Willy Seidel
Der neue Daniel
Willy Seidel

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Onkel Samuel meldet sich

Als sie beim Eingang ihres Häuschens vorfuhren, fand Erwin den Postkasten vollgepfropft mit Sendungen. Seine aufzuckende Freude wurde jedoch im Keim erstickt durch die Erkenntnis, daß es sich um Briefe und Artikel für deutsche Zeitschriften handelte, die er vor Monaten abgesandt und die nun, anstatt über Holland ihre Bestimmung zu erreichen, über Washington wieder an ihn zurückgelangten.

Er betrachtete die Kinder seines Geistes mit dem Gefühl eines Schäfers, der seine kleine Herde wieder um sich versammelt sieht – halb ungläubig noch, daß sie dem Abgrund entronnen sei...

Während beide sich unangemeldet der Veranda näherten, sahen sie diese schon von fern dicht besetzt. Eine ganze Gruppe von schwarzen Köpfen zeigte sich über dem Geländerrand. Zwischen den Stäben blitzte es rosa und weiß von billigen Kattunkleidern und weißen Strümpfen, vermischt mit nacktem, schwarzbraunem Fleisch.

Sie gingen nach seitwärts durch den Wald, um sich unauffällig zu nähern und erkannten Madleen, die mächtig und rund mitten in diesem Kreise hockte und sich mit einem Rohrfächer so heftig kühlte, daß man das Knarren des Stieles weithin hören konnte. Zuweilen auch setzte sie den Schaukelstuhl mit nervösen Stößen ihrer schwammigen Schenkel in rasende Pendelbewegung. Man überströmte sie mit weichen Lauten, mit beruhigend-gurrender Zusprache; es schien, als habe man sie auf unverantwortlicher Tat ertappt und führe nun den verstörten Geist in gemäßigte Bahnen zurück. Madleens ölige Augen rollten im Kreis umher mit hündischem Ausdruck halb sich fest saugend an anderen ruhigeren Tieraugen, die ihr zublinzelten; bald aber auch nervös die Treppe herabschweifend in das flammende Grün.

Wovon die Rede war, konnte man nicht verstehen; doch als Erwin sichtbar ward, drehte die Gesellschaft in Gemütsruhe die Köpfe nach ihm. Ein Laut halber Überraschung geschah; dann standen sie gemächlich auf: ein älterer Mann mit blauem Leinenanzug, ein Bahnarbeiter, zwei Jünglinge, sehr kokett in graues Flanell gekleidet und mit schreienden Schlipsen verziert, und fünf Frauenzimmer, von denen sich zwei in Segeltuchschuhen von ungeheurer Größe gefielen. Sie waren nacktbeinig und zwischen den Fetzen zerrissener Blusen, die sie mit nachlässiger Bewegung zusammenballten, quollen strotzend die starken Brüste hervor. Sie kamen in Prozession die kurze Treppe herab, grüßten höflich und verkrümelten sich im Wald. Eines der Weiber trat an Mildred heran, deutete mit den Fingern an die niedere Stirn und sagte, wobei ein weißes Grinsen ihr Gesicht fast bis zu den Ohren spaltete: »Dat old girl ain´t by herself.«

Offenbar hatte Madleen Anfälle visionärer Natur erlitten. Ihre Stammesgenossen in der 2. Straße dort hinten hatten gefühlt, daß sie in Not sei, wie denn auch hochentwickelte Herdentiere sich telepathisch verständigen. Sie blieb noch eine Weile schnaufend sitzen, als habe das Sturzbad von Sympathie sie in ihren seelischen Grundfesten erschüttert. Dann befreite sie sich in Eile aus dem zu engen Schaukelstuhl und kam anscheinend friedlich und erlöst ihrer Herrschaft entgegen. »Sie sei so allein gewesen,« sagte sie, »daß sie fast nicht gewußt habe, was mit sich zu machen. Jetzt aber sei alles wieder in Ordnung.«

Darauf verfügte sie sich in die Küche und die Tatsache, daß sie jetzt auf einmal Arbeit hatte, schob die dunklen Gewalten, die sich ihrer bemächtigt, energisch in den Hintergrund. Sie kochte, sang, scheuerte und machte überraschend viel Geräusch; ja, sie warf sogar einen Teller hin, dessen fröhliches Zersplittern einen Laut von Leben und Tätigkeit in die Stille brachte.

