Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Der Vierminuten-Mann

Die Hetze war in vollstem Schwang. Es war eine Massensuggestion, die in ihrer Schärfe und ihrer Vollkommenheit an eine akut um sich fressende und Orgien feiernde Gemütsseuche gemahnte.

Wenn Mildred in die Stadt fuhr, was sie zweimal wöchentlich tat, um sich Proviant für ihr Eremitendasein zu holen, so ging sie zuweilen in ein Lichtspieltheater, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß das Programm zum Teil wenigstens etwas Ablenkendes bot. Hier aber, wenn sie sich in einen Landschaftsfilm oder in die Bilderromantik mexikanischer oder westlicher Abenteuer vertieft und ihr Geist dadurch halb abgelenkt war, scheu Erinnerungen aus einer so unendlichen Kindheit blitzartig hingegeben, trat der Vierminuten-Mann dazwischen. Der Vorhang fiel vor der flimmernden Welt und der Mann der Stunde trat hervor.

Wer war dieser Mann?

Es war immer dieselbe Kreatur, die immer dieselben Worte sprach. Er war in vierzigtausend Exemplaren über das Land verstreut. Er sah vielleicht jedesmal verschieden aus, aber der Dunst von Wichtigkeit und die amerikanische Flagge, die er im Knopfloch trug, waren immer dasselbe.

Er stellte sich hin, die Hände in den Hosentaschen, und bellte vier Minuten lang wie ein gereizter Hund, wie ein gut gekleidetes, gut genährtes und gut dressiertes Tier.

Die Regierung stand hinter ihm, er wurde bezahlt, zu Hetzen und er machte es gut. Der Speichel fuhr ihm aus dem Mund. Er peitschte halb entschlummerte Instinkte mit einer Nilpferdpeitsche wieder ins Leben, so daß die nackte Seele der halbgebildeten Menschen, die dort in Haufen vor ihm hockten, auffuhr voll blutiger Striemen. Er schnippte mit den Fingern, er pfiff auf einer Pfeife, er schwoll an von einer so kolossalen Renommisterei, daß die ganze Welt gegen ihn verblaßte, daß die Alliierten, jene rückständigen Völkerschaften in lächerlichen kleinen Ländern und Weltzipfeln, sich ausnahmen wie eine Rotte von inkompetenten Handlangern, denen man erst halb unwirsch zu zeigen hatte, worum sich das ganze Geschäft eigentlich drehe.

Er pries den Sammy, diese ahnungslose Figur, die man vorgestern in Kakhi gesteckt und der man erst gestern gelehrt hatte, einen Schützengraben zu bauen. Er zeigte ihn als wetterfesten Krieger, als den mit schlichter Wahrhaftigkeit gepanzerten Exponenten der besten, einzigen und allein zukunftsreichen Rasse.

Er ließ eine riesige Landkarte auf der Leinwand entstehen und verteilte schon ganz heiser vor Entrüstung die nach Erlösung wimmernde Beute, die der Aasgeier mit der Pickelhaube an sich gerissen, wieder zurück.

Er verschenkte die Welt, zauberte mit einer Zickzackbewegung seines Stabes neue Grenzen hervor und war der gerechte Henker auf dem Schafott im Schirm des größten Propheten, den es je gegeben, im Schutz und Abglanz des Mannes, der die Sterne und Streifen, um den demokratischen Zylinder drapiert, bis in die Wolken schob.

»Was die Engländer nicht fertig bringen,« brüllte er kurz vor Ablauf der vierten Minute, »woran sich die Franzosen die Zähne ausbeißen, woran der russische Bär krankt mit seinem roten Pfahl im Fleisch, das ist uns vorbehalten, zu vollenden! Wir machen es! Wir zeigen ihnen, was Krieg heißt! Wir stopfen ihnen, die Kraft an Kraft messen wollen, soviel von dieser Medizin in den Rachen, bis sie um Gnade schluchzen!! Wir können Kraft verschwenden, wir haben die grenzenlose Gewalt! Wir haben die Hälfte des Goldes, das es auf der Welt gibt! Wir haben Schiffe, wir haben Petroleum und vor allem« – – (und hier schnappte seine Stimme über, daß nur noch ein zitterndes Fauchen im erstarrten Proszenium zu hören war) – – »wir haben hinter uns den Gedanken von Lincoln; die freiwillige Überzeugung des Individuums und die gerechte Sache, für die wir kämpfen!«

Wenn er abtrat, stieg die Nationalhymne empor mit krachendem Tusch; so blitzte etwa noch eine Zeichnung auf, die Karikatur eines Popanzes mit rechteckigem Schnurrbart, himmelbedrohender Helmspitze und wagenradgroßen Sporen, der, in einen allzuweiten Offiziersmantel gehüllt, vor dem Ansturm von überlebensgroßen Gesellen in Cowboy-Hüten und Gamaschen in die Ecke des Bildes flüchtete, wo er erbsenklein wurde und verschwand.

Oder man erblickte eine durch Explosion oder Feuer verwüstete Fabrikruine, die alle Merkmale amerikanischer Heimat an sich trug, und darin ein paar pittoresk arrangierte Leichen unter der flammenden Überschrift: »Der Pfad der Bestie im nördlichen Frankreich«.

Soviel über die Lichtspieltheater. »Es sei überall dasselbe,« berichtete Mildred, »und es sei kein Vergnügen, diese Orgien von Borniertheit mitzumachen. Es gebe tatsächlich die vernünftigsten, praktischsten und gutmütigsten Charaktere, die um sie herum in Veitstanz verfallen wären und sich wie Kinder benommen hätten, denen man das Märchen vom Blaubart auftischt. Es läge eine gewisse Raffiniertheit in der Steigerung der Effekte. Die bezahlten Marktschreier und Agitatoren verteilten ihre Wirkungen sinnreich auf die vier Minuten, die ihnen die Regierung vorschreibe. Die erste Minute sei sachlich und halbwegs vom Standpunkt des kriegführenden zivilisierten Volkes aus berechtigt; bei der zweiten Minute werde er persönlich und das deutsche Volk müsse daran glauben; bei der dritten Minute ziehe er über Potsdam her, diese Pestbeule; und bei der vierten nehme er einen großen Drillbohrer und bohre auf dem nackten Nerv des Publikums herum; kriege die Gemüter zu fassen und knete sie nach Noten; führe Themen wie Mutterschaft und Jungfräulichkeit und auf dem Spieß geröstete Babies ins Treffen; und es liege eine satanische Geschicklichkeit in der Steigerung eines solchen Sadismus. Denn bloße Gemeinheit sei ja leicht lächerlich zu machen. Aber eine Gemeinheit, die als Mittel zum Zweck für skrupellose Geschäftstüchtigkeit, von der Regierung finanziert, erscheine, habe etwas so Primitives, daß der Ekel dafür nicht einmal Worte finden könne, daß man sie wirken lassen müsse wie einen Zugzusammenstoß, und machtlos danebenstehe.«

Während in Europa ein geknebelter Löwe an seinen Stäben rasselte, so war hier eine Hyäne und trieb ihre Spiele in vollster Freiheit; die Urhyäne, der die Fetzen stinkender Vorurteile aus den von Gefräßigkeit halb gelähmten Kiefern hingen; ein mit Druckerschwärze besudeltes, unmäßig aufgeschwollenes Tier, dessen üble Spuren einen überall hin verfolgten; dessen Gebelfer, wohin man kam, als Echo von den Wänden sprang. Häuser wurden ihrer privaten Bestimmung entrissen und mit schreienden Plakaten beklebt. Sie wiederholten sich periodisch an jeder Ecke, so daß das Auge, ihrer kaum entwöhnt, sie wieder gewahren mußte.

Sie waren nicht schlecht gezeichnet. Geschickte Künstler hatten sich hergegeben, sie anzufertigen. Auch darin zeigte sich Geschäftstüchtigkeit in höchster Form.

Ein kolossaler Kanonenstiefel, von dessen Sporen und Absatz Blut troff, trat in die Mitte von Amerika hinein. Ein Gorilla in Feldgrau lugte tückisch hinter dem Woolworth-Building hervor oder hockte wie ein Albdruck über einer salatähnlichen Aufhäufung von Zivilistenleichen. Ein paar Kinder schlüpften aus den Ecken eines anderen Plakates heraus und ein Handgranaten schleudernder Unhold belächelte breit im Hintergrunde seinen guten Witz.

Auch andere Bildchen gab es, die die Columbia, die edle Matrone, in einer segnenden Gebärde zeigten; vor der die mit Alliiertenfarben geschmückten Bittsteller sich zusammendrängten, jeder sein kleines Spruchband im Mund, mit der stilvollen Überschrift: »Lasset die Kindlein zu mir kommen.«

Sogar der Mann von Nazareth wurde mißbraucht, um eine Art bengalischen Lichtes auf die geschmackvolle Szene zu werfen.

In allen Kirchenkanzeln tobten die Hetzer. Sonst ganz humoristische Irländer geiferten im Dienste Gottes und entstellten ihre gemütvolle Suada durch die undelikatesten Rinnstein-Metaphern.

An jedem öffentlichen Platz standen mehrere umgestülpte Seifenkisten, von denen herab patriotische Bürger in einer Ekstase der Begeisterung Hetzpfeffer in die Menge streuten. War dies nicht auch der große Moment ihres stumpfsinnigen Daseins, des Daseins von Bureausklaven? Zog ihr Hennenvolk zu Hause, dem sie bis dahin schweigend gefront, sie nicht zärtlich alsdann dafür an die waschleinene Brust?

»Hetze herrscht ja überall in der Welt,« sagte Mildred, »aber so unappetitlich wie hier äußert sie sich sicher nirgends. Franzosen haben wenigstens eine Art kalten Witz dabei, wenn sie auch Sadisten sind. Engländer machen es nicht so öffentlich. Italiener sind komisch. Aber dieser Plebs hier bringt es doch fertig, seine Rasselosigkeit im schönsten Licht zu zeigen.« Sie gebrauchte noch Ausdrücke, die an den Ausspruch des reisenden Japaners erinnerten, der Amerika mit dem schönen Namen belegte: »That Irish-Dutch-Nigger-Jew-mess ...« und dann versank sie in ihre Apathie zurück.


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