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VI.
Training

304.  Auch du wirst Höchstleistungen nur erzielen, wenn du dich trainierst.

305.  Mache morgens und abends Leibesübungen, deren Zahl und Art von ihrer Wirkung auf dich abhängen müssen. Sie sollen deinen Körper lediglich in voller Beweglichkeit und Frische erhalten. Betreibe nicht den kleinsten Sport. Er absorbiert zu viel und schleimt das Hirn ein.

306.  Bestimme dir keine Schlafenszeit. Schlafe so lange, wie dein Körper will. Und seien es fünfzehn Stunden oder fünf.

307.  Träume wirken schwächend. Man kann sie verhindern, indem man mit leerem Magen zu Bett geht und das Lockerlied memoriert.

308.  Pflege deine kleinen Gewohnheiten, auch wenn sie dir selbst manchmal lächerlich erscheinen sollten. In ihnen wirkt sich allerlei Geheimes aus, das du brauchst.

309.  Betrinke dich nie, auch wenn du nicht schwatzhaft wirst. Der kleinste Rausch schadet deinem Gehirn mehr als zehn tolle Liebeswochen. (Sei niemals dopé!)

310.  Singe und pfeife nicht. Auch nicht, wenn du allein bist. Es ist wie eine schädigende Autosuggestion von hinten.

311.  Stell dich oft vor einen Stehspiegel. Liebäugle mit dir. Agiere dich dir vor. Versuche, dich noch mehr für dich zu begeistern. Lobe dich. Bewundere dich. Aber tadle dich auch.

312.  Wisse die Suggestion der Krawattenfarbe zu schätzen, die des Parfums und vor allem die des Wetters.

313.  Von dem ungünstigen Einfluß schlechter Witterung befreist du dich am besten dadurch, daß du dich tunlichst in Räumen aufhältst und den Fenstern den Rücken zukehrst; ferner nie zu Fuß gehst und in den Autos die Vorhänge zuziehst.

314.  Es gibt vieles, das dir nur gelingt, wenn die Sonne scheint. Und manches, das du bei einer Temperatur von 5 Grad Réaumur schon nicht mehr unternehmen darfst.

315.  Quantum und Qualität deiner Mahlzeiten überwache mit größter Genauigkeit. Ißt du weich gekochte Winterkartoffeln und gar noch zu viel davon, so darfst du dich nicht wundern, wenn dir an diesem Tag alles schief geht.

316.  Meide gänzlich Teigwaren, weißes Brot, Mehlspeisen, Tee und Bier und alle Bohnenarten. Iß wenig Fleisch (nie fettes), aber viel Obst, Salate und grüne Gemüse. Atme oft tief, bade nur zweimal wöchentlich (zehn Minuten lauwarm) und lasse jeden vierten Tag eine Hauptmahlzeit völlig ausfallen. Beschränke dich auf zwei Tassen guten Kaffees, vier Gläser Wein und acht Zigaretten oder drei Zigarren pro Tag.

317.  Gehe viel spazieren (Leute, denen man auf hundert Meter ansieht, daß sie keine Zeit haben, laufen zudem heute zu Hunderttausenden herum.) Laß dir zu allem Zeit. Schnelles Tun gedeiht nicht.

318.  Lebe, so weit es dir möglich ist, regelmäßig.

319.  In venere tue, was du brauchst. Monatlich aber faste einmal sechs Tage.

320.  Von Zeit zu Zeit sind Exzesse nötig. Nach zwei Monaten ununterbrochener Regelmäßigkeit hat dein Körper es satt. Gib ihm einen kurzen, aber heftigen Sturm.

321.  Wie sehr du auch deinen Elan fördern kannst und den Erfolg zwingen, indem du dich trainierst, so wirst du doch manchmal beides nur erreichen, wenn du exzedierst. Ein Schlemmermahl oder eine hemmungslose Liebesraserei vermögen oft noch zu spornen, wenn die Form deines Trainings schon verbraucht ist.

322.  Übe deine Zähigkeit im Umgang mit Menschen dadurch, daß du einem Hund schwierige Kunststücke beibringst. Schon nach einer Woche wirst du feststellen, daß du dieselbe Frage innerhalb einer Stunde zehnmal wiederholen kannst, ohne den Ton zu ändern oder auch nur die geringste Ungeduld zu verspüren.

323.  Übe vor allem täglich dein Auge, indem du dich vor den Spiegel stellst. Dein Blick muß lernen, still und schwer auf einem andern zu liegen, sich rapid zu verschleiern, zu stechen, zu klagen. Oder so viel Erfahrung und Wissen auszustrahlen, daß dein Gegenüber dir erschüttert die Hand reicht.

324.  Macht dein Auge einmal etwas falsch, ohne daß die Möglichkeit einer Korrektur besteht, so entferne dich sofort. Du hast nichts mehr zu erhoffen.