Man aß zu Abend mit dem Gefühl »zu Hause« zu sein, denn die schützenden Dinge, die Erwin vermißt: ja, das ganze Milieu wuchs ihm gleichsam wieder entgegen. Jede Quaste des Vorhangs schien sich ihm anfreunden zu wollen; jedes Bild; jedes Buch.

Es wurde Abend. Zum erstenmal empfanden sie eine Art hoffnungsfroher Stimmung. Die Lampe blinkte traulich und es schien, als sei eine Last von diesem Hause gehoben. Diese Stimmung dauerte durch Stunden, und auch noch, als sie zu Bett gingen und einschliefen...

Der nächste Tag war ein Sonntag. Mildred setzte es sich aus einer Laune heraus in den Kopf, in die Kirche zu gehen.

Sie verließ das Haus um sieben Uhr und wandelte allein nach Lakewood.

Die Hitze begann früh; und nach einem zwanzigmaligen Durchqueren eines gewissen Teiles der Straße (wobei ihn Gedanken produktiver Art beschäftigten;) dachte Erwin, seinem Körper sei Genüge getan, und er begab sich in die Glasveranda zurück. Flüchtig durchlas er die Zeitungen, wo ihm ein kleiner Artikel von einem entsprungenen Kalb in Chicago auffiel, das in den Mittagsbetrieb des Geschäftsviertels eine flüchtige Stockung gebracht: – die schlichte Tatsache war mit einigen witzigen Äußerungen des Reporters ausgeschmückt. Dann warf er die Zeitung, die vom Kriegsschauplatz nichts neues zu berichten wußte, als das alte halb erstarrte Schwanken der Kräfte, bei Seite – und sah die zurückgelangten Manuskripte durch. Er hatte sie vor Monaten als Korrespondent verschiedener deutscher Zeitungen geschrieben, und sie dünkten ihn damals gut und warm empfunden. Es waren Stimmungsbilder; Versuche, das Land zu charakterisieren; sie schienen ihm nicht schlecht. »Schade, daß sie verschollen bleiben werden«, dachte er. »In der Zukunft, wo diese Sachen gedruckt werden können, sind sie kaum mehr wahr. So ändert sich das Gesicht der Welt und – meines.« Am Rand entdeckte er plötzlich kleine Bleistiftglossen des amerikanischen Zensors, kleine höhnische Ausrufe wie: »Is that so?!« – oder: »You don't say!« und noch verschiedenes andere, was ihm zeigte, daß der Mann ihn in seiner Macht habe und ein knabenhaftes Vergnügen aus den tastenden Ansichten dieses Europäers gesogen .... Erwin sah sie vor sich: diese an den Profiten einer roh geübten, käuflichen Bürokratie gemästeten Männer, von primitivem Humor erschüttert, die seine Ironie für bare Münze nahmen; Komik da fanden, wo schneidender Ernst ihm die Feder geführt; und in sein Gedankengebäude einbrachen wie Stiere in den Porzellanladen .... »Ist es nicht, als dächten sie kreuzweise durch meine Gedanken hindurch? – Wenn ich mich auf den Kopf stellen würde, so wäre meine Welt vielleicht wahr für diese Herrschaften.« – Ein prickelndes Mißbehagen überkam ihn vor der Indiskretion dieser »neutralen« Maschine, die private Sendungen besudeln durfte. Er warf die Blätter in die Ecke und lehnte sich halb liegend auf die Strohcouchette. Breites Sonnenfunkeln, von Staub durchtanzt, füllte die Glasveranda. Auf einmal kehrte sein Geist zu dem kleinen Artikel von dem Kalbe zurück und spann ihn aus. Die Notiz war kurz gewesen, kaum zehn Zeilen lang; aber das Geschehnis erweiterte sich und er vertiefte es grüblerisch.

