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II.
Menschenkenntnis

57.  Wer das Leben als schön preist und die Menschen als gut, ist entweder ein Schwachkopf oder einer, vor dem du sehr lange auf der Hut sein mußt.

58.  Erzählt dir jemand, er werde von morgen an ein neues Leben beginnen, so kannst du sicher sein, daß ihm etwas sehr Unangenehmes zugestoßen ist, vielleicht sogar etwas Tragisches. Oder es wedelt dahinter bloß eine Dame mit dem Busen.

59.  Wer an allem seinen Verstand wetzt, mit dem gib dich nicht weiter ab. Nur wer über alles etwas zu sagen weiß, kann dir nützlich sein.

60.  Leute, die wie leibhaftige Tiger herumschleichen, sind meist wenigstens Luxe.

61.  Keiner ist so unnachgiebig, wie er sich stellt. Selten einer so weich, wie du ihn haben möchtest.

62.  Erinnere dich, daß jeder, der neben dir litt oder von seiner Liebe zu dir sprach, dir nur ein unklares Gefühl von Ungeduld verursachte. Du wirst dann nie den groben Fehler machen, Andere mit dir zu beschäftigen, wenn du willst, daß sie mit dir sich beschäftigen.

63.  Menschen mit dicken Adern auf den Händen sind nicht immer alt, aber sehr oft noch boshafter und eitler als Krüppel.

64.  Wenn derjenige, mit dem du im Gespräch bist, plötzlich auf die Wand blickt, als spräche er mit einem Abwesenden, so steht er zweifellos unter dem Einfluß einer starken Persönlichkeit (Rasta). Willst du diesen brechen, so mußt du gewärtig sein, ihn weder durch Geld noch andere Vorteile erschüttern zu können, sondern nur durch die größere Stärke deiner Persönlichkeit (Rasta)[F2]. (Oft auch, wenn ein Mensch in unbegreiflicher Weise handelt, wird die Ursache dieselbe sein.)

65.  Wer sich häufig argwöhnisch zeigt, ist fast immer ein vertrauensseliger leichtgläubiger Patron und eine schnelle Beute.

66.  Wird heftig gestritten, so spitz die Ohren. Es ist oft nur ein (Geschlechts) Hungergezänk.

67.  Aufdringliche wirst du am leichtesten los, wenn du ihnen sagst, daß du einen Bordellwirt erwartest, dem du Geld schuldest.

68.  Wer sekkiert, ist fast stets krank.

69.  Die Verläßlichsten sind diejenigen, welche viel fragen und dir erst nach zwei Tagen antworten. (Absolut verläßlich aber ist niemand. Jedem kann es widerfahren, daß er morgen einen Mord begeht.)

70.  Ist es dir, als hätte die Stimme deines Gegenüber einen Sprung, so hast entweder du eine Chance oder jener wird nie wieder eine haben.

71.  Wer kein Blut sehen kann, hat schwerlich jemals welches vergossen. Er ist bloß ein Schwächling.

72.  Der Haß des Schwachen ist so geschmeidig, daß du ihn oft erst wahrnimmst, wenn du längst schon mit ihm verfeindet bist.

73.  Zähle nicht ernsthaft auf jemanden, der von einem Gespräch gänzlich sich absorbieren läßt.

74.  Redet einer beim Zuschnüren seiner Stiefel über Buddha, so kannst du ihn augenblicklich erfolgreich anpumpen.

75.  Leute mit schmalem Rücken sind schlau, mit breitem gutmütig oder dummstolz. Abfallende Schultern weisen auf Rachsucht hin.

76.  Wer wirklich zutraulich ist, ist zwar oft ein Angsthase; öfter aber bloß neugierig.

77.  Schweige nur dann lange, wenn du die Situation vergiften willst.

78.  Es ist ein Fehler, jemanden, den man seinem Milieu entreißen will, zu kompromittieren. Kompromittiere sein Milieu vor ihm.

79.  Lügner sind fast immer dann aufrichtig, wenn ihre Phantasie zu ermüden beginnt. Laß es dich die Zeit nicht verdrießen und du wirst hören, was du zu wissen wünschst.

80.  Wer ins Debattieren gerät, dem antworte nicht mehr. Nur wer monologisiert, wird dir vielleicht etwas sagen.

81.  Aus wessen Blick der Wille spricht, zu fesseln und zu unterwerfen, dem wird es oft schon gelungen sein.

83.  Klopft dir einer bereits nach den ersten Worten auf die Knie, so wird es dir kaum schwer fallen, ihn anzulügen. Schlage ihm aber nicht jovial auf die Hand: es könnte sein, daß er dann aufhört, dir zu glauben.

84.  Gebieterische Menschen sind nicht zu fürchten, nur herrische.

85.  Wenn jemand, der lange geschwiegen hat, plötzlich leise vor sich hin lächelt, so ist der Augenblick da, ihm jene Frage zu stellen, die dir am wichtigsten ist. Denn er wird so unüberlegt lügen, daß du das Richtige ertasten kannst.

86.  Wer von allem stets sofort die Preise kennt, ist ein sehr billiger Bursche, aber tüchtig.

87.  Interessante Menschen (sozusagen) sind immer ein wenig brutal.

88.  Manchmal darfst du nicht zu genau zuhören. Du könntest seinen Faden verlieren. Und oft kannst du dir das Zuhören überhaupt ersparen: schau ihm ins Gesicht, es wird aufschlußreicher sein.

