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V.
Die letzten Hügel fesseln den Fluß

In den nächsten anderthalb Jahren bot Jacks Laufbahn wenig Reizvolles. Sein Anteil am Erdball war ein zwanzig Fuß weiter Kreis um einen Pfahl im Hof. Die blauen Hügel im Hintergrund, der nähere Fichtenhain und auch das Farmhaus selbst waren Fixsterne, die aus weiter Entfernung seinen etwas matten Augen nur schwache Anschauungen von ihrem Glanz zukommen ließen. Selbst die Pferde und Menschen lagen außerhalb seines kleinen Bereichs und hatten für ihn etwa die Bedeutung wie Kometen für die Erde.

Auch die Kunststücke, um derentwillen man ihn so geschätzt hatte, vergaß er bald, als er so, an der Kette liegend, heranwuchs.

Zuerst hatte ein Butterfäßchen einen geräumigen Käfig für ihn abgegeben, aber schnell schritt er über die Stufen: Butterfäßchen, Nagelfäßchen, Mehlfaß und Öltonne hinüber und war jetzt ein regelrechter Weinfaß-Bär, wenn er auch den mächtigen, an 500 Liter fassenden Hohlraum seines letzten Gefängnisses noch bei weitem nicht ausfüllte.

Das Farmgasthaus lag gerade da, wo die Berge am Fuße der Sierra mit ihren Eichenhainen sich zu den goldenen Gefilden des Sakraments abdachten. Dort hatte die Natur die wunderbarsten Gaben aus ihrem Schoße ausgeschüttet: Der Vordergrund reich an Blumen und üppigen Früchten; Schatten und Sonne, trockene Weiden, rauschende Flüsse und murmelnde Bächlein im Überfluß. Gewaltige Bäume boten dem Auge Abwechslung, und im Osten bauten die hohen Sierren über ihre wunderbaren Nadelwälder Blöcke von ausgemeißeltem Blau. Hinter dem Hause ein edler Fluß, vom Gebirge stammend, wohl von Schleuse und Damm gebändigt und gefesselt, aber immer noch voll Adel, war er doch, als Rinnsal hoch oben der Flanke des dräuenden alten Tallac entquellend, von hoher Geburt.

Ringsherum atmete alles Schönheit, Leben, Farbe, und doch wies die Menschheit hier ihre niedrigsten Vertreter auf. Wenn man sie in diesem Rahmen sah, bezweifelte man wohl, ob der Mensch »sich hebt von der Natur empor zu ihrem Gott«. Keine Großstadtspelunke hat je ein gemeineres Pack gesehen, und wäre Jack zu solcher Überlegung fähig gewesen, er hätte die Zweibeinigen um so niedriger einschätzen müssen, je besser er sie kennenlernte.

Grausamkeit ward ihm zuteil, und Haß war seine Antwort darauf. Fast das einzige Kunststück, das er noch zum besten gab, war die Art, wie er mit Bierflaschen umzugehen verstand. Er war ein großer Freund von Bier, und die Gasthausbummler warfen ihm oft eine Flasche zu, um zu sehen, wie geschickt er den Draht abwickelte und den Kork herausklaubte. Sobald es puffte, drehte er die Flasche zwischen seinen Pfoten in die Höhe und leerte sie bis auf den letzten Tropfen.

Hin und wieder wurde die Eintönigkeit seines Lebens durch einen Kampf mit Hunden unterbrochen. Seine Peiniger brachten ihre Bärenhunde, »um sie an dem Jungen zu probieren«. Menschen und Hunden schien dieser Sport sehr zu gefallen, bis Jack lernte, wie er sich dabei verhalten müßte. Im Anfang pflegte er wütend auf den nächsten Angreifer loszustürzen, bis ihn die Kette mit einem Ruck festhielt und ihn nun ein zweiter Hund im ungedeckten Rücken anfallen konnte. Im Laufe einiger Wochen machte er ein ganz neues Verfahren ausfindig. Er setzte sich gegen sein Faß und beobachtete ruhig die ihn umkläffenden Hunde, anscheinend ohne ihnen Beachtung zu schenken und ohne eine Bewegung zu machen, so nahe sie ihm auch kamen, bis sie sich »gebündelt«, d. h. auf einen Haufen gesammelt hatten. Dann fuhr er los. Natürlich sprangen die hintersten zuletzt davon und hinderten die ersten am schnellen Entweichen; so faßte Jack einen oder mehrere, und seine Bedränger verloren den Geschmack an dem Spiel.