Aus einer Sendung Schlachtvieh, die drei vollgepackte Frachtzüge füllte, war das Tier entkommen; dort offenbar, wo die Privatgeleise der Schlachtpaläste von der Hauptstrecke abzweigen. An dieser Kurve hatte sich vielleicht eine Schiebetür gelockert und das Kalb war unter dem Seile hervorgerutscht, herabgeschleudert worden und hinter einen Kohlenhaufen gelangt. Daß man es nicht bemerkte, war ein Wunder. Es ging auf seinen törichten Stelzbeinen geradeaus, entdeckte eine Seitentür, wo noch niemand es sah und plötzlich, – als es um eine Ecke bog, trippelnd und impulsiv, – befand es sich mitten im regsten Geschäftsviertel und verursachte Konfusion. Drei Trambahnen, grell klingend, stauten sich in wenigen Sekunden hinter ihm an. Gellende Hupen umbrüllten es von allen Seiten. Wie ein summender Bienenschwarm formten sich Menschenströme in dem Loch, das die Fuhrwerke aufrissen. Stöße, Flüche, Scherze hagelten von allen Seiten ...

Doch gleich einem Monument der Unschuld, störrisch, spreizbeinig, eckig stand es mitten auf der Schienenkreuzung, und in seinen Augen, die erregte Gebärden und Maschinen hätten spiegeln sollen, schwammen sanfte Wiesenfarben ...

Ein Schutzmann, sechs Fuß hoch, erschien und zerrte es weg. Ein Farmer, der sein leeres Gemüsebuggy vorbeibugsierte, verfrachtete es und nahm es mit aufs Land. Ein Besitzer meldete sich nicht und das Kalb erfüllte seine Bestimmung.

So wurde es zum produktiven Stier im Schmuck selbstherrlicher Muskeln und diente einem zweckvollen Kreislauf. Wie aber erging es inzwischen den Tausenden, in deren Gesellschaft es angekommen? – – Sie wurden niedergemetzelt. Kettenweise wurden sie durch Holzverschläge getrieben. Einen Moment lang gerieten ihre Köpfe in ein Loch, wo ein elektrischer Hammer rhythmisch herabsauste; dann glitten sie eine kurze Bahn hinunter und wurden aufgeschaufelt von den Zinken eines mächtigen Rades, das die Leichen hochzerrte und in die Enthäutung- und die Zerwirkungsräume schleuderte. Dort blitzten Kreissägen, Schaufeln, Messer, Haken; und nach kurzer Zeit (die man mit der Uhr in der Hand bemessen konnte –) hingen die Reihen dort.

»Das sieht aus wie ein blutroter Garderoberaum von sterblichen Hüllen,« dachte Erwin – »peinlich sortiert von der Decke hängend; riesige Kühlkeller strecken sich, deren glatte Marmorwände das Bogenlicht von Blutspritzern gedämpft zurückstrahlen ... Vormittage lang kann man durch Mausoleen wandern, durch Gänge von klaffenden Leibern hindurch; und das Auge findet keinen Gegengruß als bläulich erloschene, hervorquellende Kugeln, Milch und Gallerte, – in denen eine verblüffte, eine entsetzte Frage zu Eis geronnen scheint .... Doch diesem Schicksal ist das Kalb entgangen und während es gerettet wird, werden die anderen Tausende, denen dieselbe Erfüllung hätte blühen sollen, grob verkürzt und geschädigt, mit verzwickten Instrumenten gepeinigt und umgebracht, gevierteilt und ins Mausoleum gehängt. Es kommt nur darauf an, wie man eine Sache betrachtet.« Mit einemmale fröstelte es Erwin und die Hitze, die von draußen hereinstrahlte, schien entwertet wie das Licht eines kalten Gestirns. Er versuchte, sich plötzlich aufzurichten; doch eine seltsame Lähmung hatte ihn ergriffen. Blut, Marmor und Metall waren in seinem Kopf und eine kleine Übelkeit saß ihm dicht unterhalb des Herzens. Das Gefühl der Verlassenheit sog an ihm wie ein riesiger Trichter, in dem sich die Bilder der Umgebung, die Glasscheiben, Wände und Vorhänge wie ein langsamer Kreisel drehten. »Ha!«, dachte er wirr; »von Rechts wegen sollte jedes Kalb auf eine hübsche Farm geraten und dort als produktives Agens fortbestehn. Doch geschieht es nicht auch, daß man einen jungen Stier in der Vollkraft seiner Zeugungslust in eine Arena schleppt, in einen flachen Ring aufgetürmter Gesichter, die reihenweise herabglotzen; die ihn vorführen lassen, sich zur Belustigung; ihn, – einsam auf sich gestellt in schimmernd kraftvollem Ichgefühl? – Die ihn dann mit kalten Vernichtungswünschen bombardieren ... und seine Ausmerzung vollzieht sich qualvoll vor dieser gierigen Masse?? –

