreißig Fuß maß.

Tampico bekam das entsetzlichste Ungeheuer zu Gesicht, das er je gesehen oder geahnt hatte, einen Riesenbären.

Erschreckt floh der Hund davon, aber er war die Tapferkeit selbst im Vergleich mit Pedro. Dem war die Angst so in die Glieder gefahren, daß er das Gebet in seiner Brust: »O Heilige, laßt ihn alle sündenschwarzen Schafe in der Herde haben, aber erbarmt euch eures armen Gläubigen«, nicht hervorbringen konnte, und er verbarg sein Gesicht und erfuhr deshalb nie, daß, was er sah, kein dreißig Fuß hoher Bär war in einer Entfernung von dreißig Fuß, sondern ein sieben Fuß hoher nicht weit vom Feuer, der einen schwarzen Schatten von dreißig Fuß auf den glatten Felsen dahinter warf. Und regungslos in seiner Angst lag der arme Pedro im Staube.

Als er aufblickte, war der Riesenbär verschwunden. Die Schafe drängten sich durcheinander; ein kleiner Teil eilte aus dem Cañon in die Nacht hinaus, und hinter ihnen ging ein Bär von gewöhnlicher Größe, wahrscheinlich ein Junges von dem Ungeheuer.

Pedro hatte in den letzten paar Monaten seine Gebete verabsäumt, aber er versicherte nachher seinem Beichtvater, er habe in dieser Nacht sein Versäumnis wieder gutgemacht, ja bis zum Morgen noch ein gut Teil darüber im voraus gebetet. Bei Sonnenaufgang überließ er seinem Hund die Hut der Herde und machte sich auf, die Durchgänger zu suchen, denn er wußte erstens, daß bei Tageslicht wenig Gefahr war, und zweitens, daß manche sich verirren würden. Sonderbar genug hatten sie sich nicht zerstreut, und Pedro konnte ihrer Fährte eine Meile weit durch die Wildnis folgen bis zu einer andern sehr kleinen Felsenschlucht. Hier fand er seine vermißten Schafe an verschiedenen Stellen, auf Felsblöcken und steinigen Zinnen, so hoch sie hatten steigen können. Er war entzückt und vermehrte eine halbe Minute lang seinen Bilanzüberschuß an Gebeten, mußte aber zu seinem Leidwesen erfahren, daß sich die Schafe auf keine Weise bewegen ließen, von ihren Felswarten herunterzukommen oder den Cañon zu verlassen. Ein paar hatte er glücklich ein Stück vorwärts gebracht, da sprangen sie wieder zurück aus Furcht vor etwas auf dem Boden, was sich bei Prüfung als – Faco leistet einen Eid darauf – tiefe frischausgetretene Fährte eines Grislys erwies, die von einer Wand querüber zur andern führte. Alle Schafe waren ihm nun wieder auf ihre unzugänglichen Posten entwischt. Pedro fing an, für sich selbst besorgt zu werden, und kehrte hastig zur Hauptherde zurück. Nun war er schlimmer dran als je. Der andere Grisly war ein Bär von gewöhnlicher Größe gewesen und hatte jede Nacht ein Schaf verzehrt, aber der neue Bär, in dessen Bereich er gekommen, war ein Ungetüm, ein Riese, der zu einer Mahlzeit vierzig oder fünfzig Schafe brauchte. Je eher er von hier fort kam, desto besser.

Es war schon spät, zu spät, und die Schafe waren zu müde, um weiter zu wandern. So traf Pedro große Vorbereitungen für die Nacht: zwei mächtige Feuer am Eingang der Schlucht und fünfzehn Fuß hoch auf einem Baum eine Plattform für sein eigenes Lager. Der Hund konnte selbst sehen, wo er blieb.


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