Als Jack etwa anderthalb Jahre alt und halb ausgewachsen war, ereignete sich etwas ganz Absonderliches. Er war in den Ruf eines gefährlichen Tieres gekommen, denn er hatte mit einem Schlag einen Mann zum Krüppel gemacht und beinahe einen Betrunkenen, der mit ihm ringen wollte, getötet. Ein harmloser, aber arbeitsscheuer Schäfer betrank sich eines Abends und beleidigte ein paar Raufbolde. Sie beredeten sich, da er keine Waffe habe, sei es das beste, ihn nach Herzenslust zu verprügeln, statt ihm nach ihrem gewöhnlichen Komment die Haut mit Kugeln zu durchlöchern. Faco Tampico stolperte aus der Tür in die Dunkelheit hinaus. Seine Verfolger waren noch mehr betrunken, aber ihr Mütchen wollten sie kühlen, jagten ihm also nach, und Faco flüchtete sich in den Hof. Seine Verfolger hatten noch knapp so viel Besinnung, sich außer dem Bereich des Grislys zu halten, als sie ihr Opfer suchten; sie fanden es aber nicht. Als sie sich Fackeln verschafft und überzeugt hatten, daß er nicht im Hof war, meinten sie, er sei in den Fluß hinter der Scheuer gefallen und sicher ertrunken. Ein paar rohe Witze, dann kehrten sie ins Haus zurück. Als sie beim Käfig des Grislys vorüberkamen, weckten ihre Laternen in seinen Augen einen Lichtschimmer. Am Morgen hörte der Koch, als er an sein Geschäft ging, sonderbare Töne im Hof. Aus dem Bärenkäfig vernahm er die schläfrig gesprochenen Worte: »Da bleib drüben liegen«, worauf sich ein tiefes unzufriedenes Brummen hören ließ.

Der Koch trat so dicht heran, wie ihm die Vorsicht erlaubte, und spähte hinein. Da sagte dieselbe schläfrige Stimme: »Was drängst du so, zum Kuckuck!« und ein menschlicher Ellenbogen, der sich reckte und stieß, ward sichtbar, und wieder antwortete ein ungeduldiges Bärengebrumm.

Die Sonne ging auf, und mit Erstaunen sahen die Gasthausbummler, daß der vermißte Schäfer im Bärenkäfig steckte und so geradezu im Rachen des Todes seinen Rausch ausschlief. Sie versuchten, ihn herauszukriegen, aber der Grisly ließ keinen Zweifel, daß sie das nur über seine Leiche hinweg tun könnten. Voll Wut stürzte er auf jeden, der sich heranwagte, und als sie den Versuch aufgaben, legte er sich vor dem Eingang des Käfigs als Wache nieder. Am Ende kam der Schäfer zum Bewußtsein, erhob sich auf seine Ellenbogen, und als er erkannte, daß er in der Gewalt des Grislys sei, stieg er behutsam über den Rücken seines Wächters und lief davon, ohne auch nur: »Ich danke dir« zu sagen.

Der Freiheitstag des 4. Juli stand bevor, und der Gasthausbesitzer, der seines ungeschlachten Gefangenen im Hof müde war, kündigte an, zur Feier des Unabhängigkeitstages werde ein großer Kampf zwischen einem »auserlesenen kampfbewährten Stier und einem wilden kalifornischen Grisly« stattfinden. Die Neuigkeit wurde vom »Weinbeer-Telegraphen« in alle vier Winde ausposaunt. Auf dem Stalldach wurden Sitze zu einem halben Dollar eingerichtet. Der Heuwagen wurde halbbeladen neben den Viehpferch gefahren; ein Sitz hier gewährte eine gute Aussicht und war für einen Dollar feil. Der alte Pferch wurde ausgebessert, alte Pfosten durch neue ersetzt und zuallererst am Morgen des Vierten ein bösartiger alter Bulle hineingetrieben und so lange gepeinigt, bis er aufs äußerste gereizt und sehr gefährlich war.

Inzwischen hatte man Jack in sein Faß gelockt und die Tür zugenagelt. Da Kette und Halsreifen zusammengenietet waren, hatte man den Reifen abgenommen, denn man meinte, es werde ja leicht sein, ihn, wo nötig, wieder anzuketten, wenn der Stier mit ihm fertig wäre.

Das Faß wurde zum Pferchtor gerollt, und alles war bereit.

Die Cowboys kamen von fern und nah in ihrem prächtigen Aufputz, denn der kalifornische Cowboy ist der Stutzer seiner Art. Ihre schmuckesten »Schätze« brachten sie mit, und aus fünfzig Meilen in der Runde erschienen Farmer und Viehzüchter, um den Stier-Bären-Kampf zu genießen. Es kamen Bergleute vom Gebirge, mexikanische Schafhirten, Kaufleute aus der Stadt Placerville, Fremde aus Sacramento; Stadt und Land, Gebirge und Ebene sandten ihre Vertreter. Der Heuwagen war so begehrt, daß ein zweiter auf dem Markte erschien. Das Scheuerdach war ausverkauft. Ein bedenkliches Krachen der Balken wirkte einigermaßen preisdrückend, aber ein paar starke Stützen stellten die Nachfrage und die Preise wieder her, und alle Wettlustigen warteten mit Eifer auf den Beginn des Kampfes. Wer unter dem Vieh aufgewachsen war, setzte natürlich auf den Stier.