Keine Individuen sinds, die ihm ans Leben wollen. Es ist die von plattem Gefühl zusammengeschlossene Menge, die dasselbe denkt und diesen einen Wunsch in schauderhafter Intimität gegen das trotzig-bewußte Ich schleudert, das sich ihnen einzeln entgegenstemmt... So, ach! – vergeudet sich die Kraft, verpufft die schöne Produktivität; verspritzt sie ihr Eigenstes wie Blut in dürrem Sand; und endlich verzückt und verröchelt der Jungstier, weil er nichts Greifbares vor sich hat, nur jenes unbeugsame Etwas, das ihn haßt. Denn will er seine Hörner hineinstoßen, so ist es, als ob er im Wasser pflüge. Er ist irritiert, er schnaubt, er tobt an gegen diese lüsterne Mordsucht, die sich gleich Schleiern zwischen seine trotzige Stirn und die Wirklichkeit hängt. Doch am Schluß endet er wie in einer Falle gegen Gegner, die er nicht greifen kann; gegen bunte Pfeile, die aus dem Wesenlosen schwirren; gegen Omina, die er auf Schritt und Tritt aus dem Boden wachsen sieht.

So etwas gibt es, und ein Tod in solcher Arena ist nichts Schönes. Geschlossene Kraft, um gegen den Ring anzubranden, durch den das aufreizende, geschlossene, metallische Klirren zittert, das wäre das einzige –: Führerstelle einzunehmen und andere Kräfte um sein Ich zu ziehn wie man Gewänder wechselt, die von vertrauten Händen gereicht werden; Waffengefolgschaft hinter sich, die immer neue Panzer herbeischleppt. Doch allein! Welch absurde Idee. Wie wenige Wellen schlägt man, wenn man seiner Rasse entrissen ist! Und ich soll Europa hier vertreten?! – –

Die Übelkeit war immer noch da. Sie saß wie ein lähmendes Tier auf seiner Brust, wie ein kleiner Vampir. Auch die Bewegung des großen Trichters bestand weiter. Er hörte, wie in weiter Ferne, Madleen rumoren. Dann, vor sich hinstarrend, erblickte er farbige Konturen an den Dingen, vorüberhuschende Verdoppelungen, die er zu träge war sich zu erklären. Ihm war, als drücke ein Gewicht ihn auf die Couchette zurück, und die Zeit verlor für ihn ihre Bedeutung. Seltsam verschwommene Bilder wuchsen auf, die sich bei schärferem Fixieren in nichts auflösten. Endlich näherte sich ein Schritt von draußen, ein schneller, leichter Schritt. Die Türe klirrte; Mildred war da.

»Nie«, so verschwor sie sich, »werde sie wieder einem amerikanischen Gottesdienst beiwohnen. Es sei natürlich ein Ire gewesen und er habe von Indiskretionen geradezu getrieft. Diese Pfaffen seien hier befugt, in das Privatleben jedes einzelnen hineinzugreifen und machten ausgiebigsten Gebrauch davon in fürchterlichstem Slang. Die Gemeinde verlange auch offenbar die intimste Duzgemeinschaft; ehe sie, Mildred, es aber zulasse, daß ein ordinärer Ire mit schmutzigen Fingern in ihrem Seelenleben herumbohre, müsse es sehr weit mit ihrer Akklimatisierung gekommen sein... Vorläufig habe sie genug davon.«

Erwin suchte interessiert auszusehen und die Augenlider ganz aufzureißen. Im selben Moment verstummte sie, eilte schnell zu ihm hin und blickte ihm forschend ins Gesicht.

»Fehlt dir etwas?« fragte sie.

Er zuckte die Achseln. Schnell wie der Blitz hatte sie die Finger an seinem Puls.

»Du hast ja Fieber!« rief sie. »Mach', daß du ins Bett kommst!«

Sie zerrte ihn an der Schulter empor. Er erhob sich und vermochte die Treppe hinaufzusteigen, wobei er jedoch das Gefühl hatte, als sänken die einzelnen Stufen unter ihm weg. Oben angelangt, entkleidete er sich, zog seine Pyjamas an und legte sich ins Bett.