89.  Ißt einer schon um zehn Uhr früh Frankfurter Würstchen mit Sauerkraut, so darfst du nicht hoffen, auch nur ein einziges Mal etwas Gescheites von ihm zu hören.

90.  Wenn die Stimme des Andern dich irgendwie aus dem Gleichgewicht bringt, so meide sie geflissentlich.

91.  Wer bei jeder Gelegenheit heftig schimpft, aber gar nicht so aussieht, der meint es fast immer so.

92.  Wortkarge Menschen sind im allgemeinen schwer zu behandeln. Behandle sie gar nicht: sie werden die Sprache wiederfinden.

93.  Ungeachtet ihrer scheußlichen kleinen Gewohnheiten sind Viele oft sehr feinfühlend. Versuche nicht, diesen Widerspruch dir zu erklären; begnüge dich, ihn achselzuckend hinzunehmen. Wende dich überhaupt kurzerhand von allem ab, das auf den ersten Blick ein Nonsens ist. Du wirst viel Zeit gewinnen, die sonst verloren wäre.

94.  Nicht der Widerwille vor der Welt, in der alle verraten, verkaufen und betrügen, macht viele Menschen zu Eigenbrödlern, sondern die Furcht davor, nicht genug Kraft zu haben, unablässig zu mißtrauen, zu spiegelfechten und zu plündern.

95.  Neigst du zum Exzentrischen, Überschwänglichen, so gestatte dich dir nur für den Privatgebrauch. Publikum würde dich schnell albern finden.

96.  Wer, kaum daß er eingetreten ist, aller Augen sofort auf sich lenken will, ist entweder von Beruf Schauspieler oder ein erbärmlicher Stümper.

97.  An burschikoses Benehmen darfst du nie und nimmer glauben.

98.  Will es dir nicht gelingen, über einen Menschen ins Klare zu kommen, so versuche, ihn dir nackt vorzustellen. Fällt diese Vorstellung zu seinen Gunsten aus, so hast du immerhin schon einen Schimmer von ihm.

99.  Wenn einer, den du lange Zeit kaum beachtet hast, dir plötzlich die Laune erweckt, ihn kennen zu lernen, so hat er, ohne daß es dir bewußt geworden ist, bereits allerlei zu diesem Zwecke unternommen; wird also etwas von dir wollen.

100.  Spricht jemand mit dir, als hätte er seine Informationen direkt aus dem Munde des Erhabenen bezogen, so frage ihn, wie lange er schon gesessen – hat.

101.  Sei nicht zu interpretativ. Der Mensch ist viel gedankenloser und verworrener, als diejenigen auch nur ahnen, die ein mißgünstiges Geschick zu Dichtern machte.

102.  Alles läßt sich lächerlich machen. Obliege diesem Vergnügen jedoch nur mit deiner Geliebten, deren Leidenschaft für dich dadurch noch wachsen wird. (Jede Frau ist eine versteckte Anarchistin.) Männern gegenüber unterlasse es: deine Kreaturen lähmst du dadurch; und deine Gesellschafter werden dich bald lächerlich finden.

103.  Unterschätze nie die Macht eines Milieus. Eine Unterredung, die du in der Hall eines Palace verlierst, hätte vielleicht mit deinem Sieg geendet, wenn du sie in einem kleinen Café unternommen hättest; und eine Frau, die hier sich dir entzieht, hättest du wohl in einer Bar überredet. (Ist umso mehr sich einzuprägen, als gerade jene Details, die bereits ein wenig verbreitet sind, mit Vorliebe außer Acht gelassen werden.)

104.  Wer besonders prätentiös auftritt, ist es manchmal sogar.

105.  Trachte, die Bedürfnisse der Menschen in deiner Umgebung zu steigern. Die stattfindenden Befriedigungen werden das Lebensgefühl erhöhen und – deine Chancen.

106.  Es ist nicht immer zu verhindern, daß du für Minuten, oft noch länger, die (Vordergrund) Gewalt über dich verlierst. Trachte aber, wenigstens noch so viel Besinnung zu bewahren, sie nicht einem Andern über dich einzuräumen. (Hierin unterstützt dich am besten ein Merkwort, das du augenblicks halblaut vor dich hinsagen mußt, sobald dir jenes widerfährt. Z.  B. »Lunapark«.)

107.  Der Umstand, daß jeder, der über dich lächelt, dies in der festen Überzeugung tut, dich zu beleidigen oder zu ärgern, mag dir so recht beweisen, wie voll die Welt von Kaffern ist.

108.  Könntest du als das Monstrum von Gleichgültigkeit, das du bist, auch optisch erscheinen, wärest du nach einem Spaziergang von zehn Minuten tot. Kein Mensch könnte dich auch nur eine Sekunde aushalten, ohne mit beiden Fäusten sich auf dich zu stürzen. (Für den Fall, daß in Gesellschaft die Lust dich ankommt, mehr zu sagen, als du wagen darfst, wähle das Merkwort »Narrentod«.)

109.  Beweise nur dann etwas, wenn du dich unter großen Dummköpfen befindest oder unter Professoren und Zeitschriften-Abonnenten.

110.  Wer ein richtiges Volapük spricht, ist niemals in einer soliden bürgerlichen Position und bestenfalls ein Artist.

111.  Menschen, die alles intensiv miterleben, taugen nicht zum Leben und werden dir immer und überall Mißhelligkeiten und Verluste verursachen.

112.  Wer Menschen beherrschen will, darf sich nie verblüffen lassen.


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