»Ich sag' euch, nichts auf der Welt kann's mit 'n großen Viehfarmbullen aufnehmen, der seine fünf Sinne beieinander hat.«

Aber die Gebirgler traten für den Bären ein. »Pah, was ist ein Bulle gegen einen Grisly? Ich sag' euch, ich hab' euch 'nen Grisly gesehn, wie er 'nen Gaul in'm Wuppdich mit seiner Rechten glatt über die Hecke geschmissen hat. Bulle! Ich wett' euch, er läßt sich beim zweiten Gange gar nicht mehr seh'n.«

So ging das Prahlen und Wetten hin und her, dicke Weiber, die anziehend wirken wollten, warfen mit allen möglichen Redensarten um sich, sie seien entsetzt über die ganze Geschichte, nervös von dem Gelärm, voll Furcht, es könnte empörend werden; im Grunde waren sie auf das Schauspiel ebenso erpicht wie die Männer.

Alles war fertig, und der Weltmeister schrie: »Los nu, Jungs; Haus ist voll un Zeit da!«

Faco Tampico hatte es fertig gebracht, dem Stier ein paar Dornenzweige an den Schwanz zu binden, so daß sich das gewaltige Tier tatsächlich selbst in einen Zustand der Wut hineingepeitscht hatte.

Jacks Faß war inzwischen herumgerollt worden, bis er ebenfalls in Wut geriet, und Faco fing an, die Tür aufzubrechen. Das Faßende war dicht am Zaun, die Tür war weg; Jack hatte nichts weiter zu tun, als herauszukommen und den Stier in Stücke zu reißen. Aber er kam nicht. Das Geschrei, der Lärm, die sonderbare Menschenmenge machten solchen Eindruck auf ihn, daß er lieber blieb, wo er war, und die Stierpartei erhob ein spöttisches Geschrei. Ihr Held kam brüllend und schnaubend vorwärts und stampfte von Zeit zu Zeit wie herausfordernd aus den Boden. Den Kopf hielt er hoch empor und näherte sich bis auf zehn Fuß dem Grislykäfig. Da schnaubte er heftig, wandte sich und rannte nach dem andern Ende des Pferchs. Jetzt war an den Bärenfreunden die Reihe zu schreien.

Aber die Menge lechzte nach dem Kampf, und Faco warf, seiner Dankesschuld gegen den Grisly uneingedenk, durchs Spundloch eine Handvoll Feuerwerkskörper in Jacks Faß. »Krach!« und Jack fuhr auf. »Fis – kräck – kr – rr ä–ä–ck kr – k krk – ck!« und verwirrt sprang Jack aus seinem Käfig. Der Stier stand in großartiger Haltung in der Mitte da, aber als er den Bären auf sich zuspringen sah, schnaubte er heftig zweimal und zog sich unter Hurrarufen und Zischen so weit wie möglich zurück.

Die beiden bezeichnendsten Züge eines Grislybären sind wohl die Schnelligkeit, mit der er sich einen Plan macht, und die Tatkraft, mit der er ihn ausführt. Ehe noch der Stier die andere Wand des Pferchs erreicht hatte, schien sich Jack über das beste Verfahren klar zu sein. Seine Schlitzaugen fuhren wie der Blitz über den Zaun und nahmen die erklimmbarste Stelle wahr, da, wo ein Querriegel in der Mitte aufgenagelt war. In drei Sekunden war er dort, in zwei Sekunden war er drüben, und in einer Sekunde fegte er durch die auseinanderrennende Menge der Gaffer und strebte den Bergen zu, so schnell ihn seine kurzen und gelenkigen Beine tragen konnten. Frauen und Männer schrien, Hunde bellten; es folgte ein wildes Jagen zu den Pferden, die man, um sie nicht zu erregen, weit vom Kampfplatz angebunden hatte, aber der Grisly hatte dreihundert Meter voraus und fünfhundert Meter ebenes Land vor sich, und ehe aus der geputzten Menge eine lange fliegende Reihe von übermütigen Reitern sich loslöste, war der Grisly in den Fluß getaucht, dessen Strömung kein Hund zu überwinden vermochte, und hatte, den fichtenbedeckten Hügeln zustrebend, den Dornengürtel und das unebene Gelände erreicht. In einer Stunde war das Farmgasthaus mit seiner qualvollen Kette, seinen Grausamkeiten und rohen Menschen ein Ding der Vergangenheit, jenseits der Berge seiner Kindheit und jenseits des Flusses Jugend, des Flusses, der wie Jack selbst, vom fernen stolzen Tallacgipfel herkam. Dieser 4. Juli war in der Tat ein Unabhängigkeitstag für Grisly-Jack.


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