Sie indessen eilte hinunter, mit etwas rastlosen Schritten hin- und herhuschend; dann kam sie wieder, brachte ihm einen kalten Umschlag, und man begann zu beratschlagen, was zu tun sei. Ein kurzes Gespräch in der Küche war vorangegangen, das durch einen entsetzten Aufschrei Madleens unterbrochen wurde.

»Sie ist jetzt fort,« sagte Mildred, »um einen Arzt zu holen. Es soll hier in der Nähe einer wohnen.«

Erwin nahm dies alles mit vollständiger Gleichgültigkeit entgegen. Ihm war, als schwebe er im Raum, als könne er sich mit süßer Anheimgabe der Geschäftigkeit anvertrauen, die sich um ihn herum entwickelte. Das kalte Tuch auf der Brust tat ihm wohl, und er verlor allmählich in einem Schlafe das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, war ein Mann im Zimmer. Dieser drehte sich um und beugte sich mit gelbledernem Gesicht über ihn. Neben einer gebogenen Nase saßen zwei graue, kalte Augen, die sich forschend in seine zu senken mühten. Am Kinn hing ein spitzes Bärtchen, bleich und mit Tabak gefärbt, so, wie es die Farmer im Westen zu tragen pflegen. Auf einmal blitzte es Erwin mit Siedehitze durch den Kopf: das war ja gar kein Arzt, das war ja »Uncle Sam« selber, der sich da über ihn beugte: diese rechteckigen breiten Schultern, diese hagere Brust, dieser Adamsapfel und dieser Raubvogelkopf, dessen Hals sich mit ruckweisen Bewegungen am niederen Kragen wetzte!! – –

Für einen Moment hatte er auch noch eine Vision von gestreiften Hosen und einem mit Sternchen geschmückten Biedermannsrock, der mit Vatermördern bis unter die Jochbeine der Augen wuchs ... Bei schärferem Blinzeln verblaßte das Kostüm. Ein einfacher, recht unsympathischer Landdoktor saß dort und stellte mit knarrender Stimme, wobei er gelbe Zähne zeigte, einige Fragen an ihn. Erwins Bauch wurde von harter Hand befühlt; seine Zunge inspiziert; und hierauf entnahm der Doktor einem Täschchen, mit dem er sich längere Zeit beschäftigte, ein Glasröhrchen mit grünen Pillen und sprach: »Die grünen hier sind gegen das Fieber; ich habe auch noch gelbe, rote und blaue, doch die grünen werden genügen.«

»Er will mir übel,« sann Erwin. »Es ist alles wie ein Spuk. Hat man je davon gehört, daß es farbige Krankheiten gibt?«

Er verlor wieder halb das Bewußtsein, wobei es ihm vorkam, als mache der Mann, der Uncle Sam glich, eine schattenhafte Attacke auf ihn und entferne sich, eines besseren sich besinnend, mit gleichgültigem Achselzucken. Das letzte, was Erwin dachte, war: »Er kann mich nicht unterkriegen. Es fällt mir nicht ein, mich zu naturalisieren!! Ich bleibe, was ich bin!«

Das murmelnde Gespräch, das der Arzt noch im Hinuntergehen mit Mildred führte, verlosch. Ein einziges Mal stieg noch ein silberner Schrei darauf aus, den Erwin sich nicht erklären konnte. Ein Automobil ratterte traumhaft fern und entschwand.

Er erwachte, als die Sonne wiederum wagrechte hellgoldene Strahlen ins Zimmer schickte. Es schien Morgen zu sein. Mildred saß an seinem Bett. Die bläulichen Schatten unter ihren Augen hatten sich vertieft; ihr Gesicht hatte etwas Gespanntes. Sie war nur mit einem leichten Kimono bekleidet. »Mein lieber Freund,« sagte sie, »du hast Typhus; aber es ist auch möglich, daß er sich irrt. Auf alle Fälle hat er dein Blut ins Laboratorium geschickt, und wir müssen äußerst vorsichtig sein.«

»So so,« meinte Erwin. (Sein Fieber war gesunken, doch die Schwäche war zurückgeblieben.) »Das ist also Typhus! Wie gut, daß ich hier bin, ganz bei dir und nur dich um mich herum zu sehen bekomme. Wie scheußlich, wenn mir das in Catskill passiert wäre.« Mit einem Gefühl halber Erlösung: »Da haben wir es ja; das war es ja, was mir bevorstand. Ist das nun die erste Stufe oder ist dies alles?« Plötzlich fragte er ganz unvermittelt: »Ist der Hund noch da?«

Mildred schüttelte den Kopf. »Er ist weggelaufen, seit gestern.«

»Seltsam.« –

»Du mußt dich jetzt ruhig verhalten, und wenn du mich brauchst, so klingele.«

Sie entschwand wieder. Zu Mittag wurde ihm etwas flüssige Nahrung gebracht und Milch. Er genoß es mit Appetit. Er saß aufrecht im Bett und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Als sie nachmittags oben an seinem Bette ihr gewohntes Halma spielten, zitterte seine Hand nicht einmal. Doch sie brach mitten im Spiel ab und legte ihr Gesicht schluchzend in die Hände, so daß die Figuren hinunterrollten.

»Ach was, es ist bald vorüber; es läuft ganz programmäßig ab,« meinte er, um sie zu beruhigen. Ihr Schluchzen, schnell erstickt und mit einem straffen Aufrichten ihres kräftigen Rückens beendet, hatte gerade in seiner beherrschten Kürze etwas Rührendes.

»Ja,« sagte sie. »Aber das Telephon ist ja noch nicht einmal da. Wie soll ich mich verständigen, wenn es schlimmer wird?« –

»Kommt der Arzt denn nicht zweimal täglich?«

»Ja; aber welch' ein Gefühl, daß man meilenweit nichts als – – sie suchte nach dem Wort – – freaks, – Mißgeburten, oder wie du es nennen willst um sich herum hat! – Nun, man muß eben noch einmal energisch werden.«

Auch ihn packte ein Grauen vor dieser Perspektive.

»Und wie soll man die Sachen schnell beschaffen, die du nötig hast? Du müßtest ins Hospital kommen; denn ich allein, weiß Gott, mit Madleen zusammen könnte es nicht machen. Sie ist schon halb verstört!«

Beide starrten sich an.

»Vorläufig weiß man ja noch nicht bestimmt, was mir fehlt,« beruhigte er sie endlich; sie ward ihrer Angst allmählich Herr und spielte die Partie zu Ende.

Sie trank Tee bei ihm. Sie vollführte diesen Teegenuß mit der Andacht einer Zeremonie. Sie betonte förmlich dadurch, daß sie sich nicht von ihren Gewohnheiten trenne, auch wenn die Welt in Stücke ginge. Alles stand appetitlich vor ihr aufgebaut, was sie benötigte: das Silber, die Kuchenschale, die Zuckerzange, und während sie aß, beobachtete er sie und freute sich an dem echten Bild. Sie gebärdete sich, als sei sie allein in ihrem Hause in Sussex. Ihre Umgebung war nicht da, doch sie erschuf sie sich neu: kretonnebezogene Chesterfieldmöbel, einen dunklen Mahagonitisch, flache Fensterreihen und ähnliches mehr. Mitten drin saß sie schlank, blond und herb, gewissermaßen unerreichbar und in vielen Bedürfnissen trotz pikanter Fremdheit ihm tief verschwistert.

Die Übelkeit glitt von seiner Brust, als rette er sich bei drückender Hitze hinter die grüne Mauer eines Wasserfalles, dessen Wirbel in bedecktem Winkel köstlich kühle Luftströmung erzeuge. Etwas von dieser Klarheit schien in ihrem kristallenen Wesen verkörpert. Dann allmählich, als es gegen sechs Uhr zuging, verschwand das Gefühl.

Die Kühle war irgendwie verdrängt, als öffne man Türen, die zu heißen Räumen führen. Sein Wesen trat wieder langsam in die Schwüle des Fiebers zurück.

»Das hat nichts zu bedeuten,« sagte Mildred.

Innerlich wußte sie genau, daß die periodische Wiederkehr der Temperatur die Diagnose des Arztes zu bekräftigen schien. Am selben Abend schon glitt Erwin wieder in einen traumlosen Schlaf zurück und was sich während dieser Zeit abspielte, davon wußte und sah er nichts.


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