325.  Der Unterschied zwischen virtuoser Verstellung und Echtheit ist unermeßlich klein. Du kannst jene dir nur durch intensive Übung aneignen, durch die du wiederum die Fähigkeit ausbildest, Echtheit zu erkennen. Vermagst du es aber gelegentlich trotzdem nicht, so verzichte auf jede Verstellung (das große Gelotter!) und sprich, was du nicht darstellen darfst.

326.  Manche vorbeigeratene oder falsche Mimik wird dir nicht so gefährlich werden wie das Auge. Aber sie kann dich zwingen, zehn Tage zu opfern, wo zwei genügt hätten. Und das kann dir auch wieder gefährlich werden.

327.  Erst wenn du es in all dem, was dich ausmacht, zur Vollkommenheit gebracht hast, wirst du alle Gefahr auf ein Minimum reduziert haben. (Gewiß, gewiß. Aber vergiß es nur nicht).

328.  Habe stets ein Handspiegelchen bei dir. Es kann vorkommen, daß du ins Klosett eilen mußt, um einen Gesichtsausdruck zu probieren; oder deine Aufmerksamkeit einem hohlen Zahn zu widmen hast, um sie, so gedeckt, einem Wandspiegel widmen zu können.

329.  Beschäftige dich nicht mit Psychoanalyse, Politik, Literatur oder Wissenschaft. Das raubt dir Zeit und Kraft, ohne dich auch nur im Mindesten zu fördern.

330.  Lies von Zeit zu Zeit den politischen Teil der Tageszeitungen, um durch diese Komödien von Komödien zu Komödien dich anzuregen – zu Komödien.

331.  Hüte dich besonders vor Zeitschriften jeder Art. Sie sind geschickter und intelligenter gemacht als die Zeitungen und deshalb imstande, Tausende junger Menschen blöd zu machen und dich – müde.

332.  Gehe nie ins Theater. Du verdirbst dein Spiel.

333.  In Scheidung befindliche Ehepaare frequentiere ausgiebig. Hier wird dein Spiel viel zulernen.

334.  Pflege in deinem Kreise den Witz gleichsam als wichtigsten Ritus, aber nur den lebendigen, den aus der Situation, der Konversation herausspringenden, niemals den gemachten. Dieser paralysiert, jener pulvert auf.

335.  Richte deinen Witz auch gegen dich selber. Er wirkt wie ein geistiges Purgativ. Außerhalb deines Kreises unterlasse das aber strikt. Man würde bald deine Witze über dich über dich machen.

336.  Ziehe stets das Ausland vor, weil dir hier nur wenig Pflichten auferlegt werden können. (Auch Plunder schwächt.) Und mit deinen Rechten ist es ja überall lausig bestellt.

337.  Zeige niemals deinen Haß. (Versteckter Haß stärkt zudem.) Wird die Zahl deiner Feinde zu groß, zeige Verachtung: das wird sie, deren Haß mehr Neid enthält, annehmen lassen, daß es gefährlich wäre, deinen Haß zu wecken. Dort aber, wo du ihn zeigen müßtest, lasse ihn mit der Tat zusammenfallen.

338.  Sprich lieber konventionell als prinzipiell, wenn du Zeit, lieber plaudernd als informatorisch, wenn du Kraft gewinnen willst.

339.  Mit wirklich Dummen verkehre keine Sekunde länger als nötig. Sie wirken schädlich auf die Eingeweide. Sieht nicht jeder Dummkopf in jedem Alter alt aus?

340.  Verkehre nicht mit durchaus passiven Menschen. Nach einer Woche kämst du dir vor wie ein ausgebrannter Krater. Kannst du ihre Trägheit nicht schnell für dich in gelinden Trapp verwandeln, so eile hinweg.

342.  Meide Leute, die in einer solchen Treibhausluft leben, daß du Durst nach frischem Wasser verspürst. Und trinke tatsächlich ein Glas, sobald du sie verlassen hast. Dann wirst du nicht einmal mehr an sie denken.

343.  Erst wenn man einmal auf dich daneben geschossen hat, weißt du, wie wohl es tut, Frauen zu prügeln. Die Gefahr suchen, verrät einen geschwächten Instinkt: ist man ihr entgangen, erhöht sie das Lebensgefühl, die sexuellen Kräfte und die Schärfe des Sensoriums. (Die Gefahr als Opium.)

344.  Hast du plötzlich nicht mehr die Kraft, zu lügen, so sei wenigstens grausam.

345.  Habe nie einen Sozius. Er saugt nicht nur an deinem Portemonnaie, sondern auch an deiner Kraft.

346.  Warte so lange, wie es angeht, bevor du jenes Mittel benützst, das dich am schnellsten ans Ziel bringt. Jede Schnelligkeit fordert großen Kräfteverbrauch.

347.  Wenn du nicht schön bist, so hast du es überall doppelt schwer. Sehr oft aber wirst du die Hälfte deiner Kräfte sparen können, wenn du eine schöne Person neben dich stellst und, falls es erforderlich sein sollte, an deiner Statt zurückläßt.

348.  Wenn alle Stricke der Bestrickung reißen, greife mit den Händen zu. Und wenn auch diese versagen, so wisse, daß du so stark sein mußt, leichten Herzens darauf verzichten zu können, dir alles zu erlauben.

349.  Deine Anaesthesie für Lob und Tadel mag noch so endgültig geworden sein, die Gefahr eines Rückfalls besteht immer. Du kannst ihr vorbeugen, indem du, fühlend, daß du unter einem Lob oder Tadel nicht unbewegt bliebest, dir das Merkwort zurufst: »Wiesenbenützung!« Das wird dir sofort den Nacken steifen. (Begrinse, aber salbe dich nicht. Napoleon hat den Feldzug in Rußland und die Schlacht bei Leipzig verloren, als er sich in Notre-Dame krönte.)

350.  Die Gefährlichkeit der Rückfälle von Selbstbewußtsein kannst du daran ermessen, daß sie deine Fähigkeit, dich zu verstellen, schwächen. Es gibt nur ein Mittel, diese dir ungeschmälert zu erhalten: dir immer wieder von neuem das Selbstbewußtsein auszutreiben. (»Wiesenbenützung!«) Einmal gänzlich ausgetrieben, erscheint es in völlig neuer positiver Form: in der undurchbrechbaren Harmonie deiner Verstellung.

351.  Wäge bei allem, was du unternimmst, genau ab, ob nicht die Nachteile, die es dir bringen müßte, die Vorteile so aufwiegen, daß du persönlich darunter littest. Laß dich hierbei weder von deinen Wünschen noch von deinen Begierden übertölpeln.

352.  Tanze nicht zu viel. Nur zu deinem Vergnügen oder aus besonderen Gründen.

353.  Trage dich stets mit Projekten. Eines Tages führst du plötzlich eines aus, das, fast ohne dein Wissen, in dir gereift ist.

354.  Dein Kopf arbeitet, auch ohne daß er es will. Das bemerkst du am deutlichsten, wenn du einmal vier Wochen in einem kleinen langweiligen Kurort zugebracht hast. Plötzlich sprühst du nur so von Plänen und Einfällen.

355.  Sprichst du von früh bis abend mit hunderterlei Menschen, so wirst du nach einigen Wochen dahin kommen, erst mehrere Sekunden nachdenken zu müssen, wie du heißt. (Das ist keineswegs ein Scherz). Wenn du dir einen falschen Namen zugelegt hast, kann es deine Katastrophe werden. Aber stets wird es deine Form ruinieren.

356.  Dem Umgang mit Kranken gehe aus dem Weg. Jeder Kranke ist das personifizierte Malheur. Und von jedem Malheur geht eine üble Suggestion aus. (Anders ist es, wenn du von einem Unglück hörst.)

357.  Erkrankst du, so verbirg dich. Das wird dich rascher gesunden machen.

358.  Reiche jedem deine Hand so, daß kein Nachdruck zu spüren ist. Und so selten wie möglich.

359.  Grüße auch mit den Augen oder einem Lächeln. Nie mit dem Mund.

360.  Lehne während des Sprechens dich nie im Stuhl zurück. Das behindert dein Denken und die Aussprache.

361.  Extemporiere nicht in wichtigen Dingen. Mache keine launenhaften Reisen. Wechsle ohne zwingenden Grund weder die Stadt noch das Hotel. Du wirst ohnedies so oft zu abrupten Entschlüssen genötigt sein, daß du dir diesen Luxus nicht gestatten darfst. Er ist zudem oft gefährlich und nie ohne Strapazen.

362.  Schränke alle Strapazen auf das Minimum ein. Sie machen alt.

363.  Näherst du dich dem vierten Jahrzehnt, so fange an, ganz besonders großzügig zu werden. Es wird dir die Frische verlängern.

364.  Du darfst keine Familie haben. (Wie du zu Eltern und Geschwistern dich verhältst, ist insoweit gleichgültig, als du sie nicht affichierst. Alles in Südamerika oder tot.)

365.  Wohne mit niemandem zusammen. Das entnervt dich, ohne daß du dessen gewahr wirst.

366.  Wenn du dahin gelangt bist, dein Äußeres und deinen Zivilstand so schnell und unbeschwert zu wechseln, daß du sehr aufmerksam sein mußt, um in den jeweils anzubringenden Hemmungen dich nicht zu irren, dann bist du, was du sein sollst. Aber wenn du gegen vier Uhr morgens dich ins Bett legst und auf die Frage, wofür du dich im Grunde hältst, freundlich antwortest: »Nicht die blasseste Ahnung!«, so wisse, daß es noch eine Hemmung war. Du hättest diesem Frager dein tagesmüdes Auge groß und undurchdringlich zuwenden und deinen Lippen die vier Silben »Teremtete!« entschlüpfen lassen sollen. (L.  D